3

Über den Bergen veranstalteten sie wieder einen Wettflug. Dieses Mal schnitt Dirk besser ab und verlor mit geringerem Abstand als zuvor, aber dieser Fortschritt hob seine Stimmung nur wenig. Den größten Teil der ermüdenden Strecke flogen sie schweigend und jeder für sich allein, Gwen weit vor ihm. Während des Fluges hatten sie das zerbrochene Feuerrad im Rücken. Gwen hob sich wie eine Hexengestalt gegen den Himmel ab und war immer außer Reichweite. Die Melancholie der sterbenden Wälder Worlorns hatte sich in sein Gemüt geschlichen. Er sah Gwen durch vergiftete Augen, als Puppengestalt in einem Anzug, so verwaschen wie die Verzweiflung, das schwarze Haar ölig im roten Licht.

Während der Wind an ihm vorbeibrauste, überfielen ihn Gedanken in einem farbigen Chaos, und einer davon kam häufiger als alle anderen. Sie war nicht seine Jenny, sie war es jetzt nicht und war es nie gewesen.

Zweimal während des Fluges sah Dirk Jade-und-Silber aufblitzen, so quälend, wie es ihm schon im Wald erschienen war. Jedesmal sah er weg und konzentrierte sich auf die schwarzen Wolken, die sich langgezogen und dünn über den trostlosen Himmel erstreckten. Als sie Larteyn erreichten, waren der graue Manta-Luftwagen und die olivgrüne Kriegsmaschine vom Dachlandeplatz verschwunden. Nur Ruarks gelbe Träne schien unberührt.

Sie landeten gleich daneben. Dirks Landung glich wiederum einem unbeholfenen Stolpern, mit dem Unterschied, daß es dieses Mal nicht mehr witzig, sondern nur noch dumm wirkte. Sie ließen die Himmelsflitzer und Flugstiefel draußen auf dem Dach, wo man sie abholen würde. Vor den Aufzügen sprachen sie kurz miteinander, aber Sekunden später hatte Dirk die Worte schon wieder vergessen. Dann verließ ihn Gwen.

In seinen Räumen, unten im Turm, wartete Arkin Ruark geduldig. Mitten zwischen Skulpturen und eingetopften Kimdissipflanzen fand Dirk einen Liegestuhl vor einer Pastellwand. Er ließ sich hineinsinken und wollte sich nur noch ausruhen und nichts denken, aber Ruark wußte dies zu verhindern. Er gluckste und schüttelte den Kopf, daß sein weißblondes Haar tanzte, und streckte ihm ein hohes, grünes Glas hin. Dirk nahm es entgegen und setzte sich wieder auf. Das Glas war aus feingearbeitetem, dünnem Kristall und bis auf einen schnell schmelzenden Eishauch ohne jede Verzierung. Er trank. Der Wein war tief grün und kalt, ihm war, als würde Weihrauch und Zimt durch seine Kehle rinnen. »Ganz müde sehen Sie aus, Dirk«, stellte der Kimdissi fest, nachdem er sich selbst einen Drink besorgt und sich im Schatten einer welken, schwarzen Pflanze in einen Netzknotensessel hatte plumpsen lassen. Die speerförmigen Blätter warfen Schattenstreifen auf sein rundes, lächelndes Gesicht. Er nippte und schlürfte geräuschvoll an seinem Drink. Einen kurzen Moment lang spürte Dirk Verachtung für ihn.

»Ein langer Tag«, sagte er unverbindlich. »Wie wahr«, stimmte Ruark zu. »Ein Tag der Kavalaren ist immer zu lang. Die süße Gwen, Jaantony und schließlich Garsey — sie reichen aus, um einen Tag zur Ewigkeit zu machen.

Was meinen Sie?« Dirk sagte nichts.

»Aber jetzt haben Sie es gesehen«, fuhr Ruark lächelnd fort. »Ich wollte, daß Sie es selbst sehen, bevor ich Ihnen alles erzähle. Denn ich habe mir geschworen, es Ihnen zu erzählen. Gwen hat mir alles gesagt. Wir sprechen freundschaftlich miteinander, müssen Sie wissen, und ich kenne sie und auch Jaan seit der Zeit auf Avalon. Aber hier sind wir uns nähergekommen. Es fällt ihr nicht leicht, darüber zu reden, aber sie spricht mit mir oder besser, hat mit mir gesprochen. Ich kann es Ihnen weitererzählen, ohne daß dies etwas mit Vertrauensbruch zu tun hat. Ich denke, Sie sollten es wissen.«

Der Drink schickte eisige Finger in seine Brust, und Dirk fühlte, wie sich seine Müdigkeit legte. Ihm kam es so vor, als wäre er im Halbschlaf gewesen und Ruark hätte schon eine ganze Weile geredet, ohne daß er dem Inhalt folgen konnte. »Wovon sprechen Sie?« fragte er.

»Was sollte ich wissen?«

»Warum Gwen Sie braucht«, sagte Ruark. »Warum sie Ihnen dieses … Ding schickte. Die rote Träne. Wissen Sie es? Ich weiß es. Sie hat es mir gesagt.«

Plötzlich war Dirk hellwach, aufmerksam und verblüfft. »Sie hat es Ihnen gesagt«, begann er und verstummte. Gwen hatte ihn gebeten zu warten, und vor langer Zeit hatte er es ihr versprochen — aber es paßte.

Vielleicht sollte er tatsächlich zuhören, vielleicht fiel es ihr einfach zu schwer, es ihm selbst zu sagen. Ruark würde alles wissen. Im Wald hatte sie ihn als ihren Freund bezeichnet, als den einzigen, mit dem sie reden konnte.

»Sagen Sie es mir!«

»Sie müssen ihr irgendwie helfen! Ich weiß aber nicht genau, wie.« »Ihr helfen? Wobei?« »Sich zu befreien. Zu fliehen.«

Dirk setzte den Drink ab und kratzte sich am Kopf.

»Vor wem?« »Vor ihnen: den Kavalaren.«

Er zog die Stirn in Falten. »Sie meinen Jaan? Ich traf ihn heute morgen, ihn und Janacek. Sie liebt Jaan. Ich verstehe das nicht.« Ruark lachte, nahm einen Schluck aus seinem Glas und lachte abermals. Er trug einen dreiteiligen Anzug mit sich abwechselnden braunen und grünen Quadraten, gescheckt wie ein Narrenkleid. Wie er so dasaß, und Unsinn aus ihm hervorsprudelte, fragte sich Dirk, ob der kleingewachsene Ökologe tatsächlich ein Narr war.

»Sie liebt ihn. So, hat sie das gesagt?« höhnte Ruark.

»Sie sind sich da ganz sicher, oder? Nun?«

Dirk zögerte. Er versuchte, sich an ihre Worte zu erinnern, die Worte, die sie an den unbewegten Wassern des grünen Sees gebraucht hatte. »Ich bin nicht sicher«, sagte er. »Aber ich bin nahe daran. Sie ist doch eine … Was war es noch?« »Betheyn?« schlug Ruark vor. Dirk nickte. »Ja, betheyn, Frau.«

Ruark gluckste vor sich hin. »Nein, völlig falsch. Im Wagen habe ich zugehört. Gwen hat es falsch erklärt.

Nun, nicht ganz, aber Sie haben einen falschen Eindruck erhalten. Betheyn heißt nicht einfach Frau. Die halbe Wahrheit ist die größte aller Lügen, erinnern Sie sich?

Was denken Sie, was teyn bedeutet?«

Dieses Wort ließ ihn aufhorchen. Teyn. Er hatte es auf Worlorn schon an die hundertmal gehört. »Freund?« riet er, ohne die Bedeutung zu kennen.

