15

Am ersten Wachtag regnete es den ganzen Nachmittag.

Am Morgen hatten sich die Wolken im Osten aufgetürmt, waren immer dicker und drohender geworden. Fetter Satan und seine Kinder wurden von dunklen Wattebergen verdeckt, so daß der Tag noch düsterer als gewöhnlich wirkte. Gegen Mittag brach der Sturm los. Er kam einem Orkan nahe. Draußen orgelte der Wind so laut vorbei, daß der Wachturm zu wackeln schien, während braune Sturzbäche durch die Straßen schossen und Glühsteingullys zum Überlaufen brachten. Als die Sonnen endlich durch die Wolkendecke brachen — sie waren schon fast wieder am Untergehen —, glitzerte Larteyn. Mauern und Gebäude glänzten vor Nässe und sahen sauberer aus, als Dirk sie je gesehen hatte. Die Feuerfeste schien Hoffnung auszustrahlen. Aber das war nur am ersten Tag der Wache.

Am zweiten Tag ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Das Höllenauge zog seinen langsamen, roten Pfad über den Himmel, Larteyn glühte schwarz und düster unter ihm, und der Wind brachte den Staub aus dem Freigelände zurück, den der Regen am Vortage weggewaschen hatte. In der Abenddämmerung machte Dirk einen Gleiter aus. Er tauchte als schwarzes Pünktchen hoch über den Bergen auf und flog ein Stück in das Freigelände hinaus, bevor er abdrehte und sich mit Kurs auf Larteyn hinabschraubte. Dirk hatte die Ellbogen auf den Steinsims des schmalen Fensters gestützt und beobachtete den Luftwagen angestrengt durch das Fernglas. Er kannte den Gleiter nicht. Es war eine stilisierte Fledermaus mit breiten Schwingen und enormen Scheinwerferaugen. Vikary teilte die Wache mit Dirk, der ihn zum Fenster rief. Jaan zeigte sich gelangweilt. »Ja, ich kenne den Flugwagen«, sagte er.

»Es sind nur die Jäger vom Shanagate-Trutz. Sie sind für uns ohne Bedeutung. Gwen hat sie heute morgen wegfliegen sehen.« Der Gleiter war nun zwischen den Gebäuden Larteyns verschwunden.

Vikary ging zu seinem Stuhl zurück und überließ Dirk seinen Gedanken.


In den Tagen danach sah er die Shanagates noch mehrere Male. Nie verloren sie ihr unwirklich erscheinendes Äußeres. Merkwürdig, wie sie, unberührt von allem, was geschehen war, kamen und gingen, wie sie ihr Leben lebten, als ob Larteyn noch die friedliche, sterbende Stadt sei und niemand in ihr umgekommen wäre. Sie waren allem so nahe und doch so weit entfernt und unverwickelt in die Geschehnisse. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie ihrem Festhalt auf Hoch Kavalaan Bericht erstatteten und vom langweiligen und ereignisarmen Leben auf Worlorn erzählten. Für sie hatte sich nichts verändert, Kryne Lamiya mußte wohl noch immer seine heulenden Klagelieder singen und Challenge vor Licht, Leben und Lockungen nur so strotzen. Er beneidete sie. Am dritten Tag erwachte Dirk aus einem besonders schrecklichen Alptraum, in dem er allein Bretan abzuwehren hatte. Danach konnte er nicht mehr einschlafen. Gwen, die ebenfalls frei hatte, ging unablässig in der Küche auf und ab. Dirk schenkte sich einen Krug von Vikarys Bier ein und lauschte eine Zeitlang ihren Schritten. »Sie müßten schon hier sein«, beklagte sie sich, als er zu ihr trat. »Ich kann einfach nicht glauben, daß sie immer noch nach Jaan suchen. Es muß ihnen doch dämmern, was geschehen ist! Warum sind sie noch nicht hier?« Dirk konnte nur mit den Schultern zucken und der Hoffnung Ausdruck geben, daß sich niemand zeigen möge, die Ankunft der Teric neDahlir stand kurz bevor. Als er das erwähnte, fuhr sie ihn wütend an. »Das ist mir egal!« fauchte sie, aber dann rötete sich ihr Gesicht, und beschämt setzte sie sich neben ihn an den Tisch. Unter ihrem breiten grünen Stirnband blickten die Augen aus tiefen Höhlen. Sie faßte ihn bei der Hand und erzählte ihm stockend, daß Vikary sie seit Janaceks Tod nicht berührt hatte. Dirk versuchte sie zu trösten. An Bord des Sternenschiffes, wenn sie Worlorn sicher verlassen hatten, würde sich das ändern, meinte er. Gwen lächelte, gab ihm recht und fing nach einiger Zeit zu weinen an. Als sie ihn schließlich verließ, ging Dirk zurück, kramte sein Flüster- Juwel hervor und preßte es in der Faust.

