7

»Dirk, Dirk, das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Ich kann es einfach nicht glauben. Die ganze Zeit dachte ich, nun … äh … ja, daß Sie besser als die anderen wären. Und jetzt sagen Sie mir das? Nein, nein, ich muß träumen.

Das ist völlig verrückt!«

Ruark hatte sich wieder ein wenig gefangen. In seinem grünseidenen, mit Abbildungen von Eulen verzierten Hausgewand sah er sich selbst wieder ähnlicher, obwohl seine Erscheinung ganz und gar nicht zu der Unordnung des Arbeitszimmers passen wollte. Er saß auf einem hohen Schemel und hatte dem schwarzen Rechteckschirm der Computeranlage den Rücken zugekehrt. Seine Füße steckten in Pantoffeln, und seine knubbeligen Finger hielten ein hohes, frostüberzogenes Glas voll grünen Kimdissiweines. Hinter ihm stand die Flasche neben zwei leeren Gläsern.


Dirk saß im Schneidersitz auf dem breiten Arbeitstisch aus Kunststoff und stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Sensorenkoffer ab. Er hatte den quaderförmigen Koffer und einen Stapel Dias und Papier zur Seite geschoben und sich auf diese Weise Platz verschafft. Im Zimmer herrschte ein schreckliches Durcheinander.

»Ich sehe nicht ein, was daran verrückt sein soll«, sagte er starrköpfig. Beim Sprechen wanderten seine Augen umher. In diesem Arbeitsraum war er noch nie gewesen.

Der Größe nach war er mit dem Wohnraum im Appartement der Kavalaren zu vergleichen, wirkte aber weitaus weniger geräumig. Einige kompakte Computer reihten sich an einer Wand. Ihnen gegenüber hing eine riesige, vielfarbige Karte Worlorns, in der eine Menge Nadeln und Markierungsfähnchen steckten. Dazwischen befanden sich drei Arbeitstische. Hier fügten Gwen und Ruark die Einzelerkenntnisse zusammen, die sie der sterbenden Festivalwelt abjagen konnten, aber Dirk kam das Ganze eher wie die Kommandozentrale eines Militärstützpunktes vor.

Er war sich noch immer nicht ganz sicher, warum sie hier waren. Nach Vikarys ausführlicher Erklärung und der bissigen Diskussion, die daraufhin zwischen Ruark und den beiden Kavalaren einsetzte, war der Kimdissi zu seinem eigenen Appartement hinuntergestürmt und hatte Dirk mit sich genommen. Es war nicht die rechte Zeit gewesen, um mit Gwen zu sprechen. Aber kaum hatte Ruark die Kleider gewechselt und seine Nerven mit einem Schluck Wein beruhigt, bestand er darauf, Dirk müsse mit ihm zum Arbeitsraum hinaufkommen. Er hatte drei Gläser mitgenommen, aber der Kimdissi trank als einziger. Dirks Erinnerung an das letzte Mal war noch wach, und er mußte an den morgigen Tag denken, an dem es galt, hellwach zu sein. Und wenn sich Kimdissiwein so mit Kavalarwein vertrug, wie es Kimdissi und Kavalaren taten, würde es blanker Selbstmord sein, die beiden Weinsorten hintereinander zu trinken.

Deshalb trank Ruark allein. »Das Verrückte an der Sache ist, daß Sie sich wie ein Kavalare duellieren wollen«, sagte der Kimdissi, nachdem er an seinem grünen Getränk genippt hatte. »Ich habe es mit eigenen Ohren gehört, aber ich kann es kaum glauben! Jaantony: ja. Garsey: in jedem Fall. Erst recht natürlich die Braiths: lebensfeindliches Gesindel, gewalttätiges Pack. Aber Sie, aah! Sie, Dirk, ein Mann von Avalon. Das ist unter Ihrer Würde! Denken Sie nach, ich bitte Sie, ja, ich bitte Sie — für Gwen und für alles, was Ihnen teuer ist. Wie können Sie das wahr machen? Sagen Sie es mir — ich muß es wissen. Von Avalon! Sie sind doch mit der Akademie des Menschlichen Wissens aufgewachsen, nicht wahr?

Und mit dem Institut zur Erforschung Nichtmenschlicher Intelligenz auf Avalon doch ebenfalls? Die Welt des Tomas Chung, die Ausgangsbasis der Kleronomas-Erhebung … Avalon — mit all dem gesammelten Wissen über die Geschichte des Menschen, das an Umfang vielleicht nur noch von Alt-Erde oder Newholme übertroffen wird! Sie sind gebildet, haben Reisen gemacht, die verschiedensten Welten besucht und in alle Sternenwinde verstreutes Volk angetroffen. Ja! Sie wissen es besser.

Sie müssen es besser wissen, oder? Doch!« Dirk runzelte die Stirn. »Arkin, Sie verstehen das nicht. Ich habe den Kampf nicht gewollt. Es ist alles ein Mißverständnis. Ich wollte mich entschuldigen, aber Bretan hörte mir nicht zu. Was soll ich denn sonst tun?«

»Was Sie tun sollen? Verschwinden natürlich. Nehmen Sie die süße Gwen und verschwinden Sie, verlassen Sie Worlorn so schnell wie möglich. Sie sind ihr das schuldig, Dirk, das wissen Sie. Sie braucht Sie, ja, und niemand sonst kann ihr helfen. Wie wollen Sie ihr denn helfen? Indem Sie so schlecht sind wie Jaan? Indem Sie sich selbst umbringen? Na? Sagen Sie es mir, Dirk, sagen Sie es mir.«

Wieder begann sich alles zu verwirren. Als er mit Janacek und Vikary getrunken hatte, war alles so klar gewesen, so leicht annehmbar. Aber jetzt sagte ihm Ruark, daß alles falsch war. »Ich weiß nicht«, erwiderte Dirk. »Ich meine, ich habe Jaans Schutz von mir gewiesen, und deshalb muß ich mich selbst schützen, oder nicht? Wer sonst soll dafür zuständig sein? Ich habe die Wahlen getroffen und auch sonst dem Ritual genügt, das Duell wurde fest angesetzt. Ich kann jetzt schlecht einen Rückzieher machen.«

»Natürlich können Sie das«, sagte Ruark. »Wer will Sie daran hindern? Ein Gesetz? Nennen Sie es mir! Jagen uns diese Bestien vielleicht legal? Nein, es gibt auf Worlorn kein Gesetz — deshalb ist fast jeder hier in Schwierigkeiten. Aber wenn sie nicht wollen, müssen Sie sich auch nicht duellieren.«

Mit einem klickenden Geräusch öffnete sich die Tür, und Dirk drehte rechtzeitig den Kopf, um Gwen eintreten zu sehen. Seine Augen verengten sich, während Ruark strahlte. »Ah, Gwen«, sagte der Kimdissi, »steh mir bei und hilf mir, Vernunft in t’Larien hineinzuhämmern.

Dieser verdammte Narr will sich duellieren, wirklich, als wäre er Garsey selbst.«

Gwen trat näher und stellte sich zwischen sie. Sie trug Hosen aus Chamäleonstoff (der jetzt dunkelgrau schimmerte), einen schwarzen Pullover und hatte ein grünes Tuch in das Haar geknotet. Ihr Gesicht wirkte frisch gewaschen und ernst. »Ich sagte ihnen, ich ginge nach unten, um einige Daten zu überprüfen«, erläuterte sie und ließ nervös die Zungenspitze über die Lippen gleiten. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe Garse über Bretan Braith Lantry ausgefragt. Dirk, die Chancen stehen nicht gut, daß er dich dort draußen am Leben läßt.« Ihre Worte ließen ihn erschaudern. Aus Gwens Munde klang es irgendwie anders. »Ich weiß«, sagte er. »Es ändert nichts, Gwen. Ich meine, wenn ich mich in Sicherheit wiegen wollte, müßte ich nur korariel von Eisenjade werden, richtig?«

Sie nickte. »Ja. Aber du hast es abgelehnt. Warum?«

»Was hast du im Wald gesagt? Und später wiederholt?

Über Namen? Ich wollte nicht Eigentum von irgend jemand werden, Gwen. Ich bin kein korariel«

Er betrachtete sie. Ganz kurz veränderte sich ihre Gesichtsfarbe, und ihre Augen sahen rasch auf das Jade-und-Silber. »Ich verstehe«, sagte sie mit einer Stimme, die nurmehr ein Flüstern war. »Ich nicht«, belferte Ruark.