»Betheyn hat mehr von Frau als teyn von Freund«, sagte Ruark. »Nein. Betheyn ist das Frau-zu-Mann-Wort in Altkavalarisch. Es bezeichnet eine Haltfrau, die durch Jade-und-Silber gebunden ist. Nun, in Jade-und-Silber kann viel Zuneigung stecken, auch viel Liebe, ja.

Obgleich es dafür auf Altkavalarisch keinen äquivalenten Terminus gibt. Das standardterranische Wort ›Liebe‹ gibt es hier nicht, interessant, was? Können Sie lieben, auch wenn sie dafür kein Wort haben, Freund t’Larien?«

Dirk erwiderte nichts. Ruark zuckte die Achseln, trank und fuhr fort. »Es spielt ja keine Rolle, aber denken Sie mal darüber nach. Ich sprach von Jade-und-Silber, und tatsächlich, manchmal gibt es so etwas wie Liebe in diesem Bund, Liebe von der betheyn zum Hochleibeigenen, manchmal auch umgekehrt. Oder wenn nicht Liebe, so doch Zuneigung. Aber nicht immer und nicht notwendigerweise! Verstehen Sie?« Dirk schüttelte den Kopf. »Kavalarbünde sind Brauch und Verpflichtung«, sagte Ruark, sich dabei entschlossen vorlehnend, »wobei die Liebe nur ein späteres Zufallsprodukt ist. Ein streitsüchtiges Volk, wie ich Ihnen gesagt habe. Lesen Sie die Geschichte, lesen Sie die Legenden. Gwen traf Jaan auf Avalon, wissen Sie, und sie hatte nichts gelesen. Nicht genug. Er war Jaan Vikary von Hoch Kavalaan, und was war das schon?

Irgendein Planet. Sie wußte es nicht. Das ist die Wahrheit. Und so wuchs ihre Zuneigung - Sie können es auch Liebe nennen —, und sie hatten miteinander sexuelle Beziehungen. Er bietet ihr Jade-und-Silber, geschmiedet in seinen Symbolen, an — und plötzlich ist sie seine betheyn, ohne daß sie weiß, wie ihr geschieht. Ist in die Falle gegangen.« »In die Falle gegangen? Wieso in die Falle gegangen?« »Lesen Sie die Geschichte! Die offene Gewalt auf Hoch Kavalaan ist lange vorüber, die Kultur der Gewalt ist jedoch geblieben. Gwen ist Jaans betheyn, betheyn gleich Haltfrau, seine Frau und seine Geliebte und noch viel mehr. Eigentum und Sklavin ist sie auch — und Geschenk. Sie ist sein Geschenk an die Eisenjadeversammlung. Durch sie hat er erst seine Hochnamen erworben, ja. Wenn er es anordnet, muß sie ihm Kinder gebären, ob sie das nun will oder nicht.

Wenn er es wünscht, muß sie auch Garse als Liebhaber akzeptieren. Stirbt Jaan in einem Duell mit einem Mann aus einem anderen Festhalt, etwa einem Braith oder einem Rotstahl, geht Gwen wie Gepäck an diesen Mann über, um dessen betheyn zu werden. Oder sie wird nur eine armselige eyn-keth, falls der Sieger schon Jade-und-Silber trägt. Stirbt Jaan einen natürlichen Tod oder fällt im Duell mit einem anderen Eisenjade, fällt Gwen an Garse. Ihr eigener Wille ist bei dieser Angelegenheit überhaupt nicht von Interesse. Wen kümmert es, wenn sie ihn haßt? Die anderen Kavalaren interessieren sich nicht dafür. Und wenn Garse stirbt, hm … Nun, wenn dieser Fall eintreten sollte, wird sie eine eyn-keth, eine Festhaltgebärerin, für immer erniedrigt, die jeder der kethi nach Gutdünken gebrauchen kann. Kethi heißt Festhaltbruder. Das sind mehr oder weniger die Männer der Familie. Die Eisenjadeversammlung ist eine riesige Familie, Tausende und aber Tausende von kethi, und jeder kann sie haben. Wie nannte sie Jaan, Ehemann?

Nein, er ist ihr Gefängniswärter. Genau das ist er, das sind sie beide, er und Garse. Liebende Gefängniswärter meinetwegen, wenn Sie denken, daß solche Leute zu echter Liebe in unserem Sinne fähig sind. Jaantony verehrt unsere Gwen, und das sollte er auch tun. Denn ihr hat er zu verdanken, daß er Hoch-Eisenjade und sie sein betheyn-Geschenk ist. Wenn sie stirbt oder ihn verläßt, ist er Frei-Eisenjade, ein alter Mann, verspottet, mit leeren Armen, ohne Stimme im Rat. Aber er macht sie zu seiner Sklavin und liebt sie nicht. Jahre nach Avalon ist sie nun älter und weiser, und nun weiß sie alles.« Den letzten Satz hatte Ruark in atemloser Wut hervorgestoßen, seine Lippen waren eng zusammengekniffen. Dirk zögerte. »Dann liebt er sie also nicht?«

»Ein Hochleibeigener liebt seine betheyn, wie man sein Eigentum liebt. Jade-und-Silber sind ein enger Bund, der nie gebrochen wird, aber es ist ein Bund der Verpflichtungen und des Besitzes. Keine Liebe. Falls die Kavalaren so etwas überhaupt empfinden, dann gegenüber ihrem Wahlbruder, dem Schild- und Seelenpartner, dem Liebhaber und Kriegszwilling, dem immer ergebenen Freudenbringer, Schlägenehmer und Schmerzlinderer, dem lebenslangen Starkbund.«

»Teyn«, sagte Dirk benommen. Seine Gedanken rasten.

»Teyn!« nickte Ruark. »So streitsüchtig die Kavalaren auch sind, so besitzen sie doch eine großartige Dichtkunst. Viele Werke feiern den teyn, den Bund von Eisen-und-Glühstein, aber kein Werk ist Jade-und-Silber gewidmet.«

Die Puzzlestücke paßten nahtlos ineinander. »Sie sagen«, begann Dirk, »daß Gwen und Jaan einander nicht lieben und sie nichts als seine Sklavin ist. Dennoch verläßt sie ihn nicht?«

Ruarks rundliches Gesicht errötete. »Ihn verlassen?

Völliger Unsinn! Sie würden sie doch zur Rückkehr zwingen. Ein Hochleibeigener muß seine betheyn behalten und beschützen. Und denjenigen töten, der sie zu stehlen versucht.«

»Und sie sandte mir das Juwel …«

»Ich weiß, Gwen vertraut sich mir an. Welche andere Hoffnung hat sie denn noch? Die Kavalaren? Jaantony hat in Duellen zweimal getötet. Kein Kavalare würde sie anrühren. Und wenn schon, was würde es nützen? Und ich? Bin ich eine Hoffnung?« Seine weichen Hände glitten an seinem Körper herab, und er strafte sich durch diese Geste selbst mit Geringschätzung. »Sie allein, t’Larien, Sie sind Gwens Hoffnung. Sie haben diese Frau einst besessen. Sie haben Gwen einst geliebt.«

Wie aus weiter Ferne hörte Dirk seine eigene Stimme:

»Ich liebe sie noch immer.«

»Gut. Ich glaube, Sie wissen, daß Gwen …, obwohl sie es niemals sagen würde …, daß sie noch so fühlt wie früher und für Jaantony Riv Wolf Hoch-Eisenjade Vikary nie viel empfunden hat?« Sein Getränk, dieser fremdartige grüne Wein, hatte ihm schwerer zugesetzt als erwartet. Nur ein Glas, ein einziges hohes Glas, und der Raum begann seltsamerweise um ihn zu kreisen. Mit einiger Anstrengung hielt sich Dirk t’Larien aufrecht, hörte merkwürdige Dinge und begann sich zu wundern.