Am vierten Tag stritten sich Gwen und Arkin Ruark auf der Wache, während sich Vikary auf einem seiner gefährlichen Spaziergänge be- fand. Sie schlug ihm den Kolben des Lasergewehres ins Gesicht, genau auf die Schwellung, die erst in allerjüngster Zeit unter der Behandlung von Eisbeuteln und Salben zurückgegangen war. Ruark kam die Leiter von der Turmspitze heruntergeklettert und murmelte, daß sie wieder verrückt geworden sei und ihm ans Leben wolle. Dirk, aus tiefem Schlaf erwacht, stand im Gemeinschaftsraum. Als ihn der Kimdissi sah, blieb er wie vom Donner gerührt stehen.

Keiner von beiden sagte etwas, aber nach diesem Zwischenfall begann Ruark an Gewicht zu verlieren.

Dirk war sich sicher, daß Ruark nun wußte, was er zuvor nur vermutet hatte.

Am Morgen des sechsten Tages teilten sich Ruark und Dirk eine wort- lose Wache, als der untersetzte Mann in einem Anfall von Unlust plötzlich seinen Laser durch den Raum warf. »Dreckiges Ding!« rief er aus. »Braiths, Eisenjades — sie sind alle gleich. Kavalartiere sind das, ja.

Und Sie, feiner Mann von Avalon, he? Ha! Sie sind kein bißchen besser, Sehen Sie sich nur an! Ich hätte Ihnen Ihr Duell lassen sollen, töten oder getötet werden, wie Sie es wollten. Das hätte Sie doch glücklich gemacht, oder?

Kein Zweifel, kein Zweifel! Ich liebte die süße Gwen und machte Sie zu einem Freund. Und wo ist die Dankbarkeit mir gegenüber? Wo bleibt sie, wo?« Seine Wangen wirkten hohl und eingesunken , die bleichen Augen bewegten sich unablässig. Dirk ignorierte ihn, was Ruark zum Schweigen brachte. Aber später, am selben Morgen, nachdem er seinen Laser aufgenommen und einige Stunden gegen die Wand gestarrt hatte, wandte sich der Kimdissi wieder an Dirk. »Auch ich war ihr Liebhaber, müssen Sie wissen. Das hat sie Ihnen nicht gesagt, ich weiß, ich weiß, aber es ist die Wahrheit, die völlige Wahrheit. Auf Avalon, lange bevor sie Jaantony traf und das verdammte Jade-und-Silber entgegennahm, in jener Nacht, in der Sie ihr das Flüsterjuwel schickten.

Sie war betrunken, wissen Sie. Wir sprachen und sprachen, und sie trank. Später nahm sie mich mit ins Bett, und am nächsten Tag erinnerte sie sich nicht einmal mehr daran. Stellen Sie sich vor, sie erinnerte sich an nichts mehr. Aber das spielt keine Rolle. Es ist die Wahrheit — auch ich war ihr Liebhaber.« Er zitterte. »Ich habe es ihr nie erzählt, t’Larien, oder es noch einmal bei ihr versucht. Ich bin kein Narr wie Sie. Ich weiß, was ich bin, und daß es eben nur ein Augenblick war. Dennoch existierte er, dieser Augenblick, und ich habe ihr viel beigebracht. Ich war ihr Freund, und ich mache meine Arbeit sehr gut, ja, wirklich.« Er hielt inne, rang nach Atem und verließ dann schweigend den Ausguck, obwohl er noch eine Stunde Wache abzureißen hatte, bevor Gwen ihn ablösen sollte.

