14

Außer Vikarys schwerem Atem und dem Gezwitscher der Baumgeister im Hintergrund war kein Geräusch in der Wildnis zu hören. Dirk ging auf Janacek zu und rollte seinen Körper herum. Moosballen hafteten daran und saugten das Blut wie Schwämme auf. Die Baumgeister hatten seinen Hals halb weggefressen, so daß Garses Kopf schauerlich hin und her baumelte, als Dirk die Leiche bewegte. Seine schwere Kleidung hatte ihm nicht zum Schutz gereicht. Überall war sie durchbissen worden, und der Chamäleonstoff hing in naßroten Fetzen herab. Janaceks Beine, die noch immer von dem nutzlosen Silbermetallquadrat des Himmelsflitzers festgehalten wurden, waren beim Absturz gebrochen.

Zersplitterte Knochenstücke traten an den Waden hervor.

Beide Brüche waren kompliziert und fast identisch. Am schlimmsten sah das Gesicht aus — es war zerfressen. Das rechte Auge fehlte. Die Augenhöhle hatte sich mit Blut gefüllt, das langsam in einem schmalen Rinnsal über die Wange lief und zu Boden tröpfelte.

Es war nichts mehr zu machen. Hilflos sah Dirk auf den Leichnam. Verstohlen griff er in Janaceks zerschlissene Jacke und schloß den Glühstein in die Faust. Dann erhob er sich und sah Vikary ins Gesicht.

»Sie sagten …«

»Daß ich niemals auf ihn schießen könnte«, schloß Vikary. »Ich weiß, was ich gesagt habe, Dirk t’Larien.

Und ich weiß, was ich getan habe.« Er sprach sehr langsam, jedes Wort fiel wie ein bleiernes Gewicht von seinen Lippen. »Das habe ich nicht gewollt! Niemals! Ich versuchte nur, ihn aufzuhalten, den Himmelsflitzer außer Gefecht zu setzen. Aber er fiel in ein Baumgeisternest.

Ein Baumgeisternest!« Dirks Faust hatte sich um den Glühstein verkrampft. Er sagte nichts. Vikary bebte.

Seine Stimme wurde lebendiger, und eine verzweifelte Schärfe trat in seinen Tonfall. »Er jagte mich. Arkin Ruark hat mich vor ihm gewarnt, als ich in Larteyn über Sichtschirm mit ihm sprach. Er sagte, Garse hätte sich den Braiths angeschlossen und geschworen, mich zur Strecke zu bringen. Ich glaubte es nicht.« Er zitterte. »Ich glaubte es nicht! Aber es stimmte. Er verfolgte mich, jagte mich zusammen mit ihnen — genau wie Ruark gesagt hatte. Ruark … Ruark ist nicht bei mir … wir haben uns nicht… statt dessen kamen die Braiths. Ich weiß nicht, ob er … Ruark … vielleicht haben sie ihn erschlagen. Ich weiß nicht.« Er schien müde und verwirrt. »Ich mußte Garse aufhalten, t’Larien. Er wußte von der Höhle. Und an Gwen mußte ich auch denken.

Ruark erzählte, Garse hätte in seinem Wahn versprochen, sie an Lorimaar auszuhändigen. Ich habe ihn für einen Lügner gehalten, bis ich Garse hinter mir auftauchen sah.

Gwen ist meine betheyn, und Sie sind korariel. Ich trage die Verantwortung. Ich mußte überleben. Verstehen Sie?

Ich wollte nicht, daß es so endet. Ich ging zu ihm, brannte mir meinen Weg mit dem Laser … Die Jungen aus dem Nest waren schon über ihm, weiße Dinger, die Alten auch… Ich verbrannte sie, löschte sie aus, holte ihn heraus.«

Vikary schluchzte, und sein Körper schüttelte sich.

Aber es kamen keine Tränen, er erlaubte es nicht. »Sehen Sie. Er trug leeres Eisen. Er war auf der Jagd nach mir.

Ich liebte ihn — und er jagte mich!« Der Glühstein war ein harter Klumpen der Unentschlossenheit in Dirks Faust. Er sah wieder auf Garse Janacek hinab, dessen Kleider die Farbe alten Blutes und verfaulenden Mooses angenommen hatten. Dann blickte er Jaan Vikary ins Gesicht, der mit abwesenden Augen und zitternden Schultern kurz vor dem Zusammenbruch stand. Gib einem Ding einen Namen, dachte Dirk, und jetzt mußte er Jaantony Hoch-Eisenjade einen Namen geben.


Er ließ die Faust in die Dunkelheit seiner Tasche gleiten. »Sie mußten es tun«, log er. »Er hätte Sie umgebracht — und anschließend Gwen. Das hat er selbst gesagt. Ich bin froh, daß Arkin Sie noch rechtzeitig warnen konnte.«

Diese Worte schienen Vikary neue Kraft zu geben. Er nickte wortlos. »Als Sie nicht rechtzeitig zurückkehrten«, fuhr Dirk fort, »habe ich mich auf die Suche nach Ihnen gemacht. Gwen war in Sorge. Ich wollte Ihnen helfen.

Garse fing mich ab, entwaffnete mich und lieferte mich an Lorimaar und Pyr aus. Er sagte, ich sei ein Blutgeschenk.« »Ein Blutgeschenk«, wiederholte Vikary.

»Er muß verrückt gewesen sein, t’Larien. In Wirklichkeit war Garse Eisenjade Janacek nicht so. Er war kein Braith, keiner, der Blutgeschenke macht. Das müssen Sie mir glauben.«

»Ja«, sagte Dirk. »Sie haben recht. Er war geistig verwirrt. Das konnte ich daraus ersehen, wie er sprach.

Ja.« Er fühlte sich den Tränen nahe und fragte sich, ob man es ihm ansah. Es war, als hätte er Jaans Ängste und Schmerzen in sich aufgenommen, der Eisenjade schien mit jeder Sekunde stärker und resoluter zu werden, während das Leid sich ungebeten in Dirks Augen schlich.

Vikary sah auf den reglosen Körper, der ausgestreckt unter den Bäumen lag. »Ich würde für ihn klagen, für das, was er war, und für die Dinge, die wir besaßen. Aber es bleibt keine Zeit. Die Jäger sind mit ihren Hunden hinter uns her. Wir müssen weiter.« Er kniete sich einen Augenblick neben Janaceks Leiche und nahm die schlaffe, blutige Hand in die seine. Dann küßte er das zerstörte Gesicht des toten Mannes voll auf die Lippen und streichelte mit der freien Hand das verfilzte Haar.

Aber als er sich wieder erhob, hielt er ein schwarzes Eisenarmband in der Hand. Dirk sah, daß Janaceks Handgelenk nackt war und verspürte wilden Schmerz.

Vikary steckte das leere Eisen in die Tasche. Dirk hielt seine Tränen zurück und schwieg. »Wir müssen gehen.«

»Lassen wir ihn einfach hier liegen?« fragte Dirk.

