Ich vertraue dir

Die Kassiererin des Flughafens erhob sich von ihrem Stuhl. Vor dem Schalter stand ein etwa zwölfjähriger Junge in Anorak und Kapuze.

„Willst du etwa allein fliegen?"

Der Junge nickte.

„Wo hast du denn das Geld her?"

Die Hand mit den Scheinen kroch vom Fenster zurück. Der Junge blickte mißtrauisch die Kassiererin an und schlenderte dem Ausgang zu.

„Warte doch", schallte es hinter ihm her.

Er wollte schon auf die Straße schlüpfen, als die Tür von einem hünenhaften Flieger versperrt wurde.

„Halten Sie ihn!"

Eine große Hand legte sich dem Jungen auf die Schulter. Er versuchte sich loszumachen, wurde aber mühelos zurückgeschoben.

„Was hat er ausgefressen?"

Die Kassiererin kam heran. „Ach, Sie sind es, Goga? Ein komischer Bursche. Er wollte allein fliegen. Das Geld dazu hat er."

„Soso", sagte der Flieger, „wir werden gleich sehen."

Er war ein Riese. Der Junge reichte ihm kaum bis zum Gürtel.

„Na, hast du die Sprache verloren?" fragte er. „Wie heißt du?"

„Lassen Sie mich los!"

„Erst mußt du mir verraten, wohin du fliegen willst. Und warum. Du wirst vielleicht in meiner Maschine sitzen, und da muß ich das wissen, siehst du. Bei uns hat alles seine Ordnung."

Der Junge hob das scharfgeschnittene Kinn in die Höhe. Er blickte den Flieger an. Seine Lippen zitterten.

„Sie sollen mich loslassen. Warum ich fortfliege, geht Sie gar nichts an."

Die Kassiererin lachte. „Ein richtiger Iltis."

Der Blick, den ihr der Flieger zuwarf, trieb ihr das Blut ins Gesicht.

„Gehen wir", sagte er zu dem Jungen, „unterwegs kannst du mir alles erzählen."

Sie kamen an riesigen Hallen vorbei.

Die Hand blieb auf der schmächtigen Schulter.

„Wohl von zu Hause ausgerückt?" fragte Goga.

„Was denn noch?" fauchte der Junge.

„Wie heißt du?"

„Fedja."

„Kommst du aus der Siedlung?"

„Hmhm."

„Dein Vater?"

„Hab keinen."

„Und die Mutter?"

„Habe ich auch nicht. Lassen Sie mich los. Es tut weh."

„Läufst du fort? Nein? Ehrenwort?"

„Ehrenwort."

Der Flieger blieb stehen. Er nahm die Hand von der Schulter.

„Na also. Man muß aufrichtig sein. Das ist immer besser."

Der Junge stürzte auf den Zaun los, schwang sich hoch, rutschte mit dem Bauch über die Lattenspitzen und flog auf die andere Seite. Er rannte in Richtung zum Jenissej davon. Seine Schuhe traten eine Gasse durch die staubigen Kartoffelstauden.

Am Abend schritt Goga über das Rollfeld, wo die „Schawruschkas" standen. Vor einer Maschine machte er halt, stieß mit der Stiefelspitze gegen das eine Rad und murmelte halblaut: „Wie geht's, Alte? Keine Langeweüe so allein?"

Die „Schawruschka" hüllte sich in Schweigen. „Gibt's nichts Neues hier?" Das Flugzeug blieb stumm.

„Hast du vielleicht einen Menschen gesehen, der sein Wort gebrochen hat?"

Das Flugzeug schwieg. Der Mann legte lauschend die rechte Hand hinters Ohr.

„Nun?"

„Pfff", machte die Maschine, lange und laut.

„Na also", sagte der Flieger anerkennend. Er trat heran und warf die Haube zurück. In dem engen Gepäckraum lag ein Junge, zusammengerollt, das Gesicht rot vor Anstrengung. Über eine Minute hatte er den Atem angehalten.

„Hör mal, Fedja, warum läufst du fort und versteckst dich? Bist du ein Strauchdieb?"

„Selber einer", knurrte der Junge und heulte los.

Goga packte ihn und hob ihn aus der Maschine.

„Du täuschst mich nicht", sagte er streng. „Dein Wort hast du gebrochen. Vielleicht heulst du auch absichtlich."

Fedja wischte die Tränen vom Gesicht.

„Ich hab mein Wort nicht gebrochen", entgegnete er trotzig.

„Weshalb bis du fortgerannt?" Fedja wandte sich ab.

„Na gut", sagte der Flieger. „Komm mit. Zeige mir, wo du wohnst. Aber laß es dir nicht noch mal einfallen, auszurücken. Diesmal lauf ich hinterher."

Sie überquerten das Flugfeld und stießen auf die Straße, die in die Siedlung führte. Fedja ging in der Wegmitte. Er schlurfte und wirbelte Staub auf.

„Heb die Beine", sagte Goga. „Du bist ein Mensch und kein Tankwagen."

Fedja erwiderte nichts, aber er hob die Beine.

„In den Gepäckraum zu kriechen, war dumm", erklärte der Flieger. „Der wird vor jedem Start geöffnet. Man muß ja die Klemmen schließen. Leuchtet dir das nicht ein?"

Fedja rückte ein paar Zentimeter ab. Er fing wieder zu scharren an.

Der Flieger zog die Stirn in Falten.

„Wozu gebe ich mich eigentlich mit dir ab? Am besten, ich bringe dich zur Miliz."

„Bitte sehr", entgegnete Fedja laut und gereizt.

„Warum tun Sie's nicht?"

„Weil ich auch mal so war die du."

„Wie ich Strauchdieb, ja?" vergewisserte sich Fedja mit heller Stimme.

„Nicht Strauchdieb — Wirrkopf."

Schweigend schritten sie durch die Siedlung. Bald war das andere Ende erreicht.

„Wo wohnst du?"

„Sind schon vorbei."

„Warum hast du's mir nicht gezeigt?"

„Vergessen."

„Schön. Zurück." Der Flieger war die Ruhe selbst. „Streng dich an, damit du's nicht wieder vergißt." Zwanzig Minuten später standen sie abermals auf der Straße, die zum Flughafen führte. „Na?" fragte Goga.

„Wieder vergessen", erwiderte Fedja ohne Zögern. Sein Gesicht zeigte keine Spur von Verlegenheit und kein bißchen Angst. Es verriet nichts als Eigensinn. Der Flieger trat einen Schritt zurück. Der Junge hörte sein lautes Lachen.

„Du bist ein Dickkopf", sagte der Flieger, „aber mit mir hast du Pech, ich bin auch einer."

„Wissen Sie nicht, wo dieser Junge wohnt?" wandte er sich an eine vorübergehende Frau. Sie riß die Augen auf und starrte Fedja neugierig an.

„Allerdings weiß ich das. Hat wohl wieder was angestellt? Sehen Sie das grüne Dach dort drüben? Daneben ist es."

„Schönen Dank", sagte der Flieger.

Die Frau war sehr entgegenkommend. „Ich gehe lieber mit", erbot sie sich bereitwillig. „Was hat er angestellt?"

Der Flieger schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Ich finde den Weg jetzt allein. Schönen Dank nochmals."

„Aber es macht mir wirklich nichts aus", beteuerte die Frau, „die Zeit nehme ich mir. Ich begleite Sie bis zur Haustür. Der Schlingel hat den Flughafen unsicher gemacht, was?"

Goga schielte Fedja von der Seite an.

„Das kann man wohl sagen", entgegnete er mit ernster Miene. „Er hat ein Haus angezündet."

„Das ist ja ..." Die Frau stöhnte entsetzt.

„Allerdings", bestätigte der Flieger. „Ein Steingebäude. Stellen Sie sich vor, mit einem Streichholz."

Fedja wandte das Gesicht ab und prustete los. Der Flieger versetzte ihm einen leichten Schlag in den Rücken. Sie gingen los. In der Ferne schimmerte das grüne Dach.

„So ein Schwätzer", geiferte die Frau, „kann seine Zunge nicht im Zaum halten."


Die Tante saß auf dem Bettrand, beide Hände gegen die Schläfen gepreßt. „Ein Dieb", kreischte sie, „ein Dieb." Ihr Körper schwankte hin und her. „Der Sohn meiner Schwester entwickelt sich zu einem Dieb." Es klang beinahe wie Gesang.

Auf dem Tisch lagen zusammengerollte Geldscheine. Als die Tante verstummte, hörte man das Rascheln des Papiers, das geglättet wurde. Das langgezogene

„Iiii ..." schien sich zwischen den Maschen des Spinnengewebes in der Ecke verfangen zu haben und darin unentwegt weiterzuschwingen. „

Ich habe ihn gekleidet, ernährt. Großer Gott! Ihm ein Nest gegeben, in mein eigenes Haus genommen. Großer Gott!"

Der Flieger stand in der Tür. Er blickte unverwandt die Tante an.

„Hören Sie", sagte er endlich, „der Junge hat den ganzen Tag ohne Essen auf dem Flugplatz zugebracht."

„Und ich?" jammerte die Tante. „Habe ich vielleicht einen Bissen runtergekriegt? Wen kümmert das?" „Natürlich hast du heute morgen gefrühstückt", rief Fedja dazwischen. „Außerdem gehört das Geld nicht dir. Es ist für meinen Vater."

„Schweige doch, du Dieb", sagte die Tante, „du undankbarer Dieb!"

Fedja rannte aus dem Zimmer. Krachend flog hinter ihm die Tür ins Schloß.

„Hören Sie, so geht es doch auch nicht", ließ sich Goga vernehmen.

Die Tante funkelte ihn an. „Gehen Sie, Flieger. Ich habe Sie nicht hergebeten. Der Herr behüte Sie."

Dem Flieger wurde schwül. Er bückte sich, um nicht an den Balken zu stoßen, und schritt hinaus. Am liebsten hätte auch er die Tür zugeworfen.

Fedja stand auf dem Hof.

„Wohnst du schon lange hier?"

„Zwei Jahre drei Monate."

„Das ist nicht wenig", meinte der Flieger nachdenklich. „Komm, begleite mich ein Stück."

„Warum?"

„Darum. Wir müssen uns bekannt machen. Wenn du wieder zum Flughafen gehst, bist du nicht mehr fremd dort. Hast du Freunde?"

„Ja. Aber nur auf der Straße. Sie dürfen nicht ins Haus."

„Hm. Komm."

Fedja trat unschlüssig auf der Stelle.

„Aber mein Ehrenwort habe ich gar nicht gegeben", erklärte er. „Beim Sprechen hab ich Ihnen heimlich einen Vogel gezeigt."

„Warum?"

„Weil es dann nicht gilt."


Der Vater fiel 1945 bei einem Luftkampf über der tschechoslowakischen Stadt Bratislava, zwei Monate ehe der Junge geboren wurde. Vor zwei Jahren kehrte Fedjas Mutter, von Beruf Forstingenieur, aus der Taiga nicht zurück. Fedja blieb bei der Tante, die zwei Wochen lang um die verschollene Schwester trauerte und weinte. Ihre Tränen wurden stets von einem rührseligen Wortschwall begleitet.

„Sie ist jetzt alle Sorgen los", jammerte die Tante.

„Und ich? Womit habe ich das verdient, womit?"

Fedja konnte den Anblick des vom Weinen gedunsenen Gesichts nicht mehr ertragen. Es schnürte ihm die Luft ab, wenn er sah, wie sich die Tante nach jeder Mahlzeit eifrig bekreuzigte, dabei verstohlene Blicke durchs Fenster warf und gleich darauf kreischend und rot vor Anstrengung auf die Straße stürzte, um die vor dem Haus spielenden Kinder anzuschreien. Unerträglich waren für Fedja auch die ständigen Gespräche mit dem lieben Gott, den sie offenbar ebenso inbrünstig bedauerte wie sich selber. Dessenungeachtet klagte sie unentwegt über ihr schweres Los und heulte ihm wegen des mißratenen Sohnes ihrer toten Schwester die Ohren voll.

Gott hing in einer Ecke an der Wand. Er hatte müde Augen und machte ein Gesicht, als quälten ihn Tantes endlose Tiraden. Aus seinem Winkel blickte er traurig die Tante an, lauschte ihrem Geflenn und schien jederzeit bereit zu sein, selber den Mund aufzureißen und zu schreien: „Großer Gott, wann hört das endlich auf!"

Wenn Tante das Geschirr abtrocknete oder Fedjas Hemden wusch, sah man ihr deutlich an, was für eine leidgeprüfte Frau sie war. Zugleich aber — und das war merkwürdig — spiegelte sich auf ihrem Gesicht eine stille innere Freude. Es bereitete ihr Genugtuung, daß sie sich schinden mußte und daß alle, Gott und Fedja eingeschlossen, Zeuge waren, wie sauer es ihr wurde. Sie litt, aber sie litt gern und mit Talent. „Vielleicht ist sie überhaupt nicht meine Tante?" überlegte Fedja laut. „Mutter war nicht so. Sie hatte immer freundliche Augen und hieß auch anders."


Auf halbem Wege zum Flugplatz legten sie eine Rast ein, setzten sich an den Straßengraben und ließen die Beine baumeln.

,,Bist ein komischer Kerl", meinte der Flieger, „deine Mutter hatte natürlich den Namen deines Vaters angenommen."

,Ja?" wunderte sich Fedja.

„Anders nicht."