Als sie schließlich nach oben kam, fragte sie Dirk als erstes, was er zu Arkin gesagt habe. »Nichts«, antwortete dieser wahrheitsgemäß. Dann wollte er den Grund für diese Frage wissen, und sie erzählte ihm, daß Ruark sie weinend geweckt hatte und sie immer wieder anflehte, sie solle ganz sichergehen, daß ihre Arbeit veröffentlicht würde und sein Name auch darunter stehen müsse. Ganz gleich, was er getan habe, sein Name gehöre auch darunter. Dirk nickte und übergab seinen Feldstecher und den Platz hinter dem Fenster an Gwen. Schon bald sprachen sie von anderen Dingen.

Am siebten Tag fiel die späte Nachtwache Dirk und Jaan Vikary zu. Die Kavalarstadt trug ihr stumpfes Nachtglühen zur Schau. Die Glühsteinboulevards sahen wie schwarze Kristallplatten aus, unter denen rote Feuer brannten. Gegen Mitternacht erschien über den Bergen ein Licht. Dirk betrachtete es eingehend, während es sich der Stadt näherte. »Ich weiß nicht«, sagte er und verstellte die Schärfe. »Es ist zu dunkel, und man kann kaum etwas erkennen. Ich glaube, ich kann die Umrisse eines Verdecks ausmachen.« Er senkte das Fernglas.

»Lorimaar?« Vikary stand neben ihm. Der Flugwagen kam näher. Geräuschlos senkte er sich auf die Stadt herab, und nun war seine Silhouette besser zu erkennen.

»Es ist sein Gleiter«, sagte Jaan. Sie sahen ihm nach, wie er über die Stadt hinausflog, um einhundertachtzig Grad drehte und auf den Eingang der unterirdischen Landeschleuse am Felsabhang zuhielt. Vikary sah betroffen aus. »Das hätte ich nicht geglaubt«, sagte er.

Dann gingen sie hinunter, um die anderen zu wecken.

Der Mann, der aus der Dunkelheit der unteren Betonhallen kam, sah sich plötzlich zwei Lasern gegenüber. Gwen hielt ihre Pistole fast lässig auf ihn gerichtet. Dirk, der mit einem der Jagdgewehre bewaffnet war, hatte auf die Aufzugöffnungen gezielt und stand feuerbereit mit der Waffe im Anschlag. Nur Jaan Vikary war nicht in Feuerstellung, er hielt sein Gewehr mit dem Lauf nach unten in der Hand, seine Handfeuerwaffe steckte im Halfter.

Die Aufzugtüren schlossen sich hinter ihm, und der Mann blieb vor Schreck reglos stehen. Es war nicht Lorimaar. Dirk hatte ihn noch nie gesehen. Er senkte das Gewehr.

Der Blick des Mannes wanderte von einem zum anderen und blieb auf Vikary haften. »Hoch-Eisenjade«, sagte er mit tiefer Stimme. »Was wollt Ihr von mir?« Es war ein mittelgroßer, magerer Mann mit Pferdegesicht, Bart und langen blonden Haaren. Er war in Chamäleonstoff gekleidet, der nun eine traurige rotgraue Färbung aufwies und das Leuchten der Glühsteinblöcke widergab.

Vikary beugte sich nach vorn und schob Gwens Pistolenlauf sanft zur Seite. Dieser Akt schien sie zu wecken. Sie machte ein finsteres Gesicht und steckte ihre Waffe weg. »Wir haben Lorimaar Hoch-Braith erwartet«, sagte sie.

»Das ist die Wahrheit«, bekräftigte Vikary. »Eine Beleidigung war nicht beabsichtigt, Shanagate. Ehre Eurem Festhalt, Ehre Eurem teyn.« Der Mann mit dem Pferdegesicht nickte und sah erleichtert aus. »Wie auch den Eurigen, Hoch-Eisenjade«, sagte er. »Eine Beleidigung wurde nicht zur Kenntnis genommen.«