Ruarks Gerede ergab keinen Sinn, dachte er. Aber dann erschien ihm alles wieder nur zu stimmig. Damit erklärte sich wirklich alles, wurde sonnenklar. Klar war auch, was Dirk tun mußte. Oder etwa nicht? Der Raum waberte, wurde dunkel und erhellte sich dann wieder, dunkel und wieder hell. In einer Sekunde war sich Dirk absolut sicher, und in der nächsten begriff er überhaupt nichts mehr. Was mußte er tun? Etwas … etwas für Gwen. Er mußte die Wahrheit herausfinden und dann …

Er führte eine Hand zur Stirn. Unter den herabhängenden graubraunen Locken stand ihm der Schweiß über den Augenbrauen. Plötzlich erhob sich Ruark und beugte sich über ihn. Sein Gesicht hatte einen erschreckten Ausdruck angenommen. »Oh«, sagte der Kimdissi, »der Wein hat Sie krank gemacht. Ich bin ein völliger Narr! Mein Fehler. Wein von den Außenwelten und ein Magen von Avalon, das geht nicht. Essen wird helfen, wissen Sie: Essen.« Er hastete davon und berührte dabei eine Topfpflanze. Schwarze Speere zuckten und tanzten hinter ihm her.

Dirk saß ganz still. Weit entfernt vernahm er das Klappern von Schüsseln und Töpfen, aber er verschwendete keinen Gedanken daran. Noch immer schwitzend, versuchte er nachzudenken, was ihm aber seltsamerweise sehr schwerfiel. Die Logik entwischte ihm immer wieder, und die klarsten Einsichten verblaßten, sobald er sich auf sie konzentrieren wollte. Er zitterte, während längst vergrabene Träume zu neuem Leben erwachten, während die Würgerwälder in seinem Geist dahinstarben und über den frisch blühenden Nachmittagswäldern von Worlorn das Rad heiß und feurig brannte. Er konnte es geschehen machen, es zwingen, es wecken, dem langen Sonnenuntergang ein Ende bereiten, und Jenny, seine Guinevere, ewig an seiner Seite haben. Ja! Ja! Als Ruark mit Gabeln und Schüsseln, gefüllt mit weichem Käse, roten Knollen und heißem Fleisch, zurückkam, war Dirk wieder ruhiger geworden, hatte sich gefangen. Er nahm die Schüsseln entgegen und aß halb in Trance, während sein Gastgeber weiterplapperte. Morgen, schwor er sich. Morgen würde er sie beim Frühstück treffen, mit ihnen reden und soviel wie möglich von der Wahrheit herausfinden. Dann konnte er handeln. Morgen …

»… nicht beleidigend gemeint«, sagte Vikary gerade.

»Lorimaar, Ihr seid kein Narr, aber hierbei handelt Ihr unvernünftig — glaubt es mir!«

Wie erstarrt blieb Dirk im Eingang stehen. Die schwere, hölzerne Tür, die er ahnungslos geöffnet hatte, schwang vor ihm auf. Alle wandten sich dem Neuankömmling zu, vier Augenpaare. Vikary folgte zuletzt, nicht ohne zu beenden, was er zu sagen im Begriff gewesen war. Bevor sie in der Nacht auseinandergegangen waren, hatte ihn Gwen aufgefor-dert, zum Frühstück einfach hinaufzukommen. Das galt nur für ihn, denn Ruark und die Kavalaren vermieden ein Zusammentreffen, wann immer dies möglich war. Die Zeit war genau richtig, kurz nach Sonnenaufgang. Aber mit dieser Szenerie hatte er nicht gerechnet. Vier Menschen hielten sich in dem höhlenartigen Wohnzimmer auf. Gwen saß mit ungebürstetem Haar und schlaftrunkenen Augen auf dem Rand der niedrigen Couch aus Holz und Leder, die vor dem Kaminfeuer mit den wachenden Wasserspeiern stand. Direkt hinter ihr verharrte Garse Janacek, mürrisch dreinblickend und mit verschränkten Armen, während sich Vikary und ein Fremder vor dem Kamin aufhielten. Alle drei Männer trugen formelle Kleidung und Waffen. Janaceks Beinkleider und das Hemd waren von feinern, holzkohlegrauem Material, mit einem hohen Kragen und einer Doppelreihe schwarzer Eisenknöpfe entlang der Brust. Der rechte Ärmel seines Hemdes war entfernt worden, um den schweren Eisen-Armreif und die schwach funkelnden Glühsteine zu entblößen. Vikary war ebenfalls in Grau, trug aber keine Knopfreihen. Sein Hemd besaß vorn einen V-Ausschnitt, der fast bis zum Gürtel reichte. Von der dunkelbehaarten Brust hob sich ein Jademedaillon mit einer eisernen Kette ab.

Der Fremde wandte sich zuerst an Dirk. Er stand mit dem Rücken zum Eingang, hatte sich aber umgedreht und mißbilligend zur Tür geblickt, als die anderen aufsahen.

Er war einen Kopf größer als Vikary und Janacek, und selbst aus dieser Entfernung von mehreren Metern schien er noch auf Dirk herabzusehen. Seine Haut war dunkelbraun und kontrastierte stark mit dem milchweißen Anzug, den er unter den Falten eines violetten Halbcapes trug. Graues Haar mit weißen Strähnen fiel ihm auf die breiten Schultern, und seine Augen — wahre Feuersteine aus Obsidian in einem braunen Gesicht mit hundert Linien und Fältchen - waren nicht freundlich. Das konnte man von seiner Stimme auch nicht sagen. Er musterte Dirk, dann sagte er ganz einfach: »Raus hier!« »Was?« Keine Antwort hätte dümmer sein können als diese, dachte Dirk im gleichen Moment, aber sonst fiel ihm nichts ein. »Raus hier, sagte ich«, wiederholte der Riese in Weiß. Wie bei Vikary, so waren auch bei ihm beide Unterarme entblößt, um die zwei Armreifen, Jade-und-Silber an seinem linken und Eisen-und-Feuer an seinem rechten Arm, zu demonstrieren. Aber Muster und Machart der Schmuckstücke des Fremden unterschieden sich stark von den anderen. Nur die Waffe an seiner Hüfte glich den Waffen der anderen aufs Haar.

Vikary verschränkte die Arme, wie Janacek es schon vor ihm getan hatte. »Dies ist meine Behausung, Lorimaar Hoch-Braith. Ihr habt kein Recht, einem Mann gegenüber ruppig aufzutreten, der meiner Einladung gefolgt ist.«

»Eine Einladung, die Ihr selbst nicht aufzuweisen habt, Braith«, fügte Janacek mit giftigem Lächeln hinzu.

Vikary sah zu seinem teyn hinüber und schüttelte abrupt und kräftig den Kopf. »Nein.«

Was mochte hier nur vorgehen? fragte sich Dirk. »Ich komme zu Euch, um mich zu beschweren, Jaantony Hoch-Eisenjade, und wir haben ernste Gespräche zu führen«, brummte der weißgekleidete Kavalare. »Müssen wir vor einem Innenweltler verhandeln?« Er warf Dirk erneut einen bitterbösen Blick zu. »Einem Spottmenschen, wenn ich es mir recht überlege.«

Vikarys Stimme klang ruhig, aber bestimmt, als er antwortete. »Wir haben schon verhandelt, mein Freund.

Ich gab Euch meine Antwort bereits. Meine betheyn steht unter meinem Schutz, ebenso der Kimdissi und jener Mann.« Mit einer raschen Handbewegung zeigte er auf Dirk, dann verschränkte er die Arme wieder. »Und solltet Ihr die Absicht haben, unter ihnen jemand auswählen zu wollen, dann könnt Ihr auch gleich mich nehmen.«

Janacek grinste. »Er ist ebensowenig ein Sportmensch wie die anderen«, sagte der hagere, rotbärtige Kavalare.

»Das ist Dirk t’Larien, korariel von Eisenjade, ob Euch dies gefällt oder nicht.« Janacek wandte den Kopf ganz leicht in Dirks Richtung und deutete auf den Fremden in Weiß. »T’Larien, das ist Lorimaar Rein Winterfuchs Hoch-Braith Arkellor.« »Ein Nachbar von uns«, meldete sich Gwen von der Couch zum ersten Mal zu Wort. »Er wohnt ebenfalls in Larteyn.«

»Weit von Euch fort, Ihr von Eisenjade«, fuhr der andere Kavalare dazwischen. Der Ärger hatte sich tief in sein Gesicht gegraben, und voll kalter Wut bewegten sich seine schwarzen Augen von einem zum anderen, bis sie auf Vikarys Antlitz zur Ruhe kamen. »Ihr seid jünger als ich, Jaantony Hoch-Eisenjade, und Euer teyn ist noch jünger. Freiwillig würde ich mich Euch im Duell nicht stellen. Trotzdem verlangt der Kodex die Einhaltung bestimmter Regeln, wie wohl jeder von uns weiß, und keiner von uns sollte zu weit gehen. Ihr jungen Hochleibeigenen kommt dieser Grenze aber oft gefährlich nahe und, wie ich glaube, die Hochleibeigenen von Eisenjade am häufigsten. Und …« Und ich von allen Hochleibeigenen Eisenjades am allerhäufigsten«, vollendete Vikary die Aussage des anderen.

Arkellor schüttelte den Kopf. »Damals, als ich noch ein verwöhntes Kind in den Festhalten von Braith war, duellierte man sich schon, wenn jemand beim Reden unterbrochen wurde — wie Ihr es gerade bei mir machtet.


Wahrlich, man denkt heute nicht mehr so wie früher. Die Männer von Hoch Kavalaan sind in meinen Augen weich geworden.« Haltet Ihr mich für weich?« fragte Janacek ruhig. Ja und nein, Hoch-Eisenjade. Ihr seid merkwürdig.

Ihr besitzt eine Härte, die Euch niemand bestreiten wird, und das ist gut so. Aber Avalon hat den Gestank der Spottmenschen über Euch gebracht, Euch mit Schwäche und Torheit berührt. Eure betheyn-Schlampe gefällt mir nicht, und Eure sogenannten Freunde gefallen mir auch nicht. Ich wünschte, ich wäre jünger. Dann würde ich im Zorn über Euch kommen und Euch die alte Weisheit des Festhalts wieder lehren, all jene Dinge, die Ihr so leicht vergeßt.«

»Fordert Ihr uns zum Duell heraus?« fragte Janacek.

»Ihr sprecht starke Worte.«

Vikary machte eine beiläufige, abweisende Handbewegung. »Nein, Garse. Lorimaar Hoch-Braith fordert uns nicht zum Duell. Nicht wahr, Freund Hochleibeigener?« Arkellor wartete einige Herzschläge zu lang, bevor seine Antwort kam.

»Nein«, sagte er. »Nein, Jaantony Hoch-Eisenjade, eine Beleidigung war nicht beabsichtigt.«

»Und es wurde keine zur Kenntnis genommen«, sagte Vikary lächelnd.

Der Hochleibeigene von Braith lächelte nicht.

»Glückliches Geschick«, wünschte er mißgelaunt. Mit mächtigen Schritten ging er auf die Tür zu und hielt nur so lange inne, bis Dirk eiligst zur Seite getreten war.

Dann war er hinaus und stieg die Treppe zum Dach hinauf. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloß.

Dirk ging auf die anderen zu, aber die kleine Versammlung war schon in Auflösung begriffen.

Kopfschüttelnd und mit finsterer Miene wandte sich Janacek um und ging in ein anderes Zimmer. Gwen erhob sich bleich und sichtlich mitgenommen, und Vikary ging auf Dirk zu. »Es war nicht gut für Sie, dieser Szene beizuwohnen«, sagte der Kavalare. »Aber vielleicht war es für Sie auch erheiternd. Dennoch bedauere ich Ihre Anwesenheit. Ich würde es nicht gern sehen, wenn Sie wie die Kimdissi über Hoch Kavalaan dächten.«

»Ich habe nichts verstanden«, sagte Dirk. Vikary legte ihm den Arm um die Schulter und führte ihn zum Eßzimmer. Gwen folgte den beiden auf dem Fuße.

»Wovon hat er geredet?«

»Ach, über so manches. Ich werde Ihnen alles erklären.

Aber vorher muß ich noch ein zweites Bedauern zum Ausdruck bringen. Das versprochene Frühstück ist noch nicht zubereitet und für Sie angerichtet.« Er lächelte.

»Ich kann warten.« Sie betraten das Eßzimmer und setzten sich. Gwen war noch immer schweigsam und sah aus, als hätte sie Sorgen. »Wie hat mich Garse genannt?« fragte Dirk. »Kora… was? Was bedeutet das?« Vikary schien zu zögern. »Das Wort heißt korariel. Es ist ein altkavalarisches Wort. Seine Bedeutung hat sich im Lauf der Jahrhunderte verändert. Heute, von Garse oder mir an diesem Ort benutzt, bedeutet es soviel wie ›beschützt‹.

Von uns beschützt, von Eisenjade beschützt.« »Diese Bedeutung wünschst du dir vielleicht, Jaan«, sagte Gwen mit spitzem, aggressivem Unterton in der Stimme. »Sag ihm ruhig, was es wirklich heißt!«

Dirk wartete überrascht. Vikary verschränkte die Arme, seine Augen wanderten von einem zum anderen. »Nun gut, Gwen, wenn du es so wünschst.« Er wandte sich an Dirk. »Die ältere, vollständigere Bedeutung dieses Wortes ist geschütztes Eigentums Ich kann nur hoffen, Sie fassen das nicht als Beleidigung auf. Denn das ist nicht beabsichtigt. Korariel ist ein Begriff, der Leute bezeichnet, die keinem Festhalt angehören und dennoch bewacht und wertgeschätzt werden.« Dirk erinnerte sich an die Dinge, die ihm Ruark in der vergangenen Nacht erzählt hatte, an Worte, die durch den Dunst des grünen Weines nur undeutlich bei ihm angekommen waren. Er fühlte, wie die Wut sich gleich einer roten Flut in seinem Nacken staute, und kämpfte, um sie niederzuhalten. »Ich bin es nicht gewohnt, Eigentum zu sein«, sagte er bissig, »ganz egal, wie sehr man mich schätzt. Und wovor haben Sie die Güte, mich zu beschützen?«

»Vor Lorimaar und seinem teyn Saanel«, sagte Vikary.

Er lehnte sich über den Tisch nach vorn und umfaßte eisern Dirks Arm. »Vielleicht hat Garse das Wort zu voreilig gebraucht, t’Larien. Trotzdem glaubte er, in diesem Moment das Richtige zu tun. Ein überkommenes Wort gegen eine überkommene Auffassung. Falsch — ja, ich sehe ein, was falsch daran ist — ist dieses Wort insofern, weil Sie ein Mensch sind, eine Person, die nur sich selbst gehört. Und doch war es bei einem Mann wie Lorimaar Hoch-Braith angebracht, denn er versteht nur seine eigene Sprache. Wenn Sie dieses Wort so sehr stört, wie ich es auch von Gwen kenne, dann tut es mir schrecklich leid, daß mein teyn diesen Begriff benutzt hat.«

»Nun«, begann Dirk, der vernünftig zu bleiben versuchte und deshalb einlenkte, »ich danke Ihnen für die Entschuldigung, aber sie reicht mir noch nicht ganz. Ich weiß immer noch nicht, was eigentlich los ist. Wer ist Lorimaar? Was wollte er? Und warum soll ich vor ihm beschützt werden?«

Seufzend ließ Vikary Dirks Arm los. »Es wird mir nicht leichtfallen, Ihre Fragen zu beantworten. Ich muß Ihnen von der Geschichte meines Volkes erzählen, jenes bißchen, das ich weiß und vieles, was ich nur vermute.«

Er wandte sich an Gwen. »Falls niemand etwas dagegen hat, können wir während der Unterhaltung essen. Holst du uns etwas?« Sie nickte und ging. Einige Minuten später kam sie mit einem großen Tablett zurück, auf dem sich schwarzes Brot, drei Sorten Käse und hartgekochte Eier in leuchtendblauen Schalen türmten. Bier war natürlich auch dabei. Auf die Ellbogen gestützt, lehnte sich Vikary über den Tisch. Während die anderen aßen, sprach er.

»Hoch Kavalaan ist eine Welt voller Gewalt gewesen«, begann er. »Sieht man einmal von der Vergessenen Kolonie ab, so ist sie die älteste der Außenwelten — und jede ihrer zahlreichen Geschichtsaufzeichnungen ist eine Geschichte des Kampfes. Traurig, aber wahr ist, daß unsere Geschichtsschreibung zum großen Teil erfunden ist und aus Legenden besteht, die mit ethnozentrischen Lügen gespickt sind. Dennoch glaubte man diese Schauergeschichten bis in jene Zeit hinein, als nach dem Interregnum wieder Sternenschiffe landeten.

In den Festhalten der Eisenjadeversammlung zum Beispiel lehrte man die Jungen, daß das Universum aus nur dreißig Sternen bestünde, in deren Mitte sich Hoch Kavalaan befände. Von dorther stamme die Menschheit, die mit der Geburt von Kay Eisen-Schmied und dessen teyn Roland Wolf-Jade, die der Vereinigung eines Vulkans mit einem Gewittersturm entwuchsen, ihren Anfang nahm. Dampfend entstiegen sie dem Schlund des Vulkans und traten in eine Welt voller Dämonen und Monster. Viele Jahre wanderten sie umher und mußten mannigfaltige Abenteuer bestehen. Schließlich entdeckten sie eine tiefe Höhle am Fuße eines Berges, und in ihr fanden sie ein Dutzend Frauen, die ersten Frauen auf der Welt. Die Frauen fürchteten sich vor den Dämonen und trauten sich nicht hinaus. Deshalb blieben Kay und Roland, nahmen sich die Frauen mit Gewalt und machten sie zu eyn-kethi. Die Höhle wurde zu ihrem Festhalt, die Frauen schenkten ihnen viele Söhne, und so begann die kavalarische Zivilisation.

Der Pfad nach oben war nicht leicht, heißt es in den Geschichten. Die Jungen, welchen die eyn-kethi das Leben schenkten, entstammten alle dem Samen von Kay und Roland. Sie waren heißblütig, gefährlich und von starker Willenskraft. Oft gab es Streit. Ein Sohn, der verschlagene und hinterlistige John Kohlen-Schwarz, tötete gewohnheitsmäßig seine kethi, seine Festhaltbrüder, in Eifersuchtsanfällen, weil er nicht so gut jagen konnte wie sie. Dann fiel er über ihre Körper her und fraß sie auf, weil er auf diese Weise ihre Stärke und ihre Fertigkeiten zu erlangen trachtete. Eines Tages fand ihn Roland bei einem solchen Mahl. Er schlug das Kind mit einem großen Dreschflegel und jagte es über die Berge. Danach kehrte John nicht nach Eisenjade zurück, sondern gründete in einem Kohlenbergwerk seinen eigenen Festhalt und nahm einen Dämon zum teyn. Das war der Ursprung der kannibalischen Hochleibeigenen des Tiefkohlenhorts.

Auf ähnliche Weise wurden auch andere Festhalte gegründet, obgleich die Geschichtsschreibung von Eisenjade den anderen Rebellen erheblich mehr Platz einräumt als dem Schwarzen John. Roland und Kay waren strenge Herren, unter denen sich nicht leicht leben ließ. Shan, der Schwertkämpfer beispielsweise, war ein guter, starker Junge, der nach einem wilden Kampf mit Kay, der sein Jade-und-Silber nicht anerkennen wollte, mit teyn und betheyn von dannen zog. Shan war der Gründer des Shanagate-Trutzes. Eisenjade erkennt seine Nachkommenschaft als vollständig menschlich an und hat darüber nie anders gedacht. So war es mit fast allen großen Festhalten. Jene, die ausstarben wie der Tiefkohlenhort, kamen in den Legenden schlechter weg.

Diese Legenden sind recht ausführlich, und viele sind amüsant. Da ist zum Beispiel die Geschichte der ungehorsamen kethi. Die ersten Eisenjade wußten, daß ein Mann nur unter Fels eine rechte Wohnung haben kann, in einem Bollwerk aus Stein, einer Höhle oder einem Stollen. Diejenigen jedoch, welche später kamen, glaubten das nicht. Ihren naiven Augen erschienen die Ebenen offen und einladend, so gingen sie mit ihren eyn-kethi und den Kindern hinaus und errichteten hohe Städte. Ihr Wahn sollte bestraft werden. Feuer fiel vom Himmel und vernichtete sie, verbog und schmolz die Türme, die sich emporgereckt hatten, verbrannte die Stadtmenschen und ließ die Überlebenden in Panik unter die Erde flüchten, wohin die Flammen sie nicht verfolgen konnten. Und als ihre eyn-kethi niederkamen, waren die Kinder zu Dämonen geworden und nicht mehr dem Menschen gleich. Manchmal fraßen sie sich ihren Weg aus der Gebärmutter frei.«

Vikary hielt inne, um aus seinem Krug zu trinken.

Dirk, der sein Frühstück fast beendet hatte, warf einige Krümel Käse achtlos auf seinen Teller und zog die Stirn in Falten. »Das ist alles faszinierend«, sagte er, »aber ich fürchte, ich sehe die Verbindung zu unserem Problem nicht.«

Vikary trank noch einmal und nahm einen schnellen Bissen Käse. »Nur Geduld«, meinte er.


»Dirk«, sagte Gwen gequält, »die Geschichtsschreibung der vier überlebenden Festhaltkoalitionen unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht, aber zu zwei großen Ereignissen gibt es übereinstimmende Berichte. Das sind die Meilensteine der kavalarischen Mythen. Alle besitzen sie eine Version der letzten Geschichte — dem Brand der Städte. Man nennt sie Zeit des Feuers und der Dämonen. Eine spätere Geschichte, die Leidbringende Plage, existiert ebenfalls, beinahe Wort um Wort identisch, in jedem Festhalt.«

»Das ist wahr«, sagte Vikary. »Diese Geschichten — sie waren die einzigen Zeugnisse früherer Tage, die man mir zur Arbeit an die Hand gab. Zur Zeit meiner Geburt glaubte kein geistig normaler Kavalare auch nur eine davon.«

Gwen hüstelte höflich. Vikary warf ihr einen Seitenblick zu und lächelte. »Ja, Gwen verbessert mich«, sagte er, »wenige geistig normale Kavalaren glaubten sie.« Dann fuhr er fort: »Aber die Zweifler hatten nichts, das sie glauben konnten, es stand keine alternative Wahrheit zur Auswahl. Den meisten machte das nicht sehr viel aus. Als der Sternenflug wieder aufgenommen wurde und die Wolfmenschen, Toberianer und später die Kimdissi nach Hoch Kavalaan kamen, fanden sie uns begierig vor, die verlorenen Künste der Technologie wieder zu erlernen. Und das lehrten sie uns als Ausgleich für unsere Schmuckstücke und Schwermetalle. Bald hatten wir auch Sternenschiffe, aber noch immer keine Geschichte.« Er lächelte. »Während meiner Studien auf Avalon fand ich einige Wahrheiten über uns heraus. Es war wenig genug, und doch reichte es aus. In den großen Datenbänken der Akademie versteckt, fand ich Aufzeichnungen der ursprünglichen Kolonisierung von Hoch Kavalaan.

Es war schon gegen Ende des Doppelkrieges. Eine Gruppe von Siedlern brach von Tara auf und steuerte eine Welt jenseits von Templers Schleier an, wo sie Sicherheit vor den brutalen Hranganern und deren Sklavenrassen zu finden hofften. Das gelang ihnen auch einige Zeit lang, wie den Speichern der Computer zu entnehmen ist. Sie entdeckten einen urwüchsigen und fremdartigen Planeten, der reiche Bodenschätze versprach. Auf ihm entwickelte sich schnell eine Kolonie ersten Grades, die sich auf den Abbau von Rohstoffen stützte. Es gibt Aufzeichnungen über Handelsbeziehungen zwischen Tara und der Kolonie. Sie währten mehr als zwanzig Jahre, dann verschwand der Planet hinter dem Schleier urplötzlich aus den Annalen der menschlichen Geschichte. Auf Tara maß man dieser Tatsache nur wenig Gewicht bei, denn man befand sich mitten in den grausamsten Kriegsjahren.«

»Und Sie denken, bei diesem Planeten handelte es sich um Hoch Kavalaan?« fragte Dirk.

»Das darf man als Tatsache ansehen«, erwiderte Vikary. »Die Koordinaten stimmen in etwa überein, und auch andere faszinierende Einzelinformationen passen genau ins Bild. Die Kolonie hieß zum Beispiel Cavanaugh. Und was vielleicht noch nachdenklicher stimmt ist der Umstand, daß der Leiter der ersten Expedition ein Raumschiffkapitän namens Kay Schmied war. Eine Frau.« Gwen mußte lächeln.

»Ich habe aber noch mehr herausgefunden«, fuhr Vikary fort, »und zwar rein zufällig. Sie dürfen nicht vergessen, daß die meisten Außenwelten niemals am Doppelkrieg teilnahmen. Die Randzivilisationen sind Kinder des Zusammenbruchs, manche stammen sogar aus der Zeit danach. Kein Kavalare hat je einen Hranganer gesehen, geschweige denn ein Individuum der verschiedenen Sklavenrassen. Bei mir war es dasselbe, bis ich nach Avalon ging und mich für die Menschheitsgeschichte im größeren Rahmen zu interessieren begann. Dann, als ich die Auseinandersetzungen im Wirrwarr in näheren Augenschein nahm, stieß ich glücklicherweise auf gezeichnete Darstellungen der verschiedenen halbintelligenten Sklaven. Die Hranganer setzten sie als Sturmtruppen auf solchen Welten ein, die ihnen nicht wichtig genug erschienen, um selbst einzugreifen. Als Mensch, der im Wirrwarr zu Hause ist, werden Sie diese Rassen sicherlich kennen, Dirk. Etwa die Hruun, Nachtwesen und überschwere Kämpfer von unglaublicher Brutalität und Wildheit, die mit ihren Augen einen erheblichen Teil des Infrarotbereichs erfassen können. Oder die geflügelten Dactyloiden, die ihren Namen wegen der zufälligen Ähnlichkeit mit einer Flugechse aus der menschlichen Frühzeit erhielten. Und am schlimmsten von allen dürften die Githyanki gewesen sein, Seelensauger, Wesen mit schrecklichen psionischen Kräften.«

Dirk nickte. »Auf meinen Reisen habe ich ein oder zwei Hruun gesehen. Die anderen Rassen sind ausgestorben, soviel ich weiß.« »Das mag richtig sein«, sagte Vikary. »Die Zeichnungen, von denen ich sprach, habe ich mir lange angesehen und bin immer wieder auf sie zurückgekommen. Irgend etwas an ihnen ließ mir keine Ruhe. Schließlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Hruun, die Dactyloiden, die Githyanki — in mehr oder weniger deutlich hervortretenden charakteristischen Details glichen sie jenen Wasserspeiern, die vor den Türen eines jeden kavalarischen Festhalts angebracht sind. Sie waren die Dämonen unserer Mythen und Sagen, Dirk!«

Vikary erhob sich und begann langsam im Zimmer auf und ab zu gehen. Währenddessen sprach er ruhig und gleichmäßig weiter, seine Erregung war nur aus seinem ruhelosen Gang abzulesen. »Als Gwen und ich nach Eisenjade zurückkehrten, veröffentlichte ich meine Theorie, die sich auf die alten Legenden, etwa den Dämonenlied-Zyklus des großen Dichters und Abenteurers Jamis-Löwe Taal, und die Datenbänke der Akademie stützte. Stellen Sie sich vor: Die Kolonie Cavanaugh ist errichtet. Auf dem ebenen Land sind Städte entstanden, und in ausgedehnten Berg-werksanlagen hat man mit der Förderung begonnen.

Durch ein atomares Bombardement legen die Hranganer die Städte in Schutt und Asche. Überlebende gibt es nur in tiefen Kellern unter der Stadt, draußen in der Wildnis und in den Minen. Um den Planeten zu erobern, kommandieren die Hranganer Kontingente ihrer Sklavenrassen zur Invasion ab. Später verschwinden die Besatzer und tauchen erst ein Jahrhundert später wieder auf. Die Minen werden zu den ersten Festhalten, andere baut man später tief in die Berge hinein. Ohne Rückhalt aus den Städten fallen die Bergarbeiter in ein primitiveres technologisches Entwicklungsstadium zurück, und schon bald etabliert sich eine autoritäre, auf das nackte Überleben ausgerichtete Kultur. Generationenlang führen sie untereinander und gegen die Sklavenrassen Krieg.

Zur gleichen Zeit beginnen sich unter den radioaktiven Ruinen der Städte menschliche Mutationen zu regen …«

Jetzt stand Dirk auf. »Jaan«, sagte er.

Vikary unterbrach sein würdevolles Schreiten, wandte sich um und sah Dirk fragend an.

»Bisher habe ich mich mühsam zurückgehalten«, platzte Dirk heraus. »Und ich will auch gern glauben, daß dies alles für Sie von enormer Wichtigkeit ist. Schließlich ist es ihre Forschungsarbeit. Aber ich hätte gerne einige Fragen beantwortet bekommen — und zwar sofort.« Er hob die Hand und zählte die Fragen an den Fingern ab.

»Wer ist Lorimaar? Was wollte er? Und warum muß ich vor ihm geschützt werden?« Gwen erhob sich ebenfalls.

»Dirk«, begann sie, »Jaan liefert dir doch nur die Hintergrundinformationen, die du zum Verständnis der Sachlage benötigst. Sei nicht so …«

»Nein!« Vikary brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Nein, t’Larien hat recht, ich werde immer zu enthusiastisch, wenn ich von diesen Dingen rede. Deshalb werde ich Ihnen jetzt direkt antworten«, sagte er und wandte sich wieder Dirk zu. »Lorimaar ist ein äußerst konservativer und den Traditionen verbundener Kavalare. Er ist derart konservativ, daß er nicht mehr in die Gesellschaft paßt und selbst auf Hoch Kavalaan ein Außenseiter ist. Er kommt aus einem anderen Zeitalter. Erinnern Sie sich an den gestrigen Morgen, als ich Ihnen meine Anstecknadel gab? Als Garse und ich unsere Besorgnis zum Ausdruck brachten, was Ihre Sicherheit nach Tagesanbruch betrifft?« Dirk nickte. Er faßte an seinen Kragen und berührte die sorgfältig angesteckte Nadel. »Ja.«

»Lorimaar Hoch-Braith und andere seiner Art waren der Anlaß für unsere Besorgnis, t’Larien. Die Gründe hierfür sind nicht einfach zu erklären.«

»Vielleicht sollte ich es einmal versuchen«, warf Gwen ein. »Durch die Jahrhunderte hindurch haben sich die hochleibeigenen Kavalaren, die Angehörigen des Festhaltvolkes, immer gegenseitig geachtet… O ja, sie kämpften und trugen so viele Kriege aus, daß über zwanzig Festhalte und Koalitionen völlig zerstört wurden und nur die vier großen Festhalte der heutigen Zeit übrigblieben. Dennoch, trotz Haß und Gewalt respektierten die feindlichen Parteien einander als Menschen, die den Regeln des Hochkrieges und dem kavalarischen Duellkodex unterworfen waren. Aber es muß noch andere gegeben haben, verstehst du — ver-sprengte Leute in den Bergen, Menschen, die unter den Ruinenstädten lebten, Bauern. Das sind nur Vermutungen von uns, aber es liegt auf der Hand, daß solche Leute existiert haben. Diese Überlebenden außerhalb der Bergwerkssiedlungen, die sich zu Festhalten wandelten, wurden von den Hochleibeigenen nicht als Männer und Frauen ihrer Art anerkannt, nicht einmal als Menschen zweiter Klasse. Jaan hat manches aus der geschichtlichen Entwicklung ausgelassen, verstehst du … Oh, nicht so ungeduldig, mein Lieber. Ich weiß, die überlieferte Geschichte reicht weit zurück und wurde sehr knapp zusammengefaßt, aber die hier aus- gesprochenen Einzelheiten sind sehr wichtig. Erinnerst du dich, daß die hranganischen Sklavenrassen den drei Dämonen aus den kavalarischen Mythen entsprechen sollen? Nun, der einzige Haken bei der Sache ist, daß es drei Sklavenrassen gibt oder gab, aber vier verschiedene Dämonen. Als die schlimmsten und gefährlichsten Dämonen galten die Spottmenschen.«

Dirk sah fragend auf. »Spottmenschen? Lorimaar nannte mich einen Spottmenschen. Ich dachte, das sei mehr oder weniger so etwas wie ein Nichtmensch.«

»Nein«, sagte Gwen. »›Nichtmensch‹ ist ein allgemein gebräuchlicher Begriff, das Wort ›Spottmensch‹ taucht dagegen nur auf Hoch Kavalaan auf. Sie waren Gestaltwandler, heißt es in den Legenden, Wermenschen und Lügner. Sie konnten jede gewünschte Gestalt annehmen, am häufigsten aber tauchten sie als Menschen auf und wollten die Festhalte infiltrieren. Einmal eingedrungen, konnten sie, als Menschen verkleidet, unerkannt zuschlagen und töten.

Jene anderen Überlebenden — die Bauern und die Bergbewohner, die Mutanten und die Unglücklichen, die anderen Menschen auf Cavanaugh —, sie alle betrachtete man als Spottmenschen und Wervolk. Man gab ihnen keine Chance, sich zu ergeben, die Regeln des Hochkrieges wandte man hier nicht an. Die Kavalaren trauten ihrer Menschlichkeit nicht und rotteten sie gnadenlos aus. Sie galten als exotische Tiere.

Jahrhunderte nach den großen Ausrottungsaktionen machte man sich einen Sport daraus, die wenigen Überlebenden zu jagen. Die Festhaltmänner jagten immer zu zweit, teyn- und -teyn, so daß sie nach der Rückkehr gegenseitig ihre Taten bejubeln konnten.« Dirk sah bestürzt drein. »Ist das heute auch noch so?« Gwen zuckte die Schulter. »Es ist selten geworden. Moderne Kavalaren sehen die Sünden ihrer Geschichte ein. Noch bevor die Sternenschiffe kamen, ächteten Eisenjadeversammlung und Rotstahl, die progressivsten Koalitionen, die Jagd auf Spottmenschen. Bei den Jägern gab es einen bestimmten Brauch: Wenn sie den Wunsch verspürten, einen Spottmenschen nicht sofort zu töten — etwa weil sie ihn als persönliche Beute für später aufheben wollten —, brandmarkten sie ihn als korariel.

Niemand anders legte dann Hand an ihn, es sei denn, der Betreffende wollte ein Duell riskieren. Die kethi von Eisenjade und Rotstahl machten sich auf und trieben alle Spottmenschen zusammen, derer sie habhaft werden konnten. Dann siedelte man sie in Dörfern an und versuchte, sie aus der Barbarei zurück in die Zivilisation zu führen. Alle, die man fing, nannte man korariel. Es kam deswegen zu einem kurzen Hochkrieg zwischen Eisenjade und Shanagate. Eisenjade gewann, und das Wort korariel nahm die neue Bedeutung ›beschütztes Eigentum‹ an.« »Und Lorimaar?« wollte Dirk wissen.

»Was hat er mit der ganzen Sache zu tun?«

Sie lächelte boshaft und erinnerte ihn eine Sekunde lang an Janacek. »In jeder Kultur bleiben ein paar Unverbesserliche zurück, Fanatiker, Orthodoxe. Braith ist die konservativste Koalition, und ungefähr ein Zehntel ihrer Angehörigen — so schätzt Jaan — glaubt auch heute noch an Spottmenschen. Meist sind es Jäger, die das glauben wollen, und fast alle stammen aus Braith.

Lorimaar, sein teyn und eine Handvoll seiner kethi befinden sich hier auf der Jagd. Auf Worlorn ist das Spiel variabler als auf Hoch Kavalaan, außerdem überwacht niemand die Regeln. Eigentlich gibt es hier überhaupt keine Gesetze. Die Absprachen für die Festlichkeiten sind schon lange ausgelaufen. Lorimaar kann töten, was er will.«

»Menschen inbegriffen«, bemerkte Dirk.

»Falls er welche finden kann«, sagte sie. »Larteyn hat zwanzig Einwohner, glaube ich — einundzwanzig mit dir.