Fedja zog fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern und schauderte zusammen. Es war still geworden, aber in dieser Stille schwang ein fernes, kaum hörbares Summen. Das kam aus der Luft. In großer Höhe jagten vier Flugzeuge mit keck zurückgelegten Flügeln über die Siedlung. Sie stürzten und stiegen, eine rosige Schaumspur hinterlassend, steil wieder auf.

„Warum landen sie nicht?"

„Es sind Militärflugzeuge. Weißt du, in welcher Höhe sie fliegen? Dort oben ist der Himmel tiefblau, fast schwarz. Auch am Tage leuchten die Sterne."

„Woher wissen Sie das?"

Der Flieger stand auf. Er klopfte den Staub aus der Hose. „Ich weiß es eben. Komm zum Flugplatz. Ich bringe dir das Fliegen bei. Du fragst nach Goga Sisow. Ist das ein Vorschlag?"

„Und was für einer ', antwortete Fedja erfreut. „Ich komme."

Überall durfte Fedja nun hingehen, sogar zum Funker. In den Reparaturwerkstätten war er zu finden, neben dem Fahrer der Zugmaschine, im Unter-richtsraum, wo Propeller und Tafeln mit Zylinderschnitten an den Wänden hingen.

Am schönsten waren freilich die Flüge mit Goga. Fedja kauerte auf dem Pilotensitz, Goga saß als Passagier an seiner rechten Seite.


Fedja preßte den Steuerknüppel in den Fäusten, die Füße auf den Hebeln. Er hörte die leisen Kommandos des Fliegers.

„Links anziehn!"

Mit gleichmäßigem Druck bewegte er den Knüppel seitwärts, die Füße auf den Hebeln erstarrten. Fedja hatte es sich fest eingeprägt: Höhen- und Querruder werden durch den Steuerknüppel bedient, die Seitenruder durch die Fußhebel.

„Halt, Rechtskurve und gleichzeitig hochziehen — rechter Fußhebel — Steuerknüppel an den Körper, leichte Rechtsdrehung — noch stärker an den Körper drücken."

Schön, dachte Fedja, sehr schön, ja, ich kann was. Er beobachtete Goga aus den Augenwinkeln.

Goga schüttelte mißbilligend den Kopf. „Du bringst die Maschine zum Trudeln", schimpfte er.

Trudeln bedeutet, das Flugzeug dreht sich wie ein Kreisel, die Erde kommt auf den Piloten zugerast. Mit beängstigender Geschwindigkeit verringert sich die Flughöhe.

Der linke Fußhebel war bis zum äußersten durchgedrückt. Fedja hatte kein Gefühl mehr dafür, wie er den Knüppel hielt: dicht an den Körper oder weit von sich ab? Halt, mußte er nicht so drücken? Sicher, jetzt würde es richtig sein. Na? Abermals ein Seitenblick nach rechts.

„In welcher Höhe befanden wir uns?"

Fedja merkte, daß etwas nicht stimmte, und legte auf alle Fälle was zu. „Tausend Meter."

„Irrtum." Goga schüttelte den Kopf. „Die Flughöhe betrug zweihundert Meter. Du bist ein toter Mann."

„Mit Ihren Kommandos machen Sie mich kribbelig", versuchte sich Fedja zu rechtfertigen. „Allein geht es bestimmt besser."

„Schön, allein. Fang an."

Eine knappe Bewegung der Hand auf dem Schaltbrett. Starter. Eins — zwei. Steuer anziehen, noch stärker. Das ging ja! Goga hatte aufgehört, die Stirn zu runzeln. Also war es in Ordnung. Wolken segelten über den Flughafen. Wenn Fedja den Landeplatz und die Flugzeuge darauf nicht sähe, könnte er meinen, die „Schawruschka" löse sich tatsächlich von der Erde und erhebe sich in die Luft. Diesmal wurde es ein ruhiger Horizontalf lug, ganz ohne Trudeln. Jeder Griff saß, Fedja war die Sicherheit selbst. Mit leichtem Wiegen der Fußhebel und des Steuerknüppels brachte er die Maschine in die Waagerechte.

Goga lachte. „Wo sind wir?" Fedja war jetzt nicht aus der Ruhe zu bringen. Gelassen beantwortete er sämtliche Fragen.

„Was für Wind haben wir?"

„Südwind."

Das bedeutete: Sie flogen nach Süden. Fünf Minuten verstrichen.

„Unter uns liegt Kangotowo."

Goga lachte laut auf. Dabei zeigte er fast alle seine Zähne.

Ich weiß nicht, was er daran lächerlich findet, dachte Fedja.


Abermals nach fünf Minuten: „Wo sind wir?" „Unter uns liegt Iskup."

Goga erhob sich wortlos, stützte die Hände auf den Rand des Flugzeugs und stand mit einem Satz draußen. Das war, gelinde gesagt, eine Schweinerei. In der „Schawruschka" fliegt man ohne Fallschirm.

Fedja sprang hoch, rekelte sich. Vom langen Sitzen schmerzte der Rücken. „Sie sind ein toter Mann", rief er ärgerlich. „Die Flughöhe betrug zweihundert Meter. Sie liegen zerschmettert am Boden."

Statt zu antworten, zeigte Goga auf den Griff der Bremse. Sie war bis zum äußersten angezogen. Keinen Zentimeter hätten sich die Räder des Fahrgestells gedreht. Das Flugzeug wäre nicht aufgestiegen, allenfalls unter angestrengtem Heulen ein Stück über die Startbahn gekrochen. Fedja wurde rot.

„Feierabend", rief Goga, „gehen wir in die Kantine essen."

Niedergeschlagen trottete Fedja hinter Goga drein.

Bremse. Sie war bis zum äußersten angezogen. Keinen Zentimeter hätten sich die Räder des Fahrgestells gedreht. Das Flugzeug wäre nicht aufgestiegen, allenfalls unter angestrengtem Heulen ein Stück über die Startbahn gekrochen. Fedja wurde rot.

„Feierabend", rief Goga, „gehen wir in die Kantine essen."

Niedergeschlagen trottete Fedja hinter Goga drein.

Fedjas Bett stand neben Gogas. Am Abend warf sich der Junge noch lange auf dem quietschenden Gestell hin und her. Neuerdings übernachtete er häufig bei den Fliegern. Der Tante war es recht. Sie sparte Geld.

Fedja dachte an seine heutigen Mißerfolge. Er seufzte.

„Nun beruhige dich endlich", sagte Goga, „du wärst doch gar nicht aufgestiegen."

„Aber beim erstenmal wäre ich abgetrudelt."

Goga gab es zu. „Stimmt, das läßt sich nicht bestreiten."

„Ob ich schnell fliegen lernen würde?"

„Ich glaube schon. Aber damit hat's keine Eile. Mach man erst die Schule fertig."

„Ob ich zu den Düsenfliegern komme?"

„Das weiß ich auch nicht", erwiderte Goga. Mehrmals, in kurzen Abständen, glomm seine Zigarette auf. Daran merkte Fedja, daß Goga nicht gern an die Zeit erinnert wurde, als er selber einen Düsenjäger flog.

„Das weiß ich nicht", wiederholte der Flieger. „Es hängt nicht allein von uns ab. Verstehst du?"

„Ja."

In Wahrheit verstand Fedja vieles nicht. Beispielsweise war ihm unbegreiflich, daß Goga mit seinen ausladenden Schultern, die unter der Lederjacke besonders wuchtig wirkten, nicht kerngesund sein sollte. Aber er war von der Luftwaffe gekommen und hatte dort einen Düsenjäger geflogen. Jetzt beförderte er Postsäcke sowie stille, ängstlich blickende Fluggäste, die gekünstelt, verzerrt lächelten. Er träumte davon, zu seinem Jagdgeschwader zurückzukehren. Wie es hieß, überkam ihn, wenn er allein flog und sich unbeobachtet fühlte, gelegentlich die Sehnsucht nach einem Düsenflugzeug. Dann raste er nur so über die Taiga hin, machte Jagd auf Adler, stieß im Sturzflug nach unten, schüttelte der Maschine die Seele aus dem Leib. Die Passagiere behaupteten, daß er sie während des Fluges in dem Spiegel über seinem Kopf beobachtete und rätselhaft lächelte. Wenn sie dieses Lächeln sahen, erstarrten sie vor Angst. Die Gerüchte über Gogas Kunststückchen waren auch ihnen zu Ohren gekommen. Aber der Pilot ging mit der Maschine um, als wäre sie keine stabile „Schawruschka", sondern ein Kinderwagen. Dennoch wurden die Fluggäste beim Verlassen der Kabine das Gefühl nicht los, daß sie nur durch ein Wunder einer tödlichen Gefahr entronnen waren. Zum Abschied schüttelten sie Goga verdächtig lange die Pranke.

Fedja wußte das alles. Betont rauh, um seinen Worten einen überzeugenden Klang zu verleihen, sprach er in die Dunkelheit: „Sie werden schon wieder zu den Düsenjägern kommen, nur das Rauchen müssen Sie lassen, das ist schädlich."

„Auch gut. Machen wir Schluß damit." Die Kippe landete im Aschenbecher.

„Schlafen wir?"

„Ja."

Wenige Minuten später hob Fedja den Kopf aus dem Kissen. Er fragte: „Goga, ist es wahr, daß Sie Adler jagen?"

„Rate mal."

„Ich weiß nicht. Geht das überhaupt?" „Nein, es geht nicht."

„Ist also nur ein Gerücht, nicht?"

„Ich schlafe schon", erwiderte Goga.


Goga war sehr oft unterwegs. Er flog in die entferntesten Gebiete, auch zu den Flößstützpunkten am Oberlauf der Flüsse. Dort gab es für die große „Schawruschka" wenig geeignete Landeplätze. Goga mußte auf einem steinigen Fleckchen niedergehen, auf einem gewundenen Flüßchen, einem faulig stinkenden See, immer unter der Gefahr, gegen einen im Wasser verborgenen Ast zu rennen.

Die übrigen Piloten der Abteilung beflogen die gleiche Strecke. Sie schimpften auf die niedrig treibenden Wolken, auf den Nordwind, der sie von der Seite bedrängte, auf die abgesunkenen Baumstämme, die sie aus dem Wasser bedrohten, auf die Pferde, die meist dort weideten, wo es für eine Landung am günstigsten war.

Trotzdem wäre keinem eingefallen, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Sie sagten, in unserer Zeit ist das Fliegen eine harmlose Sache. Fußgänger sterben mehr als Piloten. Den Gedanken, daß sie von einem Flug womöglich nicht zurückkehren könnten, wiesen die Männer weit von sich. Aber wie schnell gab es einen Motorschaden. Und mußte man nicht immer mit einem dummen Zufall rechnen? Wennschon. Dann plumste man eben in die Taiga. Die anderen würden einen suchen und finden.

Nur Fedja empfand beim Anblick der mattgrün schimmernden Flügel von Gogas „Schawruschka" neuerdings Unbehagen. Er schlenderte ziellos über das Gelände des Flughafens und ärgerte den Dispatcher mit seinen Fragen.

Einmal gab es ernsthaften Anlaß zur Aufregung.


Ende Juli waren einer Gruppe von Topographen aus irgendeinem Grunde die Lebensmittel ausgegangen. Ununterbrochen schickten die hungernden Menschen Hilferufe in den Äther. Da keine ständige Funkverbindung mit ihnen bestand, vergingen zwei Tage, bis der Flughafen ihre Signale auffing.

Drei Flugzeuge wurden ausgeschickt, um die Topographen zu suchen.

Ein kalter Wind fegte über die Erde, zerrte an den Tragflächen und hüllte die Taiga in einen Regenschleier. Alles war grau in grau. Zwei Piloten kehrten am Abend zurück. Ihre Tanks waren leer, die Benzinvorräte bis auf die letzten Tropfen verbraucht. Von Goga fehlte jede Nachricht.

Fedja lief an das abschüssige Ufer des Jenissej. Er starrte lange in den dichten, trüben Nebel, der über dem Fluß hing.

Als das Flugzeug auftauchte, war es schon finster. Beängstigend niedrig schwebte die Maschine heran. Der Motor arbeitete nicht mehr. Fedja hörte das feine Pfeifen der Luft in der Verspannung. Ohne einen Zentimeter zu verschenken, segelte die „Schawruschka" über das Hoteldach hinweg und landete in den Gemüsefeldern.


So etwas brachte nur Goga fertig. Als die Tanks leer wurden, war er schnell höher gestiegen und hatte trotz der beginnenden Dunkelheit mit sicherem Blick das einzige Stück Erde entdeckt, auf dem er landen konnte. Bis zum Rollfeld des Flughafens wäre die Maschine nicht mehr gekommen.

Goga hatte als einziger die Topographen ausfindig gemacht und Lebensmittel abgeworfen, als einziger jedoch auch gegen die Anweisungen verstoßen. Was sind Anweisungen, wenn man weiß, daß in der Nähe Menschen Borkensuppe kochen, um nicht zu verhungern? Vom Kommandanten gab es einen tüchtigen Rüffel, aber Goga war an jenem Abend glücklich.

Im Morgengrauen wurde die Maschine von einem Trecker aufs Flugfeld gezogen. Sie war unbeschädigt.

„Wenn Sie nun Bruch gemacht hätten", meinte Fedja.

„Das war unmöglich", erwiderte Goga, „mit dieser Maschine macht man keinen Bruch. Sie landet, wo du willst."

Fedja schüttelte den Kopf. „Mein Vater war auch Flieger und ist umgekommen." Zum erstemal wurde dem Jungen mit erschreckender Deutlichkeit klar, daß Goga ein ähnliches Schicksal erleiden könnte.

Goga rückte auf Fedjas Schultern vorsichtig den Anorak zurecht.

„Eine gute Kajakjacke", meinte er anerkennend. „Die mußt du in Ehren halten. Sie ist wirklich auserlesen."

„Ich hab sie vom Vater." „Dacht ich mir schon."

Goga schwieg eine Weile, nahm die Mütze ab, legte sie aufs Gras.

„Dein Vater ist im Krieg gefallen. Jetzt ist Frieden."

„Trotzdem. Man kann als Flieger umkommen."

Wieder strichen Gogas Finger auf Fedjas Jacke die nicht vorhandenen Falten glatt. Mit abgewandtem Gesicht fragte er: „Willst du nicht bei mir bleiben?"

„Ich?"

„Nun ja."

Ungläubig starrte Fedja den Flieger an.

„Meinen Sie das im Ernst?"

„Mit solchen Dingen spaße ich nicht."

Das war alles, was Goga sagte, aber von diesem Tag an herrschte zwischen ihnen ein stillschweigendes Einvernehmen, als wäre bereits alles entschieden und man müßte nur noch den Tag festsetzen, an dem Fedja das Haus der Tante für immer verlassen würde. Auf seinem Weg durch die staubigen Straßen betrachtete er aufmerksam die Häuser, die Aushängeschilder der Läden und alles andere, als wolle er es sich für immer einprägen.

Der August ging ins Land. Morgens hinterließen die Räder der Tankwagen tiefe Spuren im taufeuchten Gras. Aus den Schluchten und Niederungen kroch die Kälte hervor, die sich in der Nacht angesammelt hatte. Am kühlen Augusthimmel erklang deutlich und weithin vernehmbar das Brummen der Motoren. Schon längst hatte Goga das Versprechen abgegeben, Fedja einmal mitzunehmen. Vorerst machte ihnen die Witterung einen Strich durch die Rechnung. An den wenigen Tagen, wo das Wetter einigermaßen günstig war, bewältigte die Abteilung mit Mühe und Not die vorgesehenen Transportflüge. Fedja hatte schon alle Hoffnung verloren. Eines Abends erklärte Goga überraschend, daß sie am nächsten Morgen gemeinsam fliegen würden. Es war ein ruhiger, sonniger Tag. Die „Schawruschka" erhob sich über die Rollbahn und flog mit Westkurs davon. Vier Stunden später, nach einer ungefährlichen Landung in Janow-Stan, sollte sie wieder zur Stelle sein.


Als die Frist um war, fehlte von der Maschine noch jede Spur.

Der Flughafen trat mit Janow-Stan in Funkverbindung. Dort war Gogas Flugzeug nicht gesichtet worden.

Es wurde Abend. Auch am folgenden Morgen kehrte Goga nicht zurück.

Da stiegen alle acht Maschinen seiner Abteilung auf, um ihn zu suchen. Bis zum Anbruch der Abenddämmerung kurvten sie über der Taiga, und die Piloten hielten nach den grünen Tragflächen Ausschau. Unverrichteterdinge kehrten die acht Maschinen zum Flughafen zurück. Niemand wußte zu sagen, was aus Goga und seinem kleinen Freund geworden war.

Fedjas Tante lief wie rasend durch das ganze Gebäude, von Zimmer zu Zimmer, von Stockwerk zu Stockwerk. Bis in die fernsten Winkel schallte ihre kreischende Stimme.

„Mörder!"

Die verstörten Piloten schlichen schuldbewußt an ihr vorbei. Die Kassiererin, die am Vortag Fedjas Flugkarte ausgeschrieben und das von Goga entrichtete Geld eingestrichen hatte, hockte verängstigt und zitternd in ihrem Kämmerlein. Aber die Stimme drang auch zu ihr. Sie bohrte sich unter die Kopfhörer des Funkers, sie schrillte durch die mit Filz abgedichtete Tür, die zum Arbeitszimmer des Chefs führte. Überall hörte man das gellende, beinah triumphierende Geschrei von Fedjas Tante.

„Mörder!"


Fedja saß neben Goga. Tief unter sich sahen sie die Windungen der Flüsse. Die Erde glich einem riesigen Eierkuchen. Sie war plattgedrückt und rund. Da sie fortgesetzt schwankte, verspürte Fedja leichten Schwindel. Wenn die Maschine eine Kurve zog, schien die Erdscheibe auf der Kante zu stehen, und der Schatten des Flugzeugs glitt darüber hin wie über eine Wand. Fedja war hellwach. Er reckte sich vom Sitz empor. Am ganzen Körper spürte er die Stöße und Schwankungen der Maschine. Die Kabine hatte dünne Wände. Wie klein und zerbrechlich die „Schawruschka" auf einmal wirkte. Fedja wagte sich nicht zu regen.

Allmählich schwand die Furcht. Fedja drehte sich zu Goga um und sah eine Zeitlang zu, was sein großer Freund tat, um das Flugzeug fest in die Gewalt zu bekommen.

Es war erstaunlich einfach. Goga hockte in gekrümmter Haltung auf dem Pilotensitz und preßte den Steuerknüppel mit kurzen Stößen vor und zurück. Gleichzeitig federten seine Beine auf den Fußhebeln. Die leichten Bewegungen flossen ineinander über. Fast sah es aus, als übte Goga einen modernen Tanz. Fedja dachte: Wenn er jetzt Steuerknüppel und Fußhebel losläßt, wird die ,,Schawruschka" genauso ruhig und gerade weiterfliegen.

Aber als Goga den Kopf wandte, um seinen kleinen Begleiter anzusehen, und dabei für eine Sekunde die Maschine sich selbst überließ, rutschte die Erdscheibe sofort wieder auf die Seite.

Etwa eine Stunde nach dem Start stieß der Flieger Fedja in die Seite und deutete mit einer Kopfbewegung über den Rand des Flugzeugs. Fedja reckte vorsichtig den Hals. Unter ihnen flatterten Wildgänse, eine große Schar. Fedja sah die schweren Flügelschläge und wunderte sich, weshalb die Vögel nicht vorwärts kamen. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß sie etwas langsamer flogen als die ,,Schawruschka".

Der Schatten des Flugzeugs fiel auf die Gänse. Die Flügelschläge wurden wilder. Jetzt war der Schwarm sogar schneller als die Maschine. Der Abstand wuchs wieder. Da gab Goga Gas. Der Motor heulte auf. Das Geräusch peinigte die Gänse. Sie gaben das Letzte her und ließen das Flugzeug abermals ein Stück hinter sich.

Fedja schmunzelte. Goga streifte ihn mit einem Blick, rückte seinen Helm zurecht und setzte sich fester in den Sessel.

Der Steuerknüppel fuhr nach vorn. Augenblicklich rutschte der Horizont in die Höhe und verschwand. Fedja merkte, wie er federleicht wurde. Das Flugzeug schien unter seinem Körper fortzugleiten. Er wollte schreien, daß Goga mit dem Unfug aufhören sollte, doch da wurde er schon auf den Sitz zurückgedrückt. Die Maschine lag wieder waagerecht. Sie flog mitten in den Gänseschwarm. Die Vögel stoben auseinander. Als Fedja begriff, daß alles vorüber war, freute er sich, die Furcht bezwungen zu haben. „Wir sind Sieger", rief er begeistert, „wir haben sie eingeholt."


Völlig überraschend machte eine der Gänse kehrt und flog der „Schawruschka" entgegen. Ob sie vor Schreck ihr bißchen Vogel verstand verloren hatte oder in einem törichten Anfall von Tollkühnheit hoffte, den Feind in die Flucht zu schlagen, ist schwer zu entscheiden. Jedenfalls huschte sie wie ein flüchtiger Schatten auf das Flugzeug zu. Fedja hörte einen dumpfen Aufprall. Ein Zittern lief durch die Maschine, die wie irrsinnig zu wackeln begann.

Mit einer blitzschnellen Bewegung schaltete Goga die Zündung aus. Schon hörte das Schütteln auf, genauso plötzlich, wie es begonnen hatte. Alles war still, unheimlich still. Mit Windeseile kam die Erde näher.

Entsetzt, aber mit einem Schimmer von Hoffnung in den Augen, blickte Fedja seinen Freund an. Goga war allmächtig, er hatte eine feste Hand, er vermochte sie zu retten. Fedja klammerte sich an diesen Gedanken wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Goga saß vornübergeneigt auf seinem Sessel, blinzelnd, als visierte er ein Ziel an. Das Flugzeug lag waagerecht. Es ergab sich dem kräftigen Mann, sank jedoch unablässig tiefer. Immer näher kamen die Spitzen der Fichten. Unten dehnte sich die Taiga.

Mit einer letzten, genau berechneten Bewegung des Steuerknüppels riß Goga die Maschine nach unten, hielt auf eine kleine, von jungen Tannen bewachsene Fläche zu.

Dann spürte Fedja Gogas Hand auf seiner Schulter. Sie drückte ihn gewaltsam zurück. Gleich darauf wurde der Bauch der Maschine von heftigen Schlägen erschüttert. Eine unwiderstehliche Gewalt zwang Fedja aus dem Sitz und riß ihn nach vorn gegen das Schaltbrett. Noch sah er die dahinrasenden Baumwände. Über seinem Kopf zuckten die Zweige. Ein letzter, schwerer Schlag traf die „Schawruschka". Fedja verlor das Bewußtsein.

Still war es rings umher. Durch den niedrigen Forst zog sich ein breiter Korridor von niedergewalzten Grashalmen. Wie aufgeschreckte Tiere zitterten die jungen Tannen. Nur langsam richteten sie ihre biegsamen Stämme wieder in die Höhe.


Als Fedja die Augen aufschlug, erblickte er über sich einen dunkelgrünen Himmel. Im Kopf pochte dumpfer Schmerz. Von der zerschundenen Stirn tropfte Blut auf den Anorak. Nach und nach wurde der Blick klarer. Fedja begriff, daß er nicht in den Himmel starrte, sondern in ein grünes Dach von Tannenzweigen. Goga saß nicht mehr neben ihm.

Vorsichtig kletterte Fedja aus der Maschine. Der Kopf schmerzte unerträglich. Es kostete große Überwindung, sich umzuschauen. Goga lag etwa fünf Meter vor dem zertrümmerten Flugzeug im Gras.

Fedja schwankte auf ihn zu. Jeder Schritt wurde zur Qual, war wie ein schmerzhafter Schlag in den Nacken. Neben Goga ging er in die Knie.

„Goga!"

Der Flieger schwieg. Er lag auf dem Gesicht, unmittelbar am Stamm einer Fichte. Der linke Arm war ausgestreckt, als hielte er noch den Steuerknüppel in der Faust.


Behutsam hob Fedja den schweren Kopf vom Boden auf. Er starrte in das vertraute Gesicht. „Goga!"

Der Flieger öffnete die Augen, sah Fedja mit einem trunkenen, verständnislosen Blick an.

„Ich komme ja schon", murmelte er ruhig, gleichmütig, bewegte die Hand, um sich an den Kopf zu fassen. Schmerz und Freude vermischten sich auf seinem Gesicht.

„Du lebst?" fragte er ungläubig.

„Mein Kopf", stöhnte Fedja.

„Aber du lebst. Ich muß mich aufsetzen. Hilf mir."

Fedja krallte die Finger in Gogas Lederjacke. Goga stützte beide Hände auf die Erde und rutschte mit dem Rücken gegen den Stamm der Fichte. Seine Stirn bedeckte sich mit Schweiß.

Er schloß die Augen und flüsterte stöhnend: „In der Kabine — in der Seitentasche — unsere Bordapotheke. Hol sie her."

Mühsam wankte Fedja zum Flugzeug, kroch in die Kabine, fand dort den kleinen Kasten und schleppte ihn zurück. Goga nahm eine Binde heraus, legte Fedja einen breiten Verband um die Stirn. Die Wunde hörte zu bluten auf.

„Jetzt die Plane aus dem Gepäckraum. Hilf mir beim Aufstehen."

Fedja setzte sich hin. Goga schlang ihm die Arme um den Hals. Schwankend rappelten sich beide auf die Füße. Fedja dröhnte der Schädel, aber es entging ihm nicht, daß sich Goga nur unter Aufbietung aller Kraft weiterschleppte.

„Warum kannst du nicht allein laufen?" fragte er besorgt.

„In der Brust stimmt was nicht. Scheinen die Rippen zu sein."

Mit vereinten Kräften zogen sie die Plane heraus und breiteten sie vor der Fichte aus, gegen deren Stamm Goga geschleudert worden war.

Dort verbrachten sie die Nacht. Als es tagte, hörten sie leises Motorengeräusch, das bald wieder verstummte.

„Hier finden sie uns nicht", meinte Goga. „Wir sind rund dreißig Kilometer von der Flugstrecke abgekommen. Die Maschine steckt mitten im Tannendickicht. Von oben ist sie nicht zu sehen. Verstehst du, Fedja?"

„Ja."

„Kannst du laufen?"

„Gleich." Fedja stand auf. Vor seinen Augen tanzte und flimmerte es. „Mein Kopf ist wie gespalten. Ich will gehen und kann nicht."

Goga blickte Fedja gerade in die Augen. „Das ist alles zum Verrücktwerden. Wenn ich allein war, habe ich den Gänsen häufig einen kleinen Schreck eingejagt, aber es wäre unmöglich gewesen, eine zu rammen, auch wenn ich gewollt hätte. Sie sind immer schön ausgewichen. Nur dieser idiotische Kerl gestern mußte gegen den Propeller fliegen und ihn kaputt machen. Versteh mich nicht falsch, mein Kleiner. Ich will mich nicht herausreden. Wenn wir zurückkommen, habe ich nichts zu lachen."

„Von mir erfährt keiner was", versicherte Fedja.

„Schönen Dank", sagte Goga langsam, „schönen Dank, Fedja. Ich werde selber hart sein gegen mich. Aber jetzt muß ich erst mal fort von dir. Wenn ich auf die Beine komme, schaffe ich es bestimmt. Ich wül dich nicht im Stich lassen, verstehst du. Es ist einfach so, daß sie uns hier niemals finden würden. Bis zum Fluß sind es mindestens zwanzig Kilometer. Sie würden überhaupt nicht auf den Gedanken kommen, uns auf diesem Abschnitt zu suchen. Du mußt mir nur ein wenig behilflich sein."

Der Junge stützte die Unterarme auf den Boden. Der Flieger stemmte sich mit der ganzen Last seines Körpers gegen den schmalen Rücken, kam mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung auf die Füße und stand schwankend vor Fedja, der sich rasch wieder hinsetzen mußte, weil ihn die Kräfte verließen.

Goga warf zwei Tafeln Schokolade auf die Plane. „Das ist alles, was wir haben. Unsere eiserne Ration. Hier hast du eine Leuchtpistole. Sie ist geladen. Wenn du einen Motor hörst, schießt du in die Luft. Die Schokolade mußt du dir einteilen. Sieh zu, daß sie für zwei Tage reicht. Nun wickle dich in die Plane. Es wird kalt. Ich kann dir nicht helfen, sonst komme ich nicht wieder hoch."

Er ließ die Pistole fallen und warf drei dicke Hülsen dazu. Das waren Leuchtpatronen.

Fedja hatte Mühe, den Sinn der Worte zu erfassen. Er litt an rasendem Kopfweh. Vor seinen Augen verschwamm alles. Als er den Kopf hob, erblickte er durch dichten Nebel die hünenhafte Gestalt des Fliegers, der merkwürdig zitternd und schwankend hinter den Bäumen verschwand.

Fedja saß reglos auf der Plane. Die geringste Bewegung verursachte reißende Schmerzen. In seinem Gehirn war es leer. Er dachte weder an Goga noch an sich, noch daran, ob man ihn hier finden würde oder nicht. Fünf Meter von der Fichte entfernt lag die zertrümmerte „Schawruschka". Der eine Flügel hatte sich in die Erde gewühlt. Die tote Maschine gehörte der Taiga. Sie schien ein Teil von ihr geworden zu sein. Gleichmütig betrachtete der Junge das libellenähnliche Profil. Auch daß sich der eine Schwimmer in einen Ameisenhügel gebohrt hatte, ließ ihn kalt. Zu essen verspürte er keine Lust. Neben ihm lag die Schokolade. Ameisen krochen darüber. Er hätte eine Hand ausstrecken müssen, um die Tafeln in die Tasche zu stecken. Es war ihm zuviel.



Alles war ihm zuviel. Gegen Abend hörte er wieder Motorengeräusch. Es kam näher und schien bald über seinem Kopf zu schweben. Er hob die Leuchtpistole. Eine Feuerkugel raste in die Luft. Das Flugzeug entfernte sich. Das Brummen wurde schwächer. Nacheinander stopfte Fedja zwei Patronen in den Lauf und jagte die Raketen der davonfliegenden Maschine nach. Der Pilot bemerkte es nicht.

Der Junge wickelte sich fester in die Plane. An Schlaf war nicht zu denken. Bis zum Morgen hockte er vor dem Stamm der Fichte und lauschte auf jedes Geräusch, das aus der Dunkelheit an sein Ohr schlug. Angst hatte er nicht. Ihm war alles einerlei.

Als die Nacht zu Ende ging, fielen Tautropfen auf die Plane. Wenn sich Fedja bewegte, kamen die Tropfen ins Rollen, flossen zusammen und rannen herab. In den Falten bildeten sich kleine Lachen. Mit beiden Händen packte Fedja die Plane und zog die Falten an den Mund. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er schrecklichen Durst hatte.

Dies war der Morgen des dritten Tages.

Später lärmte wieder ein Motor in der Luft.

Der Junge lauschte auf das gedämpfte Tacken. In seinem geplagten Kopf machte sich die verschwommene Vorstellung breit, daß er kein Recht habe, auch die letzte Patrone auf gut Glück in die Luft zu knallen. Der Gedanke fraß sich fest. Alles andere tat Fedja wie im Traum. Er rappelte sich hoch, schwankte mit weichen Knien zum Flugzeug und drehte den Benzinhahn auf. In einem dicken Strahl spritzte der Treibstoff auf die Erde. Fedja stellte sich hinter einen Baum und schoß in die Pfütze, die sich im Nu entzündete. Wie eine Fackel stand die Flamme in der Taiga. Eine Rauchfahne flatterte zum Himmel auf.

Das Rettungskommando, das der Pilot an die Brandstätte gerufen hatte, entdeckte den Jungen fünfzig Meter von dem brennenden Flugzeug entfernt im Gras. Als Fedja nach Goga gefragt wurde, konnte er schon nicht mehr sprechen. Er zeigte nur noch mit einer matten Handbewegung die Richtung an, in die sein Freund gegangen war.

Den Flieger fanden sie jenseits des Flusses an einen Baum gelehnt. Verbissen hielt er sich auf den schwachen Beinen, rutschte kraftlos am Stamm herab und richtete sich auf. Er durfte nicht fallen. Dazu hatte er kein Recht. Wieder aufzustehen, wäre unmöglich gewesen. Zwanzig Kilometer hatte Goga zurückgelegt und für diese Strecke annähernd vierundzwanzig Stunden gebraucht. Durch dichtes, hüfthohes Gras war er von Baum zu Baum gewankt, über modernde Äste gestolpert, hatte kein einziges Mal gewagt, sich hinzulegen oder auch nur zu setzen — aus Furcht, nicht wieder auf die Beine zu kommen. Noch sah er die Leute nicht, die ihn suchten. Er ließ den Baumstamm los und taumelte mit vornübergebeugtem Körper weiter.

Bis zur nächsten Siedlung verblieben zwei Kilometer.

Beide, der Mann und der Junge, wurden mit einem Flugzeug ins Krankenhaus gebracht. Wie sich herausstellte, hatte Fedja eine Gehirnerschütterung. Bei Goga waren vier Rippen gebrochen. Noch in der Nacht verlangte Goga den Arzt zu sprechen.

„Was ist mit dem Jungen?"

„Müssen Sie das wirklich jetzt wissen?" erwiderte der Arzt ungehalten. „Deswegen lassen Sie mich von den Betten meiner Patienten rufen? Sie sollen ruhigliegen und keine Fragen stellen."

„Ich bitte Sie aber", entgegnete Goga hartnäckig, „ich bitte Sie sehr."

„Er hat eine Gehirnerschütterung."


„Wie kann man ihm helfen?" „Einzig und allein durch Ruhe." „Er wird durchkommen?"

„Sehr wahrscheinlich."

„Und völlig gesund werden?"

„Das ist möglich."

„Lassen Sie bitte einen Piloten holen."

„Einen Piloten?" fragte der Arzt erstaunt. „Mitten in der Nacht?"

„Ja. Irgendeinen aus dem Linienverkehr. Sie schlafen im Hotel."

„Ich bin doch nicht verrückt", entgegnete der Arzt.

„Ich bitte Sie aber", sagte Goga wieder, „ich bitte Sie sehr."

Er erreichte, was er wollte. Kurze Zeit später kam ein Pilot.

„Hör zu, Freund", wurde er von Goga empfangen, „wann fliegst du nach Krasnojarsk?"

„Morgen."

„Und zurück?"

„Übermorgen."

„Bring einen Professor mit. Der Arzt wird dir erklären, was für einen."

„Er braucht keinen Professor", brauste der Arzt wütend auf. „Er braucht nichts als Ruhe."

„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten." Goga sah den Arzt bittend an. „Aber ich habe keine Wahl. Der Junge muß leben."

„Schlafen Sie", schrie der Arzt, der endgültig die Fassung verlor, „schlafen Sie unverzüglich. Und Sie, Genosse, Sie gehen wieder nach Hause."

Der Herbst kam mit Graupel- und Hagelschauern. In Erwartung des ersten Frostes lagen am Fluß die Kutter auf Rollen. Mit der Schiffahrt ging es zu Ende.


Durch das Fenster drangen die tiefen Bässe der Dampfersirenen in Fedjas Zimmer. Das Krankenhaus stand auf einer Anhöhe unmittelbar über dem Hafen.

Fedja durfte schon aufstehen. Dreimal war die Tante gekommen, hatte weinend am Bett gesessen, den weißen Kittel ausgiebig mit Tränen benetzt und Fedja um Rat gefragt, wo sie am besten klagen sollte, beim hiesigen Gericht oder gleich in Moskau. Sie wollte von Goga Schmerzensgeld für die ihrem Neffen zugefügte Körperverletzung verlangen.

Auch einige Klassenkameraden kamen Fedja besuchen. Die viel zu großen weißen Kittel hingen komisch an ihnen herum. Die Kinder fühlten sich unbehaglich. Sie sprachen im Flüsterton und gingen bald wieder. Die Apfelsinen, die sie auf den Hocker gelegt hatten, dufteten herrlich nach Frühling. „Wenn ich gesund bin, fahre ich fort von hier", hatte Fedja beim Abschied gesagt.

Der Pilot brachte tatsächlich einen Spezialisten aus Krasnojarsk mit. Doch tobte der Professor nicht minder heftig als der Arzt des kleinen Krankenhauses. Es gäbe keinen Grund, in Panikstimmung zu verfallen, schrie er wütend und flog mit dem nächsten Flugzeug wieder ab, ohne für den nutzlosen Besuch eine Kopeke genommen zu haben.

An einem Oktobertag trat Goga ins Zimmer. Er sagte: „Heute reise ich. Mit dem letzten Dampfer."

Fedja hatte das erwartet. Trotzdem würgte etwas in der Brust. In seiner Kehle saß ein Kloß, der ihm fast die Luft abschnürte. Der Junge drehte sich zur Wand. Er kämpfte gegen die Tränen.

„Und ich?" stieß er endlich hervor. „Morgen werde ich entlassen."

„Ich habe unsere Abmachung nicht vergessen. Weißt du, Fedja, ich brauche ein Jahr Zeit, um wieder ein Mensch zu werden. Gegenwärtig traut mir keiner mehr, und die Leute haben recht."

„Das von den Gänsen habe ich nicht erzählt", flüsterte Fedja. „Sie waren hier, sie wollten mich aushorchen, aber ich habe nichts verraten."

„Darum geht es doch nicht. Glaubst du an einen Schwur? Ich schwöre, daß ich dich in einem Jahr holen werde. So lange brauche ich. Gegenwärtig ist niemand berechtigt, mir zu vertrauen, auch du nicht. Weißt du, ich bin aus dem Komsomol ausgeschlossen worden."

„Na und?" meinte Fedja. „Ich habe Flugverbot."

„Na und?"

„Sie haben mich in eine andere Abteilung versetzt. Ich kann unsern Jungs nicht mehr in die Augen sehen."

„Na und, na und?" fragte Fedja hartnäckig. „Wozu erzählst du mir das alles? Du willst mich nur nicht mitnehmen. Das ist auch gar nicht nötig."

„Aber Fedja, sei doch nicht so empfindlich." Goga packte ihn an den Schultern. Der Junge riß sich los. „Ich gebe dir mein Wort. In einem Jahr. Heute ist es zu früh. Im Augenblick weiß ich selber nicht, wie es mit mir weitergehen soll."

Goga erhob sich. Von der Tür aus murmelte er ein nichtssagendes Abschiedswort: „Sei ein Mann."

Fedja wollte kein Mann sein. Er stand am Fenster und sah zu, wie Goga mit seinem Koffer zum Hafen ging. Unter den wuchtigen Schritten schwankte die Landungsbrücke. Ehe Goga den Dampfer betrat, blieb er stehen und drehte sich um. Wie elektrisiert fuhr Fedja zurück.

Ein langgezogenes Heulen brachte die Fensterscheibe zum Klirren. Fedja spürte es an dem Zittern auf der Stirn. Hafenarbeiter rollten eilig die letzten Fässer heran.

Ein zweites Signal zerriß die Luft und ertrank in dem grauen, dichten Nebel, der auf den Fluß sank.

Ein Matrose schritt über die Planken, machte gemächlich das Tauende los.

Fedja stieß das Fenster auf und kletterte hinaus. Wie er war, in seiner grauen Krankenhaushose und dem weißen Kittel, rannte er die Anhöhe hinab. Als die Sirene zum drittenmal heulte, stand er bereits auf dem Dampfer, sprang über mehrere Körbe hinweg und erblickte Gogas nassen Wettermantel.

„Ich wollte dir nur sagen ...", begann Fedja.

Die Maschine stampfte. Langsam entfernte sich das Schiff von der Landungsbrücke.

„Laß nur", begrüßte ihn Goga froh, „ich wollte dir auch sagen ... Verstehst du, Fedja? Beim ersten Anlegen kaufen wir was zum Anziehen für dich."



Загрузка...