Nervös kratzte er sich an der Nase. »Ihr fliegt Braitheigentum, nicht wahr?«

Er nickte. »Das stimmt, aber nach dem Bergungsrecht gehört es uns. Mein teyn und ich fanden es im Wald, als wir ein Eisenhorn verfolgten. Das Tier ging zur Wasserstelle, und dort, direkt am Ufer eines Sees, fanden wir den Gleiter verlassen vor.« »Verlassen? Seid Ihr Euch dessen ganz sicher?«

Der Mann lachte. »Ich kenne Lorimaar Hoch-Braith und den dicken Saanel zu gut, um es auf eine Hochbeschwerde ankommen zu lassen. Nein, wir haben die beiden ebenfalls gefunden. Ein Feind hat ihnen in ihrem Lager aufgelauert, im Gleiter, glauben wir. Und als sie von der Jagd zurückkehrten …« Er gestikulierte. »Sie werden keine Köpfe mehr nehmen, weder die von Spottmenschen noch von anderen.«

»Tot?« Gwens Lippen waren verkniffen.

»Mausetot, und das schon seit mehreren Tagen«, erwiderte der Kavalare. »Aasfresser hatten sich natürlich auf den Leichen niedergelassen, doch es war noch genug übrig, um sie zu identifizieren. Es war noch ein anderer Gleiter in der Nähe. Der lag aber im See, ein nutzloses Wrack. Spuren im Sand deuteten darauf hin, daß weitere Gleiter gelandet und abgeflogen waren. Lorimaars Fahrzeug funktionierte noch, obwohl darin mehrere tote Braithhunde lagen. Wir säuberten es und ergriffen Besitz davon. Mein teyn folgte mir in unserem eigenen Luftwagen.« Vikary nickte.

»Das sind außergewöhnliche Vorkommnisse«, sagte der Mann. Er betrachtete die drei mit unverhohlenem Interesse. Ungemütlich lange blieb sein Blick auf Dirk und dann auf Gwens schwarzem Eisenarmreif haften, aber er gab weder zu dem einen noch zu dem anderen einen Kommentar ab. »In letzter Zeit sieht man nur noch wenige Braiths, weniger als üblich — und jetzt finden wir zwei von ihnen erschlagen vor.«

»Wenn Ihr lange genug sucht, werdet Ihr noch andere finden«, sagte Gwen. »Sie gründen einen neuen Festhalt«, fügte Dirk hinzu. »In der Hölle.«

Als der Mann sich wieder auf den Weg gemacht hatte, begannen sie langsam zum Wachtturm zurückzugehen.


Keiner sprach. Aus ihren Füßen wuchsen lange Schatten, die ihnen über die traurig-roten Straßen folgten. Gwen machte den Eindruck, als sei sie völlig erschöpft. Vikary dagegen war ganz aufgeregt, er hielt sein Gewehr mit beiden Händen, so daß er es mit einer Bewegung hochreißen und abfeuern konnte, sollte Bretan Braith ihnen plötzlich den Weg verstellen. Vorsichtig spähte er in jede Seitengasse und dunkle Ecke, an der sie vorbeikamen. Wieder in der Helligkeit ihres Gemeinschaftszimmers, ließen sich Gwen und Dirk zu Boden sinken, während Jaan einen Augenblick nachdenklich im Türrahmen stehenblieb. Dann legte er die Waffen ab und brachte eine Flasche Wein zum Vorschein, Wein derselben scharfen Sorte, die er mit Garse und Dirk in der Nacht vor dem Duell, das niemals stattfand, getrunken hatte. Er goß drei Gläser voll und reichte sie herum. »Trinkt«, sagte er und hob sein eigenes Glas zu einem Toast. »Wir nähern uns der Entscheidung.

Jetzt ist nur noch Bretan Braith übrig. Bald wird er bei Chell sein, oder ich bei Garse. In jedem Fall wird es Frieden geben.« Er leerte schnell sein Glas. Die anderen nippten nur. »Ruark sollte mit uns trinken«, verkündete Vikary plötzlich beim Nachfüllen. Der Kimdissi hatte sie nicht zu ihrem mitternächtlichen Rendezvous begleitet.