»Werden Sie doch korariel! Was ist das schon? Nur ein Wort! Dann bleiben Sie am Leben, hm? Na also!« Gwen blickte ihn an, sah ihn auf seinem Hochsitz thronen. Er machte einen leicht komischen Eindruck, wie er so in seinem langen Gewand dasaß, den Drink umklammert hielt und finster dreinschaute. »Nein, Arkin«, sagte sie.

»Das war genau mein Fehler. Auch ich dachte, be-theyn sei nur ein Wort.«

Er wurde rot. »Also schön! Dann wird Dirk eben kein korariel, auch gut, er ist keines Menschen Eigentum. Das heißt aber noch lange nicht, daß er sich duellieren muß, nein, ganz und gar nicht. Der Ehrenkodex der Kavalaren ist Blödsinn, in Wirklichkeit ist er eine große Hoch-Dummheit. Sind Sie deshalb daran gebunden, dumm zu sein, Dirk? Dumm zu sein und zu sterben?«

»Nein«, sagte Dirk. Ruarks Worte trafen ihn. Er hielt den Kodex auf Hoch Kavalaan auch nicht für gut.

Warum also? Er fühlte sich unsicher.

Ich wollte etwas beweisen, dachte er. Was oder wem, das wußte er allerdings nicht. »Ich muß es tun, das ist alles. Es ist der einzige Weg.«

»Geschwätz!« sagte Ruark.

»Dirk, ich will dich nicht tot vor mir liegen sehen«, sagte Gwen. »Bitte, bürde mir das nicht auf!«

Der rundliche Kimdissi gluckste. »Nein, wir werden ihm das schon ausreden, wir beide, nicht wahr?« Er schlürfte von seinem Wein. »Hören Sie mir zu, Dirk.

Dazu werden Sie ja wohl wenigstens bereit sein?« Dirk nickte verdrossen.

»Gut. Zuerst beantworten Sie mir diese eine Frage: Halten Sie den Duellkodex für richtig? Betrachten Sie ihn als soziale Einrichtung? Als moralisch? Sagen Sie mir ehrlich, was Sie denken.« »Nein«, antwortete Dirk.

»Aber ich glaube, das ist bei Jaan nicht anders. Er hat da einige Andeutungen gemacht. Dennoch duelliert er sich, wenn es sein muß. Andernfalls würde er als Feigling gelten.« »Nein, niemand hält Sie oder gar ihn für einen Feigling. Jaantony mag Kavalare sein — mit allem Schlechten, was dieses Wort beinhaltet —, aber selbst ich sage nicht, daß er ein Feigling ist. Es gibt jedoch unterschiedliche Arten von Mut, nicht wahr? Wenn dieser Turm in Flammen aufginge, würden Sie dann Ihr Leben einsetzen, um Gwen und vielleicht mich zu retten?

Möglicherweise sogar Garse?« »Das hoffe ich«, sagte Dirk.

Ruark nickte. »Dann sind Sie ein mutiger Mann. Um das zu beweisen, bedarf es keines Selbstmordes.«

Auch Gwen nickte zustimmend. »Erinnere dich bitte daran, was du in Kryne Lamiya über Leben und Tod gesagt hast, Dirk. Du kannst nicht so etwas erklären und ein paar Stunden später hingehen und dich selbst umbringen. Oder?« »Verdammt, das ist kein Selbstmord.«

Ruark lachte. »Nein? Es kommt ihm aber ziemlich nahe. Sie denken, Sie können ihn vielleicht überlisten?«

»Nun, nicht direkt …«

»Wenn ihm das Schwert zufällig aus der Hand rutschte oder so — würden Sie ihn dann töten?« »Nein«, antwortete Dirk. »Ich …«

»Nun, das wäre wirklich falsch. Aber sich von ihm töten zu lassen, wäre genauso falsch. Ihm auch nur diese Chance zu geben, wäre mehr als nur dumm. Sie sind kein Kavalare, weisen Sie mich also nicht auf Jaantony hin!

Ob er Befürchtungen hat oder nicht — er bleibt ein Mörder. Sie sind besser, Dirk. Er hat eine Entschuldigung, er glaubt an ein Ziel und kämpft, um sein Volk zu ändern. Unser Jaan hat einen großen Retterkomplex — aber wir wollen uns nicht über ihn lustig machen, keineswegs. Ihnen jedoch, Dirk, Ihnen fehlt ein solcher Grund. Oder sehe ich das falsch?«

»Mag sein. Aber zum Teufel, Ruark, er macht es richtig. Sie hätten dort oben auch nicht besser ausgesehen, wenn er Ihnen erzählt hätte, wie die Braiths Sie zur Strecke gebracht hätten, wenn sein Schutz nicht dazwischenstünde.«

»Stimmt. Bei diesem Gedanken fühle ich mich auch nicht wohl. Es ändert aber nichts. Von mir aus bin ich eben korariel. Die Braiths mögen auch viel schlimmer als die Eisenjades sein, und Jaan gebraucht vielleicht Gewalt, um schlimmere Gewalttaten zu verhindern. Ist das richtig? Woher soll ich das wissen? Hart, aber moralisch einwandfrei, meinetwegen. Möglicherweise dienen Jaans Duelle einem bestimmten Zweck, hm, vielleicht nützen sie seinem Volk, vielleicht nützen sie uns. Aber Ihr Duell ist völlig verrückt, nützt keinem, bringt Sie nur ins Grab. Und Gwen bleibt für immer bei Jaan und Garse, bis sie vielleicht ein Duell verlieren, was für das Mädchen dann alles andere als angenehm ist.«

Ruark legte eine Pause ein und leerte sein Weinglas.

Dann schwang er sich herum, um sich nachzuschenken.

Dirk saß ganz still und fühlte Gwens Augen auf sich ruhen, spürte ihren geduldigen Blick, der schwer auf ihm lastete. In seinem Schädel pochte es. Ruark brachte alles durcheinander, dachte er wieder. Er mußte sich für den richtigen Weg entscheiden. Aber welcher Weg war der richtige? Plötzlich waren all seine Einsichten und Entschlüsse wie fortgeblasen. Schwer hing die Stille über dem Arbeitsraum.

»Ich laufe nicht davon«, sagte Dirk endlich. »Auf keinen Fall. Aber ich werde mich auch nicht duellieren.

Ich gehe zu ihnen und teile ihnen mit, daß ich mich weigere zu kämpfen.«

Der Kimdissi vollführte mit seinem Glas kreisförmige Bewegungen und kicherte. »Na ja, das zeugt von erheblichem moralischem Mut. Durchaus. Jesus Christus, Sokrates und Erika Stormjones. Und jetzt Dirk t’Larien.

Große Märtyrer der Geschichte, nicht? Vielleicht schreibt der Rotstahlpoet ein Gedicht über Sie.«

Gwen gab eine ernstzunehmendere Antwort. »Das sind Braiths, Dirk, hochleibeigene Braiths der alten Schule.

Auf Hoch Kavalaan hätte man dich niemals zum Duell gefordert. Der Rat der Hochleibeigenen hat entschieden, daß Außenweltler dem Kodex nicht unterworfen sind.

Aber hier ist es anders. Der Schiedsrichter wird deine Andersartigkeit nicht anerkennen, und Bretan Braith und seine Festhaltbrüder werden dich töten oder jagen. Wenn du nicht zum Duell antrittst, hast du dich in ihren Augen als Spottmensch erwiesen.« »Ich kann nicht davonlaufen«, wiederholte Dirk. Seine Argumente hatten sich plötzlich in Luft aufgelöst, nur Gefühle blieben noch, eine Bestimmung, dem Morgengrauen entgegenzutreten und es durchzustehen.

»Damit werfen Sie den letzten Rest Rationalität über Bord, ja, so muß man es nennen. Es hat mit Feigheit nichts zu tun, Dirk, sondern ist die tapferste aller Wahlen, wenn Sie so wollen. Durch Ihre Flucht ziehen Sie sich ihren Zorn zu. Auch dann müssen Sie der Gefahr ins Auge sehen. Wahrscheinlich werden Sie von Bretan Braith — falls er überlebt — und den anderen gejagt werden. Aber Sie leben und können ihnen vielleicht aus dem Wege gehen. Und Sie können Gwen helfen.« »Ich kann nicht«, sagte Dirk. »Ich habe es Jaan und Garse versprochen.«

»Versprochen? Was denn? Daß Sie sterben werden?«

»Nein, das heißt ja. Ich meine, Jaan nahm mir das Versprechen ab, Janaceks Bruder zu sein. Die beiden hätten kein Duell am Halse, wenn Vikary nicht versucht hätte, mich aus dem Schlamassel herauszuholen.«

»Nachdem dich Garse hineingeritten hat«, sagte Gwen bitter, und Dirk fiel das Gift auf, das sich plötzlich in ihre sanften Töne geschlichen hatte.