»Einfach hier liegen?« Vikary runzelte die Stirn. »Ah, jetzt verstehe ich. Die Kavalaren begraben ihre Toten nicht, t’Larien. Traditionsgemäß lassen wir sie in der Wildnis zurück. Und wenn die Tiere sich dann holen, was wir aufgaben, schämen wir uns nicht. Leben sollte Leben nähren. Ist es nicht würdiger, sein Fleisch einem schnellen, ehrenhaften Raubtier zu überlassen als es die Beute ekelhafter Maden und Friedhofswürmer werden zu lassen?«

Also ließen sie ihn dort, wo Vikary den Körper niedergelegt hatte - mitten auf einer offenen Stelle im endlosen gelbbraunen Dickicht —, und machten sich durch das halbdunkle Unterholz auf den Weg nach Kryne Lamiya. Dirk hatte seinen Himmelsflitzer mitgenommen und versuchte, mit Vikary Schritt zu halten. Sie waren noch keine Minute gegangen, als sie an eine hochaufragende Steilwand aus zerklüftetem, schwarzem Fels kamen.

Als Dirk das Hindernis erreichte, war Jaan schon halb auf dem Weg nach oben. Auf seiner Kleidung war Janaceks Blut zu einer braunen Kruste getrocknet. Dirk konnte die Flecken von unten deutlich erkennen. Ansonsten hatten die Kleider des Kavalaren eine schwarze Färbung angenommen. Das Gewehr über den Rücken gehängt, kletterte er Meter um Meter nach oben, wobei sich seine starken Hände von einem sicheren Halt zum anderen tasteten.

Dirk entfaltete das Silbergewebe des Himmelsflitzers und flog zum Rand der Felswand hinauf.

Er hatte sich gerade über die höchsten Äste der Würger erhoben, als er den kurzen Schrei eines Banshee hörte, der gar nicht so weit entfernt war. Er drehte den Kopf und suchte den Himmel nach dem großen Räuber ab.

Von hier oben aus war die kleine Lichtung, auf der sie Janacek zurückgelassen hatten, leicht einzusehen: ein Fleckchen Zwielicht in dunklerer Vegetation. Aber Dirk konnte die Leiche nicht erkennen, die Mitte der Lichtung war eine lebendige Masse kämpfender gelber Körper.

Während er hinsah, flatterten winzige Gestalten von den umliegenden Bäumen hinzu, um sich an dem bevorstehenden Fest zu beteiligen.

Plötzlich war der Banshee da. Aufgetaucht aus dem Nichts, hing er bewegungslos über dem Gewimmel und stieß sein schreckliches, langanhaltendes Heulen aus.

Aber die Baumgeister ließen sich durch diesen Ton nicht von ihrem Geschäft abbringen. Zirpend und mit den Zähnen aufeinander einhackend, fuhren sie mit ihrer verrückten Balgerei fort. Der Banshee fiel hinab. Sein Schatten bedeckte sie. Wellenförmige Bewegungen durchliefen seine Flügel. Er war über ihnen. Und dann war nur noch er allein zu sehen. Die Geister und der Tote waren gemeinsam Opfer seines hungrigen Griffes geworden. Dirk fühlte sich auf seltsame Weise fröhlich.

Aber nur einen Augenblick lang. Während der Banshee unbeweglich über seinen Opfern hockte, ertönte plötzlich ein schrilles Kreischen, und Dirk sah einen kleinen Fleck herabschießen und auf dem Raubtier landen. Ein anderer folgte. Dann noch einer. Dann ein Dutzend auf einmal.

Er blinzelte, und danach schien ihm, als hätte sich die Zahl der Baumgeister verdoppelt. Der Banshee entfaltete erneut seine großen Dreiecksflügel. Sie flatterten schwach und kraftlos, das Tier hob nicht ab. Die Plagegeister waren überall auf dem Körper des Banshee, bissen nach ihm, klammerten sich an ihn, hielten ihn mit ihrem Gewicht am Boden und rissen ihn in Stücke. An die Erde genagelt, konnte er noch nicht einmal einen Schmerzensschrei hervorbringen. Schweigend starb er, die eigene Mahlzeit immer noch unter sich begrabend.

Als Dirk auf dem oberen Rand der Felswand von seinem Himmelsflitzer stieg, war die Lichtung wieder zu jener wogenden Masse aus gelben Körpern geworden, die er zu Anfang gesehen hatte. Kein Zeichen deutete mehr darauf hin, daß dort unten jemals ein Banshee gewesen war. Der Wald lag ganz ruhig. Er wartete, bis Jaan Vikary zu ihm stieß. Gemeinsam nahmen sie ihren wortlosen Marsch wieder auf.

In der Höhle war es kalt, dunkel und unendlich still.

Viele Stunden vergingen unter der Erde, in denen Dirk dem kleinen, schwankenden Licht von Jaan Vikarys Taschenlampe folgte. Das Licht führte ihn durch gewundene, unterirdische Gallerien, durch hallende Gewölbe und beängstigend enge Passagen, die man nur auf Händen und Füßen durchqueren konnte. Sein Universum war der Schein des Lichtes, Dirk verlor jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Er und Jaan hatten einander nichts zu sagen, also schwiegen sie, das Schlurfen ihrer Stiefel über staubigen Fels und die unregelmäßig dröhnenden Echos waren die einzigen Geräusche. Vikary kannte sein Höhlensystem gut.

Niemals kam er vom Weg ab oder zögerte auch nur. Sie hinkten und krochen durch Worlorns geheime Seele.

Und traten an einem Bergabhang inmitten von Würgern ins Freie. Hinaus in eine Nacht des Feuers und der Musik.

Kryne Lamiya brannte. Die Knochentürme kreischten ein verzerrtes Klagelied.

Überall in der bleichen Totenstadt loderten Flammen hoch, leuchtende Wachposten, welche die Straßen auf und ab wanderten. Im Wabern von Licht und Hitze schimmerte die Stadt wie ein seltsames Traumgespinst, sie schien durchsichtig wie eine Seifenblase, unwirklich wie eine Fata Morgana zu sein. Während sie gebannt hinüberstarrten, stürzte eine der schlanken Bogenbrücken ein. Zuerst brach das geschwärzte Mittelstück und fiel in das Flammenmeer, dann folgte der Rest der Steinkonstruktion. Das Feuer verschluckte alles und stob prasselnd, zischend und ungesättigt nur noch höher.

Daneben hustete dumpf ein Gebäude und fiel in einer riesigen Staub- und Glutwolke in sich zusammen.