Er war jedoch nicht aus Furcht zurückgeblieben, wenigstens dieses Mal nicht, dachte Dirk. Ruark war von Jaan geweckt worden und hatte sich im Beisein der anderen in seinen feinsten Seidenanzug gekleidet, und ein kleines scharlachrotes Barett aufgesetzt. Aber als Vikary ihm an der Tür ein Gewehr übergab, sah er es nur mit seltsamem Lächeln an und gab es zurück. Dann hatte er gesagt: »Ich habe meinen eigenen Kodex, Jaantony, und den müssen Sie respektieren. Danke schön, aber ich werde lieber hierbleiben.« Diese Erklärung brachte er mit einer gewissen Würde hervor, und unter seinem weißblonden Haar sahen die Augen beinahe fröhlich aus.

Jaan trug ihm auf, weiter vom Turm aus Wache zu halten, und Ruark gab sich damit zufrieden. »Arkin haßt Kavalarwein«, antwortete Gwen mürrisch auf Jaans Vorschlag.

»Das spielt keine Rolle«, entgegnete Jaan. »Dies ist Verbindung von kethi, keine Party. Er sollte mit uns trinken.« Er setzte das Weinglas ab und kletterte leichtfüßig die Leiter zum Ausguck hinauf. Als er einen Augenblick später wieder auftauchte, geschah das auf weniger graziöse Weise. Den letzten Meter ließ er sich einfach fallen. »Ruark wird nicht mit uns trinken«, verkündete er. »Ruark hat sich erhängt.«

An diesem ungewöhnlichen Morgen, dem achten ihrer Wache, war es Dirk, der spazierenging. Er ging jedoch nicht in die Stadt hinab. Statt dessen schlenderte er auf der Stadtmauer entlang. Sie war drei Meter dick und bestand aus schwarzem Basalt, auf dem mächtige Glühsteinplatten ruhten, und so bestand keine Gefahr, daß er hinunterfiel. Dirk war allein auf Wache (Gwen hatte Ruarks Leiche vom Seil geschnitten und danach Jaan zu Bett gebracht), und als die erste der gelben Sonnen aufging und die Feuer der Nacht erloschen, starrte er auf jene Mauern hinaus, den Laser in der Hand, das Fernglas um den Hals. Der Drang war plötzlich über ihn gekommen. Bretan Braith würde nicht zur Stadt zurückkommen, soviel schien sicher zu sein, die Wache war nun eine sinnlose Formalität geworden. Er lehnte das Gewehr neben dem Fenster gegen die Wand, zog sich warm an und ging nach draußen. Sein Weg war lang. In regelmäßigen Abständen erhoben sich andere Wachttürme, die genauso aussahen wie ihr eigener. Er passierte sechs von ihnen und schätzte die Entfernung zwischen den Türmen grob auf dreihundert Meter. Jeder Turm hatte seinen eigenen Wasserspeier, und keiner davon glich dem anderen, wie er erkannte. Diese Wasserspeier waren keine Traditionsfiguren und hatten auch sonst nichts mit Alt-Erde zu tun, sie bildeten die Dämonen aus den Kavalarsagen ab, groteske, mythologisierte Versionen der Dactyloiden, der Hruun und der seelensaugenden githyanki. In gewisser Weise waren sie echt. Irgendwo zwischen den Sternen lebten diese Rassen noch.

Die Sterne. Dirk hielt inne und blickte nach oben. Das Höllenauge war gerade im Begriff, sich über den Horizont zu schieben, die meisten Sterne waren schon verschwunden. Er sah nur einen einzigen, sehr schwachen, eine winzige rote Nadelspitze, die von flockigen grauen Wolken eingerahmt wurde. Während er noch hinsah, verschwand er. Hoch Kavalaans Sonne, dachte er. Garse Janacek hatte ihm diesen Stern gezeigt, sein Leuchtfeuer während der Hetzjagd. Hier draußen gab es viel zu wenig Sterne. Auf solchen Planeten konnte der Mensch nicht leben, auf Welten wie Worlorn, Hoch Kavalaan und Dunkeldämmerung, den Außenwelten. Das Große Schwarze Meer war nur allzu nahe, und Templers Schleier schirmte den größten Teil der Galaxis ab. Der Himmel war öde und leer. An einem Himmel müssen Sterne stehen.

Ein Mensch braucht auch einen Kodex. Einen Freund, einen teyn, einen Anlaß — etwas, das außerhalb von ihm steht.