»Auch sie können morgen sterben«, sagte Dirk unsicher, »und ich bin dafür verantwortlich. Und ihr sagt mir, ich solle sie im Stich lassen!« Gwen trat ganz nahe an ihn heran, streichelte ihm leicht über die Wangen und strich ihm das graubraune Haar aus der Stirn. Ihre grünen Augen versanken in den seinen. Auf einmal erinnerte er sich an andere Versprechen: das Flüsterjuwel, das Flüsterjuwel. Und lang vergangene Zeiten zogen wieder vorbei, die Welt drehte sich, und alles begann miteinander zu verschmelzen, ineinanderzufließen.

»Dirk, hör mir einmal zu«, sagte Gwen leise. »Ich war der Grund dafür, daß Jaan in insgesamt sechs Duelle verwickelt wurde. Garse, der mich nicht einmal liebt, nahm an vieren davon teil. Sie haben für mich, für meinen Stolz und meine Ehre getötet. Ich habe es nicht verlangt, ebensowenig wie du um ihren Schutz gebeten hast. Es war ihre Auffassung von meiner Ehre, nicht meine. Dennoch bedeuteten diese Duelle für mich soviel wie dir jetzt dieses eine. Und doch — hast du mich nicht auch gebeten, sie zu verlassen, zu dir zurückzukehren, wieder dich zu lieben?«

»Ja«, antwortete Dirk. »Aber … ich weiß nicht. Hinter mir habe ich eine Spur gebrochener Versprechen zurückgelassen.« In seiner Stimme klang Schmerz mit.

»Jaan hat mich zum keth gemacht.« »Und wenn er Sie Plätzchen nennt, hüpfen Sie in den Backofen, hm?« schnauzte Ruark.

Gwen schüttelte nur traurig den Kopf. »Was fühlst du?

Eine Pflicht? Eine Schuld?«

»Ich glaube schon«, sagte er widerstrebend.

»Dann hast du dir selbst geantwortet, Dirk. Du hast meine Antwort vorweggenommen. Wenn du dich so stark fühlst, die Pflichten eines keth auf Zeit zu erfüllen, eines Bundes, der auf Hoch Kavalaan nicht einmal existiert — wie kannst du mich dann bitten, Jade-und-Silber abzulegen? Betheyn bedeutet mehr als keth.« Ihre weichen Hände verließen sein Gesicht. Sie trat zurück.

Dirks Hand schnellte vor und faßte sie am Handgelenk — am linken Handgelenk. Seine Finger umschlossen kaltes Metall und geschliffene Jade. »Nein«, sagte er. Gwen schwieg. Sie wartete.

Für Dirk war Ruark vergessen, der Arbeitsraum hatte sich in Dunkelheit aufgelöst. Nur Gwen war noch da. Sie starrte ihn mit grünen, weitaufgerissenen Augen an, die angefüllt waren mit… Versprechungen? Drohungen?

Unerfüllt gebliebenen Träumen? Sie wartete, ohne ein Wort zu sagen, während er über seine Sätze stolperte und nicht wußte, wie er seine Empfindungen formulieren sollte. Das Jade-und-Silber lag kalt in seiner Hand, und er erinnerte sich: Rote Tränen voller Liebe, eingebettet in Silber und Samt, brennend vor eisiger Kälte.

Jaans Gesicht. Hohe Jochbeine, das kantige Kinn, das zurückgekämmte schwarze Haar und das oberflächliche Lächeln. Seine Stimme, wie Stahl, immer beherrscht: Aber ich existiere.

Die heulenden, spottenden weißen Geistertürme von Kryne Lamiya, die zum monotonen Schlag einer entfernten Trommel schiere Verzweiflung hinaussangen.

Inmitten von allem: Widerstand und Entschlußkraft.

Einen Moment lang hatte er gewußt, was er sagen wollte.

Das Gesicht von Garse Janacek: fern (die Augen wie blauer Rauch, der Kopf emporgereckt, der Mund geschlossen), feindselig (Eis in den Augenhöhlen, ein wildes Lächeln hinter seinem Bart versteckt), voll schwarzen Humors (die Augen zum Irrsinn verleitend, die Zähne entblößt wie das Grinsen von Gevatter Tod höchstpersönlich). Bretan Braith Lantry: zuckende Nervenstränge und ein Glühsteinauge, eine Schreckens-und Mitleidsgestalt mit kaltem, furchteinflößendem Kuß.

Roter Wein in Obsidianschwenkern, ein Bouquet, das in den Augen brannte, Umtrunk in einem Zimmer voll Zimtgeruch und fremdartiger Kameradschaft. Worte: Ein Festhaltbruder besonderer Art, sagte Jaan.

Worte: Er wird falsches Spiel treiben, prophezeite Garse. Gwens Gesicht, eine jüngere Gwen, schlanker, mit etwas strahlenderen Augen. Gwen lachend. Gwen weinend. Gwen im Orgasmus. Ihn umarmend, ihre Brüste von leichtem Rot überzogen, das sich über den ganzen Körper ausbreitete. Ihr Flüstern: Ich liebe dich, ich liebe dich. Jenny! Ein einsamer schwarzer Schatten, der einen flachen Lastkahn den endlos dunklen Kanal entlangstakt. Erinnerungen …

Seine Hand, die ihr Gelenk umspannt hielt, begann zu zittern. »Wenn ich mich nicht duelliere — wirst du dann Jaan verlassen? Und mit mir kommen?«

Ihr antwortendes Nicken kam schmerzhaft langsam.

»Ja. Ich habe den ganzen Tag daran gedacht und mit Ruark darüber geredet. Wir haben es so geplant. Er sollte dich hier heraufbringen, während ich Jaan und Garse sagen wollte, daß ich noch zu arbeiten hätte.« Dirk streckte die Beine aus, sie waren ganz steif und eingeschlafen. Hunderte kleiner Nadeln und Messer peinigten ihn. Er stand entschlossen auf. »Du wolltest es also ohnehin tun? Es geht nicht allein um das Duell?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann werde ich gehen. Wann können wir Worlorn frühestens verlassen?«

»In zwei Wochen und drei Tagen«, sagte Ruark.

»Vorher startet kein Schiff.«

»Wir müssen uns verstecken«, sagte Gwen. »Wenn man alles abwägt, dann ist dies der sicherste Weg. Heute nachmittag war ich mir nicht im klaren, ob ich Jaan meine Entscheidung mitteilen sollte oder nicht. Ich dachte, wir würden vielleicht darüber reden und dann zusammen hinaufgehen, um ihm gegenüberzutreten.

Aber die Sache mit dem Duell hat alles verändert. Jetzt würden sie dich nicht mehr gehen lassen.« Ruark kletterte von seinem Sitz herunter. »Dann verschwindet«, sagte er. »Ich werde bleiben und aufpassen, ihr könnt anrufen und euch erzählen lassen, was passiert ist.

Solange Garsey und Jaantony ihr Duell nicht verloren haben, bin ich sicher. Nötigenfalls komme ich schnell angerannt und schließe mich euch an, in Ordnung?« Dirk nahm Gwens Hände. »Ich liebe dich«, sagte er. »Noch immer.« Sie lächelte gerührt. »Ja, und ich freue mich so darüber, Dirk. Vielleicht können wir einen neuen Anfang machen. Aber wir müssen schnell handeln und verschwinden. Von jetzt an sind alle Kavalaren unsere Feinde.«

»In Ordnung«, sagte er. »Wohin?« »Geh hinunter und hole deine Sachen, du wirst warme Kleidung benötigen.

Wir treffen uns auf dem Dach. Dann nehmen wir den Gleiter und überlegen uns unterwegs, wohin wir fliegen.«

Dirk nickte und küßte sie rasch auf den Mund.

Sie befanden sich hoch über den dunklen Flüssen und sanften Hügeln des Freigeländes, als das erste zarte Rot der Morgendämmerung den Himmel zu überziehen begann. Wenig später erschien die erste gelbe Sonne, und die Dunkelheit unter ihnen wich einem grauen Morgennebel, der sich schnell auflöste. Gwen flog den Manta-Gleiter mit maximaler Geschwindigkeit, so daß der kühle Wind an der offenen Kabine laut vorbeirauschte und jede Verständigung unmöglich machte. Dirk hatte sich in einen braunen Patchwork-Überwurf, den er von Ruark bekommen hatte, gehüllt und schlief an ihrer Seite.