Dreihundert Meter von dem Bergrücken entfernt, an dem sie standen, ragte eine kalkweiße Turmhand hoch über die Würgerwälder hinaus. Bislang war sie von der Feuersbrunst verschont geblieben, aber angestrahlt von der schrecklichen Helligkeit, schien sie sich wie ein lebendiges Wesen zu bewegen, sich im Schmerz zu winden und zu drehen. Durch das Brüllen des Feuers hindurch konnte Dirk die schwache Musik von Lamiya-Bailis vernehmen. Dunkeldämmerungs Symphonie wirkte zerbrochen und entstellt. Türme waren verschwunden, Töne fehlten, und so war das Musikstück voller grauenhafter Pausen. Das Prasseln der Flammen stellte einen donnernden Gegensatz zu dem Heulen, Stöhnen und Pfeifen dar. Der Wind der Dunklinge, der ohne Unterlaß von den Bergen herabwehte, um die Sirenenstadt zum Singen zu bringen, dieser Wind fachte das riesige Feuer, das Kryne Lamiya nun verschlang, nur noch mehr an. Er schwärzte ihre Totenmaske mit Asche und Ruß und brachte sie endgültig zum Schweigen.

Jaan Vikary nahm sein Lasergewehr von der Schulter.

Sein Gesicht war merkwürdig ausdruckslos, leergewaschen vom Widerschein des großen Brandes.

»Wie konnte …« »Der Wolfsgleiter«, sagte Gwen.

Sie stand nur wenige Meter unter ihnen am Berghang.

Ohne überrascht zu sein, sahen die beiden Männer sie an.

Hinter ihr, im Schatten eines überhängenden Blauen Witwers am Fuße des Berges, erkannte Dirk Ruarks kleinen gelben Gleiter. »Bretan Braith!« sagte Vikary.

Gwen trat zu ihnen vor den Eingang der Höhle. »Ja.

Sein Gleiter flog mehrere Male über der Stadt hin und her und feuerte dabei aus den Bordlasern.«

»Chell ist tot«, bemerkte Vikary.

»Aber ihr lebt«, gab Gwen zurück. »Mir waren schon Zweifel gekommen.«

»Wir leben«, stellte er fest und ließ das Gewehr aus den kraftlosen Fingern gleiten. »Gwen«, sagte er »ich habe meinen teyn umgebracht.«

»Garse?« sagte sie erschrocken. Ihr Gesicht wurde zu einer Maske. »Er hatte mich gefangen und an die Braiths ausgeliefert«, fuhr Dirk schnell dazwischen. Seine Augen suchten die von Gwen. »Und er machte an Lorimaars Seite Jagd auf Jaan. Es blieb keine andere Wahl.« Sie ließ den Blick von Dirk zu Jaan wandern. »Ist das wirklich wahr? Arkin hat mir etwas Ähnliches berichtet, aber ich habe ihm nicht geglaubt.«

»Es ist die Wahrheit«, sagte Vikary. »Arkin ist hier?« bemerkte Dirk.

Gwen nickte. »Im Gleiter. Er kam von Larteyn hergeflogen. Du mußt ihm gesagt haben, wo ich zu finden bin. Er versuchte wieder einmal, mir ein paar Lügen aufzutischen. Ich habe ihn bewußtlos geschlagen.

Jetzt bedeutet er keine Gefahr mehr.«

»Gwen«, sagte Dirk. »Wir haben uns in Arkin getäuscht.« Bei diesen Worten überkam ihn ein gallebitteres Gefühl. »Hörst du, Gwen? Arkin warnte Jaan vor Garses Verrat. Ohne diese Warnung hätte Jaan nie etwas davon erfahren. Er hätte Janacek vertraut und wäre von ihm erschossen worden. Er hätte ihn gefangengenommen und dann umgebracht.« Seine Stimme klang heiser und recht überzeugend. »Hörst du?

Arkin …« Während sie Dirk beobachtete, spiegelte sich das Feuer in ihren kalten Augen. »Ich habe es gehört«, sagte sie in ersticktem, schwankendem Tonfall. Dann wandte sie sich wieder Vikary zu. »Oh, Jaan«, rief sie und streckte die Arme aus.

Er ging auf sie zu, legte ihr den Kopf auf die Schulter und schlang die Arme um sie. Dann begann er zu weinen.

Dirk ließ sie allein und ging zum Gleiter hinunter. Arkin Ruark war eng an einen der Sitze gefesselt. Er trug schwere Geländekleidung, und sein Kopf hing nach vorn, so daß sein Kinn auf der Brust ruhte. Als Dirk einstieg, sah er mit einiger Anstrengung auf. Die ganze rechte Gesichtshälfte war dunkelrot angeschwollen. »Dirk«, hauchte er schwach.

Dirk nahm den lästigen Rucksack ab und setzte ihn auf dem Boden ab. Dann lehnte er sich gegen das Armaturenbrett. »Arkin«, sagte er beherrscht.

»Helfen Sie mir«, flüsterte Ruark.

»Janacek ist tot«, berichtete Dirk. »Jaan laserte ihn vom Himmel. Er fiel in ein Baumgeisternest.«

»Garsey?« sagte Ruark unter Schwierigkeiten. Seine Lippen waren geschwollen und blutig, seine Stimme zitterte. »Er hätte euch alle getötet, das ist die vollständige Wahrheit, die völlige Wahrheit. Ich warnte Jaan, wirklich, ich warnte ihn. Glauben Sie mir, Dirk!«

»Oh ja, ich glaube Ihnen«, antwortete Dirk nickend. »Ich wollte nur helfen, ja, aber Gwen wurde wütend. Ich sah, wie die Braiths Jaan umstellten. Ich wollte ihm beistehen.

Sie waren schneller. Hatte Angst um Gwen, eilte ihr zu Hilfe. Sie schlug mich, sagte, ich sei ein Lügner, fesselte mich und flog mich her. Sie ist außer sich, Dirk, Freund Dirk, ganz tollwütig, kavalarwütig. Fast wie Garse, überhaupt nicht wie die süße Gwen. Ich glaube, sie will mich umbringen. Und Sie vielleicht auch. Ich weiß es nicht. Sie wird zu Jaan zurückkehren, das ist sicher.

Helfen Sie mir, Sie müssen mir helfen! Halten Sie sie auf!« Er wimmerte.

»Sie wird niemanden umbringen«, sagte Dirk. »Jetzt sind Jaan und ich hier. Sie sind sicher, Arkin, machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden alles in Ordnung bringen.

Wir sind Ihnen Dank schuldig, nicht wahr? Besonders Jaan. Ohne Ihre Warnung … nicht auszumalen, was passiert wäre.«

»Ja«, sagte Ruark. Er lächelte. »Ja, das ist wahr, völlig wahr.« Plötzlich erschien Gwen in der Tür. »Dirk«, sagte sie, dabei Ruark ignorierend.

Er wandte sich ihr zu. »Ja?«

»Ich habe Jaan dazu gebracht, daß er sich eine Weile hinlegt. Er ist sehr müde. Komm nach draußen, wo wir sprechen können.«

»Wartet!« sagte Ruark. »Bindet mich zuerst los, ja?

Macht schon! Meine Arme, Dirk, meine Arme …«

Dirk ging nach draußen. In der Nähe lag Jaan. Er hatte den Kopf gegen einen Baum gelehnt und starrte blind auf das Feuer in der Ferne. Sie entfernten sich von ihm und hielten auf die Dunkelheit der Würger zu, die sich vor ihnen ausbreitete. Schließlich hielt Gwen an und drehte sich zu ihm um. »Jaan darf es niemals erfahren«, sagte sie. Mit der rechten Hand wischte sie sich eine lose Haarsträhne aus der Stirn. Dirk erstarrte. »Dein Arm«, stammelte er.

Um ihren rechten Unterarm trug Gwen schwarzes, leeres Eisen. Bei Dirks Worten hielt sie mitten in der Bewegung inne. »Ja«, sagte sie. »Die Glühsteine folgen später.«

»Ich verstehe«, sagte Dirk. »Teyn und betheyn. Beides in einer Person.«

Gwen nickte. Sie nahm Dirks Hände in ihre eigenen.

Ihre Haut war kalt und trocken. »Sei für mich glücklich, Dirk«, sagte sie mit leiser, trauriger Stimme. »Bitte.«

Er drückte ihre Hände und versuchte dabei einen sicheren Eindruck zu machen. »Das bin ich«, sagte er ohne Überzeugung. Schweigen herrschte zwischen ihnen, Schweigen und große Bitterkeit. »Wie du aussiehst!« sagte Gwen schließlich und zwang sich zu einem Grinsen. »Das ganze Gesicht zerkratzt. Wie du deinen Arm hältst! Wie du gehst! Ist alles in Ordnung mit dir?«

Er zuckte die Achseln. »Die Braiths sind keine sanften Spielkameraden«, sagte er. »Aber ich werde es überstehen.« Er ließ ihre Hände los und griff in die Tasche. »Gwen, ich habe etwas für dich.« In seiner Faust: zwei Edelsteine. Der Glühstein, rund und ungenau facettiert, von innen schwach leuchtend, funkelte in seiner hohlen Hand. Der Flüsterjuwel, kleiner und dunkler, tot und kalt. Gwen nahm die Steine wortlos entgegen. Stirnrunzelnd rollte sie beide einen Moment auf der Hand. Dann steckte sie den Glühstein ein und gab das Flüsterjuwel zurück.

Er nahm es an. »Das letzte, was ich von Jenny besitze«, sagte er, als seine Hand sich um den Eistropfen schloß und wieder in seiner Kleidung verschwand.

»Ich weiß«, sagte sie. »Vielen Dank für dein Angebot.

Aber ich will ehrlich sein: Es spricht nicht mehr zu mir.

Ich glaube, ich habe mich zu sehr verändert. Ich habe das Flüstern seit Jahren nicht mehr vernommen.«

»Ja«, sagte er. »So etwas habe ich mir schon gedacht.

Aber ich mußte es dir anbieten — den Stein und das Versprechen. Das Versprechen gehört dir immer noch, Gwen, falls du jemals meine Hilfe benötigen solltest.

Nenne es mein Eisen-und-Feuer. Du willst mich doch nicht zu einem Spottmenschen machen, oder?« »Nein«, erwiderte sie. »Der andere …«

»Garse hat ihn heimlich weggesteckt, als er den Rest ins Wasser warf. Ich dachte, daß du ihn vielleicht zusammen mit den neuen einfassen lassen könntest. Jaan würde den Unterschied nicht bemerken.« Gwen seufzte.

»Wird gemacht«, sagte sie. Dann: »Ich muß sagen, daß mir Garses Schicksal sehr nahegeht. Ist das nicht merkwürdig? In all den Jahren, die wir zusammen verbrachten, verging kaum ein Tag, an dem wir uns nicht gegenseitig an die Gurgel gingen, und der arme Jaan, der uns beide liebte, zwischen uns treten mußte. Es gab Zeiten, da war ich mir fast sicher, daß nur eines mich vom absoluten Glück trennte: Garse Eisenjade Janacek.

Und jetzt, wo er nicht mehr da ist, kann ich es kaum fassen. Ich erwarte dauernd, ihn in seinem Gleiter daherfliegen zu sehen, grinsend und bis an die Zähne bewaffnet, bereit, mich anzuschnauzen und mich zurechtzuweisen. Ich glaube, ich werde weinen, wenn mir die Wirklichkeit voll zu Bewußtsein kommt. Findest du das nicht merkwürdig?«

»Nein«, sagte Dirk. »Ganz und gar nicht.«


»Um Arkin könnte ich auch beinahe heulen«, sagte sie.

»Weißt du, was er gesagt hat? Als er in Kryne Lamiya zu mir kam? Nachdem ich ihn einen Lügner genannt und zu Boden geschlagen hatte — weißt du, was er da gesagt hat?«

Dirk schüttelte den Kopf und wartete gespannt.

»Er sagte, er würde mich lieben«, sagte Gwen und lächelte grimmig. »Er sagte, er hätte mich von dem Tag an geliebt, an dem wir uns auf Avalon trafen. Ich kann natürlich nicht beschwören, daß er die Wahrheit sprach.

Garse war schon immer der Meinung, die Manipulatoren seien sehr schlau, und Arkin brauchte kein Genius zu sein, um zu sehen, wie sehr mich seine Offenbarung traf.

Ich hätte ihn fast wieder befreit, als er mir das sagte. Er kam mir so klein und bedauernswert vor, und er schluchzte die ganze Zeit. Statt dessen … Hast du sein Gesicht gesehen?« Sie zögerte.

»Ja, das habe ich. Ganz schön häßlich.«

»Statt dessen habe ich ihm das angetan«, sagte Gwen.

»Aber jetzt bin ich geneigt, ihm zu glauben. Auf irgendeine kranke Art hat er mich geliebt. Und er sah, wie ich mich weiterentwickelte und alles seinen Gang ging. Er wußte, daß ich Jaan nie verlassen würde, also entschloß er sich, dich zu benutzen — und dabei alle Dinge auszunutzen, die ich ihm anvertraut hatte —, um mich von Jaan loszueisen. Ich nehme an, er stellte sich vor, daß wir uns später ohnehin getrennt hätten, genau, wie es damals auf Avalon geschah, und ich mich dann ihm zuwenden würde. Oder vielleicht wußte er es auch besser. Ich habe keine Ahnung. Er sagte, daß er die ganze Zeit nur an mich und mein Glück gedacht habe, und daß er es nicht aushaken könne, mich in Jade-und-Silber zu sehen. Daß er dabei ganz selbstlos gewesen sei. Er behauptete, mein Freund zu sein.« Sie seufzte hoffnungslos. »Mein Freund«, wiederholte sie. »Er sollte dir nicht zu sehr leid tun, Gwen«, warnte Dirk. »Ohne einen Augenblick zu zögern, hätte er mich in den Tod geschickt — und Jaan auch. Garse Janacek ist tot, einige Braiths sind tot, unschuldige Emereli in Challenge — und im Endeffekt kann man das alles dem sauberen Arkin ankreiden. Oder etwa nicht?«

»Nun bist zu derjenige, der wie Garse klingt«, sagte sie. »Was hast du mir gesagt? Ich hätte Augen aus Jade?

Sieh dir mal deine eigenen an, Dirk! Aber ich glaube, du hast recht.« »Was sollen wir jetzt mit ihm anfangen?«

»Ihn freilassen«, sagte sie. »Für den Augenblick wenigstens. Jaan darf auf keinen Fall ahnen, was er getan hat. Das wäre sein Verderben, Dirk. Deshalb muß Arkin Ruark wieder unser Freund sein. Siehst du das ein?«

»Ja«, sagte er. Das Brüllen der Feuersbrunst war zu einem sanften Prasseln geworden. Als er einen Blick in Richtung Gleiter warf, sah er, daß das Inferno in sich zusammengesunken war. Hier und dort brannte es noch an einigen Stellen schwach zwischen dem Schutt. Diese kleinen Brandherde warfen ein flackerndes Licht auf die rauchende Ruinenstadt. Die meisten der schlanken Türme waren zusammengefallen, und diejenigen, die noch standen, gaben keinen Ton mehr von sich. Der Wind war nur noch ein gewöhnlicher Wind.

»Bald graut der Morgen«, gab Gwen zu bedenken.

»Wir sollten uns auf den Weg machen.« »Auf den Weg?

Wohin?«

»Zurück nach Larteyn, falls Bretan das nicht auch zerstört hat.« »Seine Art zu trauern strotzt vor Gewalt«, stimmte Dirk zu. »Ist Larteyn denn sicher?«

»Das Versteckspiel ist jetzt vorbei«, verkündete Gwen.


»Ich bin nicht mehr bewußtlos und auch keine hilflose betheyn mehr, die des Schutzes bedarf.« Sie hob den rechten Arm, ferne Feuer illuminierten das stumpfe Eisen. »Ich bin Jaan Vikarys teyn, von gleichem Blut wie er, und habe meine Waffe. Und du — auch du hast dich verändert, Dirk. Du bist kein korariel mehr, weißt du. Du bist ein keth. Für den Augenblick stehen wir zusammen.

Wir sind jung und wir sind stark. Wir wissen, wer unsere Feinde sind und wo wir sie finden können. Und keiner von uns kann je wieder Eisenjade sein. Ich bin eine Frau, Jaan ist ein Bundbrecher, und du bist ein Spottmensch.

Garse war der letzte Eisenjade. Garse ist tot. Das Recht und Unrecht Hoch Kavalaans und der Eisenjadeversammlung starb mit ihm, wenigstens auf dieser Welt. Vergiß nicht, daß es auf Worlorn keinen Kodex gibt! Keine Braiths und keine Eisenjades, nur Tiere, die sich gegenseitig zu töten versuchen.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Dirk, obgleich er die Antwort zu kennen glaubte.

»Ich will sagen, daß es mir langsam reicht, ständig gejagt, mit Hunden gehetzt und bedroht zu werden«, fauchte Gwen. Ihr überschattetes Gesicht war wie schwarzes Eisen, ihre Augen glühten heiß und bedrohlich. »Ich will sagen, daß es an der Zeit ist, daß wir zu Jägern werden!« Dirk sah sie lange Zeit schweigend an. Sie war sehr schön, dachte er, schön auf eine Art, wie Garse Janacek schön gewesen war. Sie erinnerte ein wenig an den Banshee, stellte er fest, und er grämte sich einen Moment um seine Jenny, seine Guinevere, die es nie gegeben hatte. »Du hast recht«, sagte er bekümmert.

Sie trat auf ihn zu, und bevor er reagieren konnte, hatte sie ihn mit den Armen umfangen und drückte ihn mit aller Kraft. Langsam hob er seine Arme und erwiderte die Liebkosung. Sie standen gut zehn Minuten so, aneinandergepreßt, ihre glatte kühle Wange an seinen Bartstoppeln. Als sie sich schließlich von ihm löste, sah sie zu ihm auf und erwartete, daß er sie küßte. Was er auch tat. Er schloß die Augen, ihre Lippen fühlten sich trocken und hart an.

Im Morgengrauen war die Feuerfeste kalt. Der Wind wirbelte in hämmernden Böen um sie herum, der Himmel über ihnen war grau und bewölkt.

Auf dem Dach ihres Gebäudes fanden sie eine Leiche.

Vorsichtig, das Lasergewehr im Anschlag, stieg Jaan aus, während Gwen und Dirk ihm aus der relativen Sicherheit des Gleiters heraus im Notfall Feuerschutz geben sollten.

Ruark saß verängstigt auf dem Rücksitz. Bevor sie die Nachbarschaft von Kryne Lamiya verließen, hatten sie ihn befreit, und auf dem Rückweg zeigte er sich abwechselnd mürrisch und überschwenglich erfreut. Er wußte nicht, was er denken sollte. Vikary untersuchte den Körper, der ausgestreckt vor den Aufzügen lag, dann kehrte er zum Gleiter zurück. »Roseph Hoch-Braith Kelcek«, sagte er kurz angebunden. »Hoch-Larteyn«, verbesserte Dirk.

»Richtig«, stimmte er mit finsterem Blick zu. »Hoch-Larteyn. Er dürfte schon mehrere Stunden tot sein, würde ich sagen. Annähernd die Hälfte seiner Brust wurde von Geschossen aus einer Projektilwaffe weggerissen. Seine eigene Handfeuerwaffe steckte im Halfter.«

»Eine Projektilwaffe?« wiederholte Dirk.

Vikary nickte. »Von Bretan Braith Lantry weiß man, daß er eine solche Waffe beim Duell benutzt. Er ist ein berühmter Duellant, aber ich glaube, er hat diese Waffe bisher nur zweimal eingesetzt. Bei seltenen Anlässen, wenn er sich nicht damit zufrieden geben wollte, den Gegner nur zu verwunden. Ein Duellaser ist ein sauberes, präzises Instrument. Das trifft auf diese ominöse Waffe Bretan Braiths nicht zu. Sie verschießt Kugeln, die auch dann zu tödlichen Wunden führen, wenn der Schuß eigentlich nicht tödlich gewesen wäre. Es ist ein brutales Ding für kurze Duelle mit tödlichem Ausgang.«

Gwen starrte auf die Stelle, wo Roseph wie ein Lumpenhaufen lag. Seine Kleider hatten die schmutzige Farbe des staubigen Daches und flatterten von Zeit zu Zeit im Wind. »Das war kein Duell«, sagte sie. »Nein«, gab Vikary zurück.

»Aber warum?« fragte Dirk. »Roseph war für Bretan Braith doch keine Gefahr, oder? Darüber hinaus schreibt der Duellkodex vor … Bretan ist doch noch ein Braith, oder irre ich mich? Also ist er immer noch gebunden. «

»Bretan ist in der Tat noch ein Braith, und das beantwortet Ihre Frage, Dirk t’Larien«, sagte Vikary. »Es handelt sich um kein Duell, sondern wir haben es mit einem Hochkrieg zu tun — Braith gegen Larteyn. Im Hochkrieg gibt es nur wenige Regeln. Jeder männliche Erwachsene des feindlichen Festhalts darf getötet werden, bis ein Friede verkündet wird.«

»Ein Kreuzzug«, meinte Gwen und kicherte. »Das sieht Bretan nicht sehr ähnlich, Jaan.«

»Ja, das klingt viel eher nach dem alten Chell«, gab Vikary zurück. »Ich vermute, daß sein teyn ihm ein Versprechen abnahm, als er im Sterben lag. Falls dies zutrifft, tötet Bretan, um ein Gelöbnis zu erfüllen und nicht einfach nur aus Kummer. Er wird keine Gnade kennen.« Auf dem Rücksitz lehnte sich Arkin Ruark eifrig vor. »Aber das ist ja großartig!« rief er aus. »Ja, hört mir zu, das ist großartig. Gwen, Dirk und Jaan, mein Freund, hört mir zu! Bretan wird sie alle für uns umbringen, nicht wahr? Er wird sie alle töten, jawohl. Er ist der Feind unserer Feinde — das beste, was uns geschehen konnte, stimmt’s?« »Ihr Optimismus ist unangebracht«, sagte Vikary. »Der Hochkrieg zwischen Bretan Braith und den Larteyns macht ihn nicht zu unserem Freund, es sei denn durch Zufall. Blut und Hochbeschwerde lassen sich nicht so einfach aus der Welt schaffen, Arkin.«

»Ja«, stimmte Gwen zu. »Es war nicht Lorimaar, den er in Kryne Lamiya vermutete! Er brannte die Stadt nieder, um uns den Garaus zu machen.«

»Eine Vermutung, reine Spekulation«, murmelte Ruark. »Vielleicht hatte er andere Gründe, persönliche — wer will das wissen? Vielleicht war er verrückt, vor Kummer wahnsinnig geworden, hm?« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Arkin«, sagte Dirk. »Wir werden Sie draußen absetzen, und wenn Bretan daherkommt, können Sie ihn selbst fragen.«

Der Kimdissi zuckte zurück und sah ihn merkwürdig an. »Nein«, sagte er. »Nein, bei euch ist es sicherer, meine Freunde. Ihr werdet mich beschützen.«

»Wir werden Sie beschützen«, bekräftigte Jaan Vikary.

»Sie haben soviel für uns getan.« Dirk und Gwen tauschten Blicke. Plötzlich startete Vikary den Gleiter.

Sie stiegen hoch und flogen dann zu den düsteren Straßen von Larteyn hinab. »Wohin … ?« fragte Dirk.

»Roseph ist tot«, sagte Vikary. »Aber er war nicht der einzige Jäger. Wir werden eine Volkszählung durchführen, Freunde, und sehen, wer noch da ist.«

Das Gebäude, in welchem Roseph Hoch-Braith Kelcek mit seinem teyn gewohnt hatte, war nicht weit von der Residenz der Eisenjades entfernt. Es war ein großer, quadratischer Bau mit einem Kuppeldach aus Metall und einer Kolonnade, die von schwarzen Eisensäulen gestützt wurde. Sie landeten kurz davor und näherten sich mit zögernden Schritten. An der Vorderfront des Hauses hatte jemand zwei Braithhunde an Säulen gekettet. Beide waren tot. Vikary besah sie sich aus der Nähe. »Ihre Kehlen wurden aus einiger Entfernung von einem Jagdlaser durchschnitten«, berichtete er. »Lautlos und sicher erlegt.« Während Gwen und Dirk das Gebäude durchsuchten, hielt Jaan draußen mit dem Lasergewehr im Anschlag Wache. Ruark wich ihm nicht von der Seite.

Neben zahlreichen leeren Zimmern fanden sie einen kleinen Trophäenraum mit vier Köpfen vor. Drei davon waren alt und vertrocknet, mit gespannter, ledriger Haut, die Gesichtszüge animalisch verzerrt. Der vierte gehörte, wie Gwen feststellte, einem Schwarzweiner Puddingkind. Dem Aussehen nach zu urteilen, war er ganz frisch.

Ein anderer Raum war randvoll mit Miniaturfiguren: Banshees und Wolfsrudel, mit Messer und Schwert kämpfende Männer, Männer im Kampf mit grotesken Monstren. Alle Szenen waren in Eisen, Kupfer oder Bronze gegossen und sauber gearbeitet. »Das hat Roseph selbst gemacht«, sagte Gwen, als Dirk stehenblieb und eine Figurengruppe hochhob, um sie eingehender zu betrachten. Dann drängte sie ihn zum Weitergehen.

Rosephs teyn war beim Essen überrascht worden. Sie fanden ihn im Speisezimmer. Sein Mahl — ein Eintopf aus Fleisch und Gemüse, dazu einige Scheiben Schwarzbrot — war kalt und nur zur Hälfte verzehrt.

Neben dem Teller stand ein Steingutkrug mit braunem Bier. Hinter dem Holztisch lag der Körper des Kavalaren auf einem umgestürzten Stuhl. Die Wand dahinter wies dunkle Flecken auf. Vom Kopf des Mannes war kaum etwas übriggeblieben.

Gwen stand mit nachdenklichem Gesichtsausdruck über ihm. Ihr Gewehr hing nachlässig in der Armbeuge und zeigte zu Boden. Sie hob den Bierkrug und nahm einen kurzen Schluck, bevor sie ihn an Dirk weitergab.

Das Getränk war schal und abgestanden, vom Schaum war nichts mehr zu sehen.

»Was ist mit Lorimaar und Saanel?« fragte Gwen, als sie draußen in der Kolonnade standen.

»Ich glaube nicht, daß sie schon aus dem Wald zurück sind«, antwortete Vikary. »Vielleicht wartet Bretan irgendwo in Larteyn auf sie. Zweifellos hat er Roseph und Chaalyn gestern hereinfliegen sehen. Möglicherweise lauert er hier irgendwo in der Nähe und hofft, seine Feinde bei der Rückkehr in die Stadt einen nach dem anderen abzufangen. Aber ich halte das nicht für wahrscheinlich.« »Warum nicht?« wollte Dirk wissen.

»Denken Sie einmal nach, t’Larien. Im Morgengrauen kamen wir in einem ungepanzerten Gleiter in die Stadt.

Er griff uns nicht an. Entweder hat er geschlafen, oder er ist überhaupt nicht mehr hier.« »Was glauben Sie, wo er sein könnte?«

»Draußen in der Wildnis. Auf der Jagd nach unseren Jägern«, sagte Vikary. »Es gibt nur noch zwei Larteyns, die ihm gegenüberstehen, aber Bretan Braith kann das nicht wissen. Er muß annehmen, daß Pyr, Arris und der alte Raymaar Ein-Hand ebenfalls noch leben. Mit den anderen beiden zusammen ergibt das eine ganz schöne Streitmacht. Ich möchte wetten, daß er hinausgeflogen ist, um sie im Wald zu überraschen, vielleicht auch in der Furcht, daß sie als Gruppe in die Stadt zurückkehren und ihre kethi erschlagen vorfinden könnten. Damit wären ihnen seine Absichten bekannt gewesen.«

»Dann sollten wir uns aus dem Staub machen, bevor er zurückkommt, oder?« warf Arkin Ruark ein.

»Irgendwohin gehen, wo wir vor dem Kavalarwahnsinn sicher sind. Zwölfter Traum, ja, zum Zwölften Traum.

Oder Musquel. Oder Challenge. Egal wohin. Bald wird ein Schiff kommen, und dann sind wir in Sicherheit. Was meinen Sie dazu?« »Ich bin dagegen«, erwiderte Dirk.

»Bretan würde uns finden. Denken Sie nur, auf welch geradezu übernatürliche Weise er Gwen und mich in Challenge aufgespürt hat.« Er sah Ruark durchdringend an. Der Kimdissi hielt seinem Blick bewundernswert stand, das mußte man ihm lassen.

»Wir werden in Larteyn bleiben«, sagte Vikary entschieden. »Bretan Braith ist ganz allein. Wir sind zu viert, wovon drei bewaffnet sind. Wenn wir zusammenbleiben, kann uns nichts geschehen. Wir stellen Wachen auf. Wir werden immer auf der Hut sein.« Gwen nickte und hakte sich bei Jaan unter. »Damit bin ich einverstanden«, sagte sie. »Möglicherweise überlebt Bretan nicht einmal den Kampf mit Lorimaar.«

Der Kavalare war anderer Meinung. »Nein, Gwen«, sagte er. »Bretan Braith wird Lorimaar überleben. Dessen bin ich mir ganz sicher.«

Auf Vikarys Drängen hin durchsuchten sie die ausgedehnten unterirdischen Garagenanlagen, bevor sie sich aus der Nähe von Rosephs Residenz zurückzogen.

Sein Gefühl trog ihn nicht. Da man ihnen den eigenen Gleiter in Challenge gestohlen hatte, war es für Roseph und seinen teyn naheliegend gewesen, sich Pyrs Gefährt zu ihrer Rückkehr von der Jagd auszuleihen. Es stand in der Garage. Jaan eignete es sich sofort an. Kam es an Janaceks wuchtiges, olivgrünes Kriegsrelikt auch in keiner Weise heran, so war es doch erheblich besser als Ruarks kleiner Gleiter.

Danach suchten sie sich ein Quartier. Entlang der Stadtmauer von Larteyn, hoch über der steil abfallenden Felswand, die bis zum Freigelände hinabreichte, ragte eine Reihe von Wachttürmen auf, deren besonders starke Mauern nicht nur Wohnquartiere beherbergten, sondern als oberstes Stockwerk auch einen mit Schießscharten versehenen Ausguckposten auf wiesen. Die Türme waren reich verziert, nicht zuletzt trug jeder einen mächtigen steinernen Wasserspeicher an der Spitze. Diese Schnörkel sollten der Festivalstadt den letzten Kavalarschliff geben. Sie waren sehr leicht zu verteidigen und boten eine ausgezeichnete Sicht über die Stadt. Gwen wählte auf gut Glück einen der Türme aus, und sie zogen ein. Zuvor holten sie aus ihrem früheren Appartement alle wichtigen persönlichen Gegenstände, Nahrungsmittel und die fast vergessenen Ergebnisse der ökologischen Forschungen, die Gwen und Ruark auf Worlorn durchgeführt hatten. Als sie sich in Sicherheit fühlten, richteten sie sich auf das Warten ein.

Wie Dirk später feststellen mußte, war dies das schlimmste, was ihnen widerfahren konnte. Unter dem Druck ihrer Inaktivität begannen sich die Risse zu vertiefen.

Sie entwickelten ein System von sich überlappenden Wachperioden, nach dem zu jeder Zeit zwei von ihnen mit Lasern und Gwens Feldstecher bewaffnet, oben auf dem Turm patroullierten. Larteyn war grau, leer und desolat. Für die Wächter gab es nicht viel zu tun. Sie konnten nur das langsame An- und Abschwellen des Lichts in den Glühsteinstraßen studieren und sich unterhalten. Meistens unterhielten sie sich. Arkin Ruark beteiligte sich an dem Wachplan wie alle anderen. Er akzeptierte sogar das Lasergewehr, das Vikary ihm aufzwang, wenn auch mit einigen Bedenken. Immer wieder wollte er darauf hinweisen, daß er für Gewalttätigkeiten nicht tauge und auf keinen Fall einen Laser abfeuern könnte. Aber er war schließlich damit einverstanden, einen bei sich zu tragen, weil Jaan Vikary ihn darum bat. Seine Beziehungen zu allen anderen hatten sich drastisch verändert. Sooft wie möglich hielt er sich an Jaan, den er als seinen Beschützer erkannte.

Gwen gegenüber war er freundlich. Sie hatte ihn gebeten, ihr wegen Kryne Lamiya zu verzeihen, wo Angst und Schmerz sie zeitweise in einen paranoiden Zustand versetzt hätten. Aber für Ruark war sie nicht mehr die ›süße‹ Gwen, von Tag zu Tag trat die Verbitterung zwischen beiden mehr an die Oberfläche. Dirk gegenüber legte der Kimdissi eine zurückhaltende, argwöhnische Haltung an den Tag. Meistens machte er auf gute Freundschaft, zog sich aber in Formalitäten zurück, wenn klar wurde, daß sich Dirk nicht erwärmen mochte.

Ruarks Aussagen während der ersten gemeinsamen Wache eröffneten Dirk, daß der dickliche Ökologe verzweifelt auf die Randfähre Teric neDahlir, deren Landung in der kommenden Woche erfolgen sollte, wartete. Er schien nichts sehnlicher zu wünschen, als sicher im Versteck zu bleiben und so schnell wie möglich von diesem Planeten zu verschwinden.

Gwen Delvano wartete auf etwas ganz anderes, glaubte Dirk zu wissen. Während Ruark ängstlich den Horizont absuchte, war Gwen voller Erwartungen. Er erinnerte sich der Worte, die sie im Schein des brennenden Kryne Lamiya gesprochen hatte. »Es ist an der Zeit, daß wir zu Jägern werden«, hatte sie gesagt. Sie meinte es noch immer so. Als sie mit Dirk zusammen Wache hielt, nahm sie alle Arbeiten auf sich. Mit unglaublicher Geduld saß sie hinter dem hohen, engen Fenster. Das Fernglas baumelte zwischen ihren Brüsten, und ihre Arme hatte sie auf den Sims gestützt. Sie sprach mit Dirk, ohne ihn je anzusehen, ihre Aufmerksamkeit war einzig und allein nach draußen gerichtet. Abgesehen von einigen Ausflügen ins Badezimmer, verließ Gwen das Fenster nie. Alle paar Augenblicke hob sie den Feldstecher und beobachtete ein entferntes Gebäude, an dem sie eine Bewegung wahrgenommen zu haben glaubte. Seltener bat sie Dirk, ihre Haare zu kämmen, und er bürstete das lange schwarze Haar, das vom Wind ständig in Unordnung gebracht wurde. Als er sie wieder einmal kämmte, sagte sie: »Ich hoffe, Jaan hat unrecht. Ich würde Lorimaar und seinen teyn viel lieber zurückkehren sehen als Bretan.« Mit der Bemerkung, daß Lorimaar — viel älter und verwundet obendrein — eine geringere Gefahr darstellte als der einäugige Duellant, der ihm nachjagte, hatte Dirk eine Art Einverständnis gemurmelt.

Aber Gwen hatte ihn nur angestarrt. »Nein«, war ihre Antwort, »das ist nicht der Grund.«

Für Jaantony Riv Wolf Hoch-Eisenjade Vikary schien die Warterei am schlimmsten zu sein. Solange er in Bewegung gewesen war und man Entscheidungen von ihm verlangt hatte, war er der alte Jaan Vikary geblieben — stark, aktiv, eine Führerpersönlichkeit. Ohne Aufgabe war er ein anderer Mensch. Er hatte keine Rolle zu spielen — stattdessen jedoch unbegrenzt Zeit zum Brüten.

Das war nicht gut. Obwohl Garse Janacek in jenen letzten Tagen selten erwähnt wurde, war klar, daß das Gespenst seines rotbärtigen teyns Jaan verfolgte. Oft war Vikary schroff, und er begann in dumpfe Schweigeperioden zu verfallen, die manchmal Stunden andauerten.

Hatte er anfangs noch darauf bestanden, daß sie alle gemeinsam innerhalb des Turmes bleiben sollten, war Jaan es nun selbst, der, wenn er keine Wache halten mußte, morgens und abends lange Spaziergänge unternahm. Während seiner Stunden im Turm führte er Gespräche, die fast nur um ein Thema kreisten: seine Kindheit in den Festhalten der Eisenjadeversammlung mit ihren Sagen aus der Geschichte um Märtyrerhelden wie Vikor Hoch-Rotstahl und Aryn Hoch-Glühstein. Von der Zukunft sprach er nie und auch nur selten von der gegenwärtigen Situation. Dirk beobachtete ihn und meinte, den inneren Aufruhr des Mannes fast sehen zu können. Innerhalb weniger Tage hatte Vikary alles verloren: seinen teyn, seine Heimatwelt und sein Volk, selbst den Kodex, von dem sein Leben bestimmt worden war. Er kämpfte dagegen an — er hatte Gwen als teyn genommen und sie mit einer Vollkommenheit und einem totalen Vertrauen akzeptiert, wie er es einzeln früher weder ihr noch Garse entgegenbrachte.

Und Dirk schien es auch, als ob Jaan seinen Kodex zu bewahren suchte und sich an die Bruchstücke der Kavalarehre klammerte, die ihm noch verblieben waren.

Gwen war es, nicht Jaan, die von der Jagd auf die Jäger sprach und von Tieren, die einander töteten, jetzt, nachdem kein Kodex mehr Bestand hatte. Sie drückte sich so aus, als würde sie für ihren teyn und sich gemeinsam sprechen, aber Dirk hatte seine Zweifel daran. Wenn Vikary von den bevorstehenden Kämpfen sprach, schien das immer zu beinhalten, daß er sich mit Bretan Braith duellieren wollte. Auf seinen langen Spaziergängen durch die Stadt übte er sich im Gebrauch von Gewehr und Handfeuerwaffe. »Wenn ich auf Bretan treffe, muß ich gut vorbereitet sein«, pflegte er zu sagen.

Sein tägliches Training absolvierte er in Sichtweite des Turmes. Wie ein Automat ging er nacheinander die einzelnen kavalarischen Duellrituale durch. Nahm er sich an dem einen Tag Todesquadrat und die Zehn-Schritte vor, waren am nächsten Freistil und der Gang-auf-der-Linie an der Reihe, bis er wieder bei Einzelschuß und Todesquadrat angelangt war. Wer gerade auf dem Turm über ihm Wache stand, deckte ihn und betete, daß kein Feind die weithin leuchtenden Lichtblitze sehen möge.

Dirk hatte Angst. Jaan war ihr einziger Trumpf, aber er hatte sich in seinem militärischen Ritual völlig verloren.

Er ging trotz allem von der Annahme aus, Bretan Braith würde zurückkehren und ihm die Ritterlichkeiten des Kodexes gestatten. Vikary hatte zwar im Duell eine unglaubliche Erfahrung, und sein täglicher Drill brachte ihn in bestmögliche Form, aber mit fortschreitender Zeit bezweifelte Dirk immer mehr, daß er im Zweikampf mit Bretan bestehen könnte.

Dirks Schlaf wurde von immer wiederkehrenden Alpträumen gestört, in denen der halbgesichtige Braith auftauchte, Bretan mit der fremdartigen Stimme, dem glühenden Auge und dem grotesken Zucken. Der schlanke, sanftwangige und unschuldige Bretan, Bretan der Städtezerstörer. Schweißnaß, erschöpft und in seine Laken verheddert, pflegte Dirk aus jenen Träumen aufzuwachen, Gwens Schreie (hoch und schrill wie die Klagegesänge von Kryne Lamiya) und Bretans gnadenloses Starren noch frisch in Erinnerung. Er konnte diese Visionen nur durch Jaan bannen, und Jaan war jetzt in einen müden Fatalismus verfallen, obwohl er seine täglichen Übungen vollzog.

Es war Janaceks Tod, sagte sich Dirk — mehr noch, die Umstände, die zu seinem Tod führten. Wäre Garse auf normalere Weise gestorben: Jaan wäre ein wütenderer, leidenschaftlicherer und unüberwindlicherer Rächer gewesen als Myrik und Bretan zusammen. So wie die Dinge standen, war Jaan jedoch davon überzeugt, daß ihn sein teyn verraten und wie ein Tier oder Spottmenschen gejagt hatte. Diese Überzeugung zerstörte ihn. Mehr als einmal hatte Dirk in dem kleinen Wachraum den Drang verspürt, Vikary die Wahrheit zu sagen, auf ihn zuzurennen und zu schreien Nein, nein! Garse war unschuldig, Garse liebte Sie, Garse wäre für Sie in den Tod gegangen! Aber er sagte nichts. Wenn Vikary auf diese Weise langsam starb, wenn ihn seine Melancholie, das Gefühl, betrogen worden zu sein, und sein absoluter Glaubensverlust auffraß wieviel schneller würde ihn dann erst die Wahrheit umbringen. So vergingen die Tage, und die Risse klafften immer weiter auf. Dirk betrachtete seine drei Begleiter mit wachsender Besorgnis. Währenddessen wartete Ruark auf die Flucht, Gwen auf die Rache und Jaan Vikary auf den Tod.

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