Dirk ging zum äußeren Rand der Mauer und starrte in die Tiefe. Es wäre ein langer, langer Sturz. Das erste Mal, als er auf einem Himmelsflitzer über die Mauer hinausgesegelt war, hatte ihn dieser Anblick die Balance verlieren lassen. Die Mauer reichte weit hinab, und unter ihr stürzte die felsige Steilwand noch viel tiefer, und ganz tief unten schlängelte sich ein Flüßchen durch grünes Land und Morgennebel. Mit den Händen in den Taschen stand er da und zitterte ein bißchen. Der Wind zerzauste ihm die Haare. Er sah hinab. Dann holte er sein Flüsterjuwel hervor. Wie einen Talismann rieb er es zwischen Daumen und Zeigefinger.

Jenny, dachte er. Wo war sie nur? Selbst das Juwel brachte sie ihm nicht zurück.

Schritte. Ganz in der Nähe. Dann eine Stimme: »Ehre Eurem Festhalt, Ehre Eurem teyn.«

Dirk spielte noch immer mit dem Flüsterjuwel. Neben ihm stand ein alter Mann. So groß wie Jaan und so alt wie der arme tote Chell. Er war kräftig gebaut.

Schlohweißes Haar bedeckte seinen Kopf und ging in einen gleichermaßen zerzausten Bart über, um so eine prächtige Löwenmähne zu bilden. Doch sein Gesicht war faltenreich und müde, als ob er es ein paar Jahrhunderte zu lang getragen hätte. Nur seine Augen machten eine Ausnahme — sie waren von durchdringendem, wahnsinnigen Blau, Augen, wie sie Garse Janacek gehabt hatte, Augen, die unter buschigen Brauen in eisigem Fieber leuchteten. »Ich habe keinen Festhalt, und ich habe auch keinen teyn«, sagte Dirk. »Es tut mir leid«, entschuldigte sich der Mann. »Nicht von diesen Welten, was?« Dirk senkte den Kopf.

Der alte Mann kicherte. »Nun, dann suchen Sie die falsche Stadt heim — Geist.«

»Geist?«


»Ein Festivalgeist«, sagte der alte Mann. »Was könnten Sie sonst sein? Das hier ist Worlorn, und die lebenden Menschen sind längst nach Hause gegangen.« Er trug ein schwarzwollenes Cape mit riesigen Taschen über Kleidung aus verwaschen-blauem Drillich. Direkt unter seinem Bart hing eine schwere Scheibe aus rostfreiem Stahl an einem Lederband. Als er die Hände aus den Taschen seines Capes nahm, sah Dirk, daß einer der Finger fehlte. Er trug keine Armreifen. »Haben Sie keinen teyn?« fragte Dirk.

Der alte Mann grummelte vor sich hin. »Natürlich hatte ich einen teyn, Geist. Ich war Dichter, kein Priester. Was soll diese Frage? Nehmen Sie sich in acht. Ich könnte sie als Beleidigung auffassen.« »Sie tragen kein Eisen-und-Feuer«, verteidigte sich Dirk. »Das ist die Wahrheit, doch was soll’s. Geister brauchen keinen Schmuck. Mein teyn ist seit dreißig Jahren tot und spukt sicherlich irgendwo in einem Festhalt Rotstahls herum. Und ich spuke hier auf Worlorn. Nun, eigentlich nur in Larteyn. Auf einem ganzen Planeten herumzuspuken, ist zu anstrengend.«

»Oh«, bemerkte Dirk lächelnd. »Dann sind Sie also auch ein Geist?« »Nun … ja«, erwiderte der alte Mann.