Als eine Stadt — Challenge — wie ein blitzender Speer am Horizont auftauchte, weckte sie ihn, indem sie sanft an seiner Schulter rüttelte. Er hatte leicht und unruhig geschlafen. Sofort setzte er sich auf und gähnte. »Wir sind da«, sagte er überflüssigerweise.

Gwen antwortete nicht. Während sie sich der Emerelistadt näherten, ging sie mit der Geschwindigkeit herunter.

Dirk sah dem Schauspiel der Morgendämmerung zu.

»Zwei Sonnen stehen am Himmel«, sagte er, »und fast kann man den Fetten Satan erkennen. Ich glaube, jetzt wissen sie, daß wir weg sind.« Er dachte an Vikary und Janacek, die zusammen mit den Braiths am Todesquadrat auf ihn warteten. Bretan würde zweifellos ungeduldig auf und ab gegangen sein und dabei sein seltsames Geräusch gemacht haben. Am frühen Morgen war sein Auge sicherlich kraftlos und kalt, ein ausgeglühtes Stück Kohle in seinem Narbengesicht. Vielleicht war er jetzt auch schon tot … oder Jaan … oder Garse Janacek. Einen Augenblick lang wurde Dirk rot vor Scham. Er rückte näher an Gwen und legte den Arm um sie.

Vor ihnen schwoll Challenge an. Gwen zog den Gleiter steil nach oben und durchstieß eine diesige Wolkenbank.

Der schwarze Schlund des Landedecks leuchtete auf, und als Gwen hineinflog, sah Dirk die Ziffern. Es war das 520. Stockwerk, eine große, unbenutzte und verlassene Schleuse.

»Willkommen«, ertönte es vertraut, als der Manta-Gleiter regungslos in der Luft verharrte und dann langsam auf die Bodenplatten hinabsank. »Ich bin die Stimme von Challenge. Darf ich Sie unterhalten?« Gwen schaltete den Antrieb ab und kletterte über den Flügel nach draußen. »Wir wollen für eine befristete Zeit Bewohner dieser Stadt werden.« »Der Preis dafür hält sich in Grenzen«, sagte die Stimme.

»Dann weise uns eine Wohngelegenheit zu.«

Eine Wand glitt zurück, und wieder rollte ein ballonbereifter Wagen auf sie zu. Bis auf die Farbe war er ein genaues Duplikat jenes Fahrzeugs, das sie bei ihrem letzten Besuch transportiert hatte. Gwen stieg ein, während Dirk ihr Gepäck vom Rücksitz des Gleiters auf den Wagen umlud: einen Sensorenkoffer, den Gwen mitgebracht hatte, drei Taschen mit Kleidern, ein Paket Geländeausrüstung für Unternehmungen in der Wildnis.

Die beiden Himmelsflitzer, komplett mit Flugstiefeln, lagen ganz unten, aber Dirk ließ sie im Gleiter.

Das Fahrzeug startete, und die Stimme begann, ihnen die verschiedenen Wohnquartiere anzupreisen, die sie anzubieten hatte. In Challenge gab es Zimmer, die in hundert verschiedenen Stilen eingerichtet waren, damit Außenweltler sich wie zu Hause fühlen konnten. Der Geschmack von pi-Emerel herrschte allerdings vor.

»Etwas Einfaches und Billiges«, verlangte Dirk.

»Doppelbett, Kochgelegenheit und eine Naßdusche werden ausreichen.« Die Stimme wies ihnen ein kleines Zimmer mit pastellblauen Wänden zu, das sich zwei Stockwerke über ihnen befand. In ihm stand ein Doppelbett, das den größten Teil des Raumes einnahm. Im Hintergrund gab es eine Kochnische und einen riesigen Farbbildschirm, der den Großteil einer Wand bedeckte.

»Echter Emereliglanz«, bemerkte Gwen beim Eintreten sarkastisch. Sie setzte den Sensorenkoffer und die Kleidertaschen ab und ließ sich erleichtert aufs Bett fallen. Dirk verstaute die Taschen hinter einer Schie-bewand, die einen Einbauschrank verdeckte. Dann setzte er sich zu Gwens Füßen auf den Bettrand und betrachtete den Wandschirm. »Eine große Auswahl Bibliotheksbänder steht zu Ihrer Unterhaltung bereit«, sagte die Stimme. »Es tut mir leid, Sie informieren zu müssen, daß das reguläre Festivalprogramm beendet ist.«

»Verschwindest du eigentlich nie?« schnauzte Dirk. »Zu Ihrer Sicherheit und Ihrem Schutz bleiben alle wichtigen Grundfunktionen eingeschaltet, falls Sie es aber wünschen, können meine Dienstfunktionen in ihrer Umgebung zeitweise desaktiviert werden. Einige Einwohner ziehen dies vor.« »Wir auch«, sagte Dirk.

»Desaktiviere dich.«

»Falls Sie es sich anders überlegen oder einen Dienst in Anspruch nehmen wollen«, sagte die Stimme, »drücken Sie einfach den mit einem Stern markierten Knopf auf einem Wandschirm in der Nähe, und ich werde Ihren Wünschen wieder nachkommen.« Danach verstummte sie.

Dirk wartete einen Moment. »Stimme?« rief er. Keine Antwort. Befriedigt nickend, machte er sich wieder an die Inspektion des Schirms. Hinter ihm war Gwen schon eingeschlafen. Sie lag mit angezogenen Beinen auf der Seite und hatte den Kopf auf den Oberarm gebettet.

Er wollte unbedingt Ruark anrufen und herausfinden, was beim Duell geschehen war, wer getötet wurde und wer lebte. Aber im Moment wagte er es noch nicht. Noch war die Lage zu unsicher. Einer der Kavalaren mochte sich in Ruarks Quartier oder im Arbeitsraum aufhalten, und ein Anruf konnte ihren Standort verraten. Er mußte warten. Bevor sie abgeflogen waren, hatte ihm der Kimdissi die Rufnummer eines verlassenen Appartements, zwei Stockwerke über seinem eigenen, angegeben und Dirk geraten, kurz nach Einbruch der Nacht diese Nummer zu wählen. Falls alles in Ordnung war, würde er dort sein und auf den Summton reagieren.

Wenn er nicht antwortete, war etwas Unvorhergesehenes passiert. So war es ausgemacht. Jedenfalls wußte Ruark nicht, wohin die beiden Flüchtlinge sich gewandt hatten.

Die Kavalaren würden keine Informationen aus ihm herauspressen können. Dirk war sehr müde. Trotz der kurzen Schlummerpause im Gleiter machte ihm die Erschöpfung, ergänzt um zentnerschwere Schuldgefühle, schwer zu schaffen. Endlich hatte er Gwen zurückgewonnen, aber er verspürte keinen Triumph.

Vielleicht würde das noch kommen, wenn seine anderen Sorgen geschwunden waren und sie miteinander wieder so vertraut verkehrten wie vor sieben langen Jahren auf Avalen. Möglicherweise war das aber erst der Fall, wenn Worlorn weit hinter ihnen lag, und mit diesem Planeten Jaan Vikary, Garse Janacek und alle anderen Kavalaren, dazu die toten Städte und sterbenden Wälder Vergangenheit geworden waren. Sie würden durch Templers Schleier stoßen, dachte er, während er auf den leeren Bildschirm starrte, den Rand ganz hinter sich lassen und nach Braque, Tara oder einer anderen geistig gesunden Welt reisen. Vielleicht sogar wieder nach Avalon oder noch weiter, nach Gulliver, Vagabond oder Alt-Poseidon. Es gab Hunderte, wenn nicht Tausende von Welten, die er noch nie gesehen hatte. Welten, auf denen Menschen lebten und Welten mit Nichtmenschen, fremdartigen Spezies, eine Vielzahl romantischer Planeten, auf denen noch nie jemand etwas von Hoch Kavalaan oder Worlorn gehört hatte. Endlich konnte er diese Welten besuchen — mit Gwen an seiner Seite.


Dirk fühlte sich unruhig, zum Schlafen zu müde und überhaupt nicht wohl in seiner Haut. Gelangweilt begann er, am Bildschirm herumzuspielen und probierte nach und nach dessen Funktionen aus. Wie am Tag zuvor in Ruarks Appartement in Larteyn, drückte er den Knopf mit dem Fragezeichen ein, und dieselbe Informationsliste erschien in dreimal so großen Buchstaben. Sorgfältig las er sie durch und prägte sich soviel wie möglich ein.

