Die Geschichte von Atlantis

I Ein Reiter, der nach Westen zeigt

Zuerst zeigten sich die Möwen. Sie kreisten hinter der Insel über einem unsichtbaren Abschnitt des Ufers, gingen im Sturzflug aufs Wasser nieder und stiegen wieder hoch.

Wenn ein Dampfer kommt, geben sie ihm stets das Geleit, bis er festmacht. So war es auch an jenem Junitag. Zweimal puffte lautlos ein Rauchwölkchen in die Luft und zerflatterte über dem Kap. Sekunden später — als schon jeder glaubte, das Heulen der Sirene sei verhallt, ohne den Hafen erreicht zu haben — hörte man zwei kurze Signalstöße. „Das wird wohl die ,Maria Uljanowa' sein", meinte jemand unsicher und fügte vorsichtshalber hinzu: „Oder die ,Spartak'."

„Warum nicht die ,Lena'?" erklang es spöttisch aus der Menge, die sich an der Anlegestelle eingefunden hatte. „Wer weiß, vielleicht ist es auch die ,Salichard'?"


Der erfolglose Rater, ein langarmiger Bursche in hohen Lederstiefeln, stieß mit gewohnter Bewegung die Mütze in den Nacken. Auf seiner Segeltuchjacke glänzten trockene Fischschuppen. Vor den Schaulustigen stand der Hafenmeister. „Die ,Spartak'", entschied er, ohne den Kopf zu drehen.

Er war die Hauptperson hier, körperlich nicht übermäßig groß geraten, aber wenn man ihn so dastehen sah in seinem funkelnagelneuen Kittel und mit der gewichtigen Tabakspfeife, deren zernagtes Mundstück aus der einen Tasche lugte, wußte man sofort: Dieser Mensch besitzt die Macht, jedermann von der Landungsstelle zu verweisen, und braucht dabei nicht mal das von der Rasierklinge zerschundene Kinn in den hochgeschlagenen Kragen zu ziehen. Aber er jagte niemand davon, reckte sich nur noch gebieterischer in die Höhe und schaute noch gestrenger drein. Der Hafenmeister zählte neunzehn Jahre.

Hinter dem Kap kam ein Dampfer hervor. Aus dem Jenissei bog er in die breite Mündung der Tunguska ein. Nur vier Monate des Jahres sind die beiden Flüsse schiffbar. Dieser Dampfer wurde als erster nach dem langen Winter erwartet. Seine Fahrt verzögerte sich, weil er die letzten Eisschollen aus dem Weg stoßen mußte. Nach jedem Anlegen wurden seine Laderäume leerer. In den Häfen oder auch einfach am nackten, stufenförmigen Ufer, wo immer es einen Aufenthalt gab, hatte sich zu seinem Empfang eine große Menschenmenge eingefunden.

Mit dumpfem Knarren lehnte sich der Dampfer gegen die Anlegestelle, kam zum Stehen, schnaufte, prustete und hüllte die Wartenden in einen Duft von brutzelndem Fett und warmen Speisen.

Als erster begab sich der Hafenmeister an Bord. Ihm nach drängten, sich gegenseitig schubsend, die übrigen Leute. Gefäße klapperten, dumpf polterten Stiefel auf den Brettern. Dieser und jener hatte dienstlich auf dem Schiff zu tun, die meisten gingen in eigener Angelegenheit hinüber. Manche waren gekommen, um Bier oder Mandarinen einzukaufen, sie hatten Eimer und Beutel mitgebracht. Andere besaßen unter der Schiffsmannschaft einen Bekannten, den sie besuchen wollten. Es gab auch welche, die nur ein wenig über Deck bummeln oder in der Kantine an einem weißgedeckten Tisch sitzen wollten und sich nach den vielen Werkküchenkoteletts, die sie während der langen Winterszeit gründlich satt bekommen hatten, einmal etwas Teures und Pikantes leisten. In Wahrheit freilich gab es für das Erscheinen all der zahlreichen Besucher nur einen Hauptgrund. Sie waren gekommen, weil es sich einfach gehörte, daß man den ersten Dampfer empfing wie einen sehnlich erwarteten Gast: mit viel Lärm und Hallo.

Der Bursche in der Segeltuchjacke war als erster zum Büfett vorgedrungen. Jetzt bahnte er sich bereits einen Weg zurück, mehrere Schachteln „Belomor" in der erhobenen Rechten. Heute war er bei Tagesanbruch aus den Federn gekrochen, sodann achtzehn Kilometer weit gerudert, um endlich einmal etwas anderes als Machorka rauchen zu können.

Allmählich wurde es stiller. Die Gäste verliefen sich. Viele standen in den Gängen oder saßen in den Salons. Die ersten Passagiere gingen an Land. Es waren insgesamt vier, unter ihnen ein Mann im Regenumhang, eine Kartentasche an der Seite. Er stieg das steile Ufer hinan, stellte, oben angekommen, seinen Koffer ab und setzte sich darauf. Dann nahm er die Mütze vom Kopf, fuhr sich durch das graumelierte Haar, rieb sich das stopplige Kinn.

„Ungekämmt, unrasiert", machte er seinem Herzen Luft, „wie ein ungepflegter Köter. Pfui Teufel!" Zwei Jungen, die am Rand des Hanges saßen, lachten. Der Mann auf dem Koffer kniff die Brauen zusammen. „Was gibt's da zu feixen?"

„Nichts", antworteten die Kinder.

„Schon lange demobilisiert?" scherzte der Reisende mit ernstem Gesicht und zeigte auf das gestreifte Matrosenhemd, das der eine Junge unter der Jacke trug.

„Schon eine ganze Weile", erwiderte der Gefragte, bemüht, auf den Ton des Erwachsenen einzugehen. „Dann verrate mir mal, wie ich zum Lager der Expedition komme."

Der Junge wies mit einer lässigen Armbewegung die Richtung. „Dort lang. Bis zum Badehaus. Dann links halten."


„Somit wäre der Fall klar", sagte der Mann. „Wenn ich nun noch wüßte, wo das Badehaus steht, könnte ich nicht fehlgehen."

Die Jungen brachen erneut in Lachen aus. Der Reisende wartete ihre Auskunft nicht ab, ergriff seinen Koffer und schritt die Straße hinunter.

Kurze Zeit darauf näherte sich ein Mann in Pelzjacke. Er hatte einen großen Korb auf den Rücken geschnallt und trug einen mit Stricken umschnürten Ballen auf der Schulter. In der Rechten hielt er einen Beutel, an die Linke klammerte sich seine Tochter, die zwölf Jahre alt sein mochte. Mit einem Blick auf die Jungen, vor Anstrengung keuchend, erkundigte sich der Ankömmling ebenfalls nach dem Weg zum Lager der Expedition.

Neben ihm stand mit erhobenem Kinn das Mädchen und sah zur Seite. Den beiden Jungen hatte sofort mißfallen, daß sie überhaupt kein Gepäck trug und nicht einmal den Versuch unternahm, ihrem schwer beladenen Vater zu helfen. Hinzu kam die geringschätzige Miene, die sie aufgesetzt hatte, während ihre Blicke umherspazierten — grad so, als wären die beiden Jungen Luft — und ihr dicker, blonder Zopf, der von einem grünen Band umschlungen angeberisch auf der wattierten Jacke lag. Gründe genug, um verächtlich die Nase zu rümpfen. Lange sahen die Jungen Vater und Tochter nach, und als das Mädchen auf dem Holzpflaster ins Stolpern kam, sagte der im Matrosenhemd absichtlich laut: „So eine Kuh! Läßt sich anfassen und stolpert noch."

Die „Kuh" hielt es für unter ihrer Würde, sich umzudrehen, verlangsamte jedoch den Schritt. Da wußte der Junge, daß sie seine Worte gehört hatte. Als letzter kam ein junger Mann das Ufer heraufgeklettert. Er hatte seinen Mantel über den Arm gelegt und betrachtete mitleidig die hellgrauen Schuhe, die schon arg zerkratzt waren. Als er stehenblieb, musterten die Jungen verwundert seine auffällige Kleidung. Der Ankömmling trug Seidenhemd und Krawatte. In der rechten Hand hielt er eine runde, mit roter Schnur umwickelte Reisetasche, die aussah wie ein kleines Faß.

Kurz und gut — in der hiesigen Umgebung nahm sich dieser Mensch recht sonderbar aus. Sein Aufzug paßte gar nicht zu den vom Regenwasser dunkel gefärbten Stämmen, die am Ufer aufgestapelt waren, zu den knarrenden Holzgehsteigen, dem grünen, gezackten Rand der Taiga, die dort begann, wo die breite, mit Pfützen übersäte Straße aufhörte.

Todsicher war der flotte junge Mann mit den dunklen Haaren fremd in dieser Gegend.

Wäre er ein Gedankenleser gewesen, hätte er den erstaunten Kindern wahrscheinlich folgendes erklärt: Ich trage diese Schuhe nicht, um Eindruck zu schinden, sondern aus dem einfachen Grunde, weil ich keine anderen habe. Ja, und euer altertümliches Holzstädtchen gefällt mir trotz der vielen Pfützen recht gut. Was wollt ihr sonst noch wissen? Daß ich erst dreiundzwanzig Jahre bin? Und ziemlich aufgeregt, weil für mich nun ein Leben beginnt, das wesentlich anders sein wird als alles, was bisher war?

Da er jedoch keine Gedanken lesen konnte, sagte er statt dessen: „Hört mal, ihr beiden, ihr seid doch sicher Schüler?"

„Na klar, Schüler", gab der im Matrosenhemd zur Antwort.

„Und wie komme ich zur Na-klar-Schule?" fragte der junge Mann lächelnd.

„Zu welcher Schule?"

„Wenn ihr Na-klar-Schüler seid, besucht ihr höchstwahrscheinlich keine gewöhnliche, sondern eine Na-klar-Schule."

Wären die beiden Gedankenleser gewesen, hätten sie gewußt, daß es keineswegs in der Absicht des jungen Mannes lag, sie zu verspotten. Er war einfach ein fröhlicher Mensch, für den alles ringsumher den Reiz von etwas Neuem besaß und der den Wunsch hatte, sich mit jemand zu unterhalten. Worüber, das war ihm einerlei.

Die Jungen waren jedoch keine Gedankenleser, und den im Matrosenhemd brachte schon das Wort „höchstwahrscheinlich" heftig auf.

„Wenn du so ein Schlauberger bist, wirst du sie auch ohne Hilfe finden", gab er barsch zurück.

Diese Antwort machte den Fremden unsicher. Er wurde bis über beide Ohren rot, was für einen Mann in seinem Alter völlig unpassend war.

„Sehr höflich bist du aber nicht", sagte er, und ihm erging es wie den meisten schüchternen Menschen, die ihre Verlegenheit verbergen möchten. Seine Worte kamen patzig heraus, obwohl das gar nicht in seiner Absicht gelegen hatte.

Der im Matrosenhemd nahm es zur Kenntnis. Er schwieg.

Da ergriff der Fremde seinen Koffer, drehte sich ruckartig um und trabte weiter. „So eine Kuh, das Mädchen", erklärte der andere Junge verächtlich, „richtig widerlich."

„Der ist nicht besser", meinte sein Freund mit einem Blick auf den davoneilenden Fremden. „Höchstwahrscheinlich", setzte er bissig hinzu. „Ach komm, wir gehn."

Die Jungen trollten sich auf dem Fahrdamm heim. Im Laufen klopften sie die gelblichen Erdflecken aus ihren Hosen. An der Ecke verabschiedeten sie sich. Der im Matrosenhemd rannte schräg über die Straße, ohne auf die Pfützen zu achten. Das Wasser spritzte ihm klatschend gegen die Schäfte der Gummistiefel. Sein Freund verschwand in einer Seitenstraße. Die Abendkühle ließ ihn erschauern. Er begann zu hüpfen. Schon wollte er, zu Hause angekommen, durch die Gartenpforte schlüpfen, als sein Blick auf ein blaues Schreibheft fiel, das dicht neben dem Zaun lag. Er hob es auf. Das Papier war mit feuchter Erde beschmiert. Der Junge las den ersten Satz: „Auf einem Berg der Insel Azoris steht ein steinerner Reiter, der das Gesicht dem Meer zuwendet und mit der Hand nach Westen zeigt."


II Eine unerwartete Begegnung

Die Schule von Ust-Kamenskoje blieb den ganzen Juni über geöffnet. Daß es keine Ferien gab, hatte natürlich seinen Grund. Selbst für diese Gegend war der Winter außergewöhnlich streng gewesen.

Im Januar hatte man Temperaturen bis zu minus sechzig Grad gemessen. Schwerer, beißender Nebel hing damals über der Holzstadt. Nachts winselten die Hunde, kratzten bettelnd an den Türen, um in den Flur gelassen zu werden. Auf den Straßen rissen die Drähte der Telefonleitungen und rollten sich neben den Masten zusammen. In den Morgenstunden erklang durchdringendes Geheul: Auf dem Flugplatz wurden die Motoren gewärmt. Der Himmel war weiß und schien vor Frost zu klirren. Kein Flugzeug wagte aufzusteigen. Nach einer Weile verstummten die Motoren wieder.

Was in diesem Winter an Unterricht gegeben wurde, war kaum der Rede wert: nicht einmal ein ganzer Monat. Um das Versäumte nachzuholen, mußten Jurka und Petka während des Juni in die Schule gehen, noch dazu nachmittags. Das war besonders schmerzlich.


Gestern hatten sie geschwänzt, um bei der Ankunft des ersten Dampfers zugegen zu sein. Dimka war nicht mitgegangen. In solchen Dingen hat Dimka einen guten Riecher. Der sagt ihm genau, wann etwas glattgeht und wann nicht.

Im letzten, auch im vorletzten Jahr war Dimka mit von der Partie gewesen. Diesmal hatte er dem Vergnügen entsagt.

Und siehe da, in die Klasse war der Direktor getreten, um festzustellen, wer alles fehlte. Ob Dimka nun den Braten gerochen, ob und wie er von der drohenden Gefahr Wind bekommen hatte, vermochten Jurka und Petka natürlich nicht zu sagen. Auf jeden Fall beneideten sie ihren Freund, der kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, sondern fröhlich ausschreiten konnte, während ihre Beine immer schwerer wurden, je näher sie der Schule kamen. „Regt euch doch nicht künstlich auf", suchte Dimka sie zu beruhigen, „es wird alles halb so schlimm."

„Für dich bestimmt", erwiderte Petka finster. „Wenn du uns wenigstens gewarnt hättest."

„Aber ich habe doch selber nichts geahnt. Ehrenwort, das könnt ihr mir glauben."

Jurka seufzte. Er dachte an die bevorstehenden Unannehmlichkeiten. „Dimka, du bist ein komischer Kauz. Bei dir weiß man nie, ob du schwindelst oder nicht."

Dimka lachte.

Vier Stunden saßen Jurka und Petka wie auf Kohlen, spitzten die Ohren und schielten zur Tür. Wenn jemand über die knarrenden Korridordielen schritt, fuhren sie zusammen. Richtig unheimlich wurde ihnen in der darauffolgenden Pause. Die fünfte Stunde sollte statt der Physiklehrerin, die sich in eine andere Stadt hatte versetzen lassen, der Direktor geben. Petka malte sich aus, wie es sein würde, wenn er nach Hause kam. Mutter schneidet mit flinken Fingern das Brot, stellt einen Teller Fischsuppe vor ihn hin. Petka stochert mit dem Löffel im Essen herum. Dann fragt er, ob Mutter kein Wasser braucht. Er läuft zum Brunnen, die Eimer zu füllen, danach in einen Laden, um Zucker zu kaufen. Wenn das erledigt ist, nimmt er die Axt, geht in den Schuppen, spaltet Holz. Er hackt und hackt, bis sich ein Riesenstapel auftürmt. Weil Petka nichts sagt und plötzlich so fleißig tut, wird die Mutter stutzig. Sie ahnt, daß mit der Schule etwas faul ist.

„Der Direktor möchte dich sprechen", bestellt Petka endlich.

Wie schnell sich Mutters Gesicht verändert! Bald guckt sie böse und sieht nun gar nicht mehr schön aus. Gleich wird es ein Donnerwetter geben. Wenn sich Mutter ausgeschimpft hat, beginnt sie zu weinen. Petkas Bruder aber, der kleine Senka, guckt sie erschrocken an.

In solchen Minuten wünscht sich Petka, daß ihm etwas Schreckliches zustoßen möge. Zum Beispiel: Er würde sterben. Tot sein — ja, das wär was! Nicht für immer natürlich, nur ein bißchen, für zwei, drei Tage, und so, daß er alles hört und sieht. Dann würden viele Menschen kommen, um ihn zu beweinen. Sie könnten sich nicht genug tun, was für ein guter Junge er gewesen ist, welch ein Unglück es sei, daß er so früh habe sterben müssen. Vor allem würden sie bedauern, daß sie zu seinen Lebzeiten nicht immer gerecht gewesen sind. Selbstverständlich wäre unter den Trauergästen auch Petkas Direktor zu finden. Er würde wie alle anderen seine Schuld bekennen, offen, ungeschminkt. Reglos und stolz läge der aufgebahrte Tote vor den trauernden Hinterbliebenen. Dann aber käme der große Augenblick, da Petka ins Reich der Lebenden zurückkehren würde buchstäblich in letzter Minute. Das Glück der Anwesenden wäre grenzenlos. Sie vergössen Freudentränen.

Bisher waren Petkas Sterbewünsche freilich nie in Erfüllung gegangen. Statt dessen ist es immer so gewesen: Wenn sich Mutter ausgeweint hatte, zog sie ein neues Kleid an und ging in die Schule, um zu hören, was der Bengel wieder angerichtet hatte.

Vermutlich würde es auch diesmal so sein.

Geräuschvoll klappten die Deckel der Schulbänke. Im Nu waren die Schüler auf den Beinen, viel schneller als sonst, kaum daß die Tür aufging. Der Direktor verharrte wie gewöhnlich eine Weile auf der Schwelle, während ein alles umfassender Blick aus seinen scharfen schwarzen Augen die Gesichter überflog. „Guten Tag", grüßte die Klasse, viel zu einträchtig, viel zu laut. Der Direktor runzelte die Stirn. Übertriebene und unechte Achtungsbezeigungen hatten ihn seit jeher aufgebracht. Da sie jedoch unvermeidlich schienen, fand er sich schließlich damit ab, ebenso mit der Tatsache, daß ihm die Schüler nie gerade in die Augen blickten. Es war, als seien sie ständig darauf gefaßt, von ihm etwas Unangenehmes zu erfahren.

Äußerlich fiel der Direktor durch eine ungewöhnliche Leibesfülle auf, die, wie es hieß, von einer Krankheit herrührte. Nach einem ungeschriebenen Gesetz haben dicke Menschen meist ein goldenes Herz, so auch Piaton Jakarlewitsch, der Direktor dieser Schule. Als er erfuhr, daß Dimka Polujanow ihn heimlich die „Seifenblase" nannte, war er ehrlich betroffen. Der Übeltäter wurde zu ihm bestellt und belehrt, daß es ehrlos, ja geradezu schändlich sei, jemand wegen seiner körperlichen Mängel zu verspotten. Dimka gab bereitwillig das Versprechen ab, nie mehr gemein zu handeln. Der Spitzname haftete jedoch an dem Direktor wie eine Klette. Er ging von Mund zu Mund.


Wenn Petkas Mutter von einem Gespräch mit dem Schulleiter zurückkam, war sie jedesmal beruhigt, ihr Zorn aber noch nicht völlig verraucht.

„Was seid ihr bloß für Esel!" schimpfte sie. ,,Du und dein Dimka. Der Direktor hat einen klugen Kopf. Dabei ist er eine Seele von Mensch. Und ihr macht euch über ihn lustig. Wie kann man sich nur an andrer Leute Leid ergötzen!" Wenige Sekunden später lachte sie selber. ,,Na ja", lenkte sie verlegen ein, „dick ist er ja, das stimmt schon, entsetzlich dick."

Diesmal kam der Direktor nicht allein.

Er sagte: „Von heute an habt ihr einen neuen Physiklehrer — Viktor Nikolajewitsch Rjabzew. Viktor Nikolajewitsch wird zugleich euer Klassenleiter sein." Bei den letzten Worten blickte er Petka an. Dann nickte er bedeutsam und ging wieder hinaus.

Kein Wort über den geschwänzten Unterricht. Es dauerte eine Weile, bis Petka sein Glück begriffen hatte. Doch als ihm endlich zum Bewußtsein kam, daß die Geschichte wahrscheinlich im Sande verlaufen würde, fiel sein Blick zufällig auf die Füße des neuen Lehrers, und da durchzuckte ihn aufs neue ein heftiger Schreck. Die Schuhe, die Viktor Nikolajewitsch trug, waren weißlich grau.

„Also Freunde, machen wir uns miteinander bekannt."

Während Viktor Nikolajewitsch sprach, runzelte er die Stirn und gab sich überhaupt die größte Mühe, sicher aufzutreten und erwachsen zu wirken. Jedoch konnte das nicht darüber hinwegtäuschen, daß der neue Lehrer noch sehr jung war. Offenbar war er frisch vom Institut gekommen. Vielleicht sollte dies sogar seine erste eigene Unterrichtsstunde werden. Da die Kinder sofort merkten, was sie von der gestrengen Amtsmiene zu halten hatten, begannen sie ungeniert zu kichern. Allgemeine Heiterkeit hielt ihren Einzug, fein ernstes Gesicht bewahrte lediglich Sonja, das gewissenhafte Mustermädchen auf der ersten Bank. Sie kramte ihr Heft aus der Tasche, strich den Namen der ehemaligen Lehrerin durch und schrieb auf die erste Seite: „Physik bei Viktor Nikolajewitsch Rjabzew."

Der Lehrer schlug das Klassenbuch auf.

„Juri Alenow."

„Hier", meldete sich Jurka, ohne den Lehrer anzusehen.

„Pjotr Issajew."

Petka stand langsam auf, so langsam, daß der Lehrer Zeit genug hatte, ihn ein zweites Mal aufzurufen und zu fragen: „Fehlt Issajew heute?"

„Nein", meldete sich Petka. „Hier!"

Der Lehrer blickte den Schüler an, sah sein schwarzes Borstenhaar, im Jackenausschnitt den oberen Rand des Matrosenhemdes und erinnerte sich an die gestrige Begegnung. Da wurden sie beide verlegen.

Wie am Vortage fühlte Viktor Nikolajewitsch, daß er errötete und sich beim besten Willen nicht zusammenreißen konnte. Rot werden, vor der ganzen Klasse, wegen eines dummen Jungen — das geht doch nicht, versuchte er sich einzureden, aber sein Gesicht färbte sich nur noch dunkler. Zu guter Letzt stand er auf und trat wie in Gedanken ans Fenster, um seine Verwirrung zu verbergen. Doch war auch das keine glückliche Lösung. Petka schien zu einer Salzsäule erstarrt. Mit dem feinen Gefühl des Kindes erriet er, in welcher Verfassung sich der neue Lehrer befand. Aus seinen Augen war das Entsetzen gewichen. Belustigt blickte er auf die Gestalt am Fenster.

Von allen übrigen begriff nur Jurka, was zwischen Petka und Viktor Nikolajewitsch vorging. Mit gekrümmtem Rücken und gesenkten Augen saß er auf seinem Platz, hoffend, nicht erkannt zu werden.

„Setz dich hin, was stehst du da!" brauste der Lehrer auf.

„Sie haben mir noch nicht erlaubt, mich zu setzen", erwiderte Petka höflich.

Hinter dieser Höflichkeit verbargen sich Triumph und eine Schadenfreude, die Viktor Nikolajewitsch unbegreiflich war.

So kam es, daß Petka seinem neuen Lehrer ein Dorn im Auge wurde. Was fiel dem Bengel ein, den starken Mann zu spielen! Bei aller Selbstsicherheit trat Petka jedoch nicht unverschämt genug auf, um dafür gemaßregelt zu werden. Viktor Nikolajewitsch wußte sehr gut, daß seine Autorität und ein freundschaftliches Verhältnis zur Klasse nicht zuletzt davon abhingen, wie er mit solchen Jungen fertig wurde. Er war bereit, jeden einzelnen ins Herz zu schließen, damit auch sie ihn alle in das ihre schlössen. Voller Erregung, mit frohen Erwartungen war er zu seiner ersten Stunde geschritten. Und vor den Kopf gestoßen worden. Er fühlte sich tief gekränkt.

Eilig setzte er die Kontrolle der Anwesenheit fort und begann danach den Unterricht. Aber bis die Klingel den Schluß der Stunde anzeigte, spürte Viktor Nikolajewitsch Petkas unfreundlichen Blick. Das machte ihn unsicher und nervös. In seiner Zerfahrenheit wischte er die Tafel mit der Hand ab, obwohl für diesen Zweck ein Lappen bereit lag.

In der Pause sprach ihn das Mustermädchen Sonja an. Das geschah auf dem Flur. „Viktor Nikolajewitsch", sagte Sonja mit einem Blick aus ihren runden, ehrlichen Augen, „Petka Issajew und Jurka Alenow haben gestern die beiden letzten Stunden geschwänzt."

„Weshalb erzählst du mir das?"

„Sie sind doch der neue Klassenleiter. Unsererfrüheren Lehrerin habe ich immer alles mitgeteilt, was die Schüler taten."

„Der früheren Lehrerin", wiederholte Viktor Nikolajewitsch zerstreut.

„Ja, freilich", bestätigte das Mädchen Sonja. „Sie ist fortgefahren, weil sie eine zu kalte Wohnung hatte."

„Na schön", entgegnete Viktor Nikolajewitsch. „Mich jedenfalls wirst du mit solchen Mitteilungen in Zukunft verschonen. Ich will desgleichen nicht wieder hören. Weder ich noch irgendein anderer." Es klang sehr bestimmt. „Hast du mich verstanden?"

„Ja, freilich." Sonja nickte. „Aber warum wollen Sie es nicht hören?"

„Weil es gemein ist. Darum. Man tut so etwas nicht. Als ich noch die Schule besuchte... Weißt du, wie wir mit einer Petze umgesprungen sind? Der ging's dreckig, das kannst du mir glauben", sprudelte er hitzig hervor.

„Mich verhauen sie auch, wenn sie es erfahren", meinte Sonja demütig, „aber es weiß ja niemand."

Viktor Nikolajewitsch sah das Mädchen vor ihm an. Für einen Augenblick glaubte er, daß sie sich über ihn lustig machte. Ihr Gesicht blieb jedoch völlig ernst. Nein, natürlich, sie hatte nur gesagt, was sie dachte. „Also, was willst du?" fragte er. „Ich? Nichts. Nur — die frühere Lehrerin..."

„Ich glaube, daß du deine frühere Lehrerin mißverstanden hast", fiel er ihr ins Wort. „Du hast dich geirrt, das ist alles. Lauf jetzt nach Hause und vergiß nicht, daß in der Klasse deine Freunde sitzen. Deine Freunde! Daran mußt du denken, dann wirst du alles begreifen."

Viktor Nikolajewitsch ging ins Lehrerzimmer und schloß die Tür hinter sich.

Das Mädchen starrte ihm verständnislos nach.

III Das versunkene Inselreich (Aus dem blauen Heft)

„Im Westen hört die Ebene auf. Am Fuße der Steilwand beginnt das Meer.

Vom Horizont her, aus der unverschleierten, starren Ferne, kommen in friedlichem Spiel grüne Wellen herangeplätschert. Nahe dem Ufer spüren sie den Grund unter sich. Da beginnt die Brandung. Hoch bäumen sich die Wellen auf, brüllen und tosen. Wie von Riesenfäusten geschüttelt, erzittern die Felsen. Schaum spritzt über die grün- und braunzottigen Steine. Zerfetzte Rinnsale jagen durch Spalten und Klüfte, prallen aufeinander, schießen zischend in die Luft und sinken Augenblicke später klatschend zurück.

Auf sandigem Grund tanzt der Tang zum Rhythmus der See einen trägen, unendlichen Reigen. Wie Astern im Wind neigen und recken die Meeresblumen ihre Blütenköpfe.

Tag für Tag hat das Wasser die Erde fortgeleckt. Was sich mit in die Ferne führen ließ, ist längst hinweggespült. Darum leuchtet das Meer am Ufer in kristallener Klarheit und strahlt lichterfüllt wie vor Sonnenaufgang der Himmel. Wenn die See ruhiger wird, tummeln sich bunte, glotzäugige Fische im seichten Wasser, bewegen die geschmeidigen Flossen, stoßen faul mit der Nase gegen die Steine, als wollten sie sich vergewissern, daß die Insel noch an der alten Stelle steht. Haben sie sich im Spiel am Ufer Genüge getan, geht es durch zittrige Lichtstreifen zurück in die Tiefe des Meeres.

Dort, in der samtigen Finsternis, ruhen auf schlammigem Grund wohlgeformte Säulen mit eingemeißelten Schriftzeichen. Kunstvoll verzierte Geländer schützen die riesigen, in die Berghänge gehauenen Treppen.

Spitzen Riesenhelmen gleich, ragen die vergoldeten Kuppeln der Tempel empor.

Könnten die Bewohner des Meeres denken, würden sie nicht müde werden, die versunkenen Wunder anzustaunen: das aus farbigen Gesteinen bestehende Mosaik der Wände, die geräumigen Paläste, in denen sich einst Wind und Sonnenschein ein Stelldichein gaben, die kupfernen Opferschalen, die aus Elfenbein geschnitzten Streitkeulen, das Büdnis eines großen Drachen, der seine Flügel über die Fluten breitet.

All das wurde von Menschenhand geschaffen. Und vom Meer verschluckt.

Nur der steinerne Reiter nicht. Der sitzt noch heute wie vor Tausenden Jahren auf seinem Roß, obgleich sich um ihn her und von ihm unbemerkt alles veränderte. Diejenigen aber, denen er in der Nacht, da die Berge barsten und es Sterne vom Himmel regnete, über das unversehrt gebliebene Stück Land einen Weg wies, die sind nicht mehr.

Vor langer Zeit hatten Menschen hier auf zwei Inseln ein Reich errichtet.

In diesem Land waren Blumen erblüht und Gräser gewachsen, die heute niemand mehr kennt, auch Bäume mit Stämmen so biegsam wie Gerten — und Früchten, die, wenn sie reif geworden, köstliche Speisen und Getränke und heilende Salben lieferten.

Ein Korn, das auf die Erde fiel, ließ in sechs Monaten tausend Körner reifen. Niemand wußte, was Hunger war.

In den dichten Wäldern lebten Herden wilder Elefanten. Sie griffen die Menschen nicht an, sondern kamen vor ihre Häuser, um dienstbar zu sein.

Diejenigen, die das Inselland zuerst erblickten, waren geblendet von seinem Reichtum und sprachen: ,Hier laßt uns leben.'

Sie bauten Paläste, gruben Kanäle, schufen die Hauptstadt und andere Städte. Atlantis nannten sie ihr Reich, zu Ehren des großen Meeres, das sie auf seinen Fluten hergetragen hatte.

Als sie die Erde durchwühlten, fanden sie in ihrem Schoße von Menschenhand gehauene Säulen und Herdplatten. Auch Tafeln, mit Zeichen beschrieben. Da wußten alle, die gekommen waren, daß vor ihnen schon Menschen in diesem Land gelebt hatten. Nur was aus ihnen geworden, vermochte niemand zu sagen.

Dann förderte man ein steinernes Standbüd zutage, einen Mann, der, aufrecht stehend, die linke Hand zum Himmel reckte und die rechte so hielt, als ließe er zwischen Daumen und Zeigefinger etwas zur Erde rieseln. Die Augen hatte er geschlossen. In sein Gewand waren zwei Monde gemeißelt und ein geflügelter Drache, der die Sonne verdeckte. Da die Menschen den Sinn dieser Bilder nicht zu deuten vermochten, blieb die Statue an der gleichen Stelle stehen, wo man sie gefunden hatte: auf einem Berg, von dem aus die Insel und das angrenzende Meer vortrefflich zu überschauen waren.

Nachdem die Siedler alle nötigen Arbeiten verrichtet hatten, begann für sie ein Leben, das frei war von jeder Sorge um die Zukunft. Der fruchtbare Boden beschenkte sie mit Nahrung im Überfluß. Wie die Überlieferung berichtet, waren die Bewohner von Atlantis ein glückliches Volk.

Kurzweilig, auf angenehme Weise verbrachten sie die Zeit. Die Frauen schmückten sich mit Gold und einem zauberhaften Metall, das bei Anbruch der Dunkelheit in mattem, geheimnisvollem Licht erstrahlte. Die Männer erlangten in der Kriegskunst eine ungeahnte Geschicklichkeit. Sie handhabten die Waffen zur Verteidigung ihres Lebens so meisterhaft, daß sie bei Turnieren und militärischen Wettkämpfen einander keine Schramme mehr beibringen konnten. Die wagemutigen Kinder der Atlantisbürger aber stürzten sich von den höchsten Felsen ins Meer. Sie lachten und tollten im Wasser, daß es eine Lust war, und schwammen weit hinaus — bis dorthin, wo die lustigen Fischlein mit ihren krummen Rücken Purzelbäume schossen.

Dann brach eine Zeit an, da die Bewohner von Atlantis in den Wissenschaften und Künsten sowie bei der Verschönerung ihrer Wohnstätten solche Erfolge erzielt hatten, daß die Grenzen des Möglichen erreicht schienen. Sie sagten die Bewegungen der Gestirne voraus und die Richtung, aus der die Winde wehen würden. Vor den Fenstern brachten sie steinerne Gardinen an, fast so fein wie Spinngewebe. Auch lernten sie, aus Blumen Farbe herzustellen und aus den Erzen der Erde Metalle zu gewinnen. Von den Gärten des Herrschers trug jedes leichte Lüftchen liebliche Weisen ans Ohr. Wenn der Wind zunahm, erklang die Musik lauter und lauter, bis sie das Tosen der Brandung übertönte. Bei Sturm aber lag eine machtvolle Melodie über der Stadt. Sie erfüllte die Straßen und packte die Menschen, als sängen Himmel und Erde in urgewaltigem Chor. Dies war das Lied der Gärten, in denen alle Sträucher und Bäume aus purem Gold bestanden und aus dem zauberhaften Metall, das bei Anbruch der Dunkelheit in mattem, geheimnisvollem Glanz erstrahlte.

So lebten die Menschen von Atlantis.

Viel Zeit verging, bis sie erfuhren, daß aller Reichtum sowie ihr Leben vergänglich waren. Da schlich sich die Furcht in ihre Herzen."


,Jurka, ins Bett mit dir!"

„Ja, gleich, Papa."

Vaters Stimme klang faul, verschlafen, und Jurka wußte: Wenn ich ein paar Sekunden ruhig sitze, träumt er wieder: Acht Stunden ist er gestern in der Luft gewesen, ist mit seiner „Schawruschka", dem zweisitzigen Amphibienflugzeug Sch-2, über die Taiga geflogen, jetzt wird er vor Mittag kaum aus den Federn finden. Früher hatte es Jurka immer ein wenig gewurmt, daß der Vater keine großen Maschinen fliegt und nie höher steigt als tausend Meter, daß er auf den gewundenen Taigaflüßchen landet, die so schmal sind, daß man einen Stein darüberwerfen kann, oder auf den öden Seen, oder auf dem Jenissej oder irgendeinem fernen steinigen Fleck.

Im vorigen Jahr änderte Jurka seinen Standpunkt. Das war, als Papas „Schawruschka" mit dem Bauch in einem unter Wasser verborgenen Haufen von abgesunkenem Flößgut hängenblieb und die ganze Abteüung länger als vierundzwanzig Stunden nach dem Verschollenen suchen mußte. Da begriff der Junge, daß dieses niedrige „Insektenschwirren", bei dem der Pilot das Recht hat, „seinen Landungsplatz nach eigenem Gutdünken zu wählen", weit gefahrvoller ist als ein Langstreckenflug in der modernsten Maschine. Von diesem Tag an bemerkte Jurka, daß der Vater, wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen war, bisweilen über dem Abendessen einschlief und des Nachts häufig im Traum redete.

„Jurka!"

„Gleich, Mutter."

Aber Mutter läßt nicht mit sich umspringen wie Vater. Sie kriecht aus dem Bett, zieht den Morgenrock über, kommt aus dem Schlafzimmer getapst. Dann steht sie in der Tür, mit halbgeschlossenen Augen, weil die Sonne blendet.

Es war zwei Uhr morgens. Wo die Straße aufhörte, zog eine leuchtende Riesenapfelsine empor. Die Wolken am Himmel und der Rauch über den Schornsteinen waren purpurrot gefärbt.

Im gedämpften Morgenlicht wirkten die Dinge kantig und scharf.

Ein Hund, der mitten auf der Straße schlief, warf einen ungewöhnlich langen, zerrissenen Schatten. Vom Jenissej her scholl der törichte Ruf eines Tauchers herüber.

Jurka hatte keine Lust zu schlafen. Er schob mit dem Ellbogen wie zufällig die Aktentasche über das neben ihm liegende Heft und bettelte: „Noch eine halbe Stunde, Mutti."

„Sofort legst du dich hin! Morgen kommst du wieder nicht aus den Federn. Den ganzen Tag hast du Zeit gehabt."

Aber Jurka ließ sich so nicht abspeisen. „Wir müssen morgen einen Aufsatz abgeben", schwindelte er. „Ich bin gleich fertig."

„Das schaffst du schon. Du brauchst doch erst zur zweiten Schicht in die Schule."

Einige Minuten feilschten sie noch, im Flüsterton, damit Vater nicht wach wurde, dann gab Jurka klein bei. Er zog sich aus. Aber als Mutter fort war, stand er nochmals auf, holte unter der Aktentasche das blaue Heft hervor und sprang wieder ins Bett.

Die winzigen Buchstaben zu entziffern war nicht einfach, zumal der Besitzer des Heftes zahlreiche Wörter durchgestrichen und die Verbesserungen darübergeschrieben hatte. Jurka las bereits den zweiten Tag, mühsam, ähnlich wie man ein Bilderrätsel deutet, wählte hier ein Wort aus, dort eins, bemühte sich, die dazwischenliegenden Stellen zu erfassen, in den Sinn der tanzenden Schnörkel einzudringen, um schließlich alles zu einem Ganzen zu verbinden.

Bisher hatte er weder Dimka noch Petka von seinem Fund erzählt. Erst wollte er den gesamten Text enträtseln. Na, die beiden würden Augen machen.

Wie mochte dieses Heft, in dem von so Geheimnisvollem und Unbekanntem die Rede war, nur vor das Haus gekommen sein, und wer hatte das alles aufgeschrieben? Jurka brannte darauf, zu erfahren, wo er das Land mit dem klingenden Namen suchen sollte. Atlantis — das klang anheimelnd und vertraut.

Aber Jurka ist nicht nur ein Träumer, sondern auch ein Neidhammel, eifersüchtig auf die Geier, die, wie es scheint, stundenlang ohne Flügelschlag dahin-schweben. Diese dummen Vögel! Ihnen ist es beschieden, hoch in die Lüfte zu steigen. Doch was wissen sie von ihrem Glück. In ferne Länder könnten sie fliegen, über große Städte, Berge und Dschungel hinweg, um alles zu sehen, wovon Jurka nur in Büchern gelesen hat. Aber die Geier fliegen nicht fort. Sie kreisen immer über dem gleichen Fleck, und selbst wenn sie eine Beute erspäht haben, sieht es aus, als glitten sie nur zögernd zur Erde.

Jurka beneidet auch die Kapitäne auf den Lastkähnen mit den nach Teer riechenden Brettern. Schiffe sind nicht so schnell wie Vögel, aber sie ziehen in die Ferne. Dickbäuchig, im Konvoi fahren sie durch die Flüsse bis zum Meer. Die unrasierten, barfüßigen Kapitäne trocknen auf den Dächern ihrer Kajüten die Nesselhemden. Auch sie scheinen nichts von ihrem Glück zu ahnen.

Kurz, Jurka ist eifersüchtig auf jeden, der das Glück hat, die Welt zu sehen, er beneidet alles, was da kriecht und fliegt, gleichgültig, ob es über Schienenstränge poltert oder in eine Staubwolke gehüllt durch die Straßen rast. Er bewundert alle Helden und Reisenden. Was er um sich her erblickt, kommt ihm langweilig und gewöhnlich vor.

„Ich bin schon fast dreizehn", hat er neulich zu seinem Vater gesagt, „aber aus Ust-Kamensk noch nicht rausgekommen."

Da hat ihn der Vater ausgelacht. Jurka war beleidigt. Ach, es ist schon ein Kreuz. Nicht einmal der eigene Vater begreift, wie herrlich es wäre, jeden Tag in einer anderen Stadt zu sein.

Als der Schlaf endlich kam, sah Jurka azurne Wellen und träumte von Häusern, durch deren Fenster die Fische schwammen.

Ja, das blaue Heft war in die richtigen Hände geraten.

IV Der Große und der Kleine

Wenn Jurka den Wunsch verspürt, mit offenen Augen zu träumen, geht er an den Fluß.

Stets braucht er jemand, der ihm zuhört. Aber zuzuhören ist schrecklich schwer, weil jeder von sich erzählen möchte. Kaum ist ein Satz zu Ende gesprochen, geht es los: „Ja, sehr schön. Aber ich, versteht ihr, ich mache das so..." Und obgleich Jurka ganz genau weiß, daß er jetzt etwas viel Wichtigeres zu sagen hätte als der andere, folgt er dem Gebot der Höflichkeit und schweigt.

Weil er gern reden möchte, schwillt ihm die Zunge im Mund, doch er hält sich zurück.

Was sind das für langweilige Kerle, denkt er traurig, haben immer nur sich im Kopf. Wen interessiert schon ihr Geschwätz.

Da lobt er sich Pawel, den Hafenmeister.

Das ist ein eigenartiger Mensch. Manchmal gibt er sich furchtbar erwachsen und tut unnahbar, besonders wenn jemand in der Nähe ist. Dann weiß Jurka, daß Pawel älter wirken möchte, wie ja überhaupt alle Menschen für älter gehalten werden wollen, als sie tatsächlich sind, jedenfalls meint das Jurka. In seinem Zimmer an der Anlegestelle aber ist Pawel wie ausgewechselt. Dort zeigt er seinem kleinen Gast gefährliche Judogriffe, oder er nimmt die Gitarre zur Hand und singt und spielt. Seine Lieder sind für Jurka freilich noch ein wenig zu hoch. Sie handeln von Mädchen, die am Ufer stehen und sehnsüchtig in die blaue Ferne schauen. Manchmal klingt es ganz traurig: „Doch von den drei Männern kehrt keiner zurück. Sie sanken in die Tiefe mit brechendem Blick..."

Aber Pawel kann auch zuhören, und das ist die Hauptsache.

An jenem Tag nun, als Jurka zur Landungsstelle ging, stand ein Matrose am Geländer. Statt den Gruß des Jungen zu erwidern, brummte er nur: ,,Da bist du ja schon wieder."

„Das stimmt", entgegnete Jurka.

„Wenn ich euch noch einmal hier unten beim Angeln

erwische, zerbreche ich eure Ruten und werfe sie ins Wasser. Ihr trampelt mir noch den Steg kaputt."

„Ist Pawel Alexejewitsch zu Hause?" fragte Jurka trocken.

„Was willst du von ihm?" erwiderte der Matrose, sichtlich gelangweilt. „Er ist wohl dein Freund?" „Das weiß ich nicht genau", meinte Jurka.

„Aha", erklang es tiefsinnig und gedehnt aus dem Mund des Matrosen. „Weißt du überhaupt etwas?" Da wurde Jurka böse. „Also wo ist Pawel Alexejewitsch?" fragte er ungehalten.

„Beim Training." Der Matrose nickte in die Richtung, wo die Tunguska fließt, fügte jedoch schnell, als wäre ihm plötzlich noch etwas eingefallen, hinzu: „Aber was verstehst du davon? Dumm geboren und nichts dazugelernt. Wozu gehst du überhaupt in die Schule? Nur das eine schreib dir hinter die Ohren: Aus euren Angeln mache ich Kleinholz, ich sage das nicht zum Spaß. Von euch Rotznasen werde ich den Steg sauberhalten, so wahr ich kein Rotkopf bin."

Jurka maß die Entfernung bis zur Treppe mit den Augen. „Ein Rotkopf sind Sie nicht", sagte er, „das weiß ich, aber ein Glatzkopf."

Der Matrose, der selbst bei Tisch die Mütze aufbehielt, erstarrte. Er vergaß sogar den Mund zu schließen. Jurka hatte sich schon aus dem Staub gemacht. Das Herz drohte ihm zu stocken. Er empfand Angst und berauschte sich zugleich an seiner Kühnheit. Der Matrose rief ihm etwas nach, Ausdrücke, wie sie ein Erwachsener nie in den Mund nehmen sollte, am allerwenigsten vor Kindern.

Jurka lief an den letzten Häusern der Siedlung vorbei. Am Hang standen wie Frauen in Bauerntracht die dreieckigen Gatter der Blinkanlage mit den runden Leuchtköpfen. Hoch oben zogen dicke, schwere Wolken über den Fluß. Was sich im Wasser spiegelte, erinnerte an Türme, Kuppeln, menschliche Gestalten. Glichen diese Gebilde nicht dem Weichbild einer Stadt? Stand er nicht vor Atlantis?

Freilich dort lebten große, dunkelhäutige Menschen. Sie trugen weiße Kleider, waren bärenstark und sprachen mit wohlklingender Stimme. Im blauen Wasser schwammen sie von Insel zu Insel.

Die Wellen spülten rosige Muscheln aufs Land, die, wenn man sie ans Ohr hielt, rauschten, als sei in ihren Windungen die jahrtausendealte Musik des Meeres eingefangen.

Nachts trompeteten in den Wäldern die Elefanten. Und es sangen die goldenen Gärten des Herrschers. Auf den Marmorstufen standen lanzenbewehrte Wächter.

Ein wunderbares Land! Hier war alles vollkommen, dem Menschen Untertan und dienstbar.

Die Sonne sank dem Horizont entgegen. In den Fichten summte der frühe Abendwind. Vom Ufer fort schwammen gekräuselte Silberstreifen um die Wette. Jurka kletterte den steinigen Hang nach oben, hockte sich nieder.


Auf dem Fluß plätscherten Wellen. Der Wind wurde kräftiger. Er zerpeitschte die Schaumkronen und jagte weiße Knäuel gegen die Strömung. Hinter einer Biegung kam ein Einbaum hervor. Auf dem Boden des Bootes saß mit ausgestreckten Beinen der Hafenmeister. Die Dienstmütze lag auf seinen Knien. Er ließ den Kahn am Ufer treiben, stieß ihn nur von Zeit zu Zeit mit dem Ruder ab. Dann steuerte er auf die Mitte des Flusses zu. Das Wasser klatschte gegen die dünne Wandung. Wo Jurka hockte, hörte es sich an wie Schläge auf eine leere Tonne. Nun sah er auch deutlich, wie aufgewühlt die Tunguska war. Der Einbaum verschwand in ihren Fluten. Jurka hatte den Eindruck, daß der Hafenmeister nicht in einem Boot, sondern auf dem Wasser saß.

Pawel ruderte bis ans andere Ufer, dann wendete er. Die Stellen, wo die Wogen am höchsten gingen, schienen es ihm besonders angetan zu haben. Als die Flußmitte wieder erreicht war, hörte er zu rudern auf, stellte den Einbaum quer und ließ sich stromab treiben, wobei er träge das ins Wasser getauchte Ruder bewegte. Jurka, der sah, wie die Wellen an der Bootswand hochschossen, bekam eine. Gänsehaut. Ihn fröstelte, wenn er sich vorstellte, daß einige Spritzer auf den im Einbaum sitzenden Pawel niederregneten. Etwa eine halbe Stunde spielte der Hafenmeister mit Wasser und Wind. Endlich legte er unterhalb des Platzes, wo Jurka saß, an und kletterte heraus. Er zog seinen Tabaksbeutel hervor, stopfte sich eine Pfeife.

„Guten Tag, Pawel Alexejewitsch", grüßte Jurka leise.

Der Hafenmeister zuckte zusammen, ließ die Streichholzschachtel fallen und drehte sich mit schuldbewußtem Lächeln um. Als er Jurka erkannte, legte sich sein Gesicht in finstere Falten. „Hast du was gesehen?" fragte er mürrisch. Sein Stiefel trat gegen das Boot.

„Freilich", bestätigte Jurka. „Die Wellen sind heute wunderbar."

Pawel warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, pustete die Backen auf, wobei er kräftig schnaubte, und hielt ein Streichholz an die Pfeife. Der Qualm machte ihm zu schaffen. Er zwinkerte, aber sein Tabak wollte nicht brennen, so wütend der Hafenmeister auch an dem Mundstück zog. Eines stand fest: Pawel Alexejewitsch hatte keinen blassen Schimmer vom Rauchen.

„Was sitzt du da eigentlich rum?" brummte er ungnädig.

Jurka sprang auf die Füße und trat näher.

„Bloß so", sagte er. „Weißt du, ich möchte mit dir reden. Atlantis. Kannst du mir etwas über Atlantis verraten?"

„Atlantis?" wiederholte Pawel, dachte eine Weüe nach und meinte: „Ich wette, das ist ein Nachschlagewerk über den Atlantischen Ozean. Ein Buch für den Steuermann. Dort sind alle Riffe verzeichnet und die Strömungen. Natürlich auch die Ephemeriden."

„Ist das ein Land?"

„Ach wo, eine Tafel für die Schiffahrt. Der tägliche Standort von Sonne, Mond und Planeten ist dort eingetragen. Klingt hübsch, der Name, nicht? Trotzdem findest du darauf nichts als Zahlen."

„Nein, dann stimmt es nicht. Atlantis ist ein Land. Weißt du, was für eins? Pawel Alexejewitsch! Wenn du willst, beschreibe ich es dir. Ich habe bis jetzt mit niemand darüber gesprochen. Du bist der erste."

,,Na, dann schieß los", willigte Pawel ein. Und Jurka erzählte.

Nichts wurde vergessen von allem, was er in dem blauen Heft gelesen und selber hinzugesponnen hatte. Zum Schluß schaute er Pawel an in der Erwartung, auf seinem Gesicht Erstaunen und Entzücken zu finden.

„Vielleicht ist es nur eine Geschichte", brummte der Hafenmeister.

„Wieso eine Geschichte!" empörte sich Jurka. Er schrie jetzt fast: „Das ist ein Land, sage ich dir, ein Land, in dem die Sonne fast nie untergeht." „Spaßvogel. Bei uns in der Polarzone scheint die Sonne ein halbes Jahr lang, aber wo gibt's hier Palmen, frage ich dich?"

„Das war ja auch vor langer Zeit", meinte Jurka rechthaberisch. „Jetzt ist das Land im Meer versunken. Und wer sagt überhaupt, daß es in der Nähe des Polarkreises gelegen hat?"

„In dem Heft steht das wohl nicht?"

„Eben nicht."

„Wenn es man nicht doch in unserer Gegend gewesen ist." Pawels Stimme klang belustigt, zugleich aber nachsichtig. Er war der Erwachsene.

Jurka pflegte in solchen Dingen nie zu scherzen. Er übersah sogar das Lächeln, das um Pawels Lippen spielte. „Weißt du was", rief er erfreut aus, „das habe ich auch schon gedacht. Warum soll es eigentlich nicht hier gewesen sein?"

Daß Jurka die Sache so ernst nahm, machte Pawel unsicher.

„Freilich", gab er unerwartet zu. „Paß auf, was ich dir jetzt sage, Jurka. Früher herrschte hier ein anderes Klima. Es gab auch Palmen und Mammuts. Das habe ich gelesen. Und vor noch längerer Zeit war hier Wasser. Wo wir beide in diesem Augenblick stehen, befand sich ein Meer. Sogar ein Ozean war das, na, und in einem Ozean gibt es natürlich auch Inseln. Und weißt du, wer diese Inseln bevölkerte? Affen — das heißt nur am Anfang", verbesserte er sich schnell, da er bemerkte, daß Jurka mißtrauisch aufschaute. „Später kam dann der Mensch. Wie ich gehört habe, hat man in der Tundra, irgendwo im ewigen Frostboden, eine ganze Siedlung gefunden, und im Eis wurde ein Mensch entdeckt, der war eingefroren und viele tausend Jahre alt."

„Ja, und der Stoßzahn — weißt du, in unserer Stadt haben sie doch einen Stoßzahn gefunden", flocht Jurka schnell ein. „Dann diese Elfenbeinfigur, wo bloß der Kopf abgebrochen war."

„Ich erinnere mich", bestätigte Pawel, der fühlte, daß es schon nicht mehr möglich war, das Gespräch ins Scherzhafte zu wenden. Auch konnte er nicht einfach schweigen. Er hätte Jurka tödlich beleidigt und erzählte deshalb munter weiter.

Da erstanden Pompeji und Herkulanum aus ihrer Asche. Vom Boden der Meere erhoben sich die schwerbeladenen spanischen Karavellen. Die Anden schüttelten den Staub der Ruinen ab; peruanische Inkastädte erwachten zu neuem Leben.

Pawel bestritt das Gespräch nicht allein. Vieles hatte er vergessen. Doch wenn er nicht weiter wußte, half Jurka, der sich gleichfalls an mancherlei erinnerte, was er gehört oder gelesen hatte. Zu der Weisheit, die aus Büchern und Vorträgen stammte, traten Bruchstücke aus eigenen Träumen. So stellte sich die Vergangenheit in nie dagewesener Schönheit dar. Die Phantasie malte sie in buntschillernden Farben, als eine unvergängliche Welt aus Gold und Marmor. Aber es war, wie es bei den beiden meistens zu sein pflegte. Sie hatten sich noch längst nicht alles von der Seele geredet, als der Abend anbrach.

„Lauf nach Hause", mahnte Pawel, „sonst setzt es was. Und für mich ist es auch Zeit."

„Es setzt nichts", widersprach Jurka. „Bei uns wird nicht geschlagen. Meine Eltern erziehen mich durch Worte. Das ist aber noch schlimmer. Wenn man seine Prügel weghat, ist alles vergessen. Worte sind schrecklich."

„Ja, das ist wahr", gab Pawel zu. „Mit Worten kannst du einen Menschen sonstwohin treiben. Verrate keinem, daß du mich hier getroffen hast, hörst du."

„Ach wo, uns verstehen sie sowieso nicht", entgegnete Jurka hitzig. „Was wissen die, wie schön es ist zu träumen."

„Da hast du recht", sagte Pawel und seufzte, „für so was haben sie kein Verständnis. Drei Gesuche habe ich schon geschrieben. Aber denkst du, ich komme weg?"

Es war kein Geheimnis, daß Pawel davon träumte, die Welt kennenzulernen. Die Tabakspfeife, das „Handbuch für den Steuermann in der Barentssee", das er auswendig herbeten konnte, und der kleine, auf den Unterarm tätowierte Anker qualifizierten ihn freilich noch nicht zum Seemann. Aber er litt an einer unbändigen Sehnsucht nach dem Meer.

Sämtliche Gesuche, die er an die Verwaltung gerichtet hatte, waren mit abschlägigem Bescheid zurückgekommen. Pawel fühlte sich vor den Kopf gestoßen, wurde indes nicht müde, immer wieder neue Anträge zu schreiben.

Wenn die Matrosen sahen, wie er in der Nähe des Hafens gegen die Wellen kämpfte, um sich abzuhärten und nicht mehr seekrank zu werden, lachten sie über ihn. Er blieb unverdrossen, wartete nur bis zum nächsten Sturm, um sich erneut in die Wogen zu stürzen.

„Also kein Wort, daß du mich gesehen hast."

„Ich bin stumm wie ein Fisch."

„Dann laß dir's gut gehn. Und wenn du wieder zum Hafen kommst, vergiß die Angel nicht. Ich werde dafür sorgen, daß sie dich in Ruhe lassen", rief Pawel, schon vom Fluß her.

„In Ordnung", schrie Jurka zurück. Er mußte an den Matrosen von vorhin denken und lächelte. Nein, das Tor zum Angelplatz war jetzt zugeschlagen. Jurka schritt am Ufer entlang und pfiff vor sich hin. Die Sonne hatte sich hinter dem Horizont verkrochen. Über der Stelle, wo sie versunken war, hingen glutrote Wolken.

V Noch einmal in der Schule

Oberhalb des Ufers drängten sich die Häuser, als wären sie von weither gelaufen gekommen und hätten vor dem Hang ängstlich haltgemacht. Dazwischen schimmerte in kurzen Streifen der Jenissej hindurch. Die Fenster des Klassenzimmers standen sperrangelweit offen. Der Fluß hallte wider vom Stöhnen der Schiffssirenen. Dort trieben Lastkähne und Flöße stromab. Langsam bahnten sich die Tanker durchs Wasser einen Weg. Raddampfer zerhämmerten mit ihren Schaufeln das Spiegelbüd der Wolken in viele kleine Splitter. Unaufhaltsam ging es weiter — in die Igarka, in die Dudinka, ins Meer.

Durch die Straßen schlichen Hunde, trunken von der Hitze.

Ein ungewöhnlicher Sommer hatte in Ust-Kamensk Einzug gehalten.

Petkas Platz war in der Fensterreihe. Die Sonne brannte ihm auf den Pelz. Aus weiter Ferne schlugen die Worte des Lehrers an sein Ohr. Viel deutlicher war das hohe, aufreizende Kreischen zu hören, das von der Sägemühle herüberklang.

Vor Petka saßen Dimka und Jurka Alenow. Jurkas Gesicht war nicht zu sehen, aber an der Art, wie er den Rücken krümmte und zusammenfuhr, sobald der Lehrer die Stimme hob, erkannte Petka, daß sein Freund schmökerte. Jurka preßte das Buch von unten her gegen die Bankplatte, so daß durch den Klappenspalt immer nur zwei, drei Zeilen zu sehen waren. Offenbar machte es ihm nichts aus, daß er nachher alles noch einmal zusammenhängend lesen mußte. Bei Büchern hatte Jurka eine glückliche Hand. Die er mitbrachte, waren immer interessant, selbst wenn sie zeilenweise gelesen wurden.

Petka seufzte. Er durchsuchte seine Taschen. Sie waren leer. Mutter hatte die Hose gestern gewaschen und vorher alles herausgenommen. Petka betrachtete die Decke. Wie glatt sie war. Weiß in weiß, ohne Risse. Langweilig.

Mit gewohnter Sicherheit streckte er die Hand aus, erwischte die Haarschleife seiner Nachbarin und zog daran. Jeder Griff saß. Petka brauchte nicht einmal hinzuschauen. Die frühere Lehrerin hatte Sonja neben ihn gesetzt, damit das Mädchen einen günstigen Einfluß auf ihn ausübte. Aber das war zuviel verlangt. Sonja hatte vor Petka Angst. Wortlos rückte sie ab und ging daran, sich den Zopf wieder zu flechten. Wie gebannt hing ihr Blick an den Lippen des Lehrers.

Petka jammerte in sich hinein: Ist das langweilig! Schließlich hielt er es nicht mehr aus, richtete sich halb auf und blickte Jurka über die Schulter. Was mochte der wohl lesen?

„Issajew!"

Natürlich, man brauchte nur den kleinen Finger zu rühren, schon war man aufgefallen.

Die anderen wurden auch zur Ordnung gerufen, aber Petka konnte schwören: nicht halb so häufig wie er.

Außerdem hatte er den Eindruck, daß Viktor Ni-kolajewitsch seinen Namen mit heimlicher Gehässigkeit aussprach: ,,I-ssa-jew", abgehackt, jede Silbe für sich. Dafür rächte sich Petka, indem er stets einen gewollt rauhen Ton anschlug. Alles an dem neuen Lehrer war ihm zuwider, seine verstohlenen Blicke nach dem Heft mit den Unterrichts Vorbereitungen, das aufgeschlagen vor ihm lag, die Brille, die er immer dann aufsetzte, wenn er wütend war, seine Art zu sprechen: übertrieben deutlich und gewählt. Allerdings vermochte Petka nicht zu sagen, weshalb ihm der eine oder andere Zug an Viktor Nikolajewitsch mißfiel. Er konnte ihn eben nicht leiden, das war alles.

Natürlich wußte der Lehrer, woran er mit Petka war. Da er Offenheit über alles schätzte, hätte er den aufsässigen Schüler am liebsten beiseite genommen und rundweg gefragt: „Hör mal, Issajew, was habe ich dir eigentlich getan?" Eine Aussprache schien um so dringlicher, als ihn die scheelen Blicke des Jungen bei der Arbeit störten. Jedoch war Viktor Nikolajewitsch überzeugt, daß er nur wieder eine Grobheit hören würde. Darum fragte er Petka gar nicht erst. Voll Neid dachte er an die älteren Lehrer, die mit derartigen Schwierigkeiten spielend fertig wurden. Bei ihm war alles wie verhext. Er bereitete sich außerordentlich gründlich auf den Unterricht vor. Trotzdem rutschte ihm bisweilen ein falsches Wort heraus. Dann war er wie aus allen Wolken gefallen und brachte es nicht übers Herz zu tun, als wäre alles in bester Ordnung und als hätte er sich gar nicht geirrt. Es ist eben nicht einfach, keinen Fehler zu machen, wenn man von dreißig Augenpaaren angeblickt wird. Und ein Schüler wie Issajew merkt alles. Jederzeit sich selbst in der Gewalt zu haben und gleichzeitig zu sehen, was in der Klasse vorgeht, ist eine Kunst, die Viktor Nikolajewitsch noch nicht beherrschte.

„Issajew", rief er zerstreut, weil er gerade an Petka gedacht hatte, aus keinem andern Grund.

Petka erhob sich. „Was ist denn mit Issajew?" fragte er beleidigt und herausfordernd zugleich. Aus seiner Stimme sprach eine Kriegserklärung, aber der Lehrer ging nicht darauf ein.

„Entschuldige, ich habe mich versprochen. Alenow, wiederhole, was ich soeben erklärt habe."

Jurka fuhr in die Höhe. Das Heft rutschte von seinen Knien und klatschte auf den Fußboden.

„Sie haben erklärt... Sie haben erklärt, daß Sie sich soeben versprochen haben."

Die Klasse war entzückt. Einige krümmten sich vor Vergnügen. Man lachte offen und gründlich, gar nicht mal, weil die Sache so lustig war, sondern einfach, weil sich endlich ein Grund gefunden hatte, fröhlich zu sein. Sogar der Lehrer unterdrückte nur mit Mühe ein Lächeln. Seine Lippen zitterten bedrohlich, seine Augen wurden rund und heiter. Schließlich war es der letzte Tag vor den Ferien.

„Was hast du dort eigentlich unter der Bank, Alenow? Gib einmal her!"

„Ich? Wieso? Nichts." Jurka schob das Heft mit dem Fuß zu Dimka.

„Polujanow, heb das auf und bring es vor."

Dimkas Blicke gingen zwischen dem Lehrer und Jurka unentschlossen hin und her. Endlich hatte er sich entschieden und streckte die Hand nach dem Heft aus.

„Viktor Nikolajewitsch, Sie werden verstehen", flehte Jurka, „das kann ich Ihnen nicht zeigen, keinem Menschen. Ehrenwort."

„Was ist es?"

„Ein Heft."

„Gut", entschied der Lehrer, „ich werde dein Heft nicht lesen. Aber bis zum Ende der Stunden lassen wir es auf meinem Tisch liegen."

Das wollte Jurka nicht. Er hatte Angst. Erwachsene sind schrecklich klug, aber unberechenbar. Sie verstehen sehr viel und auch sehr wenig. Mit einem Lächeln oder einem einzigen Wort können sie zerstören, woran ein Kind mit ganzem Herzen hängt. Jurka verspürte keine Lust, der Aufforderung nachzukommen.

Dimka hatte sich jedoch schon gebückt. Da kroch Petka unter die Bank, riß das Heft an sich und steckte es in die Tasche. Das ging so schnell, daß der Lehrer nur einen flüchtigen Eindruck von etwas Blauem hatte, das auftauchte und wieder verschwand.

„Issajew, gib es her."

„Das tue ich nicht."

„Weshalb nicht?"

„Es gehört nicht mir."

„Issajew!" Die Stimme des Lehrers klang ruhig, aber von seinem Gesicht war das Lächeln verschwunden. „Hör zu, Issajew. In dieser Klasse gibt es dreißig Schüler. Wenn mir einer nicht gehorcht, denken die anderen, sie brauchen es auch nicht. Ich kann niemandem Sonderrechte einräumen. Du mußt mir das Heft geben."

„Als Sie noch zur Schule gingen — Sie hätten es hergegeben?"

„Ich hätte es getan. Und du mußt es auch tun." „Ich tue es aber nicht."

„Und weshalb nicht?"

„Weil es nicht meins ist."

Durch die Klasse ging verhaltenes Lachen. Der Lehrer lief rot an.

„Issajew, verlaß den Raum."

„Warum?"

„Hinaus. Sonst gehe ich."

Sonst gehe ich. Diese Worte hätten den widerspenstigsten Schüler erweicht. Sie verfehlten ihre Wirkung auf Issajew.

„Aber weshalb bloß?"

Die Klasse, die still geworden war, blickte erschrocken und ehrerbietig zu Petka auf. „Wenn du nicht unverzüglich den Raum verläßt", sagte der Lehrer langsam, „werde ich deinen Ausschluß aus der Schule beantragen."

Jetzt begriff auch Petka, daß er etwas zu weit gegangen war. Aber einfach klein beigeben? Nein, das war nicht nach seinem Geschmack. Er ging bis an die Tür, drehte sich um.

„Ich habe Ihnen nichts getan, und Sie haben kein Recht, mich anzuschreien", erklärte er, obwohl Viktor Nikolajewitsch nicht daran gedacht hatte zu schreien. Im Gegenteil, seine Stimme hatte unnatürlich ruhig geklungen.

Petka schloß die Tür hinter sich. Der Lehrer hörte, wie er sich entfernte und dabei absichtlich laut mit den Absätzen knallte.

„Polujanow, lauf bitte hinter Issajew her. Sage ihm, daß wir beide nach der Stunde zum Direktor gehen."

Dimka flog aus der Klasse. Die übrigen Schüler saßen mit gespitzten Ohren. Sie starrten den Lehrer an. Was würde jetzt geschehen? Es geschah nichts, nur daß die Hand mit der Kreide ein wenig zitterte. So wurde die Linie, die Viktor Nikolajewitsch an der Tafel zog, nicht gerade, sondern krumm. Er wischte sie wieder fort, zog eine neue Linie, wischte auch diese aus und unternahm einen dritten Versuch. Nun war endlich alles in Ordnung.

„Wir waren also bei der Feststellung stehengeblieben, auf jedem Menschen laste eine Luftsäule von „Soso, darauf pfeifst du", wiederholte der Direktor gedehnt und hart, „nun gut."

Er nahm ein Blatt Papier sowie einen Bleistift und legte beides auf den Tisch. „Setz dich. Schreib."

„Was soll ich schreiben?" fragte Petka verdutzt. „Folgendes: Ich habe keine Lust, ein Angehöriger der Intelligenz zu werden."

Petka wurde unruhig. Ob ihm das noch eine Sonderstrafe einbringen konnte?

„Schreib!"

Mit widerstreitenden Gefühlen ergriff der Junge den Bleistift, setzte sich auf den Rand des Stuhls und kam der Aufforderung des Direktors nach. „Ich habe keine Lust, ein Angehöriger der In..." An dieser Stelle stutzte er, dachte ein wenig nach, schüttelte den Kopf und schrieb entschlossen: „.. .tilegenz zu werden."

„In Ordnung", meinte der Direktor. „Aber ein gebildeter Mensch, einfach ein gebildeter, möchtest du wohl auch nicht werden? In einem Wort drei Fehler!"

Petka war aufrichtig entsetzt. Er vergaß sogar, daß er den Direktor vor sich hatte.

„Drei, Piaton Jakowlewitsch, das ist doch ein Witz?"

Der Direktor lachte. Er bemerkte Petkas Verwirrung, wollte sich jedoch nicht daran weiden.

„Geh jetzt, Issajew. Das nächste Mal denke daran: Ehe man etwas niederschreibt, strengt man seinen Kopf an. Erst denken, dann handeln. Und vergiß nicht, daß unser heutiges Gespräch das letzte ist. Hast du mich verstanden?"

„Ja", erwiderte Petka. An der Tür blieb er stehen. Da ihm dämmerte, daß die Angelegenheit offenbar keine Folgen nach sich ziehen werde, fragte er hoffnungsvoll, schon halb im Scherz: „Muß ich meiner Mutter Bescheid sagen, daß sie herkommen soll?" „Verschwinde!" fauchte der Direktor und schlug mit der Faust auf den Tisch, Petka stürmte beglückt hinaus.

„Das war mal wieder ganz Issajew", erklärte Platon Jakowlewitsch, während er auf das Geräusch der sich entfernenden Schritte lauschte. „Haben Sie gesehen? Schreit man ihn an, grinst er. Tut er einem leid, fühlt er sich vor den Kopf gestoßen. Sein Vater ist beim Holzflößen umgekommen. Die Mutter hat den ganzen Tag zu tun. Dann ist noch ein kleiner Bruder da. Petka spielt den Herrn im Hause. Arbeit gibt es genug. Er holt Holz aus der Taiga, wäscht ab, bisweilen kocht er auch das Mittagessen. Dabei ist er noch ein Kind. Wenn es ihm zu langweilig wird, rennt er aus dem Haus und vollführt alle möglichen Streiche, schreit herum, wirft den Leuten Frechheiten an den Kopf. In ihren Augen ist er ein Rowdy. Er kann machen, was er will, immer bekommt er das gleiche zu hören: ,Du bist ein Rowdy.' Das hat man ihm so lange eingetrichtert, bis er es schließlich selber glaubte. Jetzt beweist er den Leuten, daß sie recht haben. Letztes Jahr hat er sich mit einem Floß bis kurz vor die Igarka treiben lassen. Wissen Sie, warum? Weil die Mutter ihn beleidigt hatte. Er wollte auf eigenen Füßen stehen und sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Meiner Ansicht nach hat er ein zu stark ausgeprägtes Würdegefühl. Er ist bereit, sich mit der ganzen Welt zu prügeln. Haben Sie noch nicht gemerkt, wie Sie ihn am empfindlichsten treffen können? Indem Sie Ihre Überlegenheit hervorkehren, ihn von oben herab behandeln. Wir Erwachsenen scheuen uns, mit Kindern als mit unseresgleichen umzugehen. Wir haben ein Recht darauf, stolz und selbstsicher aufzutreten, zu lieben, zu hassen. Und sie sollten dieses Recht nicht haben? Aber sie denken und fühlen wie wir, nur ihr Wissen reicht an das der Erwachsenen nicht heran. Dafür duldet ihr Ehrgefühl keinen Kompromiß. Was ihnen mißfällt, lehnen sie bedingungslos ab. Sie bauen an ihrer eigenen Welt. Für Spott gibt es dort keinen Platz. Um von den Kindern als ihresgleichen angesehen zu werden, muß man ein einfacher und aufrichtiger Mensch sein. Betrug können sie nicht vertragen. Ich beurteile mein Verhalten immer danach, wie sie mir entgegentreten, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn mich einer von meinen Schülern aufforderte, mit ihnen Fußball zu spielen. Dieser Issajew ist stets im Unrecht, aber eine außerordentlich ehrliche Haut. Viktor Nikolajewitsch, Sie sind noch sehr jung. Ich weiß, Issajew wirkt manchmal unausstehlich. Doch jetzt etwas anderes. Ich verstehe, daß Sie im Augenblick noch schwer zu kämpfen haben. Ihnen zu helfen, gehört zu meinen Pflichten. Ich kann Ihnen nur den einen, sehr wichtigen Rat geben: Verhalten Sie sich jederzeit so, daß Sie von Ihren Schülern zum Fußballspielen eingeladen werden. Entschuldigen Sie, das soll keine Belehrung sein, aber ich verstehe Sie. Mir ist es genauso ergangen."

„Ich möchte für alle stets nur das Beste", erwiderte Viktor Nikolajewitsch, nachdem er eine Weile überlegt hatte, „nur — sie begreifen es nicht. Sagen Sie, Platon Jakowlewitsch, bleibt das lange so?"

Der Direktor verzog das Gesicht. Er war dermaßen groß und schwer, daß im Takt seines Lachens der Tisch und die daraufstehende Lampe erzitterten und die violette Tinte im Fäßchen kleine Wellen schlug. Erst jetzt glaubte Viktor Nikolajewitsch, daß der Direktor ihn tatsächlich nicht hatte belehren wollen.

Petka war wie ein Pfeil den Korridor entlang und durch die Tür gesaust. Als er auf der Straße stand, wurde ihm bewußt, daß die Ferien begonnen hatten.

Jurka und Dimka nahmen ihn in Empfang. „Bist du rausgeflogen?"

„Ach was. Wir haben uns ein bißchen unterhalten. Über das Heft."

„Petka", versprach Jurka gerührt, „du kriegst zwein Sechzehn-Millimeter-Patronen von mir. Du hast mich doch darum gebeten. Erinnerst du dich?"

„Was steht eigentlich in deinem Heft?"

Jurka dachte einige Sekunden nach.

„Gut", willigte er dann ein, „ich habe es noch keinem gezeigt. Ihr sollt Bescheid wissen. Vorwärts, zum Fluß."

Aufgeregt und ausgelassen tollten sie durch die Straße, dann weiter am Ufer entlang. Im Bogen flogen die Büchertaschen die Böschung nach unten, sie selber sausten in einer Staubwolke hinterher. Jetzt waren sie keine Schüler mehr. Vor ihnen lag der Sommer.

VI Das Geheimnis der Insel Azoris (Aus dem blauen Heft)

„Im Norden von Atlantis gab es mächtige Berge. Lange nachdem die Sonne dahinter versunken war, leuchteten ihre Gipfel noch in rötlichem Licht, als seien sie glühend, und erloschen nur allmählich. Aber das Gebirge schien dem Land zu drohen. Die Menschen fürchteten sich vor den Bergen, weil sie schweigend und leblos vor ihnen standen. Nur diejenigen, für die unten kein Platz mehr war, wagten sich hinauf, beispielsweise zum Tode Verurteilte, wenn es ihnen gelang zu fliehen. Einst entkamen zwanzig Sklaven, die der Sonne geopfert werden sollten. Für die Bürger von Atlantis war die Sonne ein unersättlicher Gott und der Mond sein Bruder. Jene zwanzig Sklaven aber hatten wenig Lust, zu Ehren der fremden Götter zu sterben. In der Nacht erdrosselten sie ihre beiden Posten und flohen ins Gebirge.

Sie liefen, bis der Morgen graute, höher und höher. Als die Sonne aufging, sahen die Atlantisbürger nur noch zwanzig schwarze Punkte, die an den Felsen zu kleben schienen. Später tauchten die Flüchtlinge im Schnee der Berge auf, ganz winzig schon. Dann verschwanden sie vollends. Keiner nahm die Verfolgung auf, denn es war bekannt, daß von dort niemand zurückkehrte.

Zu Ehren der Sonne aber mußten zwanzig andere Menschen sterben.

In diesem wunderschönen und reichen Land gab es viele Sklaven. Zahlreich war die Nachkommenschaft der ersten Generationen, die den Atlantisbürgern gedient hatten. Manche von denen, die als Sklaven geboren wurden, ahnten nichts von ihrem Schicksal, bis sie herangewachsen waren und ihr Rücken das Brandmal erhielt. Von diesem Zeitpunkt an mußten sie arbeiten wie alle anderen.

Bisweilen brachten die Schiffe neue Sklaven heran: Menschen mit breiten Schultern, mit Haut wie violett gefärbtes Ebenholz und schwarzem Kraushaar oder stolze, goldbraune Riesen mit feuchten, olivförmigen Samtaugen. Die Schwarzhäutigen kamen aus einem Land mit schwülen Wäldern und glühenden Sandwüsten, die Goldbraunen von den Inseln, die hinter der Meerenge im Osten lagen.

Viele der Sklaven waren genauso schlank, muskulös und schön wie die Atlantisbürger. Aber sie mußten in Erdhöhlen vegetieren. Nur den Geschicktesten war es erlaubt, sich Hütten zu bauen. Unter ihnen gab es Waffenschmiede, deren Schwerter mit einem Schlag faustdicke Kupferstangen durchhieben. Weiter wird berichtet von Männern, die beinerne Blumen schnitzten, von Steinmetzen, die riesige Platten so kunstgerecht polierten, daß, wenn man zwei aufeinanderlegte, kein Haar dazwischen Platz hatte, und schließlich von Schmieden, die für sich und ihre Brüder Halsbänder und Ketten schmiedeten.

Da war keiner, der nicht von der Heimat geträumt hätte. Die einen erinnerten sich an sie, die anderen, die in Atlantis geboren wurden, erfuhren von ihr schon aus den Wiegenliedern. Nachts waren die Sklaven frei. Der Traum führte sie weit fort aufs Meer. Sie ruderten an bekannte Ufer. Die Wellen erfaßten ihre Boote und setzten sie auf den heimatlichen Strand. Lange lagen sie im feuchten Sand, genossen den Salzgeruch der Luft, erfreuten sich am Anblick des grünlich blauen Waldsaumes und der Rauchsäulen, die über den Wipfeln der Bäume standen. Dort warteten ihre Hütten. Da erhoben sie sich und wanderten weiter, festen Schritts, ohne ein einziges Mal zurückzuschauen. Sie hatten die Freiheit wiedererlangt.

Am Morgen erschollen die Rufe der Posten. Sie brachten sämtliche Träumer auf die Beine. Alles begann von vorn. Die Sklaven mußten den Boden umwühlen, Steine behauen, in Fellbehältern Wasser tragen. Am Himmel stand unverwandt die Sonne, schaute ihrem Tun teilnahmslos zu und versengte ihnen den Rücken.

Alle schweren Arbeiten wurden von Sklaven verrichtet. Die freien Atlantisbürger taten nur, was leicht war und Freude bereitete. In ihren Liedern priesen sie sich als den weisesten, den größten Volksstamm, der die Erde bewohnte, denn sie glaubten, daß nur ein großes Volk andere Völker unterwerfen kann. Einmal erschien in ihrer Mitte tatsächlich ein wahrhaft großer und weiser Mann, aber er zählte zu den Sklaven.

Er war hier geboren, auf der Insel Azoris, ein schlanker Mensch, mit biegsamem Körper und Muskeln, die härter waren als Elfenbein. Hoch trug er den Kopf, gar nicht, wie es seinem Stande entsprach, so daß ihn sein Herr, ein Priester des Sonnentempels, gewiß nicht ins Haus gelassen hätte, wenn es mit seiner Sehkraft ein wenig besser bestellt gewesen wäre. Denn ein Sklave, der seinem Herrn ins Auge blickt, ist ein schlechter Sklave. Der Priester jedoch war alt, sah schlecht und fand keinen Grund, mit ihm unzufrieden zu sein.

Der Sklave ersetzte ihm Auge und Ohr. Wenn der Priester seine schwach gewordenen Sinne anstrengte, um heilige Schriftzeichen zu malen, stand der Sklave hinter ihm, gehorsam, zu jedem Dienst bereit. Er wurde Zeuge, wie sein Herr mit den anderen Priestern in Streit geriet, aber niemand bemerkte das Lächeln, das um die Lippen des stillen Lauschers huschte, sooft die Priester Unsinn schwatzten. Während der zehn Jahre, die dieser Sklave bei dem Diener des Sonnengottes verbrachte, lernte er mehr, als der Priester in seinem ganzen Leben gelernt hatte.

Er beherrschte zahlreiche Dialekte und entzifferte als erster die Schriftzeichen auf den Steinplatten, die aus einer Zeit stammten, als an die Atlantisbürger noch nicht zu denken war. Ihm gelang es auch, das Geheimnis des steinernen Menschen zu ergründen. Er wußte, weshalb die Gestalt mit der einen Hand zum Himmel wies und die andere zur Erde hielt, als ließe sie etwas durch die Finger rieseln.

So erfuhr er von dem unvermeidlichen Schicksal der Atlantisstädte.

In den alten Schriften las er über das Schicksal verschwundener Völker, der ehemaligen Bewohner dieses Landes. Dreimal hatten sich auf den beiden Inseln Menschen niedergelassen, dreimal war ein Tag gekommen, an dem das Meer zu brodeln begann, die Erde erbebte und gewaltige Wassermassen gegen die Küste rannten. Aus den Bergen hagelte es Steine und Asche. Ein schwarzer, kochendheißer Regen prasselte auf die Erde.

Die Menschen verkrochen sich in ihre Häuser und Höhlen. Die Häuser stürzten ein. In den Höhlen barsten die Gewölbe. Die Natur hatte sich gegen den Menschen erhoben. Sie gehorchte ihm nicht mehr.

Wie die Tafeln berichteten, war von den Bergen ein geflügelter Drache aufgestiegen, um die Sonne zu verdunkeln und den Tag in Nacht zu verwandeln.

Dann rollte eine Woge heran, die den Himmel verdeckte. Sie wälzte sich bis ans Gebirge und riß beim Zurückfluten alles, was sie auf ihrem Wege fand, mit sich fort ins Meer.

Da brachten die Götter, die im Innern der Erde wohnten, vor Zorn die Berge zum Schwanken. Der Boden tat sich auf, stieß feurigen Atem aus. Ganze Inseln mit Städten, Wäldern und allem, was darauf war, versanken im Wasser. Lange währte die Nacht, die Finsternis.

Als es endlich Tag wurde, eilten diejenigen, die am Leben geblieben waren, von Entsetzen gepackt davon. Sie ruderten übers Meer, das des Nachts im Licht zweier Monde lag. Die letzten meißelten vor der Flucht ihre Erlebnisse in steinerne Tafeln. Auch schufen sie ein Standbild des Gottes, dessen Zorn sich über ihnen entladen hatte.

Die Inschriften sprachen davon, daß der Weg nach Westen führte. Aber es stand auch geschrieben, alle, die dieses Land später besiedelten, würde das gleiche Schicksal ereilen.

Als der Sklave dies erfuhr, ergriff ihn derart die Furcht, daß er gegen das Gesetz verstieß und ungefragt seinen Herrn ansprach.

,Noch ist es nicht zu spät', sagte er, ,die See ist ruhig.

Wir können fliehen. Befreie mein Volk. Auf fremder Erde werdet Ihr neue Sklaven finden."

Als der verblüffte alte Priester aus seiner Erstarrung erwachte, überzeugte er sich davon, daß der Sklave ihn nicht belogen hatte. Da packte ihn kaltes Grauen.

,Du hast es weiter gebracht als ich', sagte er leise, doch aus seiner Stimme klang das Zischen einer Schlange. ,Nun gut. Du hast ergründet, was mir, einem Diener Gottes, zu ergründen nicht gegeben war. Nun gut. Doch soll außer dir niemand das Geheimnis erfahren. Da du ein geschwätziger Sklave bist, wirst du noch heute sterben.'

Auf das Dröhnen des Gongs eilte die Wache herbei. Der Sklave wehrte sich verzweifelt. In dieser Minute war er stark wie eine ganze Elefantenherde, denn er wußte, wie nötig ihn sein Volk jetzt brauchte. Dieser Weise war ein Sklave, doch in seinem Herzen wohnte die Liebe zu den Menschen. Sie war es, die ihm diese urgewaltigen Kräfte verlieh. So entkam er ins Gebirge. Zehn der tapfersten Krieger von Atlantis lagen in ihrem Blut.

Als die Dämmerung auf das Land sank, schlich sich der Flüchtling hinab in die Behausungen der Sklaven, wo er die Nacht verbrachte. Bevor die Sonne aufging, verschwand er wieder, diesmal für lange Zeit.

Seit jenem Tage wußten die Atlantisbürger, was Furcht ist. Sie sangen die alten Lieder, und sie lachten, als wäre nichts geschehen, als hoffte ein jeder, daß man den Warnungen des Sklaven keinen Glauben zu schenken brauchte. Aber in den Häfen lagen abfahrbereit die Schiffe der Priester und des Herrschers. Da die Bürger dies sahen, verstärkte sich in ihren Herzen die Angst, und wenn sie lachten, blieben die Augen ernst. Mit dem Entsetzen wuchs der Zorn auf die Priester, die ihnen bei Todesstrafe verboten hatten, das Land zu verlassen. Um das Volk seine Unzufriedenheit vergessen zu machen, veranstalteten die Gottesdiener Feste und opferten der Sonne noch häufiger als zuvor. Diejenigen aber, die am Fuße der Berge wohnten, vernahmen aus der Erde ein dumpfes Stampfen. Bald hörte es sich an wie metallene Schläge auf Gestein, bald klang es wie das Getöse einer niedergehenden Steinlawine. Alle dachten, das seien die Götter, die dort unten lebten, sie bahnten sich einen Weg durch die Felsen. Von Entsetzen gepackt, verließen die Leute ihre Häuser.

Was da in einer Höhle unter den Bergen lebte, war jedoch ein Mensch. Er hatte nur wenig zu essen, häufig quälte ihn der Durst, doch Tag und Nacht schuf er an seinem steinernen Reiter. Er arbeitete schnell, denn an den Höhlenwänden war zu hören, wie es in den tieferen Schichten des Erdinnern rumorte. Daher wußte der Sklave, daß das Ende nahe war.

Und eines Tages kehrte er zurück.

Er schritt durch die ganze Stadt, doch niemand wagte, sich ihm zu nähern. Er war dorther gekommen, von wo es keine Rückkehr gab. Die Menge folgte ihm auf den Fersen. An der Küste machte er halt. Zu seinen Füßen leuchtete das Meer.

,Bald ist es soweit', erklärte er müde. ,Wie ich sehe, seid ihr nicht dem weisen Rat jener gefolgt, die vor euch hier lebten, sondern im Lande geblieben. Doch nicht euretwegen, nur meines geknechteten Volkes wegen habe ich dies getan. Es kommt der Tag, da die Erde erbebt, das Meer gegen die Küste rennt und die Felsen bersten werden. So war es schon dreimal, so wird es auch ein viertes Mal sein. So steht es geschrieben. Auf einem Berg aber wird sich dann ein steinerner Reiter erheben, um denen, die noch am Leben sind, den Weg zu weisen. Diejenigen jedoch, die nach Osten zu entkommen suchen, werden von den Fluten verschlungen werden, denn wo die Sonne aufgeht, wird das Meer zu brodeln beginnen. So steht es auf den alten Tafeln.'

Sie hörten ihn schweigend an. Er war ein Sklave und sein Leben kein Sandkorn wert, aber niemand getraute sich, ihn zu berühren.

Ein Jüngling spannte den Bogen. Doch als er schoß, entglitt die Waffe seiner Hand. Der Pfeil streifte den Sklaven nur am Bein. Aus der Wunde sickerte Blut. Als die Atlantisbürger das Blut sahen, begriffen sie, daß ein ganz gewöhnlicher Mensch vor ihnen stand, ein Sklave, der dreifach gegen das Gesetz verstoßen hatte.

Da warfen sie sich schweigend, mit wutverzerrten Gesichtern auf ihn, als könnte sein Tod sie von der Furcht vor ihrem unvermeidlichen Untergang befreien, als wäre nur er zum Sterben verdammt, doch sie selber dürften hoffen, ihrem Schicksal zu entgehen.

Diejenigen aber, die Sklaven waren wie er, rührten sich nicht von der Stelle. Wie hätten sie ihm helfen sollen ohne Waffen?

Zu seinen Füßen leuchtete Meer. Das schäumende Wasser leckte an den Felsen. Von oben wirkten die Wellen winzig wie gekräuselter Sand.

Und er stürzte sich hinab. Wer ganz vorn stand, sah, wie sein schwarzer Kopf aus den Fluten auftauchte, dann wieder verschwand, sich erneut an der Oberfläche zeigte, aber schon von der Küste abgetrieben wurde.

Schließlich kam der Abend. Die Sonne wurde platt wie eine Scheibe. Sie berührte den Horizont. Ihre Strahlen glitten über die Wasserfläche. Bis die Dunkelheit hereinbrach, erkannten die Atlantisbürger auf den blutroten Wellen einen schwarzen Punkt, der bald hinter einem Schaumkamm verschwand, bald wieder auftauchte und immer kleiner wurde.

Dort, wo der Sklave hinschwamm, gab es keine Insel. Nur Meer, nichts als Meer.

Endlich sank die Nacht herab."


Jurka legte das Heft beiseite.

„Und wie geht es weiter?" fragte Petka ungeduldig.

„Hat er sich gerettet?"

„Das weiß ich auch nicht. Darüber steht hier nichts."



Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Jurka war auf allerlei Fragen gefaßt. Es gab vieles, was einem keine Ruhe ließ. Er wußte das aus Erfahrung.

„Wo hast du das Heft her?" erkundigte sich Dimka.

„Ich habe es gefunden. Auf der Straße. Ja, wo kommt es her? Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht ist ein Schriftsteller vorbeigegangen, der es verloren hat?"

Dimka lachte. „Schriftsteller? Bei uns? Was soll ein Schriftsteller in Ust-Kamensk? Die Mücken zählen?"

„Da hast du recht", erwiderte Jurka nachdenklich. „Aber dort, in Atlantis, muß es herrlich gewesen sein. Die Insel, das Meer. Ein Leben! Wahrscheinlich kann man dort das ganze Jahr über baden. Wißt ihr, ich hatte ja alles schon gelesen. Es kam mir sehr komisch vor. Was denn, dachte ich, früher sollen die Menschen so edel und kühn gewesen sein? Einer ist sogar vom Felsen gesprungen und losgeschwommen. Ich habe es nicht geglaubt."

Dimka wünschte sich: „In diesem Land möchte ich auch leben, aber mit einem Maschinengewehr. Das wäre schön. Stellt euch vor, ich würde die Burschen mit ihren Speeren auf zweihundert Meter rankommen lassen und sie dann mit einer Garbe empfangen. Nach dem Sieg wäre ich bei ihnen Zar oder was Ähnliches."

,,Ja, du würdest einen prächtigen Zaren abgeben", sagte Petka mit Überzeugung. „Früher dachte ich immer: An wen erinnert er mich nur? Heute weiß ich es. An einen Zaren."

„Das stimmt aber nicht", protestierte Dimka verwirrt. „Ich bin ein ganz anderer Schlag. Wenn es nach mir gegangen wäre — ich hätte alle Sklaven befreit und danach eine Art Kommunismus errichtet."

Wieder schwiegen die Jungen eine Zeitlang. Sie waren seit langem befreundet. Häufig gab es Streit zwischen ihnen. Bisweilen verkrachten sie sich auch. Diesmal waren sie alle von demselben Gedanken beseelt, sahen die gleichen bunten und lichten Bilder. In ihrer Phantasie entstand eine erstrebenswerte Welt voll schöner, kühner Menschen.

Vor undenkbar langer Zeit ist Atlantis aus dem Meer aufgetaucht und später wieder darin versunken. Es hat den Menschen ein jahrtausendealtes Rätsel aufgegeben. In Legenden wird dieses Land verherrlicht, in Liedern besungen. Manche von ihnen sind gleichfalls tausend Jahre alt. So ist es nun mal mit vergangener Schönheit. Sie bleibt ewig schön.

„Kann es denn nicht auch sein, daß die Insel heute noch da ist? Vielleicht hat sie bisher nur keiner entdeckt?" meinte Petka schließlich.

„Am besten, wir suchen den, der das Heft verloren hat", äußerte Dimka. „Er weiß es sicherlich. Natürlich müßten wir vorher alles abschreiben. Besorgst du das, Jurka?"

„Schön, das kann ich machen", willigte Jurka ein.

„Aber die Hauptsache wißt ihr noch gar nicht." Vor Aufregung richtete er sich hoch und blickte seine Freunde groß an.

Dann erzählte er ihnen von dem Menschen, der im Eis eingefroren war, und von dem großen Meer, das sich vor vielen, vielen Jahren in dieser Gegend erstreckt hatte. Dabei geriet er dermaßen in Eifer, daß er mit den Armen fuchtelte. Jurka war von der Wahrheit seiner Worte überzeugt. Diese Überzeugung strahlte auf Petka und Dimka über. Sie glaubten ihrem Freund, weil sie wünschten, daß er recht hatte. Atlantis schien in greifbare Nähe gerückt zu sein. Es war, als brauchte man nur die Hand auszustrecken, um das Märchenland zu berühren.

Vor ihnen lag eine Straße, die zu neuen Entdeckungen und unerhörtem Ruhm führte.

VII Andere Gegenden

Die Tunguska ist ein reißender, in seinem engen Felsenbett mühsam gebändigter Fluß mit wunderbar klarem Wasser.

Das orangefarbene Boot bewegte sich nach Osten, stromauf. Wäre es in die entgegengesetzte Richtung gefahren, hätte ein Betrachter aus der Ferne meinen können, dort schaukele ein Stück Apfelsinenschale auf den Wellen. Zur Linken und Rechten sprangen steile Felswände empor. An günstigen Stellen zogen die Jungen das Boot mit einem Schlepptau gegen die Strömung. Wo dies nicht möglich war, griffen sie zu den Rudern.

Sie ruderten im Takt und zogen gemeinsam, aber Petka war Kapitän. Niemand hatte ihn auf diesen Posten gestellt. Es hatte sich von selbst ergeben. Wer sollte Kapitän sein, wenn nicht er?

Sie kamen nur langsam voran. Auf das erste bucklige Kap folgte das zweite, dann das dritte, so ging es weiter, und eins sah immer wie das andere aus.

Im Boot lagen eine zerrissene Zeltbahn mit Flicken aus Sackleinen, zwei Kessel, drei Angeln, ein Beutel mit Lebensmitteln. Außerdem ein zerlöcherter Rettungsring, der die halb verwischte Aufschrift „Sach..." trug. Wenn man ihn schüttelte, rieselten schwarze Korkstückchen heraus. Doch neben dem mit Wasserfarbe bemalten Wimpel, der im Bug an einer Stange flatterte, war es gerade dieses altersschwache Ungeheuer von Rettungsring, das den Kahn erst zu einem richtigen Schiff machte.

Auf beiden Seiten des Flusses lagen bläulich schimmernde Hügel. Lautlos über die Ufer gleitende Wolkenschatten wischten den goldenen Glanz vom Laub der Bäume. Weit und breit kein Hundegebell, kein Laut, kein Rauchfähnchen.

Wer auf einen Hügel klettert und sich umschaut, hat den Eindruck, daß der Himmel am Horizont zur Erde sinkt, um eine riesige, mit Sonnenschein und heißer Sommerluft gefüllte Schale herauszuschneiden, und es scheint, man selber stände im Mittelpunkt dieses unermeßlichen Gefäßes.

Jeder Schrei, der über den Fluß hallt, bricht sich an den schwarzen und braunen Felsen. Wenn er als Echo zurückkommt, ist einem, als wäre er inzwischen um die Welt geflogen.

Während der ersten Tageshälfte genossen die Jungen ihre Freiheit in vollen Zügen. Es ging laut und fröhlich zu. Sämtliche bekannten Lieder wurden gesungen. Sogar der „Kapitän" vergaß zeitweilig, die Stirn zu runzeln, hüpfte wie die andern munter am Ufer entlang oder stand im Boot, reckte sich und stieß übermütige Schreie aus.

Was er in den Sommertag hineinrief, war nicht besonders klug, dafür aber ungewöhnlich laut: „Wir fahren! Hurra! Setzt die Segel! Richt't euch!"

Ringsum dehnte sich still und endlos die Taiga. Nein, dieses Stück Erde konnte selbst durch das Triumphgeheul des „Kapitäns" nicht aus dem ewigen Schlummer geschreckt werden. Dafür war die Taiga zu groß.

Dann kam der Zeitpunkt, wo die Bootsinsassen müde wurden. Jurka hatte Schwielen an den Händen. Er bewegte die Ruder nur noch mit Widerwillen, als hielte er zwei verendete Katzen zwischen den Fingern. Dimka hatte sich die Schulter an dem Schlepptau wundgescheuert, Petka das Schienbein an einem Stein aufgeschlagen. Wenn es so weiterging, würde in zwei, drei Tagen keiner mehr eine heile Stelle am Körper haben. Doch bekanntlich stellen sich dergleichen Beschwerden nur am Anfang ein. Die Hände mußten sich mit Hornhaut bedecken, die Beine geschickter werden.

„Na, dann wollen wir mal essen, was?" schlug Dimka vor, in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, daß er überhaupt nicht hungrig war, nur fürchtete, die Lebensmittel könnten verderben.

„Da hat er recht", meinte Jurka und hörte gleich zu rudern auf. „Komm, Petka, wir werfen Anker."

Petka erwiderte nichts, spie über Bord und legte sich in die Riemen. Rudern kann er, das muß man ihm lassen, kraftvoll, mit weit nach hinten federndem Oberkörper, und wenn er die Hölzer hochzieht, tanzen hinter dem Heck noch lange Zeit kleine trichterförmige Strudel auf dem Wasser.

„Billige Kraftmeierei", brummte Dimka mißbilligend. „Vor uns brauchst du nicht so anzugeben. Wir verstehen selber was von der Sache."

„Wer ist hier der Kapitän? Ich?"

„Wer sonst?"

„Na also. Wir waren uns einig, daß bis vierzehn Uhr gerudert wird. Es ist erst zwölf. Wenn wir uns jetzt schon auf die Vorräte stürzen, werden wir nicht weit kommen."

Die Meuterei war niedergeschlagen. Doch bald machte Petka selber schlapp. „Schön", erklärte er eine halbe Stunde später, „legen wir an. Ich bin kein Arbeitsvieh, das für euch alle schuftet."

Er steuerte in eine kleine Bucht. Als das Boot festgemacht war, krochen die Jungen auf die glatten, heißen Steine. Es war eine windgeschützte Stelle. Weiter oben dehnte sich ein Waldstück. Die Luft schien zu brodeln. Sie war zum Schneiden dick. Wie durchsichtige Säulen standen die Sonnenstrahlen im Wasser. Zwischen den Steinen huschten blitzende kleine Fische umher.

Jurka war sofort entflammt. „Wollen wir nicht angeln?" schlug er vor.

„Nein, erst essen", sagte Dimka mit einem Seufzer.

Petka nahm die Axt, bog das Gestrüpp auseinander und kroch ans Ufer.

„Petka, wohin?" rief Dimka hinterher. „Komm, wir gehen lieber in die Taiga, wenn du Feuer machen willst."

„In der Taiga ist es zu schattig. Dort fressen uns die Mücken auf. Ich hole trockene Zweige. Schäle inzwischen Kartoffeln."

Den Reisighaufen errichteten sie auf einer Felsplatte. In den Kessel wanderten die geschälten Kartoffeln, eine Handvoll Graupen, ein Stück Wurst. Das Feuer begann zu prasseln. Ruß färbte den Behälter schwarz. Jurka nahm einen Löffel und schöpfte den schmutzigen Schaum von der brodelnden Brühe.

Als die Suppe gar war, wurde der Kessel auf einen Stein gesetzt. Die Jungen hockten sich dazu. Jeder brach ein Stück Brot ab. Dann löffelten sie das gelbliche, nach Rauch riechende und sehr wohl schmeckende Etwas andächtig aus dem Behälter.

„Jetzt muß abgewaschen werden", sagte Petka nach beendeter Mahlzeit.

„Versteht sich", stimmte Dimka zu. Dann streckte er sich auf seiner Steinplatte aus.

Jurka war etwas genauer. Er meinte: „Ich bin auch dafür, aber am besten besorgen wir das immer abends. Wir kochen ja doch noch mal."

Erst jetzt spürten alle drei, wie im Körper die Muskeln schmerzten.

Das Leben eines Reisenden ist schwer. Um so angenehmer empfindet er es, wenn die Stunde kommt, wo er auf dem Rücken liegen kann, um dem hastigen Gemurmel des Wassers zu lauschen und sich bewußt zu werden, daß er sein eigener Herr ist. Über ihm spannt sich der unendliche Himmel, gewaltig und klar, und scheint zu erklingen. Es ist wie das Rauschen einer Muschel: bald leiser, bald lauter. Endlich fallen dem Reisenden die Augen zu. Eine Hand schiebt sich darüber, um sie vor der Sonne zu schützen.

„So läßt sich's aushalten", stellte Jurka fest. „Meinetwegen müßte immer Sommer sein. Ach, ich wollte, daß ich laufen und fahren könnte, wohin ich gern möchte. Wenn ich groß bin, sehe ich mir die Welt an. Ein Jahr werde ich arbeiten, ein Jahr unterwegs sein, immer abwechselnd."

„Was du dir für Schwachheiten einbildest", ließ sich Petka vernehmen. „Wenn du erwachsen bist, ist es mit dem Reisen Essig. Ich gehe nur bis zur siebenten Klasse. Dann werde ich Fischer. Das heißt also, für mich sind das die letzten Ferien."

„Du wolltest doch auf eine Fliegerschule?"

„Ich wollte. Aber geht's danach? Meiner Mutter wird es ziemlich sauer. Außerdem habe ich noch Senka am Hals. Der ist erst sechs."

„Warten wir mal ab", meinte Dimka schläfrig, ,,ob wir nicht tatsächlich etwas finden. Vielleicht eine alte Stadt, oder wenn nicht das, wenigstens einen Stoßzahn von einem Elefanten. Dann kriegen wir eine Prämie. In diesem Fall gehe ich in die Karpaten. Dort gibt es Obst wie Sand am Meer."

„Ich würde auch nicht hierbleiben", murmelte Petka, „aber mit meinen Leuten hätte ich es natürlich schwerer. Ach, Kinder, ist das Leben langweilig in Ust-Kamensk, stimmt's? Woanders sind die Menschen besser. Wer in der Literatur ein bißchen bewandert ist, weiß, wie schön es auf der Welt sein kann. Niemand kommt auf den Gedanken, über uns ein Buch zu schreiben. Das wäre ja auch — überlegt mal: über unser Nest und unser Leben."

„Es dürfte schwerfallen", bestätigte Jurka.

„Das will ich meinen. Ach", fuhr Petka fort, „wir wohnen eben am Ende der Welt, zwar in einer sogenannten Stadt, aber Industrie gibt's bei uns nicht. Bloß Fische und Holz. Einmal in der Woche kommt ein Dampfer. Natürlich auch nur im Sommer. Und der Winter dauert ein halbes Jahr. Sag mal, Dimka, wo liegen eigentlich deine Karpaten?"