»Ich stehe hier und rede mit Ihnen, weil ich keine Kette zum Rasseln habe. Was denken Sie, was ich bin?«

»Ich denke«, sagte Dirk, »ich denke, daß Sie sehr gut Kirak Rotstahl Cavis sein könnten.«

»Kirak Rotstahl Cavis«, wiederholte der alte Mann in rauhem Singsang. »Ich kenne ihn. Wenn es je einen Geist gab, dann ist er einer. Sein spezielles Schicksal ist es, der toten Kavalarpoesie nachzujagen. Nachts streift er klagend durch die Gegend und rezitiert Verse aus den Trauergesängen von Jamis-Löwe Taal oder einige der besseren Sonette von Erik Hoch-Eisenjade Devlin. Bei Vollmond singt er braithsche Schlachtgesänge, und manchmal stimmt er das alte Klagelied der Kannibalen aus dem Tiefkohlenhort an. Wie wahr, er ist ein Geist, und ein Mitleid erweckender obendrein. Wenn er eines seiner Opfer besonders quälen will, liest er ein Gedicht aus seiner eigenen Feder vor. Ich versichere Ihnen, wenn Sie einmal Kirak Rotstahl vorlesen gehört haben, werden Sie um Kettengerassel beten.«

»Tatsächlich?« bemerkte Dirk. »Ich verstehe nicht, warum es so geisterhaft ist, ein Dichter zu sein.«

»Kirak Rotstahl schreibt altkavalarische Gedichte«, sagte der Mann mit strafendem Blick. »Das reicht schon aus. Es ist eine sterbende Sprache.

Wer wird also lesen, was er schreibt? In seinem eigenen Festhalt wachsen die Jungen mit Standard, dem Sternengeplapper, heran. Vielleicht übersetzt man sein Werk, aber eigentlich lohnt sich die Mühe kaum, wissen Sie. In der Übersetzung reimt sich nichts, und das Versmaß schleppt sich voran wie ein Spottmensch mit gebrochenem Rückgrat. Nichts davon taugt in der Übersetzung. Die rasselnden Kadenzen Galen Glühsteins, die süßen Hymnen Laaris-Blind Hoch-Kenns, all jene trübseligen kleinen Shanagates, die das Eisen-und-Feuer rühmen, selbst die Lieder der eyn-kethi — das alles zählt kaum als Dichtung. Alles ist tot, jeder einzelne Satz, nur in Kirak Rotstahl lebt es weiter. Ja, der Mann ist ein Geist. Weshalb kam er wohl sonst nach Worlorn? Das ist eine Welt für Geister.« Der alte Mann zog sich am Bart und sah Dirk schelmisch an. »Sie sind der Geist eines Touristen, würde ich sagen. Zweifellos haben Sie sich auf der Suche nach einem Badezimmer verlaufen und wandern seither ohne Ziel herum.«

»Nein«, sagte Dirk, »keineswegs. Ich suchte nach etwas anderem.« Lächelnd zeigte er sein Flüsterjuwel.

Der alte Mann sah es sich genau an. Während der kalte Wind sein Cape zum Flattern brachte, kniff er die harten blauen Augen zusammen. »Was immer es sein mag, wahrscheinlich ist es tot«, sagte er. Tief unten, wo sich das funkelnde Band des Flusses durch das Freigelände wand, erklang ein Laut: das schwache, weit entfernte Heulen eines Banshee. Dirks Kopf fuhr herum, und er versuchte herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war. Er sah nichts, nichts — nur sich selbst und den anderen Mann, wie sie auf der Mauer standen, der Wind an ihnen zerrte und das Höllenauge über ihnen am zwielichtigen Himmel stand. Kein Banshee. Die Zeit für Banshees war vorbei. Sie waren alle ausgerottet.

»Tot?« sagte Dirk.

»Worlorn ist voller toter Dinge und voller Geister.« Er murmelte etwas auf altkavalarisch, das Dirk nicht verstand und schickte sich an, langsam fortzugehen.

Dirk sah ihm dabei zu. Er starrte auf den fernen Horizont, den eine Bank blaugrauer Wolken verdeckte.

Irgendwo dort hinten lag der Raumhafen, und — er war sich ganz sicher — Bretan Braith auf der Lauer. »Ach Jenny«, sagte er, zum Flüsterjuwel sprechend. Er holte aus und warf es in die Luft, wie ein Junge einen Stein schleudert, und es flog weit hinaus, bevor es zu fallen begann. Einen Augenblick lang dachte er an Gwen und Jaan und ganz kurz auch an Garse.

Dann wandte er sich wieder dem alten Mann zu und rief der entschwindenden Gestalt nach: »Geist! Warten Sie. Tun Sie mir einen Gefallen. Von Geist zu Geist! Ein Geist dem anderen!« Der alte Mann hielt inne.

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