Möglicherweise konnte er so ein bißchen Wissen aufsau-gen, das sich als nützlich erweisen und ihnen weiterhelfen konnte.

In der Liste war auch die Abrufnummer für planetarische Nachrichten enthalten. In der Hoffnung, daß das morgendliche Duell in Larteyn bemerkt worden war und sich vielleicht in einer Todesanzeige nieder-schlug, gab er die Kennzahl ein. Doch der Schirm vor ihm wurde grau. Weiße Großbuchstaben verkündeten »DIENST EINGESTELLT« und flackerten stroboskopartig, bis er sie löschte.

Mißmutig wählte Dirk eine andere Ziffernfolge — die für Raumhafeninformation —, um Ruarks Angaben über das nächste Schiff zu überprüfen. Diesmal hatte er mehr Glück. Innerhalb der nächsten beiden Standardmonate standen drei Schiffe auf dem Flugplan. Das früheste würde, wie Ruark richtig gesagt hatte, in etwas mehr als zwei Wochen eintreffen. Es war eine Randfähre namens Teric neDahlir. Ruark hatte allerdings nicht erwähnt, daß das Schiff weiter zum Rand hinausflog. Es kam von Kimdiss und flog über Eshellin und die Welt des Schwarzweinozeans weiter bis pi-Emerel, seiner Ausgangswelt. Eine Woche später würde ein Ver-sorgungsschiff von Hoch Kavalaan eintreffen. Und dann kam nichts mehr, bis die Schaudern der Vergessenen Feinde mit Kurs auf das Innere der Galaxis zurückkehrte.

So lange jedoch konnten sie nicht warten, das stand außer Frage. Gwen und er würden einfach mit der Teric neDahlir fliegen und weiter draußen, auf einem anderen Planeten, umsteigen müssen. An Bord zu gelangen, würde das größte Risiko sein, darüber war sich Dirk im klaren. Die Kavalaren hatten praktisch keine Chance, sie hier in Challenge zu finden. Sie hätten den ganzen Planeten absuchen müssen. Aber Jaan Vikary würde sicherlich erraten, daß sie Worlorn so schnell wie möglich verlassen wollten. Das hieß, er konnte sie zu gegebener Zeit auf dem Raumhafen abfangen. Wie sie das verhindern sollten, wußte Dirk noch nicht. Er konnte nur hoffen, daß eine Konfrontation ausblieb. Dirk löschte die Schrift und probierte andere Zahlen aus. Er notierte sich, welche Funktionen bereits eingestellt, welche auf ein Minimum reduziert worden waren — zum Beispiel medizinischer Notdienst — und welche noch wie zur Zeit des Festivals bestanden. In anderen Städten funktionierte nicht mehr viel, Challenge dagegen hatte noch nicht kapi-tuliert. Den Emereli lag daran zu beweisen, daß ihre Turmstadt unsterblieh war, und so hatten sie — ungeachtet der kommenden Dunkelheit und des Eises — nahezu alles zurückgelassen. Hier ließ es sich leicht leben. Die anderen Städte boten ein vergleichsweise trauriges Bild.

In vier der vierzehn Enklaven war die Energieversorgung zusammengebrochen, und davon hatte eine so stark unter Wind und Wetter gelitten, daß man sie nur noch als Torso aus Ruinen und Staub bezeichnen konnte. Eine Zeitlang fuhr Dirk damit fort, Knöpfe zu drücken, aber schließlich wurde ihm dieses Spiel zu eintönig. Es war immer noch Morgen, und er durfte Ruark nicht anrufen.

Er schaltete den Wandschirm ab, wusch sich kurz, ging ins Bett und löschte die Lichtfelder. Es dauerte noch eine Weile, bevor er einschlief. Er lag in der warmen Dunkelheit, starrte an die Decke und lauschte Gwens regelmäßigen Atemzügen, aber in Gedanken war er weit weg und voller Sorgen.

Bald würde sich alles zum Guten wenden, sagte er sich, so wie es auf Avalon gewesen war. Und doch konnte er es nicht glauben. Er fühlte sich nicht wie der alte Dirk t’Larien, Gwens Dirk, der wieder zu werden er sich geschworen hatte. Statt dessen fühlte er sich, als hätte es keine Veränderung gegeben, er mühte sich müde und hoffnungslos weiter, wie es auf Braque und den Welten davor gewesen war. Seine Jenny war wieder bei ihm, und er hätte vor Freude an die Decke springen sollen -aber er nahm nur ein deprimierendes Gefühl wahr. Als hätte er sie schon wieder verloren.

Dirk wischte die trüben Gedanken gewaltsam beiseite und schloß die Augen.

Als er erwachte, war es später Nachmittag. Gwen war schon aufgestanden und geschäftig. Dirk duschte und kleidete sich in weiche, verwaschene Avalonsynthetik.

Dann gingen sie beide auf die Gänge hinaus, um das 522.

Stockwerk von Challenge auszukundschaften. Im Gehen hielten sie sich bei der Hand.

Ihr Zimmer war eines von Tausenden im hiesigen Wohnsektor des Gebäudes. Überall befanden sich andere Zimmer, die bis auf die Zahlen an den schwarzen Türen mit ihrem identisch waren. Die Fußböden, Wände und Decken der Korridore, durch die sie gingen, waren in satten Kobaltschattierungen gehalten, und die Lampen, die in gleichen Abständen von der Decke hingen — Kugeln, deren trübes Licht das Auge schonte —, paßten sich der Färbung an.

»Ist das langweilig«, sagte Gwen, nachdem sie einige Minuten gegangen waren. »Die Gleichförmigkeit ist niederschmetternd. Lagepläne oder Wegweiser sehe ich auch nicht. Mich wundert, daß die Leute sich hier nicht verlaufen.«

»Ich nehme an, man braucht nur die Stimme nach dem Weg zur fragen«, sagte Dirk.

»Ja, das habe ich ganz vergessen.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist mit der Stimme los? In letzter Zeit hatte sie uns nicht viel zu sagen.« »Ich habe sie zum Schweigen gebracht«, erzählte Dirk. »Aber sie beobachtet uns noch.«

»Kannst du sie wieder zum Leben erwecken?«

Er nickte und hielt inne. Dann führte er sie auf die nächste schwarze Tür zu. Wie erwartet, war das Zimmer nicht bewohnt, und die Tür öffnete sich sofort bei seiner Berührung. Drinnen war alles vertraut — das Bett, die Einrichtung, der Bildschirm.

Dirk schaltete den Schirm ein, drückte den Knopf mit dem Stern und schaltete das Gerät wieder ab. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Stimme.

Gwen lächelte ihn an, es sah ein bißchen gequält aus.

Wie es schien, war sie genauso verängstigt wie er. Neben ihren Mundwinkeln hatten sich Sorgenfalten gebildet.

»Ja«, sagte sie. »Wir wollen etwas tun. Unterhalte uns.

Vertreibe uns die Zeit. Zeig uns die Stadt.« Sie sprach ein wenig zu schnell, dachte Dirk, wie jemand, der sich hastig von unangenehmen Dingen ablenken will. , Er fragte sich, ob es die Angst um ihre Sicherheit war, die er heraushörte — oder Besorgnis um Jaan Vikary.

»Ich verstehe«, gab die Stimme zurück. »Dann darf ich Ihr Fremdenführer sein und Ihnen die Wunder von Challenge zeigen, jenem auf Worlorn wiedergeborenen Ruhm von pi-Emerel.« Dann wurden sie von ihr geführt.

Sie gingen auf die nächsten Aufzüge zu und verließen die endlos geraden Kobaltkorridore, rasten farbigeren und abwechslungsreicheren Regionen entgegen.

Sie ließen sich zum Olymp hinauftragen, einem mit Plüsch ausgekleideten Saal in der obersten Spitze der Stadt, und standen knöcheltief in einem schwarzen Teppich, während sie aus Challenges einzigem riesigen Fenster blickten. Tief unter ihnen zog eine dunkle Wolkenbank vorbei, getragen von schneidendem Wind, den sie nur ahnen konnten. Der Tag war trüb und düster, das Höllenauge brannte und stierte wie immer vor sich hin, aber seine gelben Kumpane hatten sich hinter grauem Dunst versteckt, der den Himmel überzog. Von hier aus konnten sie die weitentfernten Berge und das schwache Dunkelgrün des Freigeländes unter ihnen sehen. Ein Robotkellner servierte ihnen eisgekühlte Getränke.

Dann gingen sie zum Zentralschacht, einem Hohlzylinder, der von oben bis unten die Turmstadt durchbohrte und ihren Kern bildete. Auf dem höchsten Balkon stehend, hielten sie sich bei den Händen und sahen zusammen hinunter, vorbei an anderen Baikonen, deren nicht enden wollende Reihen sich in schwach beleuchtete Tiefen hinabschraubten. Dann öffneten sie das schmiedeeiserne Tor und sprangen Hand in Hand ab.

Langsam, im sanften Griff des warmen Auftriebs, schwebten sie nach unten. Der Zentralschacht war ein erholsames Fortbewegungsmittel. In ihm war die Schwerkraft so gering, daß man sie kaum noch Schwerkraft nennen konnte — weniger als 0,01 Prozent Emereli-Normalwert. Sie schlenderten auf dem äußeren Boulevard, einer breiten Straße, die sich wie das Gewinde einer riesigen Schraube am inneren Stadtrand spiralenförmig emporwand, so daß ein ehrgeiziger Tourist die Stadt vom Boden bis zur Spitze zu Fuß erklimmen konnte. Restaurants, Museen und Boutiquen säumten den Boulevard zu beiden Seiten. Dazwischen befanden sich verlassene Verkehrswege für Ballonreifenwagen und schnellere Fahrzeuge. Ein Dutzend Gleitbänder, sechs nach oben, sechs nach unten, bildeten den Mittelstreifen der sanft gewundenen Pracht-straße. Als ihre Beine müde wurden, stiegen sie auf ein langsames Transportband um, dann auf ein schnelleres und abermals auf ein schnelleres. Während die Szenerie vorbeiglitt, wies die Stimme auf besonders interessante Dinge hin, von denen sich keines als besonders interessant erwies.

Sie schwammen nackt im Emerelimeer, einem mit Süßwasser gefüllten Pseudo-Ozean, der den größten Teil des 231. und 232. Stockwerks einnahm. Das Wasser war kristallgrün und so klar, daß sie Algenschläuche sehen konnten, die sich zwei Stockwerke unter ihnen sinusförmig schlängelnd bewegten. Überall am Rand waren Leuchtfliesen eingelassen, was die Illusion hellsten Sonnenscheins hervorrief. Kleine, sich von Unrat ernährende Fische schossen in den größeren Tiefen des Ozeans hin und her, während an der Oberfläche Schwimmpflanzen — die Riesenpilzen aus grünem Filz glichen — trieben und schaukelten. Um die Rampe hinunterzukommen, benutzten sie Energie-Skier. Eine wagemutige, schneidige Abfahrt über weichen Kunststoff trug sie vom hundertsten Stockwerk bis hinab in die erste Etage. Dirk stürzte zweimal, was aber nur bedeutete, daß ihn ein Energie-Prallfeld in die aufrechte Position zurückwarf. Sie besichtigten eine Null-g-Turnhalle.

Sie sahen in verdunkelte Theatersäle, in denen Tausende Platz hatten, lehnten aber die Holostücke ab, die ihnen die Stimme anbot. In einem Cafe, das sich in einer einst belebten Einkaufsstraße befand, aßen sie kurz und ohne große Lust.

Sie spazierten auf gelbem Moos durch einen Dschungel knorriger Bäume, wo Tiergeräusche vom Band abgespielt wurden und von den Wänden des heißen, dunstigen Parks seltsam widerhallten. Noch immer unruhig, besorgt und kaum auf andere Gedanken gebracht, erlaubten sie der Stimme schließlich, sie rasch zu ihrem Zimmer zurückzubringen. Draußen breitete sich die Abenddämmerung über Worlorn aus.

Dirk stand in dem schmalen Gang zwischen Bett und Wand, als er die bewußte Ziffernfolge wählte. Gwen saß direkt hinter ihm. Es dauerte lange, bis Ruark antwortete, zu lange. Angstvoll fragte sich Dirk, ob etwas Schreckliches geschehen sein mochte. Aber während er noch nachdachte, verschwand das pulsierende blaue Rufzeichen, und das rundliche Gesicht des Kimdissi-Ökologen füllte den Schirm aus. Hinter ihm war das blasse Grau eines verlassenen, schmutzigen Appartements zu sehen.

»Nun?« sagte Dirk. Er warf einen Blick über die Schulter und schaute auf Gwen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Ihre rechte Hand ruhte auf dem Jade-und-Silber-Armreif, den sie noch immer um den linken Unterarm trug.

»Dirk? Gwen? Seid ihr es? Ich kann euch nicht sehen, mein Schirm bleibt dunkel.« Ruhelos wanderten Ruarks blasse Augen unter glatten Strähnen noch blasseren Haares hin und her.


»Natürlich sind wir es«, fauchte Dirk. »Wer sonst würde diese Nummer wählen?«

»Ich kann euch nicht sehen«, wiederholte Ruark.

»Arkin«, sagte Gwen vom Bett aus, »wenn du uns sehen könntest, wüßtest du, wo wir sind.«

Ruarks Kopf bewegte sich suchend. Ganz entfernt ließ der Halsansatz ein Doppelkinn ahnen. »Ja, ich habe nicht daran gedacht, ihr habt recht. Ich weiß es besser nicht — oder?«

»Das Duell«, platzte Dirk heraus. »Heute morgen! Was war los?« »Geht es Jaan gut?« fragte Gwen.

»Es gab kein Duell«, berichtete Ruark. Seine Augen suchten noch immer ziellos nach einem Punkt, auf den sie blicken konnten. Oder hatte er Angst davor, daß ihn die Kavalaren in dem leeren Appartement überraschen könnten? »Ich ging hin, aber es gab kein Duell. Das ist die Wahrheit.«

Gwen seufzte hörbar. »Dann sind alle wohlauf? Jaan?«

»Jaantony lebt und ist wohlauf, ebenso Garse. Und die Braiths sind es auch. Es gab keine Schießerei und keine Toten, aber als Dirk nicht kam, um nach Fahrplan zu sterben, wurden alle verrückt. Ja, so war es.« »Erzählen Sie«, sagte Dirk ruhig.

»Ja, nun, Sie waren der Grund, daß das andere Duell verschoben wurde.«

»Verschoben?« sagte Gwen.

»Verschoben«, wiederholte Ruark. »Sie werden noch kämpfen, nach gleichem Modus und mit gleichen Waffen — aber nicht jetzt. Bretan Braith wandte sich an den Schiedsrichter. Er sagte, er hätte ein Recht darauf, zuerst Dirk gegenüberzustehen, da er im Duell mit Jaan und Garse sterben könnte und die Beleidigung durch Dirk damit ungesühnt bliebe. Er verlangte, das zweite Duell auszusetzen, bis man Dirk gefunden habe. Der Schiedsrichter gab ihm recht. Ein Werkzeug der Braith, der Schiedsrichter. Ja, er hat allem zugestimmt, was diese Tiere wollten.

Roseph Hoch-Braith nannten sie ihn. Ein durch und durch böswilliger Mann.«

»Und die Eisenjades?« fragte Dirk. »Sagten sie etwas?« »Jaantony — nichts. Nein, er sagte überhaupt nichts. Stand nur ganz ruhig in seiner Ecke des Todesquadrates. Die anderen benahmen sich wie Kavalaren, sie rannten herum, riefen und schrien wild durcheinander. Außer Jaan betrat überhaupt keiner das Todesquadrat. Aber er stand darin, als würde er jeden Moment den Beginn des Duells erwarten. Garsey, ja, er wurde sehr wütend. Zuerst, als Sie nicht kamen, machte er Witze über Sie. Dann wurde er sehr still und zurückhaltend, so ruhig wie Jaan. Aber später, glaube ich, ärgerte er sich nicht mehr so sehr. Er begann mit Bretan Braith, dem Schiedsrichter und dem anderen Duellanten, Chell, zu streiten. Auch alle anderen Braiths waren anwesend, wahrscheinlich wollten sie zusehen. Ich wußte gar nicht, daß wir in Larteyn soviel Gesellschaft hatten, nein. Gewiß, ich hatte davon gehört, aber wenn alle zusammenkommen, sieht es doch ganz anders aus.

Auch ein Shanagate-Paar kam. Nur der Rotstahldichter war nicht anwesend. Mit ihm und euch beiden fehlten also insgesamt drei. Eigentlich hätte es sich auch um eine Stadtratsversammlung handeln können. Alle waren so förmlich gekleidet.« Er kicherte. »Wissen Sie, was nun geschehen wird?« fragte Dirk. »Keine Angst«, sagte Ruark. »Ihr beide werdet euch verstecken und das Schiff erreichen. Sie werden euch nicht finden, denn schließlich können sie nicht den ganzen Planeten auf den Kopf stellen! Ich glaube, die Braiths werden es nicht einmal versuchen. Na ja, man hat Sie natürlich zum Spottmenschen erklärt. Bretan Braith verlangte es, und sein Partner sprach von alten Traditionen. Andere Braiths hieben in die gleiche Kerbe. Der Schiedsrichter sagte schließlich, da Sie nicht zum Duell erschienen seien, könnte es sich bei Ihnen unmöglich um einen echten Menschen handeln. Nun werden Sie vielleicht gejagt, aber nicht mit großem Aufwand. Sie gelten nur als ein Tier unter vielen, die es zu töten gilt. Jedes andere tut es auch.«

»Spottmensch«, sagte Dirk hohl. Seltsamerweise kam es ihm vor, als hätte er etwas verloren.

»Das ist Bretan Braiths Einstellung und die seiner Konsorten. Garse wird Sie hartnäckiger suchen, glaube ich. Aber er wird Sie nicht wie ein Tier jagen. Er schwor, Sie würden im Duell gegen Bretan Braith antreten müssen und danach gegen ihn — vielleicht aber auch gegen ihn zuerst.«

»Was ist mit Vikary?« fragte Dirk.

»Ich erzählte es Ihnen bereits. Er sagte überhaupt nichts, rein gar nichts.«

Gwen erhob sich vom Bett. »Du hast bisher nur von Dirk geredet«, sagte sie. »Was ist mit mir?«

»Mit dir?« Ruarks blasse Augen zwinkerten. »Die Braiths wollten auch in dir einen Spottmenschen sehen, aber Garse ließ es nicht zu. Er drohte, jeden sofort herauszufordern, der dich berühren sollte. Roseph Hoch-Braith quasselte weiter. Er wollte dich genau wie Dirk zum Spottmenschen erklären, aber Garse wurde sehr böse. Soviel ich weiß, können Kavalarduellanten Schiedsrichter herausfordern, die schlechte Entscheidungen treffen, obwohl sie seinen Entscheidungen Folge leisten müssen, nicht? Und deshalb, Gwen, bist du noch immer betheyn und beschützt. Falls sie dich erwischen, werden sie dich nur zurückbringen. Danach wird man dich bestrafen, aber das ist Sache von Eisenjade. In Wahrheit haben sie nicht übermäßig viel über dich geredet. Über Dirk wurden mehr Worte verloren.

Schließlich bist du ja auch nur eine Frau, nicht wahr?«

Gwen sagte nichts.

»Wir rufen Sie in ein paar Tagen wieder an«, sagte Dirk. »Die Zeit muß genau festgelegt werden, Dirk. Oder was meinen Sie? Ich halte mich nicht ständig in diesem Staubloch auf.« Bei diesen Worten brach Ruark in glucksendes Gelächter aus.

»Also, dann in drei Tagen, in der Abenddämmerung.

Wir müssen uns überlegen, wie wir zum Schiff kommen wollen. Ich kann mir vorstellen, daß Jaan und Garse das Landefeld absichern, wenn es soweit ist.« Ruark nickte.

»Ich werde mir ebenfalls Gedanken machen.« »Kannst du uns mit Waffen versorgen?« fragte Gwen plötzlich.

»Waffen?« Der Kimdissi gab einen glucksenden Ton von sich. »Gwen, Hoch Kavalaan macht sich in dir breit. Ich komme von Kimdiss. Was verstehe ich von Lasern und anderem gewalttätigen Zeug? Ich kann es jedoch versuchen. Ich tue es für dich und meinen Freund Dirk.

Mehr darüber, wenn wir wieder miteinander reden. Jetzt muß ich gehen.« Sein Gesicht löste sich auf. Dirk schaltete den Wandschirm ab, bevor er sich zu Gwen umwandte. »Du willst gegen sie kämpfen? Ist das sinn-voll?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Langsam ging sie auf die Tür zu, drehte sich um, kam wieder zurück. Dann hielt sie inne. Das Zimmer war wirklich zu klein, um längere Zeit darin auf und ab zu gehen. »Stimme«, rief Dirk, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Gibt es in Challenge ein Waffengeschäft? Einen Laden, in dem wir Laser oder andere Waffen kaufen können?«

»Es tut mir leid, Sie darüber in Kenntnis setzen zu müssen, daß die Normen auf pi-Emerel eine individuelle Bewaffnung untersagen«, gab die Stimme zurück.

»Sportwaffen?« schlug Dirk vor. »Für Jagd- und Übungszwecke?« »Ich bedaure außerordentlich, Ihnen mitteilen zu müssen, daß pi-Emerels Normen alle Sportarten und Spiele untersagen, die auf sublimierter Gewalt basieren. Falls Sie Mitglied einer Kultur sind, in der solche Tätigkeiten hohes Ansehen genießen, so seien Sie bitte versichert, daß dies nicht als Beleidigung gegenüber ihrer Heimatwelt gedacht ist. Mittel für solche Freizeitbeschäftigungen sind anderswo auf Worlorn er-hältlich.

»Vergiß es«, sagte Gwen, »Es war ohnehin keine gute Idee.« Dirk legte die Hände auf ihre Schultern. »Wir werden keine Waffen benötigen«, sagte er lächelnd, »obwohl ich zugeben muß, daß mich der Besitz einer Waffe beruhigen würde. Aber ich wüßte nicht, wie ich sie anwenden sollte.«

»Ich schon«, sagte sie. Ihre Augen — ihre großen grünen Augen — drückten eine Härte aus, die Dirk noch nie zuvor bemerkt hatte. Einen kurzen, merkwürdigen Augenblick lang wurde er an Garse Janacek und dessen eisigblauen Hochmut erinnert. »Wie?« fragte er.

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung und zuckte die Achseln, so daß seine Hände von ihren Schultern glitten. Dann wandte sie sich von ihm ab. »Im Freien benutzen Arkin und ich Projektilgewehre. Um Er-kennungsnadeln zu verschießen, die uns erlauben, den Weg der Tiere zu rekonstruieren und auf diese Weise ihre Wanderungen zu studieren. Mit Betäubungsbolzen schießen wir ebenfalls. Und es gibt einpflanzbare Sensoren von der Größe eines Daumennagels, die dir alles über eine Lebensform mitteilen — wie sie jagt, was sie frißt, ihre Paarungsgewohnheiten, Gehirnströme in verschiedenen Stadien des Lebens. Wenn man eine Reihe solcher Daten sammelt, kann man für einzelne Spezies charakteristische Schaubilder zeichnen und aus diesen ein ganzes Ökosystem ableiten. Aber zuerst müssen diese Spione eingepflanzt werden. Und das geht nur, wenn die Versuchsobjekte bewegungslos sind, was mit den erwähnten Betäubungsbolzen erreicht wird. Ich habe Tausende davon verschossen. Ich treffe gut. Wenn ich doch nur daran gedacht hätte, eines der Gewehre mitzunehmen.«

»Das läßt sich nicht vergleichen«, sagte Dirk. »Für mich besteht ein großer Unterschied darin, ob man eine solche Waffe benutzt oder einen Menschen mit einem Laser erschießt. Ich habe weder das eine noch das andere ausprobiert, aber ich bezweifle, daß man das gleichsetzen kann.«

Gwen lehnte sich gegen die Tür und sah ihn aus einigen Metern Entfernung mit säuerlichem Gesichtsausdruck an. »Du glaubst also nicht, daß ich einen Menschen töten könnte?«

»Nein.«

Sie lächelte. »Dirk, ich bin nicht mehr das kleine Mädchen, das du auf Avalen einmal gekannt hast. In der Zwischenzeit habe ich mehrere Jahre auf Hoch Kavalaan verbracht. Das waren keine leichten Jahre. Andere Frauen spuckten mir ins Gesicht. Von Garse Janacek mußte ich mir tausend Vorträge über die Pflichten anhören, die Jade-und-Silber mit sich bringt. Von anderen Kavalarmännern wurde ich so oft Spottmensch oder betheyn- Schlampe genannt, daß ich manchmal zurückschrie.« Sie schüttelte den Kopf. Unter dem breiten, eng anliegenden Stirnband waren ihre Augen hart wie grüner Stein. Jade, dachte Dirk mit einem Gefühl der Hilflosigkeit, Jade, wie in dem Armreif, den sie noch immer trug.