Dimka blieb ihm die Antwort schuldig. Das war kein Wunder. Er schlief schon.

Petka fand keine Ruhe. Vom vielen Reden war er sonst kein Freund, der draufgängerische und wahrheitsliebende „Kapitän". An diesem Nachmittag aber empfand er besonders deutlich, wie vergänglich der Sommer und diese Stille waren. Ein Jahr noch, dann hatte er die siebente Klasse beendet. Dann würde der „Ernst des Lebens" beginnen. Mit den schönen Ferien war es ein für allemal vorbei.

Petka hatte beizeiten gelernt, seinen Verstand zu gebrauchen. „In der Fliegerschule würden sie mich nicht nehmen", sann er. „Ich bin hundertprozentig gesund, das stimmt. Aber man muß die zehnte Klasse beendet haben. Oder ob man woanders bloß den Abschluß der siebenten braucht? Jurka, hörst du?"

Doch Jurka war gleichfalls eingeschlafen. Er lag, eine Wange auf den heißen Fels gepreßt, mit schweißfeuchter Stirn neben Dimka.

Petka stand auf, ergriff die Schöpfkelle und schaufelte das Wasser aus dem Boot.

Das Mittagsschläfchen erstreckte sich auf anderthalb Stunden. Als die Freunde erwachten, hockte Petka auf einem Stein im Fluß. Neben ihm zappelten die Fische, die er inzwischen gefangen hatte.

„Sie beißen wohl an?"

„Und wie! Dreizehn habe ich schon. Zum Abendbrot gibt's Fischsuppe. Putzen müßt ihr die Biester selber."

„Typisch", empörte sich Dimka. „Er angelt und hat sein Vergnügen. Die Arbeit machen wir. Fische fangen ist kein Kunststück. Das kann jeder."

Petka zog die Angel ein.

„Zeit für die Rückfahrt."

„Haben wir denn schon genug?"

„Alle holst du sowieso nicht raus", erwiderte Petka gesetzt. „Gegen Abend müssen wir zu Hause sein. Sonst lassen sie uns nicht mehr fort. Schluß für heute. Abfahrt!"

Wieder schaukelte auf dem Fluß das Boot, das von fern aussah wie ein Stück Apfelsinenschale.

Es war schon kurz vor sechs, als hinter einer Biegung die von einem Steingürtel umgebene Insel auftauchte. Sie lag mitten im Fluß. An ihrer Spitze ragte eine hohe Klippe aus dem Wasser. Sie war mit gradstämmigen Kiefern bewachsen. Die Jungen steuerten an den Steinen vorbei, stiegen aus und kletterten auf den steil abfallenden Felsen.

Unten schlängelte sich dunkel die Tunguska heran.


Zwischen Festland und Insel sprühte die Sonne goldene Funken hinein. Bald würde an dieser Stelle ein breites, feuriges Band aufleuchten.

„Unsere Insel!" rief Jurka aus. „Wir haben sie entdeckt. Wollen wir sie nicht Azoris nennen?"

Der „Kapitän" erteilte folgende Anweisung: „Hier wird das Zelt aufgeschlagen. Wir müssen uns beeilen. Es ist schon spät. Morgen kommen wir wieder. An unsern Sachen wird sich niemand vergreifen."

Die Jungen stiegen nach unten. Sie ruderten hinüber ans Ufer. Dimka blieb beim Boot. Petka und Jurka kletterten auf einen Hügel. Sie wollten frisches Tannengrün holen. Das eignete sich gut als Unterlage für das Zelt. Auf der Insel gab es nur Kiefern.

Die beiden Freunde waren ein Stück über die Kuppe des Hügels gelaufen, als sie ein Mädchen entdeckten. Die Kleine saß unten am Wasser und hatte die Beine unters Kinn gezogen. Weil sie sich nicht bewegte, dachten die Jungen zunächst, es wäre ein Stein. Petka war der erste, der die lose über den Schultern hängende Jacke bemerkte und den dicken, mit einem grünen Band umwickelten Zopf.

„Guck mal, wer dort sitzt!" sagte er verwundert. „Das ist doch die, die mit dem Dampfer gekommen ist. Weißt du, die Kuh. Was will sie hier?"

Tatsächlich war es mehr als sonderbar, so fern von der Stadt auf einen Menschen zu stoßen, der weder in einem Boot saß noch ein Gewehr über der Schulter trug, sondern einfach am Ufer kauerte und ins Wasser starrte.

„Sie hat uns noch nicht gesehen", flüsterte Petka. „Komm, wir bringen ihr das Gruseln bei."

„Gut. Aber wie?"

Petka blickte sich um. Am Rande des Hanges lag ein Baumstamm, den das Hochwasser angeschwemmt hatte.

„Siehst du, den lassen wir auf sie los."

„Aber wenn sie was abkriegt?"

„Unsinn. Blöd ist sie ja nun auch nicht. So einen Brocken übersieht keiner. Es sind mindestens fünfzig Meter. Bis das Ding unten ist, vergeht eine Weile. Außerdem können wir schreien."

Ein Lächeln stahl sich über Jurkas Gesicht. Die Sache war harmlos, und es schadete nichts, wenn dieses eingebildete Mädchen mal einen kleinen Schreck bekam.

Die beiden packten den Baumstamm an, stemmten sich mit aller Kraft dagegen und brachten ihn in Bewegung. Er rollte nach unten, langsam zuerst, mit ungleichmäßigen Sprüngen von einem Ende auf das andere holpernd, dann schneller. Seine federnden Wurzeln zappelten in der Luft wie die Beine einer riesigen Spinne.

„He, du, schlaf nicht!" rief Petka.

Mit einem Sprung war das Mädchen auf den Beinen. Unaufhaltsam rollte der Baum auf sie zu. Losgerissene Erdbrocken und kleine Steine kollerten hinterher. „Paß auf!" schrie Petka aus Leibeskräften, schon gar nicht mehr fröhlich, eher entsetzt.

Wie zur Salzsäule erstarrt stand das Mädchen am Fuße des Hangs. Erst als der Baumstamm in bedenklicher Nähe vorübersauste und gleich darauf geräuschvoll ins Wasser schlug, sprang sie ungeschickt zur Seite.

„Ist die blöde!" heulte Petka mit einem Unterton von Entzücken. „He, du", grölte er, „du schläfst wohl mit offenen Augen?"

„Los", hauchte Jurka.

„Los!" Mit großen Sätzen flog Petka den Hang hinab.

Jurka folgte in erheblichem Abstand. Er hatte in die entgegengesetzte Richtung laufen wollen.

„Sag mal, du bist wohl lebensmüde?" schimpfte Petka, als er vor dem Mädchen stand. „Siehst die Lawine kommen und rührst dich nicht vom Fleck. Uns standen die Haare zu Berge."

Jetzt schlenderte auch Dimka herbei. Der Lärm hatte ihn angelockt.

Das Mädchen schwieg. Wie die mich anstiert, dachte Petka, kaltschnäuzig und frech — abgebrüht!

„Wo kommt ihr her?" fragte sie endlich. „Doch nicht aus dem Lager?"

„Aus was für einem Lager?"

„Nein, ihr seid nicht von uns. Ich kenne euch nicht."

Sie stand mit dem Rücken zum Fluß. Die Sonne vergoldete ihr Haar und breitete einen lichten Schleier darüber. Auf dem Wasser schaukelte der Baumstamm. Die Strömung riß ihn hin und her. Seine Wurzeln glichen jetzt noch mehr einer riesigen strampelnden Spinne.

Die Jungen umringten das Mädchen und wußten nicht, was sie sagen sollten. Soviel Kaltblütigkeit war ihnen unverständlich. Wenn die „Kuh" wenigstens kreischen oder schimpfen würde. Auf alles wären sie gefaßt gewesen, nur nicht auf diese sonderbare Ruhe.

Das Mädchen grübelte. „Doch", sagte sie nach einer Weile an Petka gewandt, „Dich kenne ich. Wir haben uns schon einmal getroffen, gleich nach meiner Ankunft. Aber was ist da eigentlich runtergekommen, ein Stein?"

„Hast du es denn nicht gesehen?" „Nein. Ich bin blind."

Nie zuvor hatte Dimka seine Freunde so bestürzt gesehen.

„Richtig blind?" fragte Jurka dumm.

Das Mädchen nickte. Petka, der sich stets brüstete, in keiner Lebenslage die Farbe zu wechseln, errötete bis an die Haarwurzeln. Das Blut stieg ihm so heftig zu Kopf, daß es aussah, als wollten die Wangen platzen. Jurka erging es nicht besser. Nur Dimka, der noch nicht wußte, woran er war, verspürte lediglich Unbehagen.

„Also, gehen wir." Petka scharrte schwerfällig auf der Erde. „Gehen wir?" wiederholte er unsicher. Fast klang es, als bäte er das Mädchen um Erlaubnis.

„Wir müssen nach Hause. Also, auf Wiedersehen."

Die Jungen gingen auf ihr Boot zu, eilig, mit großen Schritten, ohne sich umzusehen. Ihr Aufbruch glich einer Flucht. Nach einigen Schritten blieb Petka stehen.

„Wie heißt du?" rief er zurück.

„Lena. Kommt ihr wieder?"

„Morgen", erwiderte Petka in bestimmtem Ton, „spätestens übermorgen. Schlaf gut."

Er hatte ihr eine gute Nacht gewünscht, obwohl die Sonne noch über dem Horizont stand und es ganz hell war.

„Komisch." Das war alles, was Dimka sagen konnte, als sie ins Boot kletterten. Er fühlte, daß er etwas hinzufügen mußte, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein.

Das apfelsinenfarbene Boot stieß vom Ufer ab. Es schoß durch die feurig glühenden Fluten, der untergehenden Sonne entgegen.

VIII Lena

Die Insel Azoris beherbergte nun ein Zelt. Die drei „Forscher" hatten es am Fuße der Klippe aufgeschlagen. Auf der Sonnenseite lagen leuchtende Flecke. Dort sah das Leinen wie ein Leopardenfell aus.

Der Rettungsring mit der Aufschrift ,,Sach..." hing an einem Ast. Über der Feuerstelle — wie konnte es anders sein — schaukelte ein Kessel. Tropfen einer bräunlichen Brühe spritzten ins Feuer.

Ein Reisender unterscheidet sich von den übrigen Menschen dadurch, daß er unbekannte Gebiete durchforscht. Hinzu kommt, daß er immer hungrig ist. Reisende essen sehr viel. Bisweilen stirbt auch mal einer vor Hunger, das jedoch nur selten und höchstens in der Wüste. Nie in der Taiga. Hier wimmelt es in den Flüssen von Fischen. Die gehen auf Würmer, Fliegen, Brot, verdorbenes Fleisch. Auch strolchen zutrauliche Elche herum. Auf den Zedern hocken Auerhähne. Wie könnte da jemand verhungern.

Zu Hause speist ein Reisender von sauberen Tellern, mäkelt, fischt jedes Stückchen Zwiebel aus der Suppe, dreht Brotkugeln. In der Taiga verbrennt er sich beim Essen die Zunge. Doch was tut's? Dieses Gemisch von zerkochten Fischgräten, Ruß und angebrannten Graupen dünkt ihn ein ungewöhnlich schmackhaftes Gericht. Das Brot ist mit Kiefernnadeln gespickt. In der Suppe schwimmen tote Ameisen. Als Tischtuch dient ein Sack. Zwischen den Zähnen knirscht der Sand. Aber es schmeckt herrlich.

Welche Lust, ein Reisender zu sein! Die Fischsuppe riecht nach Rauch, der Rauch nach Fischsuppe. Ein zerlöchertes Zelt mit Tannengrün als Fußbodenbelag ist sein Haus. Da mag es regnen, bis alles im Wasser fortzuschwimmen droht — wenn der Reisende das Klopfen auf der Leinwand hört, schätzt er sich glücklich, ein Dach über dem Kopf zu haben. Das ist ja auch nicht derselbe Regen, der auf ungepflasterte Straßen trommelt und die Wege in Schlammbäder verwandelt. Genauso wie das Flußwasser mit den grünen Fasern darin etwas anderes ist als das, was zu Hause aus der Leitung kommt. Mit hohlen Händen geschöpft und geräuschvoll geschlürft, schmeckt es köstlich.

Und eine gekochte Zwiebel in der Suppe ist keine Zwiebel mehr.

Zum erstenmal seit ihrem Bestehen hallte die Insel Azoris von Axtschlägen wider. Da wurden Zweige abgehauen, Pfähle gespitzt. Petka schleppte einen Armvoll Tannenreisig heran. Jeder packte zu. Sogar Dimka, der kein großer Freund vom Arbeiten war, mühte sich redlich und schleifte als Feuerholz zwei dürre Bäumchen über den Boden.

Die Insel hatten sie inzwischen nach allen Seiten durchstreift, waren aber noch nirgends auf einen Mammutzahn oder einen Bronzeschild gestoßen. Vielleicht lagen die Ruinen der alten Städte drüben hinter den Hügeln, die das Ufer säumten?

Jurka stellte sich vor, wie es wäre, wenn er plötzlich eine rissige, grasüberwucherte Steintreppe fände. Die Stufen würden ihn in die Tiefe führen. Auf eisenbeschlagene Truhen, auf ungeordnete Waffenstapel fällt geheimnisvolles Licht. Er, Jurka, aber schreitet weiter. Wozu braucht er diese Schätze? In einem fernen Winkel der Höhle kauert auf marmornem Sockel ein Götze aus purem Gold. Der erinnert den Eindringling an einen alten Inder. Jurka berührt ihn mit der Hand. Da gerät der Götze in Bewegung. Zwei Steinplatten schieben sich auseinander. Eine zweite Treppe wird sichtbar. Alles vollzieht sich völlig geräuschlos. Die Stufen führen Jurka in die Tiefe. Dunkelheit umfängt ihn. Und da...

„Was meinst du, ob sie kommt?" Jurka blickte verständnislos zu Petka hinüber.

„Wer?"

„Na sie, Lena."

„Wie soll ich das wissen? Warum bist du so neugierig?"

„Was heißt neugierig. Mich interessiert, was sie hier treibt."

„Aber warum?" wollte Jurka wissen. „Sie ist doch blind."

„Blind." Petka warf dem Freund einen verächtlichen Blick zu. „Bist du ein Esel. Um ein Haar hätten wir sie umgebracht."

„Lauf doch zu ihr", entgegnete Jurka wütend. „Du bist ja hier der Kapitän. Nimm das Boot, bitte sehr."

„Das mache ich auch."

Petka ergriff die Ruder und ging ans Wasser. Lange schaute er zurück, machte sich an den Gabeln zu schaffen. Er wollte nicht allein fahren. Was sollte er zu ihr sagen? Es war so ein dicker Baumstamm gewesen. Lena hatte es sicher nicht vergessen. Noch einmal sah Petka nach oben. Jurka drehte sich um und pfiff „Vaterland, kein Feind soll dich gefährden..." Da stieß Petka entschlossen das Boot ins Wasser und sprang hinein.

Er ruderte ans Ufer. Ein schmaler Pfad führte in die Taiga. Auf dem feuchten Boden hatten kleine Absätze deutliche Spuren hinterlassen. Petka lief etwa hundert Meter. Dann erblickte er Lena und blieb stehen. Sie schritt schnell aus — offenbar war ihr der Weg wohlvertraut —, stutzte aber plötzlich, hob den Kopf und lauschte. Auch Petka erstarrte. Er hörte heftiges Fauchen. Sekunden vergingen, ehe er begriff, daß dieses Geräusch von seinem eigenen Atem herrührte.

„Wer ist dort?" fragte Lena.

Petka zögerte mit der Antwort. Nach einer Weile sagte er: „Ich bin es. Erinnerst du dich, vorgestern haben wir zusammen gesprochen?"

„Seid ihr aus Ust-Kamensk?"

„Ja."

„Was macht ihr hier?"

„Wir, wir suchen was. Und du?"

„Wir suchen auch was. Erdöl. Ich bin aus dem Lager." Lena trat näher.

Petka musterte neugierig ihr Gesicht. Sie hatte graue Augen. Die sahen überhaupt nicht blind aus, sondern waren groß und schön, nur daß sie ein wenig an ihm vorbeischauten.

„Erdöl? Nein, wir suchen was anderes. Komm doch mit zu uns", schlug er, für sie unerwartet, vor.

„Ist es weit?"

„Bis zu der Insel dort drüben, siehst du — das heißt, ich meine, es ist ganz nah", verbesserte sich Petka stotternd. „Vielleicht dreihundert Meter."

„Gut. Ich fahre mit. Aber wir bleiben nicht lange? Mich suchen sie immer gleich."

Petka ging ans Ufer. Mehrmals drehte er sich um. Das Mädchen kam hinterher. Wiederum setzte ihn Lenas Ruhe in Erstaunen. Sie trat sicher auf, als gäbe es keine herabhängenden Zweige, als wäre dort vorn nicht ein steiler Hang, wo man ausgleiten konnte. Petka hatte Lena sogar in Verdacht, daß sie gar nicht blind war, sondern ihn narrte.

„Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen", beruhigte sie ihn, als er auf sie wartete. „Ich kenne den Weg gut. Gleich kommt ein Zweig. Daran halte ich mich immer fest, wenn es zum Fluß runtergeht."

„Dort steht eine Kiefer. Es ist kein Zweig, sondern eine Wurzel", erklärte Petka. „Sie wächst aus der Erde."

„Und ich dachte, es wäre ein Zweig."

Auf der Insel wurden sie von Jurka und Dimka mit neugierigen Blicken empfangen. Petka stand unschlüssig neben dem Boot. Ob er dem Mädchen die Hand reichen sollte? Er entschied sich für ein Ruder. Das war besser. Lena stieg hastig aus, und sie gingen beide zum Zelt.

„Das sind Dimka und Jurka", stellte Petka vor, indem er in die Richtung zeigte, wo seine Freunde standen. Dimka hob fassungslos die Schultern. Petka drohte mit der Faust.

„Was treibt ihr hier bloß?" wunderte sich Lena. Jetzt schnitt auch Jurka eine schreckliche Grimasse. Er schüttelte den Kopf und starrte Petka an: Vergiß nicht, daß es ein Geheimnis ist!

„Wir wollten nur eine kleine Reise machen."

Lena lachte. „Nur eine Reise? Gibt es das? Sergej Michailowitsch, Tonja und die anderen reisen auch, aber sie suchen Erdöl. Ihr sucht gar nichts?"

Sie ist blind und lacht noch, ging es Jurka durch den Kopf.

„Wer sucht Erdöl?" fragte er, um sie von ihrer Frage abzulenken. „Was für eine Tonja?"

„Aus unserm Lager. Dort arbeitet eine Expedition.

Mein Vater ist auch dabei. Aber nicht für lange. Im Herbst fahren wir nach Odessa zu Professor Filatow.

Wenn es mir besser geht, kommen wir wieder."

„Bist du krank?" wunderte sich Dimka.

„Ich bin blind. Professor Filatow hat schon vielen Menschen das Augenlicht geschenkt."

Von ihrer Blindheit sprach Lena wie von einer leicht zu heilenden Krankheit. Dimka schüttelte den Kopf, behielt aber seine Zweifel für sich.

„Der hat noch keinen entlassen, der nicht geheilt war", fuhr das Mädchen fort. „Aus dem ganzen Land kommen sie zu ihm."

„Toll", sagte Jurka. In Wahrheit dachte er: Wie kann ein einziger Professor so viele Blinde heilen? Das reden sie ihr nur ein.


Lena jedoch vertraute diesem Professor Filatow offenbar vollkommen. Sie sprach natürlich und lächelte ungezwungen, nicht wie jemand, der sich unglücklich fühlt. Bald hörten die Jungen auf, ihr Gesicht zu mustern. Das leichte Unbehagen, das sie bisher empfunden hatten, war gewichen. Als der Kessel vom Feuer kam, wurde Lena eingeladen. Das Mädchen lehnte nicht ab, sondern sagte nur: „Ich habe kein Besteck bei mir."

Schon schlugen zwei Aluminiumlöffel vor ihrem Gesicht zusammen. Einen Augenblick später klapperte schüchtern ein dritter dagegen: der von Dimka, und Lena entschied sich für den letzten.

„So läßt sich's aushalten", stellte Jurka mit einem Blick in den leerer werdenden Kessel fest. „Schade, daß wir immer nur für einen Tag Verpflegung mitbekommen. Wenn sie uns die doppelte und dreifache Menge gäben, könnten wir ein Stückchen weiter fahren und durch die Taiga wandern. Wenigstens die Ufer müßten wir uns mal näher ansehn, besonders das linke, das ist schön hoch, von oben sieht man alles.'"

„Das haben vor uns schon andere besorgt", meinte Dimka trocken. „Erst letztes Jahr wurde dort was ausgemessen und ein Turm gebaut."

„Hier gibt es keine Türme", widersprach Jurka.

„Freilich", ließ sich Lena vernehmen, „das ist ein geodätisches Zeichen. Sergej Michailowitsch hat eine Karte, dort ist es vermerkt, hat er gesagt."

„Kommt mit auf die Klippe", schlug Petka vor. „Wir suchen uns eine Reiseroute aus."

Dimka und Jurka blickten Lena an. Ob man sie mitnahm oder besser unten ließ? Der Felsen war steil. Wenn es das Unglück wollte, passierte etwas.

Lena legte den Löffel ins Gras. Nichts hätte sie den Jungen abgeschlagen, sie wäre mit ihnen durch die Taiga gelaufen oder durch den Fluß geschwommen. Schon lange war sie ohne richtige Freunde. Die gleichaltrigen Kinder begegneten ihr stets mit Rücksicht. Niemand neckte sie oder hatte Streit mit ihr. Gerade das war für sie die schlimmste Kränkung. Sie fühlte sich zurückgesetzt, ausgestoßen.

Lena spürte, daß die Jungen sie jetzt anblickten. Sie ahnte, was in ihnen vorging.

„Fahrt ihr mich zurück?" fragte sie leise.

Daß das Mädchen haargenau ihre Gedanken erraten hatte, machte Petka und seine Freunde unsicher.

„Nein. Warum? Komm doch mit", ließ sich Jurka mit lauter Stimme vernehmen.

„Dieser niedliche Felsen, das ist ein Klacks für dich", meinte Dimka.

„Wir werden dir schon helfen", versprach Petka.

Lena wandte zwar noch ein: „Ich bin euch nur im Weg", aber es klang schon recht fröhlich.

Petka explodierte. „Hab dich nicht so. Du bist kein kleines Kind mehr." Klügere Worte hätten sich schwerlich finden lassen, obwohl sie ohne Überlegung hervorgesprudelt waren.

Der „Kapitän" hatte eine Art, schnoddrig zu reden. Vor keinem Menschen kannte er Hemmungen. Nun wurden auch Petkas Freunde kühner. Sie ergriffen das Mädchen bei den Armen, der eine links, der andere rechts, und zogen sie die Klippe hinauf. Mehrmals stieß Lena gegen einen Stein, weü sie nicht einfach darüberspringen konnte wie ihre Begleiter. Doch das trübte ihre Freude nicht. Keine Furche zeigte sich auf ihrer Stirn. Im Gegenteil, sie lachte.

„Dort auf dem Hügel steht ein Turm", rief Dimka triumphierend. „Ich habe ja gleich gesagt, das linke Ufer ist restlos erforscht."

Sie setzten sich auf die Felskuppe.

Zum Fluß hin fiel der Felsen senkrecht ab. Am Rande klammerte sich eine krumme Fichte mit ihren Wurzeln verzweifelt ans Gestein.

„Ist es hoch?" wollte Lena wissen.

Dimka legte sich auf den Bauch. Sein Kopf hing über dem Abgrund.

„Nicht besonders. Höchstens..."

„Spring runter", forderte ihn Petka auf, „dann weißt du's genau."

„Das mußt du mir erst vormachen. Andere aufhetzen kann jeder."

„Denkst du, ich würde mich nicht trauen? Wenn es sein müßte."

„Und wenn es nicht sein müßte?" fragte Dimka bissig.

Petka stand dicht neben Lena. „Gut", sagte er, „ich springe."

„Sieh zu, daß du keinen Bauchklatscher machst", empfahl Dimka.

Hätte Lena nicht dabeigesessen, wäre daraus wahrscheinlich nichts geworden. Sie hätten gestritten, wer den Sprung in die Tiefe wagen würde und wer nicht, und wären alle drei wieder hinabgestiegen. Nun saß aber Lena dabei.

Schweigend zog sich Petka aus, trat an den Rand der Klippe, stand dort für einige Augenblicke gleich einer Bronzestatue vor dem Abgrund, schön anzusehen, fast wie ein junger Atlantisbürger.

Jetzt begriff Dimka, daß es kein Spaß war. Doch er schwieg. Dafür erhob Jurka warnend seine Stimme:

„Petka, unten sind vielleicht Steine."


„Zähle bis drei."

„Eins — zwei — drei."

Petka stand wie angewurzelt an der Stelle, wo die Klippe steil zum Fluß abfiel.

„Nicht so schnell", schimpfte er, „ich muß doch erst einen Fleck aussuchen, wo ich hinspringen kann."

Lena lächelte nicht mehr. Sie lauschte auf das Ge-plätscher der Wellen, das aus ziemlicher Entfernung heraufdrang. Es waren mindestens zwölf Meter.

„Eins — zwei — zwei einhalb — zwei dreiviertel..."

Kraftvoll stieß sich Petka ab und sauste mit den Beinen voran durch die Luft.



Er mußte sich viel Schwung geben, um nicht auf den Steinen zu landen, die am Fuße des Felsens im Wasser lagen. Lena lauschte mit vorgestrecktem Hals. Endlich hörte sie den Aufschlag. Die Jungen sahen, wie Petka in einem Schwall von Schaum und Blasen verschwand. Dann tauchte, wohl auf dem Grund des Flusses, ein heller Felck auf. Als sich das Wasser beruhigte, erkannten sie ihren Freund, der wie ein Frosch davonschwamm.

Nur Lena sah es nicht. „Wo ist er?" fragte sie.

„Alles in Ordnung", erwiderte Jurka. „Gleich kommt er hoch."

In zwanzig Meter Entfernung tauchte Petka auf. Er plantschte im Wasser, um den vor ihm treibenden Schaum zu zerteilen, steuerte dann auf die Insel zu. Jurka und Dimka nahmen seine Sachen und rannten hinunter. Petka schwamm mit der Strömung. Bald stieg er an Land — einen Augenblick eher, als seine Freunde zur Stelle waren.

„Brrr, ist das Wasser kalt", rief er schon von weitem. „Wie im Winter."

Lena, die sie in der Aufregung vergessen hatten, tastete sich nach unten.

„Ihr habt sie allein gelassen?" Petka war empört. „Seid ihr nicht bei Troste?" Er streifte hastig die Kleidung über seine nasse Badehose. „Warte", rief er Lena zu, „ich komme schon."

Petka lief ihr entgegen. Sie gab ihm die Hand und sagte etwas. Auch er sprach. Nachdem sie eine Weile miteinander geredet hatten, gingen sie weiter, er an ihrer Seite.

„Ein Land sucht ihr?" rief Lena aus. „Das habe ich natürlich nicht gewußt. Ich dachte, daß ihr nur so... Wo liegt denn dieses Land?"

Jurka, der dies hörte, sah Petka tadelnd an, sagte aber nichts.

„Na ja, ich habe es ihr erzählt", brummte Petka, als er Jurkas Blick auffing. „Ist doch nichts dabei. Aber sie weiß noch nicht alles. Ich werde ihr vorlesen. Oder habt ihr was dagegen? Jurka, gib das Heft her."

„Das könnte dir passen. Nein, nein, wenn einer liest, dann bin ich es. Wem gehört denn das Heft? Dir vielleicht?"

„Es ist unser gemeinsames Eigentum. Komm, gib her!"

„Hast du dir gedacht", entgegnete Jurka störrisch und tippte sich an die Stirn. „Ich habe es gefunden, ich lese."

Jurka zeigte sich eigensinnig und kampfeslustig. Er glich einer Bruthenne. So kannten sie ihn nicht. Petka begriff, daß er in diesem Fall nichts erreichen würde, und gab nach.

„Lena", erklärte Jurka, indem er das Heft aus der Tasche zog, „hiervon weiß noch niemand etwas. Dir werden wir alles erzählen. Nur sage es keinem weiter. Hörst du!"

„Sie braucht gar nicht viel zu sagen", wandte Dimka ein. „Zwei Wörter ihrer Freundin ins .Ohr — schon weiß es die ganze Welt."

„Ich habe keine Freundin", erwiderte Lena schlicht.

Da verstand Dimka, daß er mit Lena nicht umspringen durfte wie mit einem anderen Mädchen.

„Lena", fuhr Jurka fort, „noch haben wir nichts gefunden. Wir wissen nicht, wo wir das Land suchen sollen. Vielleicht liegt es auch gar nicht in unserer Gegend. Es ist am besten, wenn ich jetzt anfange."

Jurka schlug das Heft auf und las vor. Er las sehr ausdrucksvoll, wie ein Sprecher im Radio. Die Atlantisbürger begannen zu leben, schritten ihren Weg zu Blüte und Untergang. Petka betrachtete aufmerksam Lenas Gesicht. Sooft Jurka stockte, runzelte sie die Stirn. Der ,,Kapitän" rutschte hin und her. Ich würde viel besser lesen, dachte er. Als Jurka bei der Stelle anlangte, wo der Sklave vor dem Abgrund zurückschauderte, zuckte Lena zusammen, als stände sie selber am Rande eines Felsens.

Schließlich verlor Petka die Selbstbeherrschung. Er war rasend vor Neid, sprang hoch, hob einen Stein auf und schleuderte ihn aus Leibeskräften gegen den Stamm einer Kiefer.

„Was ist denn in dich gefahren?" knurrte Jurka und klappte das Heft zu.

„Nichts. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten."

„Palmen", sagte Lena, „wie sehen die aus?"

„Ähnlich wie Kiefern", erklärte Jurka, „nur haben sie Blätter auf dem Wipfel, und oben hausen Affen."

„Wie eine Kiefer aussieht, weiß ich nicht. Wo wir früher wohnten, gab es viel Fichten. Wenn ich mir einen Baum vorstelle, ist es immer eine Fichte. Sie hat rote und grüne Nadeln."

„Grüne im Sommer", sagte Petka, „braune im Herbst. Mußt du schon nach Hause?"

„Ich muß nicht. Aber sie sind bestimmt schon unruhig. Fahrt ihr mich rüber?"

„Mach ich", entgegnete Jurka eilfertig.

„Hast du dir gedacht", fuhr Petka auf. Er tippte sich an die Stirn.

„Komm, Lena."

,,Du bist vorhin schon gewesen. Ich möchte auch mal rudern."

„Schwachheiten." Petka schüttelte den Kopf.

Diesmal gab Jurka nach. Schließlich war nicht er, sondern Petka vom Felsen gesprungen. Das Boot durchschnitt den Fluß. Petka setzte Lena an Land.

„Besucht uns im Lager", sagte das Mädchen beim Abschied. Es war eine Einladung. „Wenn ihr diesen Pfad nehmt, könnt ihr uns nicht verfehlen. Er führt direkt ins Lager. Kommt ihr?"

„Ja", erwiderte Petka und stieß vom Ufer ab. Er hatte das Boot mit einigen Ruderschlägen auf den Fluß getrieben, als er laut hinzufügte: „Wir kommen unbedingt. Aber alle zusammen."

Lena lachte. „So hatte ich es auch gemeint. Alle, nicht nur du."

Petka hörte sie nicht mehr. Er hielt auf die Insel zu. Zischend bohrte sich der Bug in die Wellen und zerteilte sie. Wie schön war es, die Ruder in den Händen zu halten, den Widerstand des Wassers zu spüren und dabei zu fühlen, daß es immer schneller ging. Mit Schwung schoß das Boot aus dem Fluß. Es lag fast zur Hälfte auf dem Trockenen.

IX Von denen, die suchen

Noch war Atlantis unentdeckt geblieben.

Dabei mußte es ganz in der Nähe liegen. Irgendwo auf dem ehemaligen Meeresboden, wo jetzt die Taiga war. Man mußte tiefer ins Innere des Nadelwaldgürtels vordringen, dann fand man vielleicht, was zu finden allen anderen bisher nicht beschieden war, weil sie nicht gründlich genug gesucht hatten oder zu bequem waren oder nicht zu träumen verstanden. Auf eine zweitägige Reise verzichteten die drei Freunde schweren Herzens. Ihre Eltern hatten angedroht, die Bootsfahrten überhaupt zu unterbinden, wenn die Ausreißer am Abend nicht wieder zu Hause wären. Es gab lange Diskussionen. Die Eltern blieben unerbittlich. Sie waren wie jene, die Atlantis nicht gefunden hatten, weil sie nicht träumen konnten.

Wieder näherten sich die Jungen der Insel, auf der ihr zerlöchertes Zelt stand. Diesmal nahmen sie Kurs aufs Ufer. Sie verließen ihr Boot an der Stelle, wo Tage zuvor Lena gesessen hatte.

Der Pfad, auf dem die Absätze von Kinderschuhen zahlreiche Spuren hinterlassen hatten, führte auf eine Lichtung. Vorsichtig bogen die Jungen das Gebüsch auseinander.

Am Ende der Wiese sahen sie zwei Zelte, daneben ein Holzhäuschen auf Kufen mit davorgespanntem Traktor. Die Teilnehmer der Expedition schienen ausgeflogen zu sein. Der Anblick des Lagers erweckte eine Vorstellung geistiger Leere, Gefühle der Trägheit und Schwere. Nur daß neben dem Häuschen ein Motor lief. Er zitterte und spuckte, als sei er empört über die Zumutung, bei dieser Hitze zu arbeiten.

Etwas später bemerkten die Jungen den Mann, der auf der Lichtung neben einem grünen Kasten lag und rauchte.

Aus einer Schneise kamen zwei Arbeiter. Sie trugen eine große Rolle, von der ein langer Draht abgespult wurde. Sie bewegten sich schweigend und unentwegt vorwärts, als ahnten sie nicht, daß hinter ihrem Rücken der Draht von der Rolle ins Gras glitt, oder als sei ihnen dies höchst gleichgültig.

Als die beiden näher kamen, sah man, daß sie sehr müde waren.

An einem in die Erde gerammten Pfahl setzten sie vorsichtig einen runden Behälter von der Größe einer Konservendose ab. Dann wanderten sie weiter.

Der Mann neben dem grünen Kasten erhob sich, trat auf die beiden zu und sagte etwas. Einer zeigte auf seine Uhr. Daraufhin ging der Mann wieder zurück, sprach ein paar Worte ins Telefon und gab denen mit der Rolle ein Zeichen, weiterzulaufen. Da stampften sie mit schweren, gleichmäßigen Schritten in den Wald.

Wenige Minuten später kam ein Mädchen im Turnhemd über die Lichtung. Die Hosenbeine hatte sie in die Stiefel gestopft. Sie verschwand in der Bretterbude. Nun kam Leben in den Mann am Telefon. Er lag nicht mehr, er kniete und schrie aufgeregt in die Sprechmuschel. Nach dem Gespräch rannte er gleichfalls in die Hütte, kam jedoch wenige Augenblicke später wieder heraus und telefonierte abermals.

Es versprach interessant zu werden. Etwas lag in der Luft.

Gleich nach dem Mann sprang auch das Mädchen ins Freie. Sie lief an der Leitung entlang, bückte sich mehrmals und betrachtete den Draht aus der Nähe.

Dann traten die beiden Männer aus dem Wald. Ihre Rolle war leer. Aus der entgegengesetzten Richtung kamen zwei andere Arbeiter, die gleichfalls eine Rolle trugen. Danach trabte ein jüngerer Mensch in Windjacke herbei und verschwand in der Hütte. Fast im selben Augenblick stürzten zwei Männer heraus. Der eine verfolgte den Draht in der einen Richtung, der zweite in der anderen. Schließlich rannte der Bursche mit der Windjacke zurück in die Taiga.

Jetzt geriet alles in Bewegung. Es war, als drehte sich über der Lichtung eine riesige Spirale, die immer weitere Bereiche erfaßte und in deren Zentrum der Mann mit dem Telefon stand.

Die Aufregung teilte sich den Jungen mit. Sie hatten es in ihrem Versteck nicht ausgehalten und sich längst aus dem Gras erhoben.

Auch sie wollten etwas tun, wollten hin und her hetzen und zupacken.

Aber plötzlich kam alles zur Ruhe. Wie durch Zauberschlag verstummte das nervenpeitschende Summen des Motors. Die Jungen sahen sich erstaunt an. Wo war auf einmal der rasende Eifer, mit dem die Menschen sich in die Arbeit gestürzt hatten?

Der Mann am Telefon schaute zur Hütte. Fast alle Arbeiter hatten sich inzwischen dort eingefunden. Jemand steckte den Kopf zur Tür heraus.

„Fertig?" wurde leise gefragt.

In der Taiga war es so still, daß man auch ein Flüstern verstanden hätte.

„Fertig." „Los!"

Der Mann am Telefon reckte sich in die Höhe, schlug mit der flachen Hand durch die Luft und schrie:

„Feuer!"

Etwas schien zu bersten. Es klang wie gewaltiges, anhaltendes Dröhnen von Kesselpauken. Unter einem leichten Stoß erzitterte die Erde. Gleich darauf grollte der Donnerschlag einer Explosion durch den Wald. Von den Bäumen erhoben sich die Vögel. Sie stiegen steil in die Höhe, als hätte jemand aus einem Katapult auf sie geschossen.

Die Jungen rückten enger zusammen. Auf die erste Sprengung, meinten sie, würde eine zweite folgen, vielleicht sogar in noch größerer Nähe. Sie erwarteten einen ohrenbetäubenden Knall.

Doch blieb alles ruhig.

Der Motor summte wieder.

Der Mann am Telefon zündete ein Streichholz an. Er rauchte.

Die Jungen wurden kühner, krochen aus dem Gebüsch und wandten sich an das Mädchen im Turnhemd.

Petka kam gleich zur Sache. „Wo ist Lena?" erkundigte er sich. In der Eile vergaß er sogar zu grüßen.

Zum Glück blickte der umsichtige Dimka über seine Schulter und sagte: „Guten Tag."

„Guten Tag", erwiderte das Mädchen lachend.

„Besser spät als nie. Sergej Michailowitsch", rief sie laut, „hier ist eine Delegation, die zu Lena möchte."

Ein gutmütig aussehender Mann mit grauer Segeltuchjacke trat aus der Hütte. In seinem runden Gesicht saß eine große Nase. Die Haare waren mit Silberfäden durchzogen. Er hielt einen Federhalter und seine Brille in der Hand.

„Na, das ist eine Überraschung", rief er mit einem Blick auf Petkas Matrosenhemd. „Was macht die Kunst, Seemann? Haben uns lange nicht gesehen."

Petka, der jederzeit bereit war, sich zu sträuben wie ein Barsch am Angelhaken, lächelte. Er wußte gleichfalls, wer vor ihm stand: der Reisende, der mit dem ersten Schiff gekommen war und sich einen „ungekämmten Köter" geschimpft hatte.

„Was soll sie machen?" entgegnete Petka. „Nichts. Aber wo ist Lena?"

„Ach, Lena", sagte Sergej Michailowitsch gedehnt. Er schien noch zu überlegen, ob es ratsam sei, den Kindern dieses große Geheimnis anzuvertrauen. „Lena kommt gleich", fuhr er in normalem Tonfall fort, „sie ist nur baden gegangen. Wollt ihr warten?"

„Ja, bitte." Petka sprach für alle.

„Dann geduldet euch einen Augenblick. Ich habe noch zu tun. Nachher werden wir uns unterhalten. Ich muß doch mal sehen, was ihr für Menschen seid. Einverstanden?"

Sergej Michailowitsch ging in eins der Zelte. Drei Klappstühle kamen herausgeflogen. Sie fielen krachend ins Gras.

„Setzt euch hin, Jungs", sagte das Mädchen freundlich.

Um der Höflichkeit zu genügen, kamen die drei der Aufforderung nach, standen aber gleich wieder auf. „Das macht ihr recht. Ich kann diese Dinger auch nicht leiden. Im Gras sitzt es sich viel besser." Das Mädchen lachte.

„Ja, das ist wahr."

„Lena hat schon von euch erzählt. Wer ist Petka?"

„Ich. Warum?"

„Nur so. Von dir hat sie auch erzählt."

„Stimmt es, daß Sie Erdöl suchen?" wollte Dimka wissen.

„Beinah erraten. Nur kein Erdöl, sondern erdölhaltige Schichten. Manchmal hat man Pech. Hier zum Beispiel gibt es wahrscheinlich keins."

„Klar", sagte Jurka. „Aber warum suchen Sie dann erst?"

„Weil man die Fundstätten nicht immer mit Sicherheit bestimmen kann. Wenn man die Lage der Erdschichten untersucht, läßt sich wenigstens voraussagen, wo man vielleicht auf ein Lager stoßen könnte und wo nicht. Später kommen Geologen. Die treiben Bohrlöcher in den Boden. Danach weiß man genau Bescheid."

„Ach, dann sind Sie wohl gar keine Geologen?" „Wir sind Geophysiker. Wie soll ich euch das erklären."

„Was gibt's da viel zu erklären, Tonja", rief Sergej Michailowitsch aus dem Zelt. „Die Sache ist ganz einfach. Geo heiß Erde, Physik heißt Natur. Wir schlafen auf der Erde, wandern darüber hin und sehen uns ihr Inneres an."

„Fast so ist es", bestätigte Tonja lächelnd. „Allerdings beschäftigt uns nicht nur die Erde. Wir interessieren uns auch für den Himmel, das Meer, die Erdbeben."

„Erdbeben gibt es — ungeheuer." Jurka seufzte. „Manchmal richten sie Riesenschaden an. Städte werden verschluckt. Sogar ganze Länder. Das kommt vor, nicht?"

„Länder? Ich weiß nicht. Das ist mir neu. Und Städte werden nicht verschluckt, sondern zerstört. Höchstens daß mal im Meer versinkt, was gerade ungünstig liegt."

Die Jungen sahen sich bedeutsam an.

„Werden Sie lange nach Erdöl suchen?" fragte Dimka.

„Bis zum Frühjahr", erwiderte Tonja.

„Das ganze Leben lang", warf Sergej Michailo-witsch ein, der gerade aus dem Zelt trat. „Und wenn wir tot sind, werden das andere besorgen. Jungs, ihr macht euch keine Vorstellung, wie wenig wir von den Vorgängen wissen, die sich unter unseren Füßen abspielen. Was über unseren Köpfen geschieht, ist viel leichter zu erforschen. Um in den Kosmos vorzudringen, haben wir Raketen. Mit Hilfe der Teleskope betrachten unsere Astronomen Sterne, die Tausende von Lichtjahren entfernt sind. Schon ein Flugzeug steigt zwanzig Kilometer in die Höhe. Der Mensch strebt nach oben. Über unsere eigene Erde aber kriechen wir wie Fliegen über einen Globus. Die Länge des tiefsten Schachtes beträgt wenige Kilometer. Etwa bis zur gleichen Tiefe sind auch Taucher ins Meer gestiegen. Aber das sind doch keine Entfernungen. Der Mars ist sechzig Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Trotzdem bin ich überzeugt, daß wir eher diese sechzig Millionen Kilometer überwinden werden, als nur sechzig ins Innere der Erde vordringen."

„Flugzeuge werden auch gebraucht", wandte Petka ein. „Düsenflugzeuge besonders."

„Ohne Zweifel." Sergej Michailowitsch mußte lachen. „Habe ich behauptet, daß wir keine brauchen? Du willst wahrscheinlich Flieger werden, was?"

Petka seufzte.

„Aber ich, Jungs, wißt ihr, was ich möchte? Kräftig mit dem Fuß aufstampfen und wie Rumpelstilzchen in der Erde versinken. Gar nicht allzu tief, an die hundert Kilometer."

„Das soll nicht tief sein?" rief Dimka entgeistert. Die anderen lachten.

„Ja, hundert Kilometer — aber nur, wenn ich die Garantie habe, daß ich auch wieder an die Oberfläche komme. Sonst wäre es sinnlos. Ich müßte erzählen können, wie es im Erdinnern aussieht. Das weiß eben noch niemand genau."

„Ich habe gehört, daß es dort unten einen Kern aus reinem Gold gibt", sagte Dimka. „Reines Gold, nur flüssig soll es sein."

„Nein, das ist Unsinn." Sergej Michailowitsch machte eine wegwerfende Handbewegung.

Fast im gleichen Augenblick hörten alle das Plätschern, das aus dem Bach kam. Die Jungen drehten sich um. Durch das Wasser kam Lena gewatet.

„Lena, Kleine, komm her, du hast Gäste." Sergej Michailowitsch hatte eine nette Art, „Lena, Kleine" zu sagen. Es klang ausgesprochen zärtlich.

Er nahm das Mädchen an die Hand. „Wenn Lena etwas aufspüren soll, ist sie einzigartig. Die geborene Pfadfinderin. Ein Stückchen weiter oben hat sie im Bach einen ausgehöhlten Felsen entdeckt, die schönste Badewanne, jederzeit bis zum Rand mit warmem Wasser gefüllt. Außerdem weiß sie immer, wo meine Brille zu finden ist."

„Wo haben Sie Ihre Brille jetzt?" fragte Lena lächelnd.

„Na wo?" Sergej Michailowitsch klopfte mit der freien Hand auf die Taschen seiner Jacke. „Die habe ich sicher im Morgenrock stecken lassen."

Er hielt die Brille in der anderen Hand. Mit einem Bügel stieß er das Mädchen leicht in die Seite. Lena griff sofort zu.

„Das habe ich gewußt", jubelte sie.

Sergej Michailowitsch machte ein wütendes Gesicht.

Lena lachte.

Die Jungen wußten nicht, ob alles nur Spiel war oder ob Sergej Michailowitsch tatsächlich des öfteren seine Brille verlegte. Sie sahen aber, wie er gehorsam den Kopf neigte, als sich Lena reckte, um ihm die Brille aufzusetzen. Da begriffen sie endgültig, daß Sergej Michailowitsch ein guter Mann war und seinen Schützling sehr ins Herz geschlossen hatte.

„Kommt Vati bald?" fragte das Mädchen.

„Wahrscheinlich morgen, Lena, Kleine. Aber etwas anderes. Ich habe mich vorhin mit deinen drei Freunden unterhalten. Sie interessieren sich für Gold."

„Erzählen Sie ihnen von den Erdbebenwellen im Meer, Onkel Serjoscha", bat Lena.

„Na schön", willigte Sergej Michailowitsch ein. „Solche Wellen entstehen infolge von Erdbeben, die auf dem Meeresgrund toben. Fern vom Festland sind sie kaum zu bemerken, aber sie haben die Eigenart, den Ozean zu durchqueren, und erreichen in der Nähe einer Küste oder Untiefe eine Höhe bis zu vierzig Metern. Jetzt wird selbstverständlich alles fortgeschwemmt, was ihnen in den Weg kommt, bisweilen ganze Städte. Wenn die Küste nicht besonders hoch ist, dringen sie als reißende Ströme weit ins Innere vor und zerstören auch die festesten Bau„Aber die Stadt kann man hinterher noch finden?" fragte Jurka.

„Selbstverständlich — das heißt, was von ihr übriggeblieben ist. Die Häuser müssen erst wieder gebaut werden."

„Aber man kann die Stelle finden, wo die Stadt gestanden hat", murmelte Dimka triumphierend.

„Die braucht man doch nicht erst zu suchen", meinte Sergej Michailowitsch verwundert. „Städte sind bekanntlich auf Karten verzeichnet."

„Aber die, die nicht drauf sind?" forschte Dimka. „Eine Stadt, die nicht auf der Karte verzeichnet ist, existiert nicht."

Lena schaltete sich ein. „Onkel Serjoscha, ich wollte Sie schon oft fragen, ob solche Welle auch manchmal nach Odessa kommt?"

„Nein, Lena, Kleine", erwiderte Sergej Mi-chaüowitsch sanft. „Das Schwarze Meer ist ein Binnenmeer. Dort gibt es das nicht."

In der Taiga knackten trockene Zweige. Drei Männer traten auf die Lichtung. Sie sahen verwildert aus. An ihrer Kleidung hingen Spinnweben.

„Diese verdammten Spinnweben!" schimpfte der eine. „Im Wald kann man sich nicht retten davor. Guten Tag, Genosse Vorgesetzter."

„Guten Tag, Ljoscha. Wie geht's?"

Ljoscha winkte ab und machte ein Gesicht, als stände es schlimm wie noch nie. „Mit unserm Abschnitt sind wir fertig."

„Prachtjunge! Und warum bist du so aufgebracht?"

„Diese Spinnweben. Man sieht nichts. Dauernd sind die Augen verkleistert."

Ljoscha nahm die Mütze ab. Wie Eiszapfen purzelten seine verklebten Haare durcheinander. Unter den Brauen funkelten junge Augen. Mit seinem Bart wirkte er sehr gesetzt. Dabei war er höchstens dreißig.

„Wann geht's weiter?" fragte er.

„In zwei, drei Tagen. Wo habt ihr Stroganow gelassen?"

„Der ist bei den Klamotten geblieben", antwortete Ljoscha. „Höst du, Lena", fuhr er lauter fort. „Dein Vater bewacht unsere Sachen. Er läßt dich schön grüßen."

Die Ankömmlinge legten ihre Jacken ab und wuschen sich am Bach. Sergej Michaüowitsch kehrte zu den Kindern zurück.

„Nun, Lena, bald wirst du deinen Freunden Lebewohl sagen müssen. In drei Tagen brechen wir das Lager ab."

„Ziehen Sie weit fort?" erkundigte sich Petka.

„Etwa fünfzehn Kilometer."

„Kommt ihr uns besuchen?" rief Lena.

Petka wiegte den Kopf. „Ich weiß nicht. Wenn wir länger von zu Hause fortbleiben dürften. An einem Tag hin und zurück? Das lohnt nicht. Es ist besser, wir kommen morgen wieder. Wenn es gestattet ist", setzte er mit einem Blick auf Sergej Michailowitsch hinzu.

„Natürlich. Unbedingt müßt ihr kommen. Aber jetzt wollen wir uns erst mal stärken. Wie weit bist du, Tonja?"

„Es kocht schon", erwiderte Tonja.

Auf einen kleinen Tisch, der zwischen den Zelten stand, wurden Aluminiumnäpfe gesetzt. Bald dampfte darin der Borschtsch. Während es sich alle schmecken ließen, glucksten im Kessel Kartoffelstückchen mit Konservenfleisch. Dann wurde auch das verzehrt.

„Zwei Gänge", murmelte Sergej Michailowitsch, „da seht ihr, wie wir leben."

„Auf den zweiten müssen wir allerdings häufig verzichten", ließ sich Ljoscha vernehmen. „Manchmal bleibt sogar der erste aus. Dann hängt einem der knurrende Magen in den Kniekehlen."

„Ja, das kommt vor", gab Sergej Michailowitsch zu. Er nickte zu den Jungen hinüber und meinte: „Aus den dreien würden wir noch tüchtige Geophysiker machen, was, Kinder? Schade, daß wir weiter müssen. Denen steht die Abenteuerlust im Gesicht geschrieben. Aber ich glaube, sie wollen wohl lieber zu den Fliegern gehen. Und wenn schon auf der Erde etwas entdeckt werden soll, dann allenfalls Gold oder Diamanten. Hab ich recht? Dabei ist Gold ein Metall der Vergangenheit."

„Wir brauchen kein Gold", erklärte Petka.

„Das Wichtigste ist die Romantik", setzte Jurka hinzu.

Sergej Michailowitsch sah ihn aufmerksam an.

„Ja, das ist die Hauptsache", bestätigte er, schwieg eine Weile und fragte dann leise: „Ljoscha, was meinst du, gibt es bei uns Romantik?"

Ljoscha lachte. „Diese Romantik habe ich heute sehr deutlich am eigenen Leibe zu spüren gekriegt. In der Taiga war da plötzlich so ein Loch. Ich ahnte nichts Böses und plumpste hinein. Das Wasser reichte mir fast bis an den Hals."

Sergej Michailowitsch lächelte. „Vor Überraschungen dieser Art ist man nie sicher. Wie steht's aber mit wirklicher Romantik? Die gibt es wohl doch nicht."

„Wieso denn nicht?" empörte sich Tonja.

„Freilich, die Leute sind verschieden. Es gibt Träumer, mutige Menschen, gute Menschen, Muttersöhnchen, Feiglinge, Schwächlinge, und jeder sieht alles von seiner Warte. Da fällt mir ein kleines Erlebnis aus der Studentenzeit ein. Eines Tages schafften sich meine Eltern, die auf dem Lande wohnten, einen Kater an. Das war ein Tier mit merkwürdigen, verwunderten Augen, die fast etwas Menschliches hatten. Bis der Kater zu uns kam, war er in der Stube gehalten worden. Jetzt durfte er im Freien herumstrolchen. Dort war alles groß und hell: der Himmel, die Sonne, die buschigen Baumkronen. Es gab neuartige Geräusche, unbekannte Gerüche. Wenn Katzen denken können, sagte sich der Kater natürlich: Donnerwetter, das ist ja rasend interessant hier. Aber schon bald hatte er sich an seine neue Umgebung gewöhnt. Nach einer Woche besuchte er bereits die Keller unserer Nachbarn, um sich dort an den Lebensmitteln gütlich zu tun. Das Neue hatte seinen Reiz verloren. Es gibt auch Menschen, die sich sehr schnell an alles gewöhnen, was sie täglich um sich sehen. Nur wer das ganze Leben hindurch die Welt so betrachtet, als sähe er sie zum erstenmal, wer nie und keiner Sache gegenüber gleichgültig wird, entdeckt täglich etwas Neues und Schönes. Für ihn steckt das Leben voller Romantik. Aber weshalb? Weil er selber ein Romantiker ist."

„Was wollen Sie damit sagen?" fragte Ljoscha. „Es ist Ihrer Ansicht nach völlig gleichgültig, wo ein Mensch arbeitet und welchen Beruf er ausübt. Entscheidend ist sein Charakter?"

„Im allgemeinen ja."

Ljoscha lächelte.

„Sergej Michailowitsch", sagte er gedehnt, indem er den Jungen zuzwinkerte, „verehrter Genosse Vorgesetzter, meiner Ansicht nach ist das ein klein wenig anders. Es gibt Berufe, die unbedingt Heldentum verlangen. Flieger und Pioniere beispielsweise sind immer mutige Menschen. Daneben kennen wir die gewöhnlichen Berufe, zu denen auch der unsere gehört. Gibt es da keine Unterschiede?"

„Ljoscha, für diese Worte werde ich Sie entlassen", drohte Sergej Michailowitsch.

„Nein, ohne Scherz. Antworten Sie."

„Was sollen wir uns streiten? Fragen wir lieber unsere jungen Leute. Gefällt dir unsere Arbeit?" wandte sich Sergej Michailowitsch an Jurka.

„Ja, sehr", war die Antwort. „Ich finde, fliegen ist gewöhnlich. Ihre Arbeit nicht. Ich muß es wissen. Mein Vater ist Flieger. Acht Stunden am Tage sitzt er in seiner Maschine. Für ihn ist das langweilig." „Selbstverständlich, selbstverständlich", stimmte Sergej Michailowitsch zu. „Und bei Nebel macht es ihm noch weniger Spaß, wie?"

„Das stimmt. Aber wenn es sein muß, fliegt er trotzdem."

„Natürlich. Und Sturm mag er sicher auch nicht?"

„Nein, überhaupt nicht."

„Und auf einer kleinen Waldwiese zu landen statt auf einem Flugplatz ist vermutlich gar nicht nach seinem Geschmack?"

„Nein, überhaupt nicht", gab Jurka abermals zu. Er wußte noch nicht, worauf der Geophysiker hinaus wollte.

„Aber er landet auf einer Waldwiese?"

„Natürlich. Was soll er machen? Es ist seine Arbeit."

Petka, der im Gras gelegen hatte, sprang auf die Füße.

„Arbeit, Arbeit!" rief er aus. „Und in einem Düsenflugzeug, das schneller ist als der Schall? Ist das auch nur Arbeit?"

„Ich spreche doch nicht von Düsenflugzeugen."

„Dann nimm meinetwegen eine gewöhnliche Maschine. Flieg mal bei Frost in einem offenen Flugzeug!"

„Was erzählst du mir eigentlich", entgegnete Jurka empört. „Das weiß ich alles besser als du."

„Wenn du so schlau bist, dann halte gefälligst den Mund."

„Ich denke nicht daran."

„Du sollst den Mund halten, habe ich gesagt!" Petka trat einen Schritt auf Jurka zu. Jurka brachte die linke Schulter nach vorn.

Ljoscha freute sich. „Gib's ihm!" stachelte er Petka auf. „Schlag ihn in die Kiemen, wenn ihr anders nicht klar kommt. Dann begreift er's gleich. Immer feste diskutiert mit der Faust!"

Die beiden Kampfhähne machten grimmige Gesichter. Wer sah, wie böse sie sich anschielten, konnte unmöglich ernst bleiben. Bald lachten alle. Nur Petka und Jurka nicht.

Die setzten sich wieder ins Gras. Zur allgemeinen Belustigung eine Prügelei veranstalten? Nein, das war ihnen doch zu dumm.

„Komisch", sagte Sergej Michaüowitsch. „Dem einen gefällt es nicht, im Nebel zu fliegen, aber er fliegt. Ein zweiter hält seinen Beruf für sehr gewöhnlich und arbeitet schon das sechste Jahr in der Taiga. Ein dritter findet das Fliegen langweüig, ein vierter tritt mit geballten Fäusten für die Flieger ein. Fragen wir den fünften. Lena, was meinst du dazu?"

Lena antwortete nicht sofort. Schließlich meinte sie: „Ich? Das weiß ich auch nicht. Von mir aus würde ich überall arbeiten, ganz egal wo. Nur..." Sie sprach nicht zu Ende, stand auf und lief ins Zelt.

„Da haben wir die Bescherung", brummte Sergej Michailowitsch kleinlaut. „Ich bin täppischer als ein Köter. So gedankenlos daherzureden." Er eilte ihr nach.

Damit endete der Streit über Berufe und ihre Romantik, die oftmals — wer weiß warum — hinter den gehört. Gibt es da keine Unterschiede?"

„Ljoscha, für diese Worte werde ich Sie entlassen", drohte Sergej Michailowitsch.

„Nein, ohne Scherz. Antworten Sie."

„Was sollen wir uns streiten? Fragen wir lieber unsere jungen Leute. Gefällt dir unsere Arbeit?" wandte sich Sergej Michailowitsch an Jurka.

„Ja, sehr", war die Antwort. „Ich finde, fliegen ist gewöhnlich. Ihre Arbeit nicht. Ich muß es wissen. Mein Vater ist Flieger. Acht Stunden am Tage sitzt er in seiner Maschine. Für ihn ist das langweilig." „Selbstverständlich, selbstverständlich", stimmte Sergej Michailowitsch zu. „Und bei Nebel macht es ihm noch weniger Spaß, wie?"

„Das stimmt. Aber wenn es sein muß, fliegt er trotzdem."

„Natürlich. Und Sturm mag er sicher auch nicht?" „Nein, überhaupt nicht."

„Und auf einer kleinen Waldwiese zu landen statt auf einem Flugplatz ist vermutlich gar nicht nach seinem Geschmack?"

„Nein, überhaupt nicht", gab Jurka abermals zu. Er wußte noch nicht, worauf der Geophysiker hinaus wollte.

„Aber er landet auf einer Waldwiese?" „Natürlich. Was soll er machen? Es ist seine Arbeit."

Petka, der im Gras gelegen hatte, sprang auf die Füße.

„Arbeit, Arbeit!" rief er aus. „Und in einem Düsenflugzeug, das schneller ist als der Schall? Ist das auch nur Arbeit?"

„Ich spreche doch nicht von Düsenflugzeugen."

„Dann nimm meinetwegen eine gewöhnliche Maschine. Flieg mal bei Frost in einem offenen Flugzeug!"

„Was erzählst du mir eigentlich", entgegnete Jurka empört. „Das weiß ich alles besser als du."

„Wenn du so schlau bist, dann halte gefälligst den Mund."

„Ich denke nicht daran."

„Du sollst den Mund halten, habe ich gesagt!"

Petka trat einen Schritt auf Jurka zu. Jurka brachte die linke Schulter nach vorn.

Ljoscha freute sich. „Gib's ihm!" stachelte er Petka auf. „Schlag ihn in die Kiemen, wenn ihr anders nicht klar kommt. Dann begreift er's gleich. Immer feste diskutiert mit der Faust!"

Die beiden Kampfhähne machten grimmige Gesichter. Wer sah, wie böse sie sich anschielten, konnte unmöglich ernst bleiben. Bald lachten alle. Nur Petka und Jurka nicht.

Die setzten sich wieder ins Gras. Zur allgemeinen Belustigung eine Prügelei veranstalten? Nein, das war ihnen doch zu dumm.

„Komisch", sagte Sergej Michailowitsch. „Dem einen gefällt es nicht, im Nebel zu fliegen, aber er fliegt. Ein zweiter hält seinen Beruf für sehr gewöhnlich und arbeitet schon das sechste Jahr in der Taiga. Ein dritter findet das Fliegen langweilig, ein vierter tritt mit geballten Fäusten für die Flieger ein. Fragen wir den fünften. Lena, was meinst du dazu?"

Lena antwortete nicht sofort. Schließlich meinte sie: „Ich? Das weiß ich auch nicht. Von mir aus würde ich überall arbeiten, ganz egal wo. Nur..." Sie sprach nicht zu Ende, stand auf und lief ins Zelt.

„Da haben wir die Bescherung", brummte Sergej Michailowitsch kleinlaut. „Ich bin täppischer als ein Köter. So gedankenlos daherzureden." Er eilte ihr nach.

Damit endete der Streit über Berufe und ihre Romantik, die oftmals — wer weiß warum — hinter den sieben Bergen gesucht wird.

Beim Abschied sagte Sergej Michailowitsch zu Jurka: ,,Da sind wir uns nun tüchtig in die Haare geraten, aber viel Sinn hat es nicht gehabt. Welcher Beruf am interessantesten ist, wissen wir immer noch nicht. Stimmt's Jurka?"

Jurka blickte Sergej Michailowitsch an. Er seufzte. „Wissen Sie, Sergej Michailowitsch, seien Sie mir bitte nicht böse, aber Sie sind ein schlauer Fuchs." Sprach's und lief seinen Freunden nach.

X Eine Unterweisung im Ringen

In Ust-Kamensk gab es zwei Überraschungen. Die eine im Haus der Issajewa. Als Petkas Mutter von der Arbeit heimkehrte und durch einen Türspalt blinzelte, sah sie ihren Großen mit Hose und Matrosenhemd bekleidet am Tisch sitzen. Neben ihm kauerte stirnrunzelnd Senka. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt, prustete und bewegte ungeduldig die Ellbogen.

„Ist ja gar nicht richtig", zeterte er, „Mama näht ganz anders."

Für diese Bemerkung bekam der Kleine vom Großen eins hinter die Ohren. Der Kleine zuckte zusammen, steckte den Klaps jedoch widerspruchslos ein. Brüllen hätte wenig Sinn gehabt. Es war niemand in der Nähe, der ihn bemitleiden konnte.

Sie waren beide so emsig bei der Sache, daß sie nicht merkten, wie die Mutter eintrat. Als erster entdeckte Senka sie. Er machte ein freudiges Gesicht. Eine Sekunde später fiel ihm ein, daß Petka ihn geschlagen hatte. Da begann er zu schluchzen.

Mutter kam näher, spähte dem Großen über die Schulter und schrie überrascht auf. Petka bemühte sich, einen Knopf an sein Oberhemd zu nähen.

Mutter hätte daran nichts Besonderes gefunden, wenn es nicht gerade ihr Großer gewesen wäre, der sich da mit Zwirn und Nadel versuchte. Aber ausgerechnet Petka, den man nicht anders kannte als mit zerrissenem Kragen, dessen Hemd des Abends verriet, ob am Morgen in Ust-Kamensk jemand den Gartenzaun gestrichen hatte, der seit seiner Bekanntschaft mit den Motorenschlossern in befleckter Hose umherlief, der zu den Fischern ging und auf dem Hemd Hunderte von Schuppen heimbrachte. All diese kleinen Liederlichkeiten hatten ihn nicht gestört. Sie waren in seinen Augen ebenso natürliche Erscheinungen gewesen wie Ölflecke auf einem Schlosseranzug. Und plötzlich sollte ihm ein abgerissener Knopf Kopfschmerzen bereiten? Da stimmte doch etwas nicht.

Nach getanem Werk nahm er ein stumpfes Messer und säbelte den Faden durch. Erst als auch dies geschehen war, schaute er zu seiner Mutter auf.

„Der war schon lange ab, aber du bist nie dazu gekommen, ihn anzunähen. Sollte ich ewig so rumlaufen?"

„Warum hast du mir nicht mal einen Ton gesagt?" entgegnete die Mutter verstört.

„Weil du nicht weißt, wo dir der Kopf steht. Aber wenn du mir einen Gefallen tun willst, Mutti, dann kauf mir ein neues Hemd."

„Seit wann kümmerst du dich um deine Kleidung? Na schön, ich werde dir eins nähen."

„Nicht nähen, Mutti. Das dauert zu lange. Ich brauche es unbedingt schon morgen. Kaufst du mir eins?"

„Warum hat es damit solche Eile?"

„Ich brauch es eben."

„Warte wenigstens noch drei Tage. Dann gibt es Geld."

„Ach, Mutti, du verstehst mich nicht. Ich brauche es sofort. Meinetwegen nur für morgen. Danach kannst du es wieder verkaufen."

Die Mutter schüttelte den Kopf und wunderte sich. Petka ließ nicht locker. Schließlich zog er die Mutter mit sich fort ins Geschäft.

Das zweite Ereignis fand am gleichen Tage im Haus der Alenows statt.

„Papa", wandte sich Jurka an seinen Vater, „was ist deine Meinung: Kann man einen blinden Menschen heilen?"

„Das hängt ganz von der Art der Krankheit ab. In einigen Fällen ist eine Heilung möglich, in anderen nicht."

„Wenn er aber aussieht wie ein gesunder Mensch? Sagen wir mal, er hat richtige Augen, und man merkt gar nicht, daß er blind ist?"

„Das weiß ich nicht, Jurka. Ich bin kein Arzt. Warum fragst du?"

„Weil ich später mal Augenarzt werden will." „Augenarzt?" Vater Alenow mußte lachen. „Weshalb nicht Chirurg oder Nervenarzt?"

Jurka war beleidigt. „Ich weiß nicht, was du daran lächerlich findest", sagte er gereizt. „Du kannst dir eben nicht vorstellen, wie das ist, wenn ein Mensch alles sehen möchte und nicht kann."

„Jurka, ich wette, du hast wieder ein Buch gelesen. Wie war das, wolltest du nicht viel reisen?"

„Das werde ich auch. Arzt sein und reisen. Die Kranken müssen manchmal zehn Jahre warten, bis sie zu einem Professor kommen können. Ich werde zu ihnen fahren."

„Mascha, hast du das gehört? Unser Jurka hat eine neue Leidenschaft entdeckt. Er wird Augenarzt mit Professorentitel und fährt zu seinen Patienten."

„Freilich habe ich es gehört", rief Mutter zurück.

„Meine Herren Professoren, darf ich Sie zu Tisch bitten. Gleich wird die Suppe kalt."

So war es immer. In den größten Augenblicken seines Lebens, jedesmal wenn Jurka den Wunsch verspürte, edelmütig zu sein, und merkte, daß er vor einer wichtigen, folgenschweren Entscheidung stand, wo er elterlichen Rat brauchte, wurde die Suppe kalt.

Er hatte jetzt keinen Appetit, sondern fühlte den Drang in sich, eine Heldentat zu begehen. Da kamen sie mit ihrem Essen. Eltern sind gewöhnt, den Sohn nicht für voll zu nehmen. Sie sehen mit gutmütigem Lächeln auf ihn herab und wollen nicht verstehen, daß er es ernst meint. In ihren Augen ist er ein Phantast, auf dessen Gerede man nur zum Spaß eingeht. Natürlich ist das leichter, als eine vernünftige Antwort zu geben.

Vater und Mutter blickten schmunzelnd das Söhnchen an, nicht etwa herablassend, ach wo, eher zärtlich. Aber gerade deswegen sollten sie nie etwas von dem blonden Mädchen erfahren, das immer aussah, als suchte es etwas in der Ferne.

Am Abend traf Jurka seinen Freund Petka auf der Straße. Sie sprachen über dies und jenes. Ihre Geheimnisse aber behielten sie für sich, wie es richtigen Männern geziemt. Der eine verriet nichts von seinem neuen Hemd, der andere nichts von seinem Entschluß, Arzt zu werden.

Sie suchten Dimka auf, um mit ihm zu vereinbaren, am nächsten Morgen schon eher aufzubrechen. Das Haus von Dimkas Eltern stand am Rande der Stadt, dort, wo die Taiga beginnt. In dieser Gegend war es still. Auf dem Weg stand dünnes Gras. In der Mitte verrieten Autospuren, daß der Tankwagen des Flughafens hier öfter durchfuhr.

Sie fanden Dimka am Zaun sitzend, den Rücken gegen die Latten gelehnt. In der Linken hielt er eine tönerne Katze mit einem Schlitz auf der Stirn. Das war seine Sparbüchse. Mit einem leimbeschmierten Stöckchen stocherte er in dem Spalt.

„Was machst du da eigentlich?"

„Ich will mein Geld zählen. Die Münzen habe ich rausgeschüttelt, aber die Scheine kommen nicht durch. Soll ich die schöne Katze zerschlagen? Das wäre doch ein Jammer."

„Wieviel hast du denn?"

„Es werden ungefähr acht Rubel sein."

„Wir haben gar nicht gewußt, daß du so reich bist", sagte Petka. „Als wir für das Boot sammelten, hast du drei Rubel gegeben. Du bist gemein, Dimka."

„Das ist nicht wahr. Ich spare für ein Gewehr. Wenn ich genug beisammen habe, seid ihr die ersten, die schießen wollen."

„Du kannst sparen, soviel du willst, aber nicht still und heimlich. Das ist unanständig."

„Was hängst du dich in fremde Angelegenheiten!" begehrte Dimka auf. „Ist es dein Geld?"

„Einen Augenblick, Petka", platzte Jurka dazwischen. Er befürchtete mit Recht, das Gespräch könnte einen unerwünschten Ausgang nehmen. „Dimka, wir wollen zwei Tage fortbleiben."

„Wenn ihr es so gut habt, daß eure Eltern einverstanden sind. Ich darf bestimmt nicht." „Wir dürfen auch nicht. Aber von uns aus kann kommen, was will. Wir fahren eben. Damit basta. Diesmal geht es nicht auf die Insel, sondern in die Taiga. Dort finden wir eher was." „Bestimmt", sagte Dimka gedehnt. „Fragt sich bloß, was. Ich dachte, wir hatten beschlossen, auf der Insel zu bleiben. Schön, fahren wir für zwei Tage, dann setzt es wenigstens was, und dann war alles umsonst."

„Wie meinst du das?"

„Nur so."

„Nein, sag, wieso war dann alles umsonst?" beharrte Petka.

„Wieso, wieso." Dimka zog behutsam einen Dreirubelschein heraus und legte ihn neben sich ins Gras. „Weil ihr nur hinter diesem Mädchen her seid. Da habt ihr ja das richtige Dornröschen gefunden."

„Sag das noch einmal."

„Denkst du, ich traue mich nicht?"

„Na los!"

„Dornröschen."

„Los, noch mal!"

„Dorn..."

Batz! Dimkas Sparbüchse flog ins Gras. Er sprang zur Seite. Dann überkam ihn die Scham, weil er ausgewichen war, und er stürzte sich auf Petka. Ihre Fäuste prallten aufeinander, in den Fingern knackten die Knöchel. Vor Schmerz verdoppelten beide ihre Kräfte. Wie irrsinnig hämmerten sie aufeinander los und fuchtelten blindlings mit den Armen, als wäre es ein Gefecht auf Leben und Tod. Alle Regeln eines ehrlichen Kampfes waren vergessen. Dimka versetzte Petka einen Tritt. Petka packte seinen Gegner am Hals. Als staubbedecktes Knäuel wälzten sich die ehemaligen Freunde auf der Erde. Jurka fühlte sich verpflichtet, einzugreifen. Er bekam einen von Dimkas Füßen zwischen die Finger und zog aus Leibeskräften daran. Zur Strafe erhielt er einen Tritt gegen das Schienbein. Hierauf versuchte er, die beiden Raufbolde an den Schultern auseinanderzuzerren, aber auch dies ohne Erfolg. Er steckte nur einen Nasenstüber ein. Nun verlor er die Geduld. Er wollte Dimka einen Tritt versetzen, traf aber Petka. Das brachte ihn zur Weißglut. Er wandte sich ab und trat beiseite.

Den beiden Kämpen ging die Puste aus. Sie mußten die Balgerei unterbrechen und hielten sich nur gegenseitig an den Händen. So lagen sie mitten auf dem Weg.

„Willst du das noch einmal sagen?" keuchte Petka heiser.

„Dorn...", röchelte Dimka.

Schon wälzten sich Beine und Köpfe wieder im Staub.

Es war alles sehr schnell gegangen.

Auf einmal spürte Petka, daß ihn jemand hochzog.

Ohne Überlegung stieß er zu und traf in etwas Weiches.

„Womit habe ich das verdient?" hörte er eine vertraute Stimme fragen. Viktor Nikolajewitsch, der Lehrer! „Issajew?"

Natürlich Issajew. Eine winzige Kleinigkeit nur brauchte dieser Issajew auszufressen, schon stand garantiert Viktor Nikolajewitsch vor ihm. War es da ein Wunder, wenn Petka auf den Gedanken kam, daß der Lehrer ihn heimlich verfolgte?

„Ich komme nicht wieder in die Schule", schrie er zornig. „Ich gehe ab. Warum spionieren Sie hinter mir her? Jetzt sind Ferien."

Viktor Nikolajewitsch nahm sich zusammen und entgegnete sanft: „Ich spioniere dir nicht nach. Ich kam zufällig vorbei. Da sah ich, wie ihr euch prügeltet."

Abermals fühlte sich Jurka veranlaßt, einzuschreiten. „Das war keine Prügelei, Viktor Nikolajewitsch. Sie hatten einen Streit, wer der Stärkere ist. Dann haben sie es ausprobiert."

Viktor Nikolajewitsch blickte von einem zum andern. Er dachte: Laufen mir Schüler über den Weg, ist todsicher dieser Issajew dabei. Was kann ich ihm sagen? Daß man sich nicht rauft? Als ob er das nicht selber wüßte. Soll ich ihm drohen? Aber womit, wenn er schon von sich aus bereit ist, die Schule zu verlassen?

Nie zuvor hatte Viktor Nikolajewitsch so brennend wie jetzt gewünscht, dem sonderbaren Burschen ein paar passende Worte zu sagen, damit er ihn verstand und nicht immer nur böse anstarrte. Er dachte: Issajew weiß sehr gut, was recht ist und was nicht, aber er ist noch ein Junge; jeder Junge tut gelegentlich, was er nicht tun dürfte.

Der Lehrer Rjabzew suchte nach den passenden Worten und fand sie nicht. Da eilte ihm der ehemalige Schüler Rjabzew zu Hilfe.

Der sprach aus ihm, als er sagte: „Soll das ein Ringkampf sein? Ihr müßt euch an die Regeln halten. Sobald einer auf den Schulterblättern liegt, ist der Kampf entschieden. Ihr habt beide schon mehrmals verloren. Meint ihr, ich hätte nicht gesehen, wie ihr euch auf der Straße wälztet?"

Die drei Jungen blickten erstaunt ihren Lehrer an. Begriff er wirklich nicht, daß es eine Rauferei gewesen war?

„Wir müssen also herausbekommen, wer von euch als erster unten lag", fuhr Viktor Nikolajewitsch beflissen fort. „Ich war noch etwas weit weg, daher konnte ich es nicht recht erkennen. Vielleicht hat Alenow besser gesehen?"

„Ich glaube, Dimka", meinte Jurka.

Petka, der unter keinen Umständen der Unterlegene sein wollte, knurrte bissig: „Ja, er."

„Nein, du", brauste Dimka auf, „du bist zuerst auf den Rücken gefallen."

„Versucht es noch einmal, ich bin der Schiedsrichter", schlug der Lehrer vor.

Petka und Dimka hatten ihr Mütchen gekühlt und auch genügend blaue Flecke, aber Viktor Nikolajewitsch tat, als wüßte er das nicht. Die beiden nahmen Aufstellung. Jeder legte dem andern die Hände auf die Schultern und schielte ihn von unten her an. Keiner wollte zu Boden gehen, doch die Griffe waren jetzt sanft, sie sollten nicht verletzen. Der Friede schien nicht mehr fern.


Eine Zeitlang stampften die Ringer auf der Stelle. Als Dimka stürzte, nahm er Petka mit. Wieder wälzten sie sich im Staub. Petka versuchte, sich über Dimka zu schieben. Ein Schulterblatt berührte schon die Erde, da riß sich Dimka los. Petka gab die letzten Kräfte her, kam auf den Gegner zu liegen und drückte ihn zu Boden.

,,Es war nicht richtig", rief Dimka, indem er sich schüttelte. „Man konnte noch eine Hand unter die Schulterblätter schieben. Ich habe eine Brücke gemacht."

„Dimka, das stimmt nicht", entschied Viktor Nikolajewitsch. „Es hat alles seine Richtigkeit. Nach den Regeln bleibt es aber nicht bei einer Partie. Ehe man weiß, wer wirklich der Stärkere ist, müssen etwa fünf Kämpfe ausgetragen werden. Nun, für den Rest braucht ihr mich nicht mehr."

„Es sollte doch gar kein Ringkampf sein", murmelte Petka.

Der Lehrer lächelte. „Auf Wiedersehen, Champion." Er ging mit großen Schritten weiter. Die Jungen blickten ihm schweigend nach.

„Na, Dimka, was ist, bleibst du auch für zwei Tage?" fragte Jurka.

„Was denn sonst? Wenn wir Pech haben, dann alle zusammen."

Petka scharrte mit dem Absatz auf der Erde. „Beruhige dich, wir werden kein Pech haben."

„Wie du ihn immer ansiehst", sagte der friedfertige Dimka zu Petka. „Richtig giftig. Dabei ist er gar nicht so. Nur noch sehr jung und unerfahren. Wenn er Erfahrung hätte, würden wir uns bei ihm nicht zu mucksen wagen."

„Also, worauf warten wir? Dort liegt deine Sparbüchse. Ist sie kaputt?" „Wennschon", sagte Dimka.

XI Die Expedition bricht auf

Als die drei das Lager erreichten, sahen sie, daß der Traktor das Bretterhäuschen bereits fortgezogen hatte. Arbeiter waren damit beschäftigt, die Habseligkeiten der Expedition in Kisten und Säcken zu verstauen. Was sie fertig verpackt und verschnürt hatten, wurde auf die Pferde geladen. Dann ging es zu zweit oder dritt ein Stück in die Taiga. Auf der Lichtung erblickten die Jungen mehrere Akkumulatoren, die mit Schutzhüllen versehenen Geräte, einen verrußten Ofen. Die Zelte waren bereits abgebrochen. Lediglich die rechtwinkligen Flecke des gelben, niedergedrückten Grases erinnerten daran, wo sie gestanden hatten.

In diesem Durcheinander kamen sich die Besucher höchst überflüssig vor. Besonders enttäuscht war Petka, der sein neues hellblaues Hemd angezogen hatte. Übrigens kümmerte sich niemand um sie. Lediglich Sergej Michailowitsch nickte ihnen aus der Ferne freundlich zu, und Tonja sagte im Vorübergehen guten Tag. Die Freunde streiften über die Lichtung, wanderten um den ehemaligen Lagerplatz, aber nirgends entdeckten sie Lena. Fragen wollten sie nicht. Die Leute waren alle zu sehr beschäftigt.

Endlich kam Tonja zu ihnen.

„Lena ist schon abgerückt, Jungs."

„Wo denn hin?"

„Auf einen anderen Lagerplatz. Dort ist auch ihr Vater."

Die Jungen glaubten, Tonja werde ihnen jetzt sagen, daß Lena auf sie gewartet und beim Abschied gebeten habe, die Gäste ja recht schön zu grüßen. Außerdem hofften sie zu hören, sie sollten doch, wenn irgend möglich, ihre kleine Freundin in der neuen Umgebung besuchen. Tonja sagte jedoch nichts von alledem. Überhaupt benahm sie sich recht merkwürdig. Sie schien verstimmt zu sein, preßte die Lippen aufeinander und blickte die Jungen an, als wäre sie ihnen böse.

Jurka hielt es nicht mehr aus. „Hat sie denn nichts bestellt?" fragte er.

„Nein." Tonja schwieg eine Weile. Dann erklärte sie: „Wißt ihr, Jungs, Lena ist furchtbar traurig. Professor Filatow ist gestorben. Wir haben es erst gestern erfahren. Er war doch ihre ganze Hoffnung. Wir wollten ihr nichts verraten, aber durch einen dummen Zufall hat sie es gehört."

Tonja machte mit den Händen eine Bewegung, die Hilflosigkeit ausdrückte, und entfernte sich. Die Jungen trafen Anstalten, ihr Boot aufzusuchen. Als sie ein paar Schritte gegangen waren, wurden sie angerufen.

„Was fällt euch ein, ohne Abschied fortzulaufen", beschwerte sich Sergej Michailowitsch. Er trat heran. „Vielleicht begegnen wir uns nicht noch einmal."

„Auf Wiedersehen", sagten sie wie aus einem Munde.

„Alles Gute, ihr Helden. Ich werde Lena erzählen, daß ihr hiergewesen seid."

Er zog die Brauen zusammen, als sei ihm plötzlich noch etwas eingefallen, und sagte: „Ihr müßt verstehen, der Professor war der einzige Lichtblick in ihrem Leben. Sie ist noch nicht allzulange blind, erst anderthalb Jahre. Seitdem sparen Vater und Tochter für die weite Reise. Eine Mutter hat Lena nicht mehr, und der Vater arbeitet hier, um mehr zu verdienen. Im Herbst wollten sie fahren."

„Daraus wird nun nichts." Petka starrte finster vor sich hin.

„Sie werden trotzdem fahren. Ein Mensch ist gestorben, aber sein Werk lebt", entgegnete Sergej Michailowitsch zuversichtlich. „Da sind die Schüler, da ist die Klinik. Nur liegen die Dinge bei Lena etwas schwierig. Begreift ihr, was es heißt, die Hoffnung zu verlieren? Lena hat an den Professor geglaubt. Versteht ihr? Nicht an sein Werk, sondern an ihn persönlich. Sie wußte: In Odessa lebt ein Professor Filatow, er wird mich binnen eines Monats gesund machen. Nun gibt es diesen Professor nicht mehr. Sie kann sich gar nicht beruhigen. Wir sind schon ganz ratlos."

Die besondere Wärme, mit der Sergej Michailowitsch dieses „wir" aussprach, verriet den Jungen, daß Lenas Leid das Leid aller war. Offenbar mußte das so sein, wenn man viel umherzog und ein an Schwierigkeiten reiches Leben führte. Die Leute waren gewöhnt, den Schmerz wie das Brot miteinander zu teilen.

„Und ihr, meine Herren Reisenden, habt ihr es noch weit heute?" fragte Sergej Michailowitsch.

„Den Fluß rauf. Werden schon sehen."

„An den Stromschnellen vorbei?"

„Ja."

„Ihr denkt wohl, daß ihr dort das Gesuchte findet?"

„Lena?" fragte Petka. „Atlantis." Jurka horchte auf.

„Atlantis?"

„Mädchen können nichts für sich behalten", meinte Dimka. „Ich habe es gleich gesagt. Da sieht man, was ein Versprechen wert ist. Sie wollte es keinem erzählen."

Sergej Michailowitsch lachte. „Ich bin so gut wie keiner. Bei mir geht das zu einem Ohr rein, zum andern raus. Allerdings werdet ihr Atlantis in dieser Gegend kaum finden. Das liegt im Atlantischen Ozean, im Gebiet der Azoren. Obgleich sich die Gelehrten bis heute nicht einig sind, wo sie nun wirklich suchen sollen. Die einen vermuten es im Mittelmeer, andere im Schwarzen Meer, manche sogar im Eismeer."

„Und hier keiner?" fragte Jurka enttäuscht.

„Hier?" Sergej Michailowitsch blinzelte. Er blickte den Jungen aufmerksam an und meinte fröhlich: „Ausgeschlossen ist es nicht. Macht nur schön die Augen auf. Hauptsache, ihr verirrt euch nicht. Sonst müßt ihr nachher noch gesucht werden. Da, das schenke ich euch."

Er hielt ihnen einen Kompaß hin.

„Danke, damit sind wir versorgt."

„Mit so etwas nicht."

Es war ein Kompaß wie eine Uhr. Er hing an einem Riemen. Nein, so etwas hatten sie tatsächlich nicht aufzuweisen.

„Dann lebt wohl. Vielleicht lauft ihr mir noch einmal über den Weg. Schönen Dank für Lena."

„Wieso für Lena?"

„Wenn ihr älter seid, werdet ihr es verstehen."

Sergej Michailowitsch gab jedem von ihnen die Hand. Dann ging er davon.

Wenige Minuten später war die Kette der Arbeiter in der Taiga verschwunden. Die Stimmen klangen schwächer und verhallten schließlich. Dafür hörte man jetzt andere Geräusche: das Rauschen des hohen Grases, das Knarren der Baumstämme, fröhliches Vogelgezwitscher.

Die Gedanken der Jungen begleiteten alle, die fortgezogen waren, Wege und Pfade verschmähend, quer durch den Wald.

,,Wollen wir nicht leise hinterhergehen?" schlug Petka vor. „Vielleicht ist es gar nicht schlimm."

„Hinterhergehen?" fragte Dimka argwöhnisch.

„Na ja."

„Und Atlantis?" gab Jurka zu bedenken.

„Der braucht jetzt kein Atlantis", meinte Dimka, „der braucht nur..." Er biß sich auf die Lippen.

Petka hatte schon die Fäuste geballt. Er musterte den Freund, hart und ohne Wimper zucken, wie ein Erwachsener. Daß er nichts sagte, nur mit den Augen sprach, machte seine Drohung besonders gefährlich. Dimka ahnte, daß er in diesem Kampf haushoch unterliegen würde.

„Wir wollten zusammen Atlantis suchen", sagte er kleinlaut, „das war vereinbart." Petka machte eine scharfe Kehrtwendung und ging zum Boot.

Es wehte ein kühler Wind. Der Fluß glich einem gegen den Strich gebürsteten Teppich. Graue Wolkenfetzen segelten über den Himmel. Vorzeichen eines nahenden Unwetters. Vor den Stromschnellen nahm die Strömung zu. Die Jungen mußten sich häufiger beim Rudern ablösen. Der Bug zerteilte das Wasser. Niedrige Wellen rasten gegen die Wände des Bootes und zerschellten. Auf dem Fluß zeigten sich trichterförmige Strudel. Mitunter hatten die Jungen das Gefühl, jemand säße unter der Oberfläche, hielte zum Schabernack die Ruder fest und zöge daran.

Dann sahen sie die Stromschnellen. Davor lagen schaumgekrönte Steine. Nur in der Mitte des Flußbettes gab es eine schmale Rinne. Die aufgewühlten Wassermassen wälzten sich tosend hindurch.

Die Jungen kletterten ans Ufer. Sie waren barfuß und rutschten auf den glitschigen Steinen aus, schleppten aber unentwegt das Boot.

„Zurück ist es ein Kinderspiel", verkündete Petka. Die Tunguska tobte so laut, daß er schreien mußte. „Los, runter zur Fahrrinne!"

Jurka und Dimka wiegten bedenklich die Köpfe. Sie hatten nichts gegen Abenteuer, aber mit den Stromschnellen war nicht zu spaßen. An dieser Stelle waren schon Kutter gekentert und Menschen ertrunken. „Das Wasser ist gestiegen", schrie Petka. „Wir müssen uns beeilen."

Weiter oben hatte es geregnet. Der Fluß schien zu gären. Er trat über die Ufer. Unaufhörlich schwollen die Fluten, rissen morsche, um die Achse kreiselnde Baumstämme mit in die Ferne. Am Unterlauf stauten sich die Nebenflüsse. Auch hinter den Schnellen war die Strömung so stark, daß die Jungen noch lange treideln mußten.

Der Wind nahm zu. Vom hohen Ufer aus peitschte er das brodelnde Wasser und trieb es empor.

Die Jungen kämpften gegen den Sturm und gegen die Strömung. Endlich hatten sie genug, zogen das Boot aufs Trockene, kletterten die Böschung hoch und gingen durch die Taiga.

XII Feuer

Der Sturm heulte in der Taiga. Er tobte pausenlos, mit unverminderter Gewalt, als wäre am Ozean ein Tor aufgesprungen und das hätte einen noch nie dagewesenen Durchzug verursacht.

Schmutzige Schwaden flatterten niedrig über die Kronen der Bäume dahin. Die Kiefern, die auf der Nordseite kahl waren, winkten ihnen mit krummen Zweigen nach. Alles gehorchte dem Sturm — nur die Sonne nicht; sie glomm matt durch die Wolken und schien ein Stückchen weiter nach Norden gerückt zu sein.

Noch nie hatten sich die Jungen so lange in der Taiga aufgehalten. Es war unwegsam, alles andere als gemütlich. Nicht einmal einen Pfad gab es. Stellenweise stand der Wald so dicht, daß die alten Bäume nicht zu Boden stürzen konnten, sondern an den Ästen ihrer Nachbarn hängenblieben und in dieser Lage langsam verfaulten. Auf den Lichtungen wuchs trockenes Gras. Wenn der Sturm über die Halme strich, brachte er sie zum Klingen. Durchs Dickicht irrten blaue Schatten. Weiter entfernt wirkte die Taiga wie erstarrt. In dieser Reglosigkeit lag etwas Ewiges, Bedrückendes.

Die Jungen waren in der Nähe geboren und aufgewachsen. Sie kannten die Taiga, fürchteten sie nicht, wußten, daß sie aus Bäumen, Gras, Gestrüpp besteht, daß alles, was in ihr Nase und Ohren besitzt, vor einem Menschen die Flucht ergreift. Nur dem Geduldigen und Behutsamen zeigt sich der Wald, wie er wirklich ist. Angst verspürten die Jungen also nicht. Nie wären sie auf den Gedanken gekommen, daß ihnen etwas zustoßen könnte.

Sie wanderten nach Norden, bahnten eine Gasse durch das Gras, das sich hinter ihnen wieder schloß. Natürlich ging es nur langsam voran. Aber schweigend drangen sie unverdrossen vorwärts, bis ihnen schien, daß sie bereits lange unterwegs waren und den Fluß weit hinter sich gelassen haben mußten. In Wahrheit hatten sie zwei Kilometer zurückgelegt. Dimka stöhnte. „Nun laufen wir schon eine Ewigkeit durch die Taiga, und der Erfolg ist gleich Null."

„Du hast wohl gedacht, daß dir alles in den Schoß fällt?" fragte Petka.

„Mir knurrt der Magen." Dimka konnte einem auf die Nerven fallen. „Und die Kartoffeln haben wir im Boot gelassen. Die Graupen ebenfalls. Wenn es regnet, sind sie hin. Bin dafür, daß wir umkehren."


Sie waren alle seit langem müde und hungrig, nur hatte sich bisher niemand eine Blöße geben wollen. Als Dimka zu reden anfing, fühlten sich die beiden anderen erleichtert.

Sie waren durchaus dafür, eine Rast einzulegen, ließen sich, wo sie standen, umsinken und verharrten einige Minuten ausgestreckt, schweigend im Gras. Zum erstenmal hatte Jurka das Gefühl, mit dem Spiel gehe es bald zu Ende, obwohl er noch meinte, das Suchen müßte eine Freude sein, wenn man wenigstens von Zeit zu Zeit einen kleinen Erfolg sähe. Petka dagegen bedauerte, daß sie nicht doch nach Osten gewandert waren. Bei einem pausenlosen Marsch durch die Taiga hätten sie die Expedition vielleicht eingeholt. Er stellte sich vor, wie er zu Lena sagen würde, sie müsse unbedingt nach Odessa fahren, da Hoffen und Suchen immer noch besser seien, als untätig herumzusitzen. Dimka aber dachte an die Karpaten. Wie es hieß, gab es dort sogar im Winter Obst, soviel das Herz begehrte. Weiter wußte er nichts von dieser verlockenden Gegend, nicht einmal, wo er sie auf dem Atlas suchen sollte.

Sie lagen müde im Gras. Jeder hing seinen Gedanken nach. Auf einmal merkten alle, daß etwas nicht stimmte. Sie spitzten die Ohren. War das ein komisches Knacken und Knistern, als kribbele, als wimmele der ganze Wald.

Nachdem Petka „guckt mal!" geschrien und nach oben gezeigt hatte, sahen auch Dimka und Jurka die Eichhörnchen, die über ihnen von Ast zu Ast turnten, unzählig viele, in verschiedenen Tönungen: rostbraune, rötlich schimmernde, fuchsige mit dunklen Schwänzen, dunkelbraune mit Längsstreifen auf den Rücken. Es war, als habe der Wind diese riesige Herde hergetrieben. Gewandt, mit sicheren Sprüngen wechselten die Tiere von Baum zu Baum. Wo der Abstand sehr groß war, glitten sie spiralig den Stamm hinab, liefen ein Stück auf ebener Erde, hastig in den Bewegungen, nervös, scheinbar ziellos und doch in eine Richtung. Sie alle folgten dem gleichen Wunsch, recht bald den Fluß zu erreichen.

Eine Eichhörnchenwanderung in diesem Ausmaß hatten die Jungen noch nicht erlebt. Sie sprangen auf die Füße.

Sogleich gabelte sich der Strom der wandernden Tiere, huschte links und rechts an dem Hindernis vorbei, ohne einen Augenblick im rasenden Lauf innezuhalten.

„Sie fliehen", flüsterte Dimka. „Wovor haben sie Angst?"

„Sind das viel!" staunte Jurka.

Wenige Sekunden später brach ein Elch durchs Dickicht, schwer beladen mit seinem Geweih, lautlos. Die Jungen würdigte er keines Blickes, tat, als wären es Bäume und keine Menschen.

Petka und seine Freunde kamen aus dem Staunen nicht heraus. Sie waren schrecklich aufgeregt. Der Wald gab seine Geheimnisse preis. Eine unbekannte Kraft hatte sich der Tiere bemächtigt, ein Zauber, der größer sein mußte als die Furcht vor den Menschen.

„Was haben sie nur?" fragte Petka. Es war die letzte Frage. Sie spürten Brandgeruch, sahen auch bald den Rauch, der über die Bäume quoll, dünn und durchsichtig zuerst. Kurze Zeit darauf verschwammen die Umrisse der Stämme.

Dort, woher der Wind kam, brannte es. Noch stand der Fluchtweg offen. Aber die Jungen schritten dichter an das Feuer heran. Sie wollten den Brand sehen, bevor sie umkehrten.

Je weiter sie vorrückten, desto dichter wurde der Rauch. Der Wind zerwühlte die Nadelbüschel der Bäume. Darunter regte sich kein Lüftchen. In einer Senke standen die Schwaden wie Wasser in einem See. Die Freunde wateten hindurch. Sie waren froh, als sie eine höher gelegene Stelle erreichten. Zu ihren Füßen schwieg alles. Dieses Schweigen hatte mit der geheimnisvollen Stille, die sonst im Wald herrschte, nicht das geringste gemein. In weitem Umkreis war die Taiga von ihren Bewohnern verlassen. Blauer Rauch hing in der Luft, schwebte um die Bäume, die wie betäubt die Zweige hängen ließen, zum Umfallen schwach, teilnahmslos.

Die Jungen erwarteten, einen emporsprühenden Funkenregen zu sehen, eine lodernde Feuersbrunst, die boshafte Munterkeit um sich fressender Flammen, deren Anblick bange machte und fröhlich zugleich. Doch sie sahen nichts als Rauch. Anfangs waren sie enttäuscht. Dann wurde ihnen unheimlich. Der Rauch schien die Welt zu füllen. Er war überall, wohin sie sich wandten. Die weißlichen Schwaden und der still in den Bodensenken stehende Nebel nahmen kein Ende.

„Jetzt kriegen mich keine zehn Pferde weiter", erklärte Jurka.

Sie blieben stehen.

„Ich habe schon Ohrensausen von dem Qualm", jammerte Dimka.

Petka überlegte.

,,Na gut", sagte er dann, „dort vorn gibt's sicher auch nichts anderes zu sehen."

Es sollte ein ehrenvoller Rückzug werden, kam jedoch ganz anders, als die Jungen gedacht hatten. Kaum waren sie umgekehrt, begann die Nebelwand zu schwanken. Der Rauch quoll über die Niederungen hinaus, die Streifen und Schwaden gerieten in Bewegung. Zuerst vermuteten die Jungen, der Wind, der sich gelegt hatte, käme wieder auf und fegte erneut durch den Wald. Dann bemerkten sie, daß in allem, was geschah, ein gewisses System lag, als hätte jemand die Bewegungen aufeinander abgestimmt. Nun wurde klar: Der Rauch war zum Angriff übergegangen. Er drang von allen Seiten auf die Jungen ein.

Die hatten auf einmal große Eile und zogen es vor zu rennen, Schulter an Schulter, um einander nicht zu verlieren, denn was jetzt jeder von ihnen am meisten fürchtete, war, alleingelassen zu werden.

Als Dimka strauchelte, versuchte er sich zu fangen, schlug aber der Länge nach hin. Seine Freunde liefen weiter, zwei, drei Schritte, nicht mehr, doch Dimka kam es vor, als hätten sie sich, während er auf dem Boden lag, unendlich weit und auf alle Ewigkeit von ihm entfernt.

„Halt", schrie er, „Petka, Jurka!" Die Freunde blieben stehen.

Dimka, der sich hochgerappelt hatte, kam schnaufend heran. „Ihr Esel", schrie er, „habt ihr nicht gesehen, daß ich gefallen bin?"

„Brülle nicht!" wies ihn Petka zurecht. „Haben wir dich im Stich gelassen? Du siehst doch, daß wir warten."

Sie liefen weiter.

Vor ihnen war die Welt in weißen, bitter schmeckenden Nebel getaucht. Unmöglich, noch einmal anzuhalten. Die Angst beherrschte sie vollkommen und jagte einen wie den andern unerbittlich vorwärts, aufs Geratewohl, dorthin, wo es heller wurde.

Noch rannten sie zu dritt. Dann kam die Stelle, wo Jurka abbog.

Er lief zwei, drei Meter zur Seite, weil die Krone eines umgestürzten Baumes ihm den Weg versperrte. Nicht eine Sekunde ließ er die Kameraden aus dem Auge — bis sein Fuß ins Leere trat und er in eine Mulde stürzte. Seine Finger spürten die trockene, weiche Taigaerde. Jurka hatte sich nicht weh getan. Er befand sich in einem Zustand, wo man keinen Schmerz mehr empfindet.

Im Nu war er wieder auf den Beinen und schrie in den trüben, grauen Nebel, der über ihm schwamm: „Hier bin ich. Wartet, ich klettere raus."

Niemand antwortete.

Da warf er sich verzweifelt auf den steil ansteigenden Boden. Unter seinen Sohlen gab die Erde nach. Er rutschte, lief noch tiefer herab, um unten nach einem Ausweg zu suchen, rannte, was die Kräfte hielten, aber die Mulde nahm kein Ende.

Als das Wasser aufspritzte, wurde ihm bewußt, daß er in einem Bach stand. Er fühlte seine Einsamkeit, begriff: Ich bin allein — allein im brennenden Wald. Grund genug, um zu weinen. Das hätte er vielleicht auch getan, wäre die Zeit nicht zu kostbar gewesen. Da er nicht verweilen durfte und es bergab leichter war, folgte er dem Lauf des Baches. So wählte er durch Zufall, aus keinem anderen Grunde, als um es bequemer zu haben, die Richtung, in der die Rettung lag.

Eine halbe Stunde später führte ihn der Bach an den Fluß. Dort stand das Boot. Es schien auf ihn zu warten. Am Ufer spürte er den kalten Wind, der ihm heftig um die Ohren sauste. Das war wie im Traum, wie ein großes, unfaßbares Wunder.

Dann fielen ihm Dimka und Petka ein. Es wollte ihm scheinen, nicht seine Freunde hätten ihn, sondern er habe sie im Stich gelassen. Er dachte daran, daß es schrecklich und einfach unmöglich wäre, ohne sie nach Hause zu kommen, und er beschloß, hier zu warten — sei es einen ganzen Monat.

Endlich kamen die Tränen. Jetzt hatte er genügend Zeit zu weinen.

Daß Jurka verschwunden war, merkten Dimka und Petka fast gleichzeitig.

„Halt", schrie Petka, „wo ist Jurka?"

„Eben war er noch hier."

„Los, zurück!"

„Geh du, ich warte hier", erwiderte Dimka.

Petka machte kehrt. Er erinnerte sich: Als der Baum im Weg lag, waren er und Dimka drübergeklettert.

Jurka hatte einen Bogen gemacht. Petka ging um den Baum herum. Er sah die Mulde und suchte. Unten war niemand.

„Jurka!" rief er.

Der Rauch dämpfte seine Stimme. Im Wald war alles wie taub. Kein Echo klang zurück.

Petka kehrte um.

„Nichts. Komm mit, wir suchen beide."

„Wie können wir suchen?" stieß Dimka hastig hervor. „Siehst du nicht, was hier los ist? Wir kommen selber nicht mehr raus. Weißt du, Petka, er wird schon vor uns sein."

Diese Erklärung leuchtete Petka ein. Er glaubte, daß Dimka recht hatte, ja er war davon überzeugt — weil er wünschte, daß es so sei. Auf einer Stelle stehen war schlimmer als sich bewegen. Sie liefen weiter. Der Qualm wurde dichter. Er schien aus dem Boden zu steigen. Die Stämme waren dick verschleiert, sahen unwirklich aus, verschwommen, trübe, grau. Bald wußten die Jungen nicht mehr, ob die Richtung noch stimmte. Sie drehten sich in einem großen Kreis. Den Punkt, der am weitesten vom Feuer entfernt war, hatten sie längst durchlaufen. Sie näherten sich der Brandstätte.

Bald wurde es heller. Das machte ihnen neuen Mut. Sie stürzten förmlich vorwärts. Der Rauch war jetzt nur noch hinter ihnen. Sie sahen die Flammen. Dicht über dem Waldboden brannte das Feuer nur spärlich, es kroch träge von Busch zu Busch, auf gewundenen Bahnen, immer dort entlang, wo es Nahrung fand. Doch oben in den Kiefern und Zedern sprang es von Wipfel zu Wipfel, und in der Tiefe des Waldes loderte es mit dunkelroten Zungen empor, wie aus einem riesenhaften Scheiterhaufen. Der Rauch stieg in die Höhe, wurde über den Bäumen vom Wind erfaßt und nach unten gedrückt. Hinter den Kindern ging er in dichten Schwaden zu Boden.

Die beiden standen auf einer großen Lichtung. Auch hier war die Luft heiß, kratzte in der Kehle, stach die Gesichter wie mit tausend Nadeln. Die Haut war zum Zerreißen gespannt.

Dimka und Petka wandten sich ab. Sie rasten zurück in den schmutzig weißen Nebel, aus dem sie gekommen waren. Beim Rennen klopfte in den Schläfen das Blut, immer ärger, immer lauter, je länger sie liefen.

Unerwartet verlor Petka das Gleichgewicht. Mit vollem Schwung stürzte er in einen Strauch. Die Zweige waren biegsam und frisch. Er klammerte sich daran fest, hing sekundenlang reglos über der Erde.

„Dimka!"

Dimka wandte den Kopf. Er blieb stehen, um zu sehen, was los war, kam sogar einen Schritt zurück.

„Dimka!" rief Petka noch einmal, aber jetzt klang seine Stimme merkwürdig dumpf und schwach. Dimka fürchtete sich vor dieser Stimme. Ein heftiges, unwiderstehliches Mitleid mit sich selber überkam ihn. Wenn nun plötzlich auch er hilflos im Gebüsch liegen und so schrecklich schreien müßte? Soweit durfte es nicht kommen. Noch konnte er fortrennen, fliehen. Zwar schmerzte der Kopf, in den Schläfen hämmerte das Blut, aber er würde sich retten. Die Angst trieb ihn unerbittlich vorwärts. Aufs neue begann er den sinn- und endlosen Lauf im Kreis.

Petka sah seinen Rücken. Bald verschwand auch der. Da rappelte er sich, von namenlosem Entsetzen gepackt, hoch, ließ die Zweige fahren und fühlte, wie unter ihm der Boden zu rasen begann.

Auch Petka lief im Kreis.

Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er stolperte und hinschlug. Seine Hand griff in etwas Warmes, Weiches. Das war Dimka.

Die beiden großen Kreise hatten sich an diesem Punkt geschnitten.



Dimka war bewußtlos. Vielleicht ist er tot, dachte Petka, aber die Freude darüber, daß er nun nicht mehr allein zu sein brauchte, überwog alles. Er knuffte und schüttelte den Freund. Dimka rührte sich nicht. Schließlich schleifte Petka ihn an den Armen fort. Er war selber schwach und alles andere als ein Held, aber er brauchte Dimka. Einen Freund bei sich zu wissen — wenn auch einen reglosen und stummen wie jetzt Dimka —, war immer noch besser als allein zu sein.

Nach hundert Schritten verließen Petka die Kräfte. Er sank neben Dimka auf den Waldboden. So lagen sie beide in der Taiga, hörten nichts von dem Scharren der Schaufeln, vom Klopfen der Äxte. Sie sahen die Menschen nicht, die herbeigeeilt waren, um eine Schneise zu schlagen und dem Feuer Einhalt zu gebieten, vernahmen die Stimmen nicht, die ihre Namen riefen.

Undeutlich wie im Traum spürte Petka, daß ihn jemand an den Schultern rüttelte. „Alenow", klang es an sein Ohr, „Alenow", schwach, leise, als summte eine Mücke. Noch immer wurde er geschüttelt.

Als Petka endlich die Augen aufschlug, erblickte er über sich das Gesicht des Lehrers. Daran war weder etwas Erfreuliches noch etwas Besonderes. Viktor Nikolajewitsch hatte ein wachsames Auge auf Issajew. Petka wußte das aus Erfahrung. „Alenow — Petka, wo ist Alenow? Hörst du? Wo ist Jurka Alenow?"

„Dort", flüsterte Petka kaum hörbar. „Wo? Zeig es mir."

Es war nur noch ein Piepsen. Dann wurde es still. Das Gesicht des Lehrers verwandelte sich in das der Mutter und verschwand.

XIII Wasser

Derselbe Wind, der das Feuer durch den Wald gejagt hatte, schob vom Ozean drohende Regenwolken heran. Über der Tunguska färbte sich der Himmel grau. Im Gebiet des Mittellaufs gingen schwere Regengüsse nieder. Die Mitteilungen der Wetterwarten waren an diesen Tagen einförmig und kurz.

„Regen", meldete Tura.

„Regen", hieß es in Iskup.

„Regen", bestätigte trostlos auch Bachta.

Das Wasser rann in alle Mulden und Senken. Es floß in die angeschwollenen Bäche. Die Bäche wurden zu Flüßchen, die Flüßchen zu Flüssen. Die Flüsse ergossen sich in die Tunguska, die ihre trübe, stark gestiegene Flut hastig auf den Jenissei zuwälzte, um die ungeheure Bürde loszuwerden.

Von den Wolken blieb Ust-Kamensk verschont, die zogen weiter östlich vorüber, nicht aber vom Regenwetter. Dafür sorgte die Tunguska. Sie erreichte einen Stand fast wie im Frühling, wirbelte die an ihren Ufern lagernden Holzstapel durcheinander, riß einen zur Reparatur aufgestellten Kutter um, würde, falls das so weiterging, oberhalb der Stromschnellen sicher noch das Tau einer Barke kappen.

Auf dieser Barke befand sich Lena.

Sie saß inmitten von Drahtrollen, Schlafsäcken und Kissen in der kleinen Kajüte und lauschte dem Glucksen des Wassers, dem Klappern des Sperrholzes auf dem Dach. Die Barke legte sich auf eine Seite, rutschte scharrend über die Steine, stieß gegen das Ufer.

Lena biß sich auf die Lippen.,,Von mir aus", flüsterte sie, „von mir aus. So ist es richtig."

Sie fühlte sich einsam. Vor einer Stunde war Ljoschas Zelt zusammengeklappt. Ljoscha hatte das sehr lustig gefunden. Gelacht hat er, dachte Lena empört.

Professor Filatow ist tot, alles ist stehengeblieben, kalt und still geworden, er aber hat gelacht.

Die anderen hatten in Ljoschas Lachen eingestimmt.

Da hatte sich Lena zutiefst gekränkt gefühlt, mit keinem mehr sprechen wollen und die Einsamkeit gesucht.

„Von mir aus", flüsterte sie wieder und legte in diese Worte alles hinein, was sie empfand: ihren Ärger über den Wind, der auf dem Dach mit dem Sperrholz klapperte, ihren Zorn auf Ljoscha — und auf Sergej Michailowitsch, der den dummen Einfall gehabt hatte, das Lager an einen Ort zu verlegen, wohin Petka und seine Freunde bestimmt nicht zu Besuch kommen konnten.

Alles war wie verhext auf der Welt.

Während Lena noch darüber nachdachte, wie schlecht es jetzt war, merkte sie, daß die Barke nicht mehr hin und her gestoßen wurde. Das Brett, das mit dem andern Ende auf dem Ufer lag, polterte gegen die Bootswand und schlug ins Wasser.

„Von mir aus", wiederholte Lena, diesmal ohne den Sinn der Worte zu erfassen.

Sie tastete sich an Deck. Was für eine merkwürdige Stille auf einmal eingetreten war. Die Steine knirschten nicht mehr, der Wind schwieg, die Sperrholzplatte hatte zu klappern aufgehört. Nur die Wellen schwappten noch mit bösem, kurzem Klatschen gegen die Wände.

Lena wußte, daß die Strömung das Schiff losgerissen hatte, ängstigte sich jedoch nicht sonderlich. Sie schwamm auf einem Fluß, nicht im Meer. Über kurz oder lang mußte die Barke wieder ans Ufer getrieben werden. Es war alles halb so schlimm.

Während Lena diese Überlegung anstellte, ließ Sergej Michailowitsch alles stehen und liegen, um am Fluß nach dem Rechten zu sehen. An seiner Seite schritt Ljoscha. Er sollte die Schlafsäcke von der Barke holen. Als sie das Ufer erreichten, wunderten sie sich, daß die Barke nirgends zu sehen war. Zunächst glaubten sie, sich in der Stelle geirrt zu haben.

Ljoscha lachte sogar auf. „Eine Fata Morgana", rief er, „und was für eine! Bei einer gewöhnlichen Fata Morgana erblickt man, was gar nicht vorhanden ist. Wie sich zeigt, kann es auch umgekehrt sein. Was sagen Sie dazu, Genosse Vorgesetzter?"

„Das ist keine Fata Morgana", entgegnete Sergej Michailowitsch, der blaß geworden war, und deutete auf das um einen Baumstamm geschlungene Tauende. „Die Stromschnellen, Ljoscha."

Sie sahen den Fluß hinunter und entdeckten die Barke, die mit der Strömung trieb. Ohne noch ein Wort zu verlieren, setzten sich beide Männer in Bewegung. Die Schuhsohlen quietschten auf dem Sand. Sie rannten mit kurzen Trippelschritten wie auf einer Eisbahn, stolperten über Steine, fielen hin. Noch wußten sie nicht, was zu tun war, sondern folgten einfach dem Drang, näher an die Barke heranzukommen. „

Quer durch die Taiga", keuchte Ljoscha. An dieser Stelle machte die Tunguska einen weiten Bogen. Um den Weg abzuschneiden, schlugen sich die Männer durch dorniges Gebüsch. Ihre Hemden gingen in Fetzen. Ein Zweig, den Ljoscha zurückschnellen ließ, traf Sergej Michailowitsch mitten ins Gesicht. Gut, daß es nicht in die Augen ging, dachte er mechanisch, sonst würden wir es bestimmt nicht schaffen.

Völlig zerschunden kollerten sie die Böschung hinunter. Am Ufer lag ein Boot. Ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie es an diese Stelle gekommen sein mochte, sprangen sie hinein und stießen ab.

„Sergej Michailowitsch", schrie Jurka aufgeregt, „wo wollen Sie hin?"

Erst jetzt gewahrten sie den Jungen, der zusammengekauert im Heckteil hockte.

„Los, raus mit dir!" schrie Sergej Michailowitsch.

Das war leichter gesagt als getan. Die Barke näherte sich den Stromschnellen und das Ruderboot der Barke. Man durfte keine Minute verlieren. Sie würden entweder zu viert umkommen oder gemeinsam das Ufer erreichen.

Als das kleine, schon bedenklich mit Wasser gefüllte Fahrzeug gegen die Barke rannte, war Lena nicht auf Deck. Sergej Michailowitsch angelte nach oben, stieß sich mit den Beinen vom Bootsrand ab und landete mit Schwung auf der Barke. Infolge des Stoßes legte sich das Boot auf die Seite und schöpfte noch mehr Wasser. Ein verzweifelter Ruderschlag Ljoschas brachte das Boot wieder an die Barke heran. Abermals schwappte Wasser über den niedrigen Rand. Ljoscha half Jurka hinaufzuklettern, griff in den Ankerring und schwang sich gleichfalls an Bord. Als Sergej Michailowitsch und Lena aus der Kajüte kamen, schaukelte das orangefarbene Boot bereits in großer Entfernung.

Die Strömung nahm zu. In rasender Hast jagten die Ufer vorüber. Die Stromschnellen waren nicht mehr fern. „Den Anker werfen!" schrie Sergej Michailowitsch.

Eilfertig packte Ljoscha zu. Der Anker flog über Bord. Ein Ruck lief durch die Barke. Die Kette spannte sich straff, erschlaffte jedoch gleich wieder. Eine Sekunde später erschütterte ein erneuter Stoß das Deck. Abermals riß sich die Barke los und trieb weiter auf die Stromschnellen zu. Der selbstgefertigte Anker scharrte über den Grund. Er faßte nicht.

Sergej Michailowitsch stand mit zusammengepreßten Lippen neben Lena, die spürte, wie seine Hand hart wurde. Im Bug lehnte Ljoscha. Er sprach pausenlos vor sich hin und glich einem Schamanen, der Beschwörungsformeln durch die Zähne murmelte. Die Strömung trieb das Boot dichter ans rechte Ufer heran. Dort wurde es flacher, der Grund war steinig. Wiederum straffte sich die Ankerkette. Sie klirrte. Die Barke drehte sich am Ort. Das Wasser sprudelte gegen den Bug. Die Ufer standen still. Schaumflocken huschten vorbei, halb untergesunkene Äste und Zweige. Bis zu den Stromschnellen war es kein Kilometer mehr.

Jeder der vier Menschen an Deck beurteilte die Lage auf seine Weise. Sergej Michailowitsch starrte ernst und finster in die Taiga. Er hoffte auf ein Wunder. Jurka schloß die Augen, weil er die reißende Strömung nicht mehr sehen konnte. Ljoscha fluchte. Lena begriff noch nicht, was vorgefallen war. Tief und dumpf sang die straff gespannte Ankerkette. Der Wind eilte der Strömung zu Hilfe. Nochmals riß sich die Barke los und trieb etwa fünfzig Meter weiter, bis sie wieder stillstand. Ein Kreuz ist das mit dem Anker, dachte Ljoscha, so ein Murks.

„Warum gehen wir nicht an Land?" fragte Lena. „Gleich, Kleine, gleich", antwortete Sergej Michailowitsch eilfertig. „Einstweilen liegen wir vor Anker. Wir müssen überlegen, an welchem Ufer wir festmachen können."

Als er sah, daß Jurka eine mißmutige Grimasse zog, legte er einen Finger auf die Lippen. Das sollte heißen: Halt mir ja den Mund! Jurka wiegte kraftlos den Kopf. Entsetzt, zugleich voller Hoffnung blickte er Sergej Michailowitsch an. Der wußte auch keinen Rat. Er winkte den Jungen heran und forderte ihn auf, sich neben Lena zu setzen.

„Warte", raunte er ihm zu, bemüht, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, „wir werden uns schon etwas ausdenken." Danach ging er zu Ljoscha.

„Wie hast du mich bloß gefunden?" fragte Lena erstaunt. „Und wo sind die anderen?"

„Ich — ich kam zufällig vorbei — und — und da sah ich die Barke — und — und da dachte ich, daß du hier bist."

„Und wo sind Petka und Dimka?"

„Zu Hause", log Jurka. Er dachte: Hauptsache, daß Lena jetzt nichts merkt. Er hatte Angst, schluckte sie aber tapfer hinunter. Immer wieder schlug ihm das Gewissen. Er kam sich schlecht vor, weil er die Freunde »im Stich gelassen hatte. Sein einziger Trost war der Gedanke, daß er einen Teil seiner Schuld tilgen könnte, wenn er jetzt besonders tapfer wäre.

„Wir waren im Lager", sagte er schnell und so laut, daß die Furcht nicht durchklang, „trafen dich leider nicht an. Sergej Michailowitsch hat uns einen Kompaß geschenkt. Wenn du in unsere Siedlung kommst, mußt du mich besuchen. Ich habe einen Freund. Er heißt Pawel und spielt Gitarre."

„Warum schreist du so?" fragte Lena.

„Ich habe nun mal ein lautes Organ", erwiderte Jurka.

Im Bug der Barke berieten sich Sergej Michailowitsch und Ljoscha. Jurka sah, daß sich Sergej Michailowitsch bis auf die Turnhose auszog und wieder herüberkam.

„Lena, Kleine, ich schwimme ans Ufer. Weißt du wir haben keine Ruder, und das kleine Boot von den Jungen ist längst abgetrieben. Ich werde drüben ein Tau befestigen. Die Strömung trägt euch ans Ufer."

Lena schauderte zusammen. „Das Wasser ist eiskalt."

„Heiß ist es nicht", gab Sergej Michailowitsch zu, „aber ich werde schon nicht erfrieren. Als Junge habe ich immer brav meinen Lebertran getrunken. Das kommt mir heute zugute." Er tat sehr aufgeräumt, lächelte sogar. Nur seine Augen verrieten, wie ihm wirklich zumute war.

Jurka sah ihn furchtsam an. Dann wanderte sein Blick flußab. Vor den Strdmschnellen schimmerten schaumbedeckte Steine. Sergej Michailowitsch wußte, was in dem Jungen vorging.

„Trinkst du Lebertran, Jurka?" fragte er.

Jurka schwieg. Er war nicht zum Scherzen aufgelegt. Sergej Michailowitsch erwartete auch keine Antwort. Beim Erzählen hatte er sich einen dicken Strick um die Hüften gebunden.

Jetzt trat er ans Ende des Decks. Einen Augenblick schien es Jurka, er wollte den Spaß nur auf die Spitze treiben.

Dann freilich, als Sergej Michailowitsch tatsächlich sprang, bekam er eine Gänsehaut. Die Strömung riß den Schwimmer fort. Als sein Kopf wieder auftauchte, sah man, daß er dem Ufer zustrebte. Die Welle, die sich beim Aufschlag gebildet hatte, trieb schon vor ihm. Jurka meinte, im Vergleich zur Geschwindigkeit des Wassers seien die Armbewegungen viel zu langsam.

Der Strick spannte sich in einem weiten Bogen. Wie irrsinnig zerrte die Strömung daran, und Ljoscha gab nach. Den Strick länger festzuhalten, hätte bedeutet, Sergej Michailowitsch am Weiterschwimmen zu hindern.

Eine Minute verstrich, vielleicht auch mehr.

Weit von der Barke entfernt, kurz vor den Steinen, zeigten sich auf den Wellen zwei Arme und ein Kopf.

Der Strick zog in einer geraden Linie hinterher. Dann bemerkte Jurka, daß Sergej Michailowitsch nicht mehr auf das Ufer zuschwamm, sondern in die Flußmitte getrieben wurde.

Bis der Schwimmer die Stelle erreicht hatte, wo das Wasser schäumte und brodelte, sah er die Arme, die sich in langsamem, gleichmäßigem Rhythmus aus dem Wasser hoben.

Dann war von Sergej Michailowitsch nichts mehr zu erblicken.

„Ist er schon am Ufer?" fragte Lena.

„Er hat sich losgebunden", erwiderte Ljoscha niedergeschlagen.

„Ljoscha!" schrie Jurka, weiter nichts, nur dieses eine Wort, doch Ljoscha regte sich auf und begann gleichfalls zu schreien.

„Was heißt Ljoscha? Was willst du damit sagen? Ich kann nicht schwimmen. Verstehst du? Ich bin in der Steppe aufgewachsen. Hast du gehört? Denkst du, ich hätte es sonst nicht selber besorgt!" Er schwieg eine Weile. Als er wieder sprach, klang seine Stimme böse: „Dann gehen wir eben hier zugrunde. Ich kann es auch nicht ändern."

Lena stand mit zitternden Lippen dabei.

„Wo ist Onkel Serjoscha?" fragte sie.

Jurka sah sie an. Er empfand keine Angst mehr. In ihm regte sich eine große Wut, genau wie in Ljoscha, ein unbändiger Zorn auf den reißenden Fluß, die Stromschnellen, den untauglichen selbstgefertigten Anker. Jurka verspürte den Wunsch, von der Barke zu springen und mit geballten Fäusten auf die verhaßten Wellen einzuschlagen.

„Ich kann schwimmen", sagte er.

„Na und?" meinte Ljoscha gleichmütig. Kaum hatte er es gesagt, horchte er auf und flüsterte: „Was denn, Junge, du willst es doch nicht etwa versuchen?"

„Ich bin ein guter Schwimmer", erwiderte Jurka.

„Ich weiß genau Bescheid. Man muß in der Fahrrinne bleiben und nicht mit Gewalt ans Ufer wollen. Da kommt man schon durch. Ich hole Hilfe."

„Ja", sprach Ljoscha leise, „tu das." Er beugte sich zu Jurka herab, um ihm ins Ohr zu flüstern:

„Schwimme, Junge, schwimme. Hier gehen wir doch bloß vor die Hunde. Vielleicht kannst du das Mädchen retten."

Für einen Augenblick bedauerte Jurka, daß Lena ihn jetzt nicht sehen konnte.

Aber als er am Heck stand, hatte er wieder Angst. Der Fluß zischte und tobte wie ein gereiztes Ungeheuer.

„Gleich springe ich", sagte Jurka kleinlaut. Ljoscha stand an seiner Seite. Er machte keine Bewegung, sagte weder „spring!" noch „spring nicht!"

Und Jurka löste sich vom Deck.

Als er aus dem Wasser auftauchte, sah er zurück. Die Barke erschien ihm winzig wie ein Spielzeugschiff. Er schwamm. Wieder zogen die Ufer vorbei. Die Unterwasserströmung knuffte ihn in den Leib wie mit aufgeblasenen Luftballons.

Unweit von ihm drehte sich ein Strudel, kreiselte auf ihn zu. Jurka strebte zur Seite, aber der Strudel folgte, holte ihn ein, glitt an seinen Beinen weiter und zerrann.

Jurka richtete den Blick nach vorn, wo zwischen den Steinen die enge Rinne auftauchen mußte. Hinter den Wellen war nichts zu sehen. Er fühlte nur, daß die Strömung zunahm. Sie schmiegte sich fest an den Körper wie Gummi und drang mit tausend kalten Wirbeln auf ihn ein.

Dann kam die Pforte auf ihn zu. Ganz dicht standen die beiden steinernen Wände beieinander. Dahinter verschwanden die Ufer. Hoch spritzte der Schaum in die Luft. Er peitschte das Gesicht. Da — unmittelbar vor den Augen war ein Felsblock, groß, glatt, und verschwand hinter dem Gischt einer daraufprallenden Welle. Unbeweglich, eine Säule gleich, stand das weiße Wasser vor dem Stein.

Als Jurka ans Land getrieben wurde und aus dem Wasser stieg, sah er diese Gischtsäule noch vor sich. Sie stand erstarrt in der Luft, als hätte er sie mit einer Kamera aufs Bild gebannt. Wäre er gefragt worden, ob es schlimm gewesen sei, durch die Stromschnellen zu schwimmen, hätte er keine Antwort gewußt. Er konnte nicht sagen, ob er Angst gehabt hatte, erinnerte sich überhaupt an nichts als an die eigenartige Empfindung der zunehmenden Geschwindigkeit, an das ins Gesicht klatschende Wasser und jene sonderbare, reglos in der Luft stehende Gischtsäule, die den Felsblock verdeckte.

Jurka lief über eine Landzunge, kroch die Böschung hoch, war schon in der Taiga. Weil er es so eilig hatte, übersah er die Fußspur, die sich nicht weit entfernt von seiner eigenen durch den Sand zog.

XIV Sturm

Der Wind, der die Wolken herbeitrieb, fegte auch über den Jenissej. Auf der kilometerbreiten Fläche konnte er sich nach Herzenslust austoben. Wo die Tunguska mündete und Strömung mit Strömung zusammenstieß, schlugen die Wellen besonders hoch. Hier herrschte ein wildes Getümmel von aufeinanderprallenden Wassermassen. Ein großer Teil der Wogen wurde den Jenissej hinuntergetrieben, aber es gab auch welche, die ins Bett der Tunguska rollten. Sie überstürzten sich förmlich, schössen die Anlegestelle empor und teilten weithin schallende Schläge aus.

Das Rumoren des Sturmes störte den Hafenmeister bei der Arbeit. Er saß im zweiten Stock in seinem Zimmer und konnte sich nicht konzentrieren. Vor ihm stand die Schreibmaschine, die er sich für einen halben Tag geliehen hatte.

Pawel verfaßte seine neueste Eingabe.

Draußen schlugen die Wellen gegen den Uferrand. Das Geräusch veranlaßte den Hafenmeister, die Stirn zu runzeln und aufzustehen. Er wanderte durchs Zimmer, setzte sich wieder auf die Kante des Stuhls. Unsicher tippten seine Finger die letzten Wörter. Nach vollbrachtem Werk las er das Gesuch noch einmal durch und schickte sich an, den Briefbogen auszuspannen. Wenn es hierzu nicht kam, so nur, weil in diesem Augenblick, ohne anzuklopfen, der Matrose ins Zimmer platzte.

„Die Boje, Pawel, die rote Boje hat sich losgerissen. Sie ist abgetrieben. Fehlt nur, daß jemand die Fahrrinne nicht kennt. Dann gibt's Ärger."

Der Hafenmeister nahm den Feldstecher und eüte nach draußen. Weit von der Anlegestelle entfernt schaukelte eine rote Pyramide auf dem Wasser. Sie bewegte sich auf das linke Ufer zu. Es wäre halb so schlimm gewesen, wenn dort unten nicht eine Sandbank läge. Darauf konnte die Boje hängenbleiben. Ein Dampfer, der ordnungsgemäß zwischen Ufer und Markierungszeichen hindurchsteuern wollte, mußte unweigerlich auf Grund laufen.

Pawel verzog finster das Gesicht. „Schöne Bescherung. Wir müssen sofort hinfahren."

Der Matrose widersprach. „Wie denn? Bei diesem Sturm? An Rudern ist überhaupt nicht zu denken.

Außerdem — was geht es uns an? Soll sich der Wasserschutz darum kümmern."

„Wenn wir es bemerkt haben, geht es uns sehr viel´an.

„Das stimmt ja, im allgemeinen. Aber bei diesem Sturm?"

„Hol die Ruder", befahl der Hafenmeister. Er wollte allein fahren. Der Matrose, der mit den Rudern zurückkam, kratzte sich den Nacken und trat von einem Fuß auf den andern. Schließlich sprang auch er ins Boot.

„Was soll das!" rief Pawel. „Steig aus, ich schaffe das ohne dich." Er war jetzt heiter, fühlte sich mutig und stark.

Der Matrose erhob zwar noch Einwände, aber Pawel blieb bei seiner Forderung. Er war der Chef hier. So kam es, daß Pawel ohne den Matrosen fuhr. Auf dem Wasser wurde der Wind stärker. Der Hafenmeister hatte Mühe, die Richtung zu halten, obwohl er fast immer nur mit einem Ruder arbeitete. Nichts ist tückischer als die unberechenbaren Flußwellen. Sie sind kurz und steil und haben keinen Rhythmus, dem sich das Boot anpassen könnte. Während der Bug einen Wasserkamm durchschneidet, schwappt von hinten ein zweiter heran, schießt zischend über das Heck und ergießt sich auf den Ruderer. Der Wind peitschte die Wasserfläche, zerwühlte die Wellen, trieb einen Tropfenschleier vor sich her. Das Boot bäumte sich auf. Ohnmächtig glitten die Ruder durchs Wasser. Beim Zurückziehen spürte Pawel den hartnäckigen Widerstand der Luft. O ja, das war ein Sturm!

Unruhig flatterten die Möwen. Papierschnitzeln gleich jagte der Wind sie über den Fluß. Mit dem Jackenärmel wischte sich Pawel das Wasser vom Gesicht, blickte den fortstiebenden Tröpfchen nach und lachte. Nicht einmal die Möwen kamen gegen diesen Sturm an.

Das schwerste Stück Arbeit bestand darin, die Boje zurückzubringen. Zum Glück wurde die Fahrt jetzt vom Wind begünstigt. Sonst hätte es Pawel nicht geschafft.

Während er den Anker an der Boje befestigte, drang viel Wasser ins Boot, das nur noch träge auf den Wellen schaukelte. Er durfte die Ruder nicht aus den Händen legen. Das Wasser schoß hin und her, drückte bald auf die eine, bald auf die andere Seite. Als die Boje wieder an ihrer alten Stelle schwamm, nahm Pawel Kurs auf die Anlegestelle. Da geschah es.

Unbemerkt war eine hohe Welle herangewogt. Sie prallte gegen das Boot, bäumte sich auf und stand einen Augenblick lang als blasige, durchsichtige Mauer über dem Hafenmeister. Als sie zusammenfiel, bekam Pawel einen großen Schwapp auf die Beine. Das Boot war jetzt so schwer, daß er es nicht mehr richtig steuern konnte. Auch die nachfolgende Welle ergoß sich über den Rand. Durch den Aufprall wurde der Hafenmeister gegen die Wand geschleudert. Das Boot kenterte.

Ist das Wasser warm, dachte Pawel, als er von einer neuen Welle ein Stück fortgetragen wurde. Er tauchte hindurch, schwamm zum Boot zurück, schob sich mit dem Oberkörper auf den Kiel und krallte seine Finger in die glitschigen, wassergetränkten Bretter.

Er hob den Kopf, sah das schwankende Ufer. In der Ferne, hinter vielen zerfetzten Wellen, tanzte die Anlegestelle. Auch jetzt fürchtete er sich nicht. Die Wogen ließen ihm keine Ruhe. Sie rollten heran, schlugen ihm ins Gesicht, ergossen sich auf seine Schultern. Verzweifelt, unter Aufbietung aller Kräfte, hielt er sich fest, aber die Finger erlahmten allmählich. Pawel war kein guter Schwimmer. Er preßte die Wangen gegen das rauhe Holz, hoffte, daß man ihn vom Ufer aus bemerken und hereinholen werde. Endlich fand er in einer Fuge Halt. Nun war ihm wohler. Er richtete sich mit dem Atmen nach den Wellen und brauchte, wenn sie über ihn hinwegschossen, kein Wasser mehr zu schlucken.

Nahte noch immer keine Hilfe? Er hob den Kopf und erblickte das einzige Boot in Ust-Kamensk, das einen apfelsinenroten Anstrich trug. Es war gleichfalls gekentert. Wenn eine Welle darüber schlug, leuchtete die Farbe auf. Pawel dachte an die hellen Kuppeln von Atlantis, an das verwunderte, zugleich triumphierende Gesicht Jurkas, an die Stange mit dem Wimpel. Doch jetzt war das orangefarbene Boot leer. Hilflos trieb es auf dem Fluß.

Etwas Schreckliches mußte geschehen sein, ein Unglück. Er durfte nicht warten, mußte unverzüglich Menschen auf die Beine bringen, um die Kinder zu suchen.

Aber die Menschen waren am Ufer. Und das Ufer war mehr als einen Kilometer entfernt.

Der Mann, der soeben noch die letzten Kräfte angespannt hatte, um nicht vom Boot fortgerissen zu werden, der froh gewesen war, als seine Finger diesen Spalt fanden, löste jetzt den Griff.

Mit Mühe streifte er die Schuhe ab. Sie sanken auf den Grund. Die Jacke folgte ihnen. Und dann schwamm Pawel wie nie zuvor. Er preßte die Zähne zusammen, schluckte Wasser, blieb mit den Füßen in den Löchern der zerfetzten Hose hängen — aber er schwamm den Rekord seines Lebens.

Und doch — was waren alle Anstrengungen im Vergleich zu jener Strecke, die es zu bezwingen galt! Trunken schwankte das Ufer mit allem, was darauf stand, nebelhaft verschwommen auf- und niederhüpfend, immer stärker, immer schneller, bis Pawel nicht mehr wußte, wo die Wolken waren, wo die zappligen, das Gesicht peinigenden Wellen.

Als er zum letzten Mal emporgehoben wurde, erblickte er einen Kutter, der etwa so weit von ihm entfernt war wie das Ufer. Dann verließen ihn die Kräfte. Seine Sinne schwanden.

Der Kutter schwankte im Sturm, glitt stundenlang über den Fluß. Die beiden Boote wurden aufgelesen. Als sich die Nacht herabsenkte, fuhr er zurück.

XV Mehrere bedeutsame Entdeckungen

Die Stadt Ust-Kamensk hat zwei Leben. Erstens ist sie ein Teil des ganzen Landes. Zeitungen und Radio sorgen dafür, daß dies nicht vergessen wird. Die Zeitungen treffen mit fünftägiger Verspätung ein, aber sie werden nicht achtlos in die Ecke geworfen, sondern nach dem Lesen sorgfältig zusammengefaltet und aufgehoben. Einen Radioapparat gibt es fast in jedem Haus. Trotzdem sitzt man am Ersten Mai nicht daheim im Sessel, sondern steht auf einem öffentlichen Platz neben den Lautsprechersäulen, um gemeinsam der Übertragung aus Moskau zu lauschen. Niemand hat diese Sitte eingeführt. Trotzdem folgt ihr jeder. Die Post kommt mit dem Dampfer oder per Flugzeug. Die Flugzeuge sind immer in Eile; kaum gelandet, rollen sie wieder über die Bahn und steigen auf.

Zweitens aber ist Ust-Kamensk ein Stück Welt für sich: Taiga, Wasser, Fische aus dem Jenissej. Große Bedeutung besitzt die Stadt als Umschlagsort für zahlreiche Lebensmittel und Bedarfsgüter, die von hier in Hunderte Dörfchen und Siedlungen wandern. Für das Eigenleben von Ust-Kamensk gibt es einen besonderen Kalender. Darin heißt es: „Das geschah zwei Tage vor Ankunft der ,Irtysch'" oder „Erinnerst du dich nicht, als der Elch in die Siedlung kam?" Nach dem diesjährigen Sommer wird man noch lange Zeit sagen: „Als die Barke der Expedition in den Stromschnellen zerschellte", oder,,Als sich der Lehrer das Gesicht verbrannte."

Der Einwohner von Ust-Kamensk ist kein Freund vieler Worte. Während der Winterszeit gefriert das Quecksilber in den Thermometern. Der Jenissej spielt mit den Fischerbooten und bringt sie zum Kentern. Schon die einfachen, alltäglichen Verrichtungen erfordern ganzen Einsatz. Dies ist der Grund, weshalb in Ust-Kamensk Vokabeln wie „Mut" oder „Heldentum" unbekannt sind. Wenn hier jemand gelobt werden soll, heißt es: „Das hat er richtig gemacht." „Richtig" ist die höchste Auszeichnung, die hier ein Mensch erwerben kann. Von Viktor Nikolajewitsch sagt man seit damals: „Der ist richtig." Von Sergej Michailowitsch: „Richtig, daß er losgeschwommen ist, sonst wären sie alle umgekommen."

Von Jurka sprechen die Leute in der gleichen Weise, nur daß sie bei ihm noch hinzusetzen: „So ein Bursche!", weil Jurka ein Junge ist, von dem man schwerlich dasselbe verlangen kann wie von einem Erwachsenen.

An jenem Tage, als er durch die Stromschnellen geschwommen war, suchte Viktor Nikolajewitsch zwei Stunden lang nach den Jungen. Als er aus der Taiga zurückkehrte, hatte er viele Brandwunden am Körper, seine Kleidung war zerfetzt, die Schuhe befanden sich in einem Zustand, daß man mit Sicherheit sagen konnte, sie würden nie wieder so schön grau aussehen, wie früher.

Jurka, in durchnäßter Turnhose und von oben bis unten mit Kratzern bedeckt, war in die Siedlung gelaufen.

Auf der Dienststelle der Miliz traf er Sergej Michailowitsch, der ihn mit sonderbarer, unerträglich ruhiger Brummelstimme empfing: „Was suchst du hier? Scher dich nach Hause, sonst holst du dir einen Schnupfen."

„Sie sitzen hier rum?" keuchte Jurka außer sich vor Entrüstung. „Und die anderen warten."

„Warten? Wieso?"

„Na, auf der Tunguska."

Jetzt war es an Sergej Michailowitsch, sich zu wundern. „Wovon sprichst du?"

Er ist verrückt geworden, dachte Jurka entsetzt, er schlürft hier sein Glas Tee und sieht völlig normal aus, aber er hat etwas abgekriegt.

„Und Sie sitzen hier rum", keuchte er nochmals. „Ich begreife nicht, was du willst", erwiderte Sergej Michailowitsch. „Komm, ich bringe dich nach Hause. Die Aufregung war zuviel für dich."

Jurka blickte sich verzweifelt nach allen Seiten um. Als er sah, daß sonst niemand im Raum war, rannte er zur Tür, aber Sergej Michailowitsch erwischte ihn an der Hand und sagte sanft: „Jurka, versuch doch einmal, dich zu erinnern. Ein Hubschrauber ist gekommen, hörst du, ein Hubschrauber, der hat euch alle fortgeholt. Vor ein paar Minuten wurde hier angerufen und Bescheid gegeben. Der Hubschrauber hat alle an Bord genommen. Du bist auch im Hubschrauber gewesen. Erinnerst du dich jetzt?"

„Das ist nicht wahr!" rief Jurka. „Ich bin geschwommen. Wir dachten, Sie sind ertrunken."

Nun begriff Sergej Michailowitsch endlich, was geschehen war. Er ließ Jurkas Hand los und schüttelte ihn an den Schultern. „Ach, so ist das? Jurka sei mir nicht böse, entschuldige. Das konnte ich nicht ahnen."

Ljoscha und Lena hatte der Hubschrauber tatsächlich aus ihrer mißlichen Lage befreit. Eineinhalb Stunden später trieben die Trümmer der Barke an Ust-Kamensk vorbei.

Nur den Hafenmeister fand niemand.

Der Matrose, der mit dem Fernglas beobachtet hatte, wie das Boot umschlug und Pawel sich daran festklammerte, rief einen Kutter zu Hilfe. Als der Kutter kam, war es zu spät. Kein Mensch wußte, weshalb Pawel ertrunken war. Eine halbe Stunde hätte er doch auf dem gekenterten Boot aushalten müssen, selbst bei diesem Sturm. So viel geschah an einem einzigen Tag in Ust-Kamensk, das dort liegt, wo sich zwei mächtige sibirische Flüsse vereinen.

Auf diesen Tag folgten andere. Sie brachten neue Ereignisse, neue, bedeutsame Entdeckungen. So wird es weitergehen, bis abermals der Winter kommt und mit seinem Schnee das Städtchen zudeckt, das dann wieder schlafmützig gähnend auf den Sommer wartet.

Doch zunächst geschah folgendes: Die Eltern empfingen Jurka mit großer Freude. Nie im Leben wird seine Mutter die Qualen vergessen, die sie durchstehen mußte. Wenn sie daran denkt, steigen ihr noch heute heiße Tränen in die Augen, teils aus Mitleid mit Jurka und sich selber, teils aus Freude darüber, daß noch einmal alles gut gegangen ist, während es doch viel schlimmer hätte auslaufen können. Gleich als sie ihren Sohn wiederhatte, wurde ein riesiges Schloß besorgt. Damit legte sie das orangefarbene Boot an eine schwere Kette. Jurka aber wurde strengstens untersagt, jemals wieder an den Fluß zu laufen, falls er nicht wollte, daß seine Mutter vorzeitig an einem Herzschlag sterbe. Vom Vater erfuhr Jurka, wie Petka und Dimka aus dem brennenden Wald gerettet wurden Drei Tage später stand Petka unter dem Fenster auf der Straße und beschwor den Freund, herauszukommen.

Jurka schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, ich bin eingeschlossen."

Da rieb sich Petka verzweifelt den Hals, was heißen sollte: Du mußt kommen, es ist ungeheuer wichtig. Das war zuviel für Jurka. Er kletterte durchs Fenster. Petka erzählte ihm, daß Pawel ertrunken sei.

Jurka ging neben dem Freund durch die Straße. Alle Häuser waren winzig klein geworden, als betrachtete er sie durch ein umgedrehtes Fernglas. Ohne es zu merken, schlug er die Richtung zu Dimka ein. So war es seit eh und je gewesen: Was sie unternahmen, unternahmen sie zu dritt.

Heute aber meinte Petka geringschätzig: „Den brauchen wir nicht."

Jurka überhörte, was der Freund sagte. Seine Gedanken weilten bei Pawel, der ihm ein lieber Kamerad gewesen war. Wie oft hatten sie in seinem Zimmer von großen Seefahrten geplaudert, ohne bei diesem unerschöpflichen Thema je zu ermüden. Pawel war der einzige Mensch gewesen, der Jurka verstanden und seine verworrenen Pläne ernst genommen hatte.

Wortlos kam Dimka durchs Fenster geklettert. Offenbar war er eingeschlossen.

„Schade", lautete seine erste Bemerkung, als er draußen stand. „Meinst du nicht?"

„Halt ja die Klappe", entgegnete Petka, „dich geht es am allerwenigsten an."

Dimka zuckte zusammen, schwieg aber, als wäre es Petkas gutes Recht, ihm so über den Mund zu fahren.

Jurka hatte wieder nichts gehört. Vor dem Häuschen am Hafen trafen sie seinen alten Feind, den Matrosen. Zu viert gingen sie die Treppe hoch.

In der Schreibmaschine steckte ein Briefbogen, Pawels engzeilig geschriebenes Gesuch.

„Hier hat er gesessen und getippt, als ich eintrat", erklärte der Matrose. „Es ist nicht seine Maschine. Er hat sie sich geliehen. Wißt ihr nicht, von wem?"

Jurka spannte den Bogen aus. Er überflog die ersten vier Zeilen.

„Lies vor", sagte der Matrose. „Das interessiert alle."

Jurka fand, daß der Matrose recht hatte, und las:


„An den Leiter der Jenissej-Schiffahrtsgesellschaft


Gesuch

Ich wurde im Jahre 1936 im Dorf Maima geboren. Das ist in der Taiga. Um das Ziel der siebenten Klasse zu erreichen, mußte ich eine Schule besuchen, die fünf Kilometer von unserem Dorf entfernt lag. Da ich den festen Willen hatte, etwas zu lernen, versäumte ich im Herbst und bei Schlammwetter keine einzige Stunde, höchstens im Winter bei starkem Frost. Mein Vater hatte eine schlechte Schulbildung genossen, aber er war ein guter Jäger. Er brachte mir schon beizeiten das Schießen bei. Bald traf ich ein Eichhörnchen nicht schlechter als ein Erwachsener. Wenn ich durch die Taiga wanderte, dachte ich immer darüber nach, wie es später sein werde. Sie, Genosse Vorgesetzter, haben früher bestimmt auch oft überlegt, welchen Beruf Sie ergreifen sollten.

Ich änderte meine Pläne häufig und konnte mich für nichts richtig entscheiden. Ich weiß, daß man beharrlich auf ein Ziel zusteuern muß, wenn man etwas erreichen will. Lange Zeit hatte ich jedoch kein festes Ziel. Ich werde gleich erklären, warum.

Wir lebten in der öden Taiga. Ringsum war nichts als Wald. Höchstens sah man mal einen Dampfer auf dem Fluß oder eine Barke, und bisweilen kam auch ein Flugzeug über unser Dorf. Natürlich las ich viele Bücher. In der Schule hörte ich, daß es verschiedene Staaten gibt. Aber über das Leben zu hören und zu lesen ist etwas anderes, als alles mit eigenen Augen zu sehen.

Bei uns in der Taiga gibt es Blumen, die wir die ,Unzertrennlichen' nennen. Das tun wir deshalb, weil sie immer paarweise aus einer Wurzel sprießen, und nie verwelkt eine allein, jedesmal auch die andere. Im Frühjahr kommen die Unzertrennlichen heraus. Sie blühen nur kurze Zeit, haben aber einen wunderschönen und kräftigen Duft.

Ich könnte zehn Seiten schreiben, Genosse Vorgesetzter, nur über diese Blumen. Sie würden es lesen, aber am Ende doch nicht wissen, wie sie aussehen und riechen oder welche Farbe sie haben. Das ist ein eigenartiger Duft. Wenn man ihn kennenlernen will, muß man dorthin gehen, wo die Unzertrennlichen wachsen.

Ich denke, daß es mit vielem grad ist wie mit diesen Blumen. So manches hat etwas Besonderes und Einmaliges an sich. Ein Lehrbuch oder eine Unterweisung nutzt da nicht viel. Man muß es mit eigenen Augen gesehen haben. Ich bin aber in der Taiga aufgewachsen, hab wenig kennengelernt. Im Leben fand ich mich daher schlecht zurecht, ich hatte kein richtiges Ziel.

Als ich das erstemal einen Traktor sah, stand mein Entschluß fest. Ich mußte Traktorist werden. Das weiß ich noch wie heute. Dann kamen Geologen ins Dorf, und ich wollte natürlich Geologe werden. So war es stets. Wenn ich etwas Neues kennenlernte, änderte sich mein Berufswunsch. In unserem Land gibt es vielleicht hunderttausend verschiedene Berufe. Wie soll man da den richtigen herausfinden?

Aber es soll doch ein Beruf fürs ganze Leben sein. Nach Abschluß der siebenten Klasse erhielt ich die Möglichkeit, eine Fachschule für Flußschiffahrt zu besuchen. Ich fragte meinen Vater, ob ich den Vorschlag annehmen sollte oder nicht. Er sagte: ,Als ich in deinem Alter war, habe ich meine ersten langen Hosen angezogen. Und du willst gleich Kapitän werden. Grünschnabel. Arbeite erst im Kolchos.' Meine Mutter aber sagte: Jawohl, Junge, geh zur Flußschiffahrt, dort wirst du gut bezahlt.'

Auf der Fachschule hatte ich lauter Einsen und Zweien. Jetzt glaubte ich, den richtigen Beruf gefunden zu haben. Im Sommer kamen wir alle zum Praktikum auf das Motorschiff ,Ural'. Wir fuhren den Jenissej runter bis zum Meer. Ich sah die Ozeanriesen, die dort vor Anker lagen. Wenn sie in See stachen, stand ich am Kai und blickte ihnen lange nach.

Denken Sie nicht, sehr geehrter Genosse Vorgesetzter, daß es mir nur das Spiel der Wellen und die übrige Romantik angetan haben. Ich weiß nicht, wie man es erklären soll, aber mein Gefühl sagt mir, daß ich erst dann Ruhe finden werde, wenn ich auf einen Überseedampfer komme.

Als ich die Schule beendet hatte, wurde ich in Ust-Kamensk als Hafenmeister eingesetzt. Sie wissen natürlich genausogut wie jeder andere, daß hier von einem richtigen Hafen überhaupt nicht die Rede sein kann und daß die Bezeichnung ,Hafenmeister' folglich nur als reine Ironie aufzufassen ist. Arbeit gibt es für mich herzlich wenig, während der Winterszeit gar nicht. Auf diesen Posten sollte man einen Invaliden stellen, der nicht mehr schwimmen kann. Mich aber bitte ich zur Seeschiffahrt zu versetzen, wenn auch als einfachen Matrosen.

Ich ersuche Sie inständig, meine Bitte nicht abzuschlagen. Als Kommunist müßten Sie verstehen, daß ich ohne Meer nicht leben kann.


Mit den besten Grüßen

P. A. Syrjanow, Hafenmeister."


„Das schicke ich an die Zeitung", verkündete der Matrose, als Jurka geendet hatte. „Das müssen sie drucken."

Jurka dachte daran, daß sich Pawel ein ganzes Jahr lang erfolglos bemüht hatte, Pfeife rauchen zu lernen. Dieser Gedanke erschien ihm häßlich und fehl am Platze. Er versuchte ihn zu verscheuchen, aber es gelang ihm nicht. Wie ein Gespenst verfolgte ihn die Vorstellung dieser Pfeife mit dem Ring am Mundstück, obwohl es sicher weitaus Wichtigeres gab. Ein wenig später mußte Jurka daran denken, daß sich Pawel täglich mehrmals rasiert hatte. Der Bart wollte indes nicht wachsen. Zum Gaudium aller hatte Pawel in der Illusion gelebt, man müsse die zarten Stoppeln immer wieder abschaben, damit sie sich kräftigen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Seemann zu werden, und um dieses Ziel zu erreichen, keine Mühe gescheut: Anträge geschrieben, bei Wind und Wetter seinen Körper gestählt. Trotz allem war er der Hafenmeister geblieben.

Auf einmal verspürte Jurka den Wunsch, durch Ust-Kamensk zu laufen, von Haus zu Haus, und allen Pawels Brief vorzulesen, damit jeder Einwohner der Stadt erfuhr, was für ein Mensch der Hafenmeister gewesen war. Und das war die erste Entdeckung. In flammenden Worten wollte er von seinem toten Freund berichten.

Als die Jungen in der Siedlung anlangten, fragte Jurka: „Glaubt ihr, daß es in die Zeitung kommt?"

„Aber klar", erwiderte Dimka ohne Zögern. „Das wäre ja noch schöner."

„Du halt den Mund", murmelte Petka vor sich hin. „Dich geht es einen großen Dreck an."

Diesmal wurde Jurka aufmerksam. Er wunderte sich, daß Dimka alles schweigend einsteckte. Früher wäre das unmöglich gewesen.

Lena kehrte in die Taiga zurück. Mit ihr gingen Sergej Michailowitsch und Ljoscha.

Atlantis war noch immer unentdeckt. Das blaue Heft lag auf dem Fensterbrett. Die Erwachsenen machten sich ihre Gedanken und lächelten. Es ist schön, an seine eigene Kindheit erinnert zu werden. Eines Tages erteilte Frau Issajewa ihrem Großen einen Rat: „Ihr müßtet euren Lehrer mal besuchen. Er sieht ganz entstellt aus, der Ärmste, so hat er sich verbrannt."

„Daran haben wir auch schon gedacht", entgegnete Petka. „Es ist mir nur furchtbar peinlich." „

Warum peinlich?"

„Du verstehst auch gar nichts", meinte der Große. Trotzdem gingen sie ins Krankenhaus. Durch die Straßen schritten sie wie in alten Tagen, Schulter an Schulter. Dennoch stellte Jurka fest: Zwischen Dimka und Petka stimmt etwas nicht. Dimka benahm sich urkomisch, war abwechselnd fröhlich und ernst, beides ohne erkennbaren Grund. Sobald Petka den Mund öffnete, wurde er mucksmäuschenstill und kuschte sich wie ein Hündchen. Den richtigen Dimka schien es nicht mehr zu geben. Der dort ging, tat nur so, als wäre er Dimka.

„Ihr seid wie Hund und Katze", sagte Jurka.

Dimka biß sich auf die Lippen. Er schielte Petka an.

„Das bildest du dir ein", behauptete Petka.

Sogleich eilte ihm Dimka zu Hilfe: „Wir haben keinen Grund, uns zu streiten. Wer hat dir das eingeflüstert?"

Ins Krankenzimmer gingen sie zu zweit. Petka blieb draußen. Er stand unter dem Fenster.

Der Lehrer lag, mit vielen Binden umwickelt, im Bett.

„Guten Tag, Viktor Nikolajewitsch", grüßte Dimka höflich. „Wie geht es Ihnen?"

„Ich danke euch, schon viel besser", erwiderte der Lehrer noch höflicher und machte ein freundliches Gesicht. „Nehmen Sie Platz, meine Herren Diplomaten."

Die beiden setzten sich zaghaft auf den Rand des Bettes gegenüber.

„Wenn die Schwester das sieht, fällt sie aus allen Wolken. Wenn der Arzt wüßte, daß ihr hier seid, wäre es noch schlimmer. Aber abgesehen davon — wie kommt's denn, daß ihr mich besucht?"

„Ich kann nichts dafür", rechtfertigte sich Dimka verwirrt. „Es war Petkas und Jurkas Einfall. Ich wollte kein Spielverderber sein. Außerdem brauchen Sie nicht zu denken, daß uns jemand gesehen hat. Wir haben uns wie harmlose Spaziergänger benommen."

Von draußen quetschte Petka die Nase gegen die Scheibe. Als er merkte, daß der Lehrer ihn gesehen hatte, verschwand er.

Viktor Nikolajewitsch mußte lachen. „Na, ihr beiden", sagte er fröhlich, „dann macht mal das Fenster auf."

Jurka tat, wie ihm geheißen. Dimka hörte, daß er mit Petka flüsterte: „Das geht doch nicht. — Aber, hab dich nicht so. — Nein, wirklich, es geht nicht. — Er hat dich doch schon gesehen."

Schließlich tauchte Petkas verwirrtes Gesicht wieder auf.

„Ach, du bist das?" fragte der Lehrer. ,,Na, dann tritt näher."

„Ja, gern", brummte Petka leise, „ich kam zufällig vorbei."

„Du bist mir wohl immer noch böse, Issajew? Wollen wir nicht endlich Frieden schließen?"

„Böse? Ihnen? Wie kommen Sie darauf?" Petka war starr vor Staunen.

„Früher hatte ich den Eindruck. Aber das ist jetzt unwichtig. Erzählt mir lieber, warum ihr ins Feuer gerannt seid."

„Das war keine Absicht", sagte Dimka. „Wir haben was gesucht."

„Was denn?"

Dimka blickte fragend zu Jurka hinüber. Sollte er es verraten oder nicht?

„Atlantis", erwiderte er, als Jurka nickte.

Jetzt wird sich der Lehrer aber wundern, dachten die Freunde. Daß er vor Erstaunen sogar den Kopf aus dem Kissen hob, hätten sie freilich nicht erwartet.

„Atlantis?" fragte Viktor Nikolajewitsch. „Warum gerade Atlantis?"

„Atlantis, wissen Sie", erklärte Jurka bereitwillig, „das ist ein Land. Eigentlich müßte man sagen, es war eins. Vor langer Zeit, ich glaube, es ist schon mehrere tausend Jahre her, versank dieses Land im Meer. Da dachten wir uns, vielleicht hat Atlantis in unserer Gegend gelegen, hier war ja früher Wasser. Aber Sibirien kommt nicht in Frage, nur der Atlantische Ozean. Trotzdem, schön muß es dort gewesen sein, wunderschön, das steht fest. Alles war aus Gold und Marmor."

„Ich weiß", sagte Viktor Nikolajewitsch nachdenklich. „Mich würde eins interessieren. Sagt mal, habt ihr vielleicht ein blaues Heft gefunden? Auf einem Berg der Insel Azoris..."

„Auf einem Berg der Insel Azoris steht ein steinerner Reiter, der das Gesicht dem Meer zuwendet und mit der Hand nach Westen zeigt", deklamierte Jurka. Er wußte den ersten Satz auswendig.

„Richtig", bestätigte der Lehrer, „ein steinerner Reiter. Jetzt ist mir auch klar, was für ein Heft das war, das ihr mir nicht zeigen wolltet. Ich hatte es in die Manteltasche gesteckt. Bei meiner Ankunft muß ich es verloren haben."

„Seht ihr, es gehört keinem Schriftsteller", rief Dimka erfreut. Er dachte an ihr Gespräch von neulich. „Das habe ich euch gleich gesagt."

Jurka überhörte die Bemerkung. „Stimmt denn aber alles, was in Ihrem Heft steht?" wollte er von Viktor Nikolajewitsch wissen.

Er stellte sich Marmorpaläste und Türme vor, die ganze schneeweiße Stadt über dem blauen Meer.

Der Lehrer schien seine Gedanken zu erraten: „Ja, das stimmt, Jungs", sagte er, „oder es stimmt auch nicht, wie man's nimmt. Früher träumte ich davon, Atlantis zu entdecken. In den Büchern wurde viel gemutmaßt. Wirkliche Anhaltspunkte gab es fast gar nicht. Weil ich so viele Fragen hatte und keine Antwort darauf fand, nahm ich die Phantasie zu Hilfe."

„Dann haben Sie wohl alles erfunden?" fragte Jurka enttäuscht.

„Aber nein. Atlantis hat tatsächlich existiert. Versteht ihr? Nur weiß eben niemand, wie es dort ausgesehen hat. Da habe ich versucht, mir ein Bild zu machen, das meinen eigenen Wünschen entsprach. Später, als ich älter wurde, begriff ich, daß es viel interessanter ist, wirklich etwas zu entdecken, als nur zu träumen. Aber das versteht ihr jetzt nicht, nein? Ich will versuchen, euch alles zu erklären."

„Das ist nicht nötig", fiel ihm Jurka ins Wort. „Ich weiß genau, was Sie meinen. Ich hatte einen Freund, Pawel Alexejewitsch. Er war sehr mutig und wollte als Seemann auf ein Schiff gehen. Kein Mensch wußte, wie mutig er war. Jetzt werden die Zeitungen von ihm schreiben."

Die Jungen blickten den Lehrer an, als sähen sie ihn zum erstenmal. Ihnen schien, daß dort im Bett ebenfalls ein Junge säße, der sich zum Spiel ein Land ausgedacht hatte. Auch er hatte gesucht — und nichts gefunden. Vielleicht kam er ihnen deshalb jetzt einfacher und verständlicher vor.

Das war die zweite Entdeckung, auch wenn sie sich's noch nicht eingestehen wollten. — Als sie aus dem Krankenhaus ins Freie traten, sagte Petka: „Daß es sein Heft ist, hätte ich nie für möglich gehalten."

Am Abend dauerte es lange, bis Jurka müde wurde. Er schritt durchs Zimmer und wollte aller Welt erzählen, was sich zugetragen hatte. Da er aber nicht wußte, wem er sich anvertrauen sollte, rückte er schließlich einen Stuhl an den Tisch und griff nach dem Notizblock. Lange kaute Jurka am Bleistift. Dann schrieb er: „Unser Städtchen heißt Ust-Kamensk. Im Winter ist es sehr kalt, und im Sommer gibt es viele Mücken, weil wir am Jenissej und an der Tunguska liegen."

Beim Schreiben merkte er, daß ihm der Bleistift nicht gehorchte. Die Sätze, die er aufs Papier kritzelte, waren anders als seine Gedanken. Er wollte kräftiger schreiben, die Menschen packen. Seine Worte sollten dröhnen wie Trompeten.

Er strich alles durch und begann von vorn. Aber auch die neuen Sätze erschienen ihm kümmerlich und schwach. Sie wirkten kindlich. Man müßte lernen, wie ein Erwachsener zu schreiben.

Gegen Mitternacht kam die Mutter. Sie steckte ihn ins Bett. „Weißt du, Mutti, was ich einmal werden möchte?" fragte er. „Schriftsteller."

Es war seine dritte Entdeckung.

XVI Der Weg

Ende August färbten sich die Taigaseen dunkel. Auf dem Wasser schwammen Blätter: goldene Schiffchen mit gezackten Rändern, per frühe Herbst strich die Bäume an. In bunten Flammen verbrannte die sommerliche Pracht des Waldes. Die Sonne wärmte nicht mehr. Kalter Wind fegte übers Land. Die Schiffe, die aus dem Norden kamen, heulten mit verschnupftem Baß, als hätte an der Küste schon der Winter seinen Einzug gehalten.

Ende August wollte Lena abreisen.

Zusammen mit ihrem Vater und Sergej Michailowitsch traf sie in Ust-Kamensk ein. Als die drei Ankömmlinge sich nach dem Haus der Alenows durchgefragt hatten, war es schon Abend. Erstaunt sah Lenas Vater den verlegenen Jungen an, drückte ihm lange die Hand und murmelte: „So siehst du also aus. Ich hätte mir dich anders vorgestellt, größer und älter."

Nachher saßen Jurka und Lena vor dem Haus auf einem Balken. Jurka erzählte von dem Waldbrand und vom Hafenmeister.

Lena war schmal geworden seit ihrer letzten Begegnung. Der volle Zopf, der ihr über die linke Schulter hing, wirkte unnatürlich lang. Sie machte einen zerfahrenen Eindruck, lächelte höflich, aber traurig und hörte nicht aufmerksam genug zu. Vielleicht fiel ihr der Abschied schwer?

Ab und zu bewegte sie die Lippen, als wollte sie seine Worte wiederholen. Als Jurka dies bemerkte, dachte er, daß es schön sein müßte, mit Lena in eine Klasse zu gehen. Dann fragte er sich, wie er eigentlich aussehe. Gut? Er verspürte den Wunsch, ein hübscher Junge zu sein.

Als er ihr sein großes Geheimnis anvertraute, den letzten Entschluß, Schriftsteller zu werden, geschah es in der Erwartung, einen Begeisterungssturm auszulösen.

Lena nahm die Neuigkeit ohne jede Gemütsbewegung auf. Sie verzog nicht einmal die Lippen, als sie sagte: „Ach? Petka hat mir erzählt, daß er Flieger werden will. Das ist auch ein schöner Beruf."

Jurka war entsetzt.

Etwas später kam Petka. Er setzte sich zu ihnen, als wäre es sein Balken. „Guten Abend, Lena."

„Guten Abend", erwiderte das Mädchen, „morgen reise ich ab."

„Mit der ,Irtysch'", sagte Petka. „Kommst du zum Hafen?" fragte Lena.

„Ehrensache, daß wir kommen."

„Das Schiff geht um neun."

„Um neun Uhr zwanzig", verbesserte Petka.

Hierauf verstummte das Gespräch. Jurka meinte, die beiden schwiegen, weil er dabeisaß. Er war tief gekränkt, stand auf und ging ins Haus. Sie hielten ihn nicht zurück.

Als er Minuten später durchs Fenster lugte, saßen beide auf der gleichen Stelle. Sie schwiegen noch immer. Als er zum zweitenmal ans Fenster trat, war der Balken leer. Das setzt allem die Krone auf, fand Jurka. Zu Tode beleidigt verkroch er sich ins Bett, ohne vorher die Sachen auszuziehen. Übrigens schlief er traumlos und fest.

Am Morgen kam Petka, um ihn abzuholen. Sie gingen zusammen zum Hafen.

Sergej Michailowitsch, Lena und ihr Vater waren bereits da. Dimka hatte sich nicht eingefunden.

„Wo bleibt Dimka?" fragte Lena. Sogleich waren alle aufgeregt und äußerten die verschiedensten Vermutungen, wo Dimka stecken könnte und warum er nicht gekommen war, als hätte es im Augenblick nichts Wichtigeres gegeben.

Die Dampfersirene heulte einmal.

„Also", sagte Sergej Michailowitsch, „verabschieden wir uns. Dimka kommt sicher nicht mehr."

Lenas Vater drückte ihm kräftig die Hand. „Dann bleib gesund. Ich danke dir für alles."

„Und was soll nun werden, wo geht es anschließend hin?" fragte Sergej Michailowitsch. „Wieder zu uns?"

„Das weiß ich noch nicht genau. Daheim habe ich ein Haus. Das kann man natürlich verkaufen."

„Wieso weißt du es plötzlich noch nicht?" meldete sich Lena. „Bei uns gibt es keine zehnklassige Schule, nicht einmal eine siebenklassige. Ich will lernen."

„Ich sage ja, das Haus können wir verkaufen."

Jurka kam dem Mädchen zu Hilfe. „Unsere Schule ist ganz große Klasse."

Die Dampfersirene heulte zweimal.

Lena ging mit ihrem Vater über die Schiffstreppe. Oben angekommen, stellten sie sich an die Reling.

Die Dampf ersirene heulte dreimal. Die Maschine stöhnte auf. Ein Zittern lief durch das Schiff. Unter dem Heck schäumte und brodelte das Wasser.

Der Abstand zum Ufer betrug schon einen halben Meter, als Petka an Jurka und Sergej Michailowitsch vorübersauste. Mit einem Satz war er an Bord.

„Die Adresse", schrie er Lena ins Ohr, „ich habe vergessen, dir die Adresse zu geben. Swerdlowstraße achtzehn."

Ein zweiter Sprung brachte ihn auf die Anlegestelle zurück. An Bord lärmten und lachten die Leute. Aus dem Lautsprecher am Mast plärrte Marschmusik. Alle anderen Geräusche gingen darin unter. Bald fuhr der Dampfer in den Jenissej ein. Vom Wasser stiegen die Möwen auf, ihm das Geleit zu geben. Jetzt erst traf im Hafen Dimka ein, schweißbedeckt, außer Atem, das Gesicht gerötet vom schnellen Lauf. Fassungslos und beleidigt sah er die anderen an.

„Ist das dumm!" jammerte er. „Fünf Rubel habe ich für den da ausgegeben und auch noch ein Halsband gekauft." Er knöpfte das Hemd auf. Ein Hündchen kam zum Vorschein. Es war schmutzig wie eine Kröte. „Extra nach Surguticha bin ich gelaufen. Es ist ein echter Eskimohund. So was gibt es hier nicht. Lena hätte sich bestimmt gefreut."

„Ja, den wirst du nun behalten müssen", schnarrte Sergej Michailowitsch. „Das ist nicht so schlimm. Unterwegs hätte er doch nur gestört."

Dimka war gekränkt. „In einem Jahr bellt er die Vögel an."

Sergej Michailowitsch lachte, widersprach aber nicht.

„Na, dann lebt wohl, Jungs", verabschiedetet er sich.

„Ich habe noch einen weiten Weg vor mir."

„Wo stecken Sie jetzt?"

„Vierzig Kilometer von hier. Im Frühjahr kommen wir wieder. Dann sehen wir uns. Ich werde euch erzählen, was wir inzwischen gefunden haben, und ihr berichtet über eure Erfolge."

„Wir suchen nichts mehr", entgegnete Jurka.

„Warum nicht? Das wäre ein Fehler. Sucht weiter, gebt nur acht, daß ihr euch nicht zu weit von der Stadt entfernt. Ich sage immer, die Welt ist groß, aber rund. Jedes Städtchen, selbst das kleinste und unscheinbarste, steht, von einem entgegengesetzten Punktaus betrachtet, auf der höchsten Stelle. Auch euer Ust-Kamensk."

Die Kinder begleiteten Sergej Michailowitsch bis zur ersten Blinkanlage.

„Ich werde trotzdem weiterlernen", verkündete Petka, nachdem sie sich verabschiedet hatten, „unter allen Umständen. Ich habe keine andere Möglichkeit. Mit dem Abschluß der siebenten Klasse komme ich nie in eine Fliegerschule. Ich habe mich genau erkundigt und heut mit meiner Mutter gesprochen. Wißt ihr, was sie sagt? ,Als ob ich je dagegen gewesen wäre, nur du hast dir in den Kopf gesetzt, nach der siebenten abzugehen.' Dabei kamen ihr die Tränen. Als ich ihr erklärte, daß ich von der Schule gehen wollte, hat sie auch geweint. Da soll sich ein Mensch rausfinden."

„Mein Entschluß steht ebenfalls fest", behauptete Jurka. „Er ist endgültig. Aber vorläufig spreche ich nicht darüber. Sonst lacht ihr mich aus. Es ist noch zu früh."

Dimka jammerte: „Und ich habe mein ganzes Geld verplempert. Wenn es wenigstens nicht umsonst gewesen wäre."

„Jetzt tut dir's wohl leid?" höhnte Petka.

„Ach was!" empörte sich Dimka. „Wo ich aufs Geld spucke wie auf sonst was. Der Hund ist mir mehr wert. Aber knauserig bin ich deswegen nicht. Von mir aus verschenke ich ihn sogar. Willst du ihn haben? Das Halsband kriegst du dazu. Bitte." Er zog das Hündchen hervor und streckte den Arm aus.

Petka beachtete es nicht. Da hielt ihm Dimka den kleinen Kerl direkt vors Gesicht. Petka schob ihn sanft zurück. Dimka stieß mit der Schulter zu. Petka schubste, und Dimka rempelte kräftig Petka an. Die Knuffe wurden stärker. Trotzdem war es keine Rauferei, sondern ein Schritt zum Frieden. Jurka erfuhr nicht, weshalb sie sich verkracht hatten.


Alle drei kletterten die Böschung hoch und nahmen den Weg, der in den Wald führte. Sie sahen runter auf den Jenissej. Kähne fuhren stromauf, eine lange Reihe. In geringem Abstand folgte ein zweiter Zug. Auf den Decks standen Traktoren, Lastwagen, mit Planen verdeckte Maschinen.

Petka wunderte sich. „Sie kommen in die Tunguska. Warum eigentlich? Früher sind sie immer vorbeigefahren."

„Ach, wer weiß", meinte Dimka leichthin. „Sie werden wohl eine Straße bauen. Ich habe euch ja schon gesagt, daß sie letztes Jahr die Taiga vermessen wollten. In Baikit hat man Erz gefunden, so viel, daß es für die ganze Sowjetunion reicht und noch was übrigbleibt."

„Das ist Schwindel. Bis Baikit sind es hundert Kilometer. Wie wollen sie durch die Taiga kommen?"

„Ich habe euch doch gesagt, daß eine Straße gebaut wird. Die ist eins, zwei, drei fertig bei den Maschinen, die wir haben."

„Los, die Schiffe müssen wir uns aus der Nähe angucken."

„Ja, runter!"

Die Jungen liefen zur Anlegestelle zurück, schneller und schneller, neuen Entdeckungen entgegen. Wer hätte da langsam gehen können?


Ende


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