Wie ein Kompaß funktioniert

Ende Mai trieb die letzte Eisscholle auf dem Fluß. Sie strahlte in blendendem Glanz wie der Frühling. Kerzengerade schoß das junge Gras empor. Die Zedern, die steinhart gefroren waren, tauten auf. Sogar das vom Treibeis niedergerissene Gesträuch am Ufer bekam junge Triebe und wurde wieder grün. Auf der Erde dampften die braunen Blätter des Vorjahres. In der Wärme rollten sie sich zu kleinen Röhren zusammen. Es dampften die silbrig bemoosten Stämme der Bäume, die herabgefallenen Nadeln. Die Luft war ein einziger wallender Brodem. Unter den Zweigen der Fichten standen die Sonnenstrahlenbündel wie bläuliche Säulen.

Im Winter hat die Taiga hundert Wege. Man geht, wo es einem gefällt. Wenn der Frühling kommt, liegt Windbruch im dichten Gras. Fallen lauern allerorts. Fußangeln, über die der Wanderer stolpert. Die Wiesen haben sich in Sümpfe verwandelt, die Lichtungen in Seen. Ein Marsch durch die Taiga ist reich an Hindernissen und beschwerlich.

Ein Junge kam aus dem Wald. Er stand auf einer sonnigen Lichtung, rückte mit einer Bewegung der Schultern den Rucksack zurecht und blickte kopfschüttelnd zurück. Unwillen spiegelte sich in seinem Gesicht. Er spie aus.

„Willst du dort übernachten?" rief er.

„Seeen-jaaa, ich kooo-me", ertönte es aus der Taiga zur Antwort.

Hinter einem Baum kam ein zweiter Junge hervor, gleichfalls mit einem Rucksack auf dem Rücken, schmächtig wie Senja, der auf ihn wartete, jedoch um einige Jahre jünger. Er kniete nieder, ließ sich auf die Hände fallen, schnaufte.

„Heiß", ächzte er, lächelte aber.

„Mal ist es dir zu warm, mal frierst du. Wir könnten längst zu Hause sein."

„Man tut, was man kann", meinte der jüngere, ohne die unfreundliche Bemerkung des älteren übelzunehmen. „Aber ich bin kein D-Zug."

Er berauschte sich an dem Vergleich und wiederholte: „Kein D-Zug."

„Red nicht soviel", schimpfte sein Bruder Senja, „komm lieber."

„Ist das eine Hitze", sagte der andere und stöhnte, „zum Umkommen." Er streifte den Kragen seiner wattierten Jacke zurück und reckte den Hals.

„Bleib dort, bis du Wurzeln schlägst", sagte Senja und schritt weiter.

Sein Bruder riß sich die Mütze vom Kopf. „Dann machen wir es eben so", schrie er. „Besser?"

„Besser", knurrte Senja, ohne den Kopf zu wenden. — Sie wanderten bereits drei Stunden durch die Taiga. Im Rucksack schleppte jeder von ihnen acht Kilogramm Mehl. Die Last hatten sie gleichmäßig verteilt, aber ihre Kräfte waren unterschiedlich. Der jüngere wurde rasch müde und blieb wieder zurück.

Die Verkaufsstelle auf dem Baugelände, wohin sie von der Mutter nach Mehl geschickt worden waren, hatte zwei Sorten angeboten: weißes und schneeweißes. Sie hatten das schneeweiße genommen und ihr gesamtes Geld ausgegeben. Hin waren sie mit dem Dampfer gefahren. Zurück mußten sie durch die Taiga laufen.

Der Morgentau war noch nicht verdunstet. Aus jedem Tropfen strahlten kleine Sonnen. Dem jüngeren tat es leid, daß sie von den Grashalmen geschüttelt wurden und unter seinen Absätzen verschwanden.

Des langen Schweigens überdrüssig, meinte er: „Senja, hoffentlich geht alles gut. Mutter hat gesagt, wir sollen Mehl zu dreißig nehmen."

„Und wir haben fünfziger genommen, was ist dabei", erwiderte Senja.