»Du bist wütend«, sagte er. »Man wird schnell wütend.

Aber ich kenne dich, Liebling, im Grunde bist du ein sehr sanftmütiges Persönchen.« »Das war ich, und ich versuche es auch wieder zu sein. Es ist jedoch lange her, Dirk, und es wird immer schlimmer. Jaan Vikary war das einzig Gute in den letzten Jahren. Ich habe es Arkin erzählt, er weiß, was ich fühle, was ich fühlte. Es gab Zeiten, da war ich nahe daran … so verdammt nahe daran … Besonders bei Garse, weil er ein Teil von mir ist, so seltsam das klingen mag. Aber mehr noch ist er ein Teil von Jaan, und es tut weh, wenn dich jemand, dem du nahestehst, den du beinahe lieben könntest, bis aufs Blut reizt … Wenn …« Sie verstummte. Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt und sah grimmig drein, aber dann entspannte sie sich. Sie mußte seinen Gesichtsausdruck bemerkt haben, dachte Dirk. Er fragte sich, was sie hatte sagen wollen.

»Vielleicht hast du recht«, sagte sie einen Moment später und nahm die Arme herunter. »Vielleicht könnte ich keinen Menschen töten. Aber manchmal fühle ich mich so, als könnte ich es, weißt du. Und jetzt, Dirk, jetzt hätte ich sehr gern ein Gewehr.« Sie lachte. Es war ein kurzes, humorloses Lachen. »Auf Hoch Kavalaan war es mir natürlich nicht gestattet, eine Waffe zu tragen. Wofür benötigt eine betheyn schon eine Handwaffe? Ihr Hochleibeigener und sein teyn beschützen sie. Und eine Frau mit einer Pistole könnte sich am Ende selbst erschießen. Jaan … nun, Jaan kämpft um die Veränderung vieler Dinge. Er versucht es immer wieder. Die meisten Frauen verlassen nie wieder die sicheren Steinmauern ihrer Festhalte, nachdem sie Jade-und-Silber entgegenge-nommen haben. Aber ich bin auf Worlorn. Ich bin ihm dafür dankbar und respektiere seinen Mut. Aber er versteht nicht alles. Letzten Endes ist er ein Hochleibeigener und bekämpft auch Dinge, die ich positiv sehe. Und wovon immer ich ihn überzeugen möchte — Garse erzählt ihm etwas anderes. Manchmal nimmt Jaan gar keine Notiz von meiner Meinung. Und die kleinen Dinge, wie mein Problem mit den Waffen, nimmt er überhaupt nicht ernst. Einmal habe ich mit ihm darüber diskutiert, und er wies mich auf den Widerspruch hin: einmal eine Waffe tragen zu wollen, zum anderen die Bewaffnung und den Duellkodex abzulehnen. Damit hatte er natürlich recht. Und doch … Weißt du, Dirk, ich habe verstanden, was du gestern Nacht zu Arkin sagtest.

Daß du Bretan entgegentreten wolltest, obwohl du dich nicht an den Kodex gebunden fühltest. Manchmal habe ich auch so gefühlt.«

Das Licht im Zimmer flackerte kurz, verdunkelte sich und leuchtete dann wieder mit voller Intensität auf. »Was ist los?« sagte Dirk. »Für die Bewohner besteht kein Grund zur Beunruhigung«, meldete sich die Stimme mit ihrem wohltönenden Baß. »Ein vorübergehender Stromausfall auf Ihrem Stockwerk wurde soeben behoben.« »Stromausfall!« Ein Bild blitzte durch Dirks Gehirn, ein Bild von Challenge, dem versiegelten, fensterlosen, ganz auf sich allein gestellten Challenge — ohne Strom. Kein angenehmer Gedanke. »Was ist geschehen?«


»Bitte seien Sie nicht beunruhigt«, wiederholte die Stimme, aber die Lichtquellen an der Decke straften die Worte Lügen. Sie erloschen. Gwen und Dirk standen eine Sekunde lang in schrecklicher, totaler Finsternis.

»Ich glaube, wir gehen besser«, sagte Gwen, als die Lichter wieder aufleuchteten. Sie drehte sich um, öffnete den Wandschrank und begann, ihre Taschen herauszuholen. Dirk half ihr.

»Bitte verlieren Sie nicht den Kopf«, sagte die Stimme.

»Zu ihrer eigenen Sicherheit möchte ich Sie bitten, auf Ihren Zimmern zu bleiben. Die Situation ist unter Kontrolle. In Challenge gibt es viele eingebaute Si-cherheitsvorkehrungen, außerdem Ersatzschaltungen für jedes wichtige System.«

Sie waren mit dem Packen fertig. »Bist du jetzt auf Notstrom geschaltet?« fragte Gwen.

»Die Stockwerke 1-50, 251-300, 351-450 und 501-550 arbeiten im Augenblick mit Notstrom«, gab die Stimme zu. »Es besteht jedoch kein Grund zur Besorgnis.

Robottechniker reparieren das Primärsystem so schnell wie möglich, und für den unwahrscheinlichen Fall, daß das Notstromsystem ebenfalls ausfällt, stehen weitere Systeme zur Unterstützung bereit.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Dirk. »Warum? Was verursacht diese Ausfälle?«

»Bitte seien Sie nicht beunruhigt«, wiederholte die Stimme abermals. »Dirk«, sagte Gwen leise. »Komm mit! Gehen wir!« Mit einer Tasche in der rechten Hand, ihren Sensorenkoffer über die linke Schulter gehängt, ging sie hinaus. Dirk nahm die beiden anderen Taschen und folgte ihr in das Reich der kobaltblauen Korridore.

Sie eilten zu den Aufzügen, Gwen immer zwei Schritte voraus. Die Teppiche schluckten das Geräusch ihrer Schritte.

»Bewohner, die den Kopf verlieren, schweben während dieser kleinen Unbequemlichkeit in größerer Gefahr als solche, die auf ihren Zimmern bleiben«, wurden sie von der Stimme getadelt.

»Sag uns, was wirklich los ist, dann überlegen wir es uns vielleicht noch«, gab Dirk zurück. Sie hielten weder an, noch verlangsamten sie ihr Tempo.

»Ab jetzt gelten Notverordnungen«, sagte die Stimme.

»Wärter wurden in Betrieb gesetzt, um Sie auf Ihr Zimmer zurückzubringen. Dies dient nur Ihrer eigenen Sicherheit. Ich wiederhole: Wärter wurden in Betrieb gesetzt, um Sie auf Ihr Zimmer zurückzubringen. Die Normen von pi-Emerel untersagen …« Die Worte begannen mit einem Mal undeutlich zu werden, die Baßstimme begann zu fisteln, quiekte und wurde schließlich zu einem kreischenden Geheul, das Ihnen schmerzhaft in die Ohren stach. Dann war urplötzlich alles still. Das Licht ging aus.

Dirk hielt einen Augenblick inne, machte dann zwei Schritte in die undurchdringliche Dunkelheit — und prallte auf Gwen. »Was … Entschuldigung«, stammelte er.

»Ruhig«, flüsterte Gwen. Sie begann, die Sekunden zu zählen. Bei dreizehn leuchteten die Hängekugeln an den Korridorkreuzungen wieder auf. Aber das blaue Licht war nur ein geisterhaft trüber Schein, bei dem man kaum etwas erkennen konnte.

»Komm«, sagte Gwen. Diesmal setzte sie im blauen Dämmerlicht vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Bis zu den Aufzügen war es nicht mehr weit.

Als die Wände erneut zu ihnen sprachen, war es nicht mehr die Stimme der Stimme.


»Diese Stadt ist groß«, erscholl es, »und doch ist sie nicht groß genug, um dich zu verstecken, t’Larien. Ich warte im untersten Emerelikeller, dem 52. Tiefgeschoß.

Die Stadt gehört mir. Komm jetzt zu mir herunter ! Sonst wird alle Energie abgeschaltet, und mein teyn und ich werden dich in der Dunkelheit jagen.«

Dirk erkannte den Sprecher. Die Stimme war unverkennbar. Ob auf Worlorn oder sonstwo im Universum — es würde jedem schwerfallen, die verzerrte, krächzende Stimme Bretan Braith Lantrys nachzuahmen.

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