Uns, einen Dichter namens Kirak Rotstahl Cavis, der in einem alten Wachtturm lebt, und ein paar legitimierte Jäger von Shanagate. Die restlichen Bewohner sind Braiths. Sie machen Jagd auf Spottmenschen beziehungsweise auf anderes Wild, wenn sie keine Spottmenschen finden können. Sie sind eine Generation älter als Jaan und ziemlich blutdürstig. Sie haben vielleicht ein paar Geschichten in ihren Festhalten gehört oder an einigen wenigen rechtswidrigen Menschentötungen in den Hügeln von Lameraan teilgenommen. Darüber hinaus kennen sie die alten Jagden aber nur aus Legenden. Sie platzen beinahe vor Tradition und Frustration«, bemerkte sie schließlich lächelnd.

»Und das geht so weiter? Niemand unternimmt etwas dagegen?« Jaan Vikary verschränkte die Arme. »Ich muß Ihnen etwas gestehen t’Larien«, sagte er ernst. »Garse und ich haben Sie gestern angelogen als Sie uns nach dem Grund unseres Hierseins fragten. Das heißt, ich war derjenige, der Sie anlog. Garse sagte wenigstens die halbe Wahrheit — wir müssen Gwen beschützen. Sie ist keine Kavalarin, sondern stammt von einer anderen Welt, und die Braiths würden sie mit Freuden umbringen, wenn nicht der Schild Eisenjades dazwischenstehen würde.

Dasselbe gilt auch für Arkin Ruark, der davon überhaupt nichts ahnt, nicht einmal, daß er unter unserem Schutz steht. Das ist jedoch der Fall. Auch er ist korariel von Eisenjade.

Dies sind jedoch nicht die einzigen Gründe für unsere Anwesenheit auf Worlorn. Ich wurde gewissermaßen dazu genötigt, Hoch Kavalaan zu verlassen. Als ich meine Hochnamen erhielt und meine Theorien publi-zierte, wurde ich im Rat der Hochleibeigenen mit einem Schlag zu einer einflußreichen, gewürdigten, aber auch verhaßten Persönlichkeit. Viele religiöse Männer faßten meine Behauptung, Kay Eisen-Schmied sei eine Frau gewesen, als persönliche Beleidigung auf. Allein dieser Umstand trug mir sechs Herausforderungen ein. Im letzten Duell tötete Garse einen Mann, während ich seinen teyn so schwer verwundete, daß er nie wieder gehen wird. Ich war nicht bereit, das alles weiterhin auf mich zu nehmen. Worlorn schien frei von Feinden zu sein, daher drängte ich den Rat von Eisenjade, Gwens ökologisches Projekt auf Worlorn durchführen zu lassen.

Etwa zur gleichen Zeit wurde ich auf Lorimaars hiesige Aktivitäten aufmerksam. Er hatte schon seine erste Trophäe ergattert, die Kunde war nach Braith gedrungen, und auch wir hatten davon gehört. Garse und ich unterhielten uns darüber und kamen zu dem Schluß, ihm Einhalt zu gebieten. Die Situation ist gefährlich wie ein Feuer am Pulverfaß. Finden die Kimdissi heraus, daß die Kavalaren wieder Spottmenschen jagen, werden sie nur allzugern diese Nachricht auf den Außenwelten herumposaunen. Zwischen Kimdiss und Hoch Kavalaan herrscht nicht gerade eitel Sonnenschein, wie Sie vielleicht wissen. Die Kimdissi selbst sind es nicht, die wir fürchten, denn ihre Religion und Weltanschauung beruht auf ähnlichen gewaltlosen Grundsätzen wie die der Emereli. Aber andere Randwelten sind bedeutend gefährlicher. Die Wolfmenschen sind stets launenhaft und unberechenbar, die Toberianer könnten ihre Handelsvereinbarungen brechen, wenn sie herausfänden, daß die Angehörigen ihres Volkes von Kavalaren gejagt werden. Selbst Avalon könnte sich gegen uns wenden, falls die Neuigkeit hinter dem Schleier bekannt würde, und wir bekämen keinen Zugang mehr zur Akademie.

Diese Risiken können wir nicht eingehen, Lorimaar und seine Gesellen schert dies alles einen Dreck, und die Räte der einzelnen Festhalte können nichts unternehmen. Ihre Autorität reicht nicht so weit, und nur die von Eisenjade haben soviel Verantwortungsgefühl, sich um Ereignisse zu kümmern, die Lichtjahre entfernt auf einer sterbenden Welt stattfinden. Daher gehen Garse und ich allein gegen die Braithjäger vor. Bis jetzt ist es noch nicht zum offenen Konflikt gekommen. Wir reisen, soviel wir können, besuchen alle Städte und halten Ausschau nach den auf Worlorn Zurückgebliebenen. Jeden, den wir finden, machen wir zum korariel. Das waren bislang nur wenige — ein verwildertes Kind, das während des Festivals verlorenging, ein paar Wolfmenschen, die in Haapalas Stadt herumlungerten, ein Eisenhornjäger von Tara. Jedem von ihnen gab ich ein Zeichen meiner Wertschätzung« — er lächelte —, »eine kleine schwarze Eisennadel, geformt wie ein Banshee. Sie wirkt wie ein Leuchtfeuer, das jeden Jäger warnt, der sich ihm nähert.

Sollten sie Hand an einen Menschen legen, der diese Nadel trägt, an irgendeinen meiner korariels, würde dies als Konsequenz die sofortige Ansetzung eines Duells bedeuten. Lorimaar mag toben und schäumen — zu einem Duell wird er uns nicht fordern. Es wäre sein Tod.« »Ich verstehe«, sagte Dirk. Er faßte sich an den Kragen, löste die kleine Eisennadel und warf sie auf den Tisch, mitten unter die Reste seines Frühstücks. »Mir kommen die Tränen. Aber Sie können Ihre kleine Nadel behalten. Ich bin nicht Eigentum eines anderen. Lange Jahre habe ich auf mich selbst aufgepaßt, und das werde ich auch in Zukunft so halten.«

Vikarys Gesicht wurde nachdenklich. »Gwen«, sagte er, »kannst du ihn nicht überzeugen, daß es sicherer wäre, wenn …« »Nein«, erwiderte sie scharf. »Ich begrüße deine wohlwollenden Absichten, Jaan, das weißt du. Aber ich kann Dirks Gefühle verstehen. Auch mir gefällt es nicht, beschützt zu werden, und ich weigere mich, wie Dirk, Eigentum zu sein.« Der Klang ihrer Stimme ließ keinen Zweifel daran, daß eine weitere Diskussion sinnlos war.


Vikary sah die beiden hilflos an. »Na schön«, sagte er und nahm Dirks abgelegte Nadel auf. »Ich sollte Ihnen etwas sagen, t’Larien. Die Braiths sind hoffnungslose Sklaven ihrer Tradition. Sie durchstöbern die Wälder und finden selten einen Menschen in der Wildnis. Wir hingegen suchen in den Städten, und nur aus diesem Grunde haben wir bisher mehr Erfolg gehabt als die Jäger. Bis vor ein paar Tagen hatten sie keine Ahnung, was Garse und ich hier treiben. Aber heute morgen kam Lorimaar Hoch-Braith zu mir und beschwerte sich, daß er den Tag zuvor mit seinem teyn gejagt habe und dabei auf Wild gestoßen sei, das er sich nicht habe nehmen können.

Das Wild, das er meinte, war ein Mann auf einem Himmelsflitzer, der allein über den Bergen dahinflog.«

Er hob die Bansheenadel hoch. »Ohne dieses hier«, sagte er, »hätte er Sie zur Landung gezwungen oder vom Himmel gelasert, Sie durch die Wildnis gehetzt und schließlich getötet.«

Er steckte die Nadel in die Tasche und sah Dirk eine ganze Weile bedeutungsvoll an. Dann ging er fort.

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