Der jüngere hob den Rucksack an. Er rannte einige Schritte, um den Bruder einzuholen. Auf dem nassen Laub rutschte er aus und fiel hin. Der Rucksag schlug ihm in den Rücken. Eine weiße Wolke stob in die Luft. Die Erde sah aus wie gepudert.

Der Junge lag still, drückte eine Gesichtshälfte ins Gras und beobachtete, wie die Mehlstäubchen sich auf die zitternden Tautropfen setzten, wie sie langsam dunkel wurden. Aufzustehen fehlte ihm die Kraft.

Erst als der Bruder umkehrte, sprang der Kleine hoch. Er guckte an sich herab und schüttelte die Blätter von der Jacke.

„Dich habe ich zum letztenmal mitgenommen. Verstanden?"

Der Kleine prüfte schweigend nach, ob die Schnur am Rucksack noch fest saß, und trottete weiter hinter dem Bruder her. Eine Zeitlang war nichts zu hören als das Rascheln des Laubes und das Knacken der Zweige, die unter den Schuhsohlen zerbrachen.

Allmählich glättete sich das Gesicht des jüngeren, die Sorgenfalten verschwanden. Ein Gedanke beschäftigte ihn. Er lächelte vor sich hin. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fragte: „Senja, kannst du mir verraten, warum die Großen immer die Kleinen ausschimpfen? Weshalb ist das so? Sag mal."

Senja antwortete nicht.

Eine halbe Stunde später erklang es hinter seinem Rücken: „Seeen-jaaa, warte maaal!"

Senja blieb stehen. Er hörte das Geräusch eiliger Schritte und hastige Atemzüge. Obwohl der Bruder offensichtlich das Letzte hergab, empfand er beim Anblick des krebsrot angelaufenen Jungen, der mit den Füßen immer wieder in dem langen Gras hängenblieb, nichts als Zorn. Er war selber erschöpft, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Um seine eigene Schwäche zu verbergen, tat er besonders barsch.

„Na los", knurrte er, „wird's bald! Oder bist du schon müde?"

„Du hast es gut', keuchte der jüngere, „mit deinen Stiefeln. Du kannst lachen. In meinen Schuhen quietscht schon das Wasser. Hörst du es?" Aus seiner Stimme klang kein Groll. Die älteren schreien und kommandieren herum. So ist es nun mal, damit muß man sich abfinden. Der Mensch gewöhnt sich an alles.

Senja warf einen Blick auf die nassen Schuhe des Bruders und betrachtete seine derben, gediegenen Lederstiefel. Zum erstenmal, seit sie die Baustelle verlassen hatten, wußte er nicht, was er sagen sollte.

„Schön", meinte er nach einigem Grübeln, „zieh die Dinger aus. Wir machen uns ein Lagerfeuer."

Wenige Minuten später saßen sie mit ausgestreckten Beinen vor den lodernden Flammen. Wieder suchte der Kleine eine Gelegenheit, mit dem Großen ins Gespräch zu kommen.

„Senja", piepste er, „zu Hause wirst du etwas abkriegen. Wenn du nach Tabak riechst, sagt Mutter bestimmt: ,Hauche mich an.' Machst du das?"

Senja, der an einer riesigen, ungeschickt gedrehten Zigarre lutschte, schüttelte unwillig den Kopf. Dabei verschluckte er sich am Rauch.

„Meinetwegen kannst du ruhig qualmen", fuhr der Kleine eifrig fort, „ich verrate nichts. Aber sie wird es selber merken. Senja, stimmt es, daß im Faulgrund die Mücken Lakschejews Kuh aufgefressen haben?"

„Hier gibt's auch genug von den Biestern", erwiderte Senja und stieß eine gewaltige Rauchwolke von sich, bemüht, genau in die Mitte des dichten Mücken-schwarms zu treffen. „Die Kuh haben sie völlig ausgesaugt. Nur die Hörner und das Fell sind übriggeblieben."

„Die Knochen nicht?"

„Doch, die wahrscheinlich auch. Allerdings hat sie keiner gesehen. Lakschejew selber ist nicht auf den Faulgrund gegangen. Er hat am Rand gestanden und rübergeguckt. Nun sagt er: ,In der Mitte liegen die Hörner.' Vielleicht waren es keine Hörner, sondern ein trockener Ast."

„Das ist.auch möglich", gab der Kleine zu. „Jedenfalls ist er seine Kuh los."

„Auf den Faulgrund wagt sich jetzt keiner. Höchstens bei Sturm. Wenn es windstill ist, geht's einem wie Lakschejews Kuh. Es ist Mückenzeit."

„Ja, die Mücken schlüpfen jetzt aus", bestätigte der Kleine. „Würdest du dich hintrauen?"

„Ich schon, aber nicht mit dir", brauste Senja wütend auf. „Du lahmer Esel, du", fügte er giftig hinzu.

Der Kleine ließ nicht locker. „Aber allein", fragte er, „allein würdest du hingehn?"

„Nun halt endlich den Mund. Dein Gequassel regt mich auf", war die Antwort. Senja wollte nicht lügen, doch die Wahrheit zu gestehen, fehlte ihm der Mut. Der Juni ist Mückenmonat. Wenn man auf einen Fleck gerät, wo es schattig und feucht ist, steigt sofort ein dichtes, summendes Knäuel auf. So ist es in den Niederungen, im Sumpf, im Purpurweidengestrüpp am Fluß. Man kann sich ein Mückennetz über den Kopf stülpen, die Haut mit Salbe bestreichen, fast in die Flammen kriechen — es hat alles wenig Zweck. Unter den vielen Millionen Insekten, die einem um die Ohren schwirren, finden sich stets Tausende, die weder den beißenden Rauch, noch den Teergeruch der Salbe, noch die fuchtelnden Arme fürchten.


Im Faulgrund gibt es so viele Mücken, daß zu dieser Jahreszeit sogar die Elche einen Bogen darum machen.

„Nein, ich würde nicht hingehen", gestand der Kleine von sich aus, „nicht für Geld und gute Worte."

Senja wurde ärgerlich. „Vielleicht wollen wir hier übernachten?" fauchte er. Das Gesprächsthema war eindeutig nicht nach seinem Geschmack.

„Warte, gleich gehen wir", erwiderte der Kleine bereitwillig. „Die Schuhe sind von der Hitze ganz hart geworden, siehst du. Es ist schwer, reinzukommen. Aber schön warm sind sie", fügte er genießerisch hinzu, während sich seine Füße in die Schuhe zwängten, die unmittelbar neben dem Feuer gestanden hatten, „so müßten sie bleiben."

Senja streifte die Tragriemen des Rucksacks über die Arme, stand auf und ging wortlos weiter. Nach einigen Schritten knickte er ein.

Der Kleine freute sich. „Dich habe ich z

Als er sah, wie sich das Gesicht des Bruders jäh veränderte, verstummte er. Er lief hinzu, zog den am Boden Liegenden an der Schulter und flüsterte:

„Senja, was hast du?"

Senja stützte sich mit den Händen und richtete den Oberkörper auf. Von seinem Gesicht wich die Verwunderung. Schreck und Schmerz spiegelten sich in seinen Augen. Langsam sank er vornüber, klammerte sich am Gras fest, das er mitsamt den Wurzeln aus dem Boden riß und an sich zog.

„Senja", schrie der Kleine entsetzt, „Senja!"

„Das Bein", stöhnte Senja.

Er lag jetzt still. Nur die Hände schlossen und öffneten sich.

Als der Kleine die Stimme des Großen hörte, beruhigte er sich ein wenig.

„Klammere dich an", sagte er niederkniend und hielt dem Bruder eine Schulter hin.

„Geh fort", stieß Senja zwischen den Zähnen hervor.

Verzweifelt starrte der jüngere auf die hilflos vor ihm ausgestreckte Gestalt. Über die wirren Haare krabbelten Ameisen, geschäftig, als wäre nichts geschehen. Das Bein steckte in einem Bodenloch. Es war eigenartig zur Seite gekrümmt. Der Kleine merkte, daß etwas nicht stimmte, und rutschte dichter heran. Er fing an, das Gras herauszurupfen.

„Geh fort", stöhnte Senja, von unerträglichem Schmerz übermannt.

,,Gleich, Senja, ich grabe nur dein Bein frei. Wenn ich fertig bin, marschieren wir weiter." Mit den Fingernägeln wühlte der Kleine in dem von Wurzeln verfilzten Boden, der unter der Oberfläche trocken und fest war.

Als seine Hände an den Stiefel stießen, lief ein Zittern durch Senjas Körper, und er straffte sich.

„Wird es jetzt gehen?"

Senja wälzte sich auf den Rücken. Er versuchte, sich hinzusetzen. Jede Bewegung bereitete ihm unsagbare Schmerzen.

„Ich kann nicht." Er stöhnte qualvoll. „Geh allein. Ob du es schaffst, Sascha? Hole Hilfe."

„Versuch's doch noch einmal, Senja. Ich kenne den Weg nicht."

„Du Esel", schimpfte Senja. „Das Bein ist gebrochen." Dann wurde seine Stimme wieder ruhig. Mit vielen Pausen sagte er: „Ich habe — einen Kompaß — in der Tasche. Nimm ihn. Der Zeiger — hat eine rote Spitze. Siehst du?"

„Ja, hier."

„Lauf immer der Pfeilspitze nach, bis du an einen Fluß kommst. Dort schreist du laut um Hilfe. Auf der anderen Seite liegt Baikit. Nur mußt du immer auf die Richtung achten."

Die kleine Kapsel mit der zitternden Nadel lag auf Saschas ausgestreckter Hand.

Sascha hatte Angst.


Im Vergleich zu dieser winzigen, unruhig pendelnden Nadel war alles riesenhaft: der Himmel, die Taiga, die Stille.

„Lauf, Sascha", drängte Senja, „lauf. Du wirst es schon schaffen. Mußt dich nur nach der Kompaßnadel richten."

Sascha tapste durch die Schneise, warf furchtsame Blicke nach allen Seiten.

„Gib acht, daß du nicht abkommst", rief ihm Senja nach.

Die Bäume neigten sich zueinander. Lange hallten die stampfenden Schritte nach. Im Rücken raschelte und knisterte es pausenlos. Die Geräusche breiteten sich nach allen Seiten aus, trafen auf die Stämme, wurden gebrochen zurückgeworfen. Die Taiga dehnte sich in geheimnisvoller Größe. Doch plötzlich schien alles in Bewegung zu geraten, schien sich zu wenden, zu drehen und pfeifend auf den Jungen loszustürmen. Das angespannte Gehör fing jedes Lispeln auf. Sascha begann zu rennen. Er wollte fort, weit fort, um die Geräusche, die von allen Seiten an seine Ohren drangen, nicht mehr hören zu müssen. Ein einziges Mal hielt er inne, um einen Blick auf den Kompaß zu werfen. Er fühlte, daß die Schultern schmerzten. Die Traggurte schnitten ins Fleisch.

Plump flog der Rucksack gegen einen Baum. Dort war es trocken. Sascha lief weiter. Nach wenigen Schritten drehte er sich um. Sonnenlicht fiel durchs junge Laub, flutete von den bemoosten Hügelchen. In den hellen Strahlen war der Rucksack schwer zu erkennen. Den finde ich nachher nicht wieder, dachte Sascha, das schöne Mehl. Er rannte zurück und streifte die Gurte wieder über die Schultern.

Endlich rückten die Bäume weiter auseinander. Über sich erblickte Sascha den Himmel. Weiter vorn lichtete sich der Wald. An seinem Saum flimmerte die warme Luft. Dahinter dehnte sich ein mit Erdhügeln bedeckter gelber Grund. Der Junge wandte den Blick nach links, nach rechts und sah, soweit das Auge reichte, nichts als diese ausgedehnte Fläche. Auf dem fettigen Wasser, das zwischen den Hügeln stand, lag trüber, lebloser Sonnenschein. Unbeweglich ragten mit schweren, schlaff herabhängenden Blättern die langen Halme des Sumpfgrases aus den Pfützen. Sascha stand vor dem Faulgrund. Er wußte es sofort, obwohl er nie zuvor hier gewesen war. Er erkannte ihn an der bleigrauen Tönung des Wassers, an dem leisen Summen, das, wie es hieß, im Juni stets über dem morastigen Boden schwebte.

Die rote Spitze der Nadel wies direkt auf den Sumpf. Der Junge schüttelte den Kompaß. Unter dem Glas geriet die Nadel in Bewegung, tanzte schwankend nach links und rechts, bis sie in ihrer alten Lage erstarrte. Jetzt drehte Sascha das Gehäuse vorsichtig. Er hoffte noch immer, die rote Spitze aus der verhängnisvollen Richtung abzulenken. Vielleicht hatte sich die Nadel verklemmt. Wie sollte er, ein achtjähriger Junge, durch den Faulgrund laufen, wo die Hörner dieser blödsinnigen Kuh lagen? Aber sosehr er sich anstrengte — die Nadel ließ sich nicht überlisten, sie zeigte unentwegt in die gleiche Richtung. Sascha sah sich vor die Wahl gestellt, dem Kompaß zu folgen oder seinen Bruder Senja hilflos in der Taiga liegen zu lassen. Er entschied sich für das erste. Der Boden war weich, federte wie eine Matratze. Bis zu den Knien versank der Junge im Wasser. Neben den Beinen glucksten kleine, flüchtige Blasen an die Oberfläche. Der Sumpf seufzte, sog die Schuhe an sich und gab sie nur widerwillig frei. Jeder Schritt wurde zur Qual. Als der Boden endlich fester wurde, ging Sascha schneller. Unablässig vernahm er dieses leise Summen, das eintönig über dem Sumpf schwebte und von dem man nicht wußte, ob es aus den Wolken oder aus der Erde drang.

Dick wie Kartoffelschalen legte sich etwas um die Handgelenke. Das stach und schmerzte fürchterlich. Sascha wußte anfangs nicht, daß es Mücken waren. Sie saßen in dichten, dunklen Trauben, hingen auch an den Sachen und lechzten nach einem Stückchen bloßer Haut. Der Junge begann zu rennen. Eine graue Wolke schwebte über seinem Kopf, summend und unruhig durcheinanderwogend. Sie folgte ihm erbarmungslos auf Schritt und Tritt. Dann war der feste Streifen zu Ende. Die Beine versanken wieder im Morast. Der Körper hatte zuviel Schwung. Sascha fiel der Länge nach hin. Butterweich waren die Erdhäufchen unter ihm. Sie gaben bereitwillig nach. Etwas Kaltes heftete sich an die Fersen. Sascha riß und zerrte. Ringsum geriet der glucksende, breiige Boden ins Schwanken. Der Sumpf hatte ein Opfer gefunden und wollte es nicht wieder hergeben.

Der Junge begann zu weinen. Er dachte an nichts mehr. Die Müdigkeit hatte ihn bezwungen. Er ließ sich umsinken. Tränen rannen ihm die Wangen herab.


In hungrigen Scharen fielen die Insekten über ihn her, lagen gleich einem dichtgewebten Tuch auf seinem Gesicht. Er spürte schon keinen Schmerz mehr, strich nur mechanisch mit der Hand über die Haut. Wie klebriger, kalter Brei fielen die zerquetschten Mücken ins Wasser. An ihre Stelle traten andere, stürzten sich gierig auf frei gewordene Stellen.

Sascha stemmte die Fäuste gegen den glitschigen Boden, der ihn widerstrebend, zentimeterweise losließ. Als die Füße aus dem Schlick gezogen waren, kroch er ein Stück auf allen vieren. Dann richtete er sich hoch. Die Traggurte schnitten in die Wattejacke, aber der Rucksack hatte sein Gewicht verloren. Er schien ein Teil der wassertriefenden, am Körper klebenden Kleidung geworden zu sein.

Der Junge öffnete die Fäuste. Grasbüschel fielen heraus. Der Kompaß war verschwunden.

Da kamen wieder die Tränen.

Sie trübten ihm die Sicht. Er rieb die Augen und durchwühlte auf dem Bauch den schlammigen Grund unter dem Wasser. Vor seinem Gesicht stiegen Blasen auf. Die Grashalme, die sich zu ihm herabneigten, erschienen ihm groß wie Bäume. Sie verdeckten den Horizont und die Sonne. Jetzt sah er, daß die Stengel an den Rändern schartig waren. Der Junge kam sich winzig klein vor. Er wünschte, eine Ameise zu sein, um an den Halmen hochkriechen zu können und das ekelhafte Wasser nicht mehr zu spüren.

Als er den Kompaß endlich gefunden hatte, kostete es Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Die Glasscheibe war von lehmigem Wasser bedeckt. Unverändert zeigte die rote Pfeilspitze in die gleiche Richtung.

Der Junge stapfte weiter, taumelnd, unsagbar müde. Wenn er über einen Erdhügel stolperte, spritzte der Morast.

Nach einer Weile hörte es unter den Schuhsohlen zu schmatzen auf. Ein dorniger Zweig streifte seine Wange. Es war angenehm, ein wohltuendes Kratzen auf der juckenden Haut. Er schritt durch biegsames Gestrüpp und merkte nicht, daß es die Sträucher am Ufer waren. Sein gedunsenes Gesicht mit der straffgespannten Haut glich einem Klumpen Hefeteig. Von den unzähligen Mückenstichen waren die Augen zugeschwollen. Er sah so gut wie nichts mehr.

Die sandige Stelle, auf die er sich setzte, befand sich in unmittelbarer Nähe des Flusses. Er hörte eine Sirene und das Rauschen von Wasser. Ein Raddampfer fuhr stromauf. Radiomusik klang herüber, das Stampfen der Maschine, Männerstimmen. Jedes Wort war deutlich zu vernehmen.

,,In Krasnojarsk nehmen wir ein Flugzeug", brummte selbstsicher ein Baß. „Von dort geht's weiter nach Sotschi. Palmen, eine Wassertemperatur von neunundzwanzig Grad, Mandarinen frisch vom Baum. Können Sie sich das vorstellen?"

Mit den Fingern schob der Junge die Lider hoch. Er sah den Dampfer. An der Reling standen zwei Männer und blickten sich an.

„Heee, Onkel!" rief Sascha.

„Nein, für Mandarinen ist es noch zu früh", erwiderte der andere, „die sind erst im Oktober reif."

„Heee, haaalt!" schrie der Junge und fuchtelte eifrig mit den Armen.

Diesmal hörten sie ihn. Die Männer drehten sich um. Einer winkte zurück. Zischend spritzte eine Welle ans Ufer. Bald war der Dampfer hinter einer Flußbiegung verschwunden.


Große Feuerbälle hüpften vor Saschas Augen. Alles, was er an diesem Tage erlebt hatte, war wie jahrealte Erinnerungen. Er spürte eine bleierne Schwere in den Gliedern, legte das Gesicht auf den feuchten Sand und dachte müde: Senja ist sicher schon tot. Senja ist tot, Senja ist tot, klopfte das Blut in den Schläfen. Als Sascha den Sinn dieser drei Worte völlig erfaßte, sprang er auf die Füße — das heißt, so schien es ihm: In Wahrheit rappelte er sich mühsam in die Höhe. Es bereitete ihm Mühe, die Jacke aufzuknöpfen und mit dem Rucksack zusammen nach hinten auf den Sand fallen zu lassen. Die Hose legte er über den Rucksack, in dem das Mehl feucht geworden war.

Als er sich ausgezogen hatte und ins Wasser tastete, kam ein mit durchnäßtem Heu beladenes Boot um die Sträucher gefahren. Die beiden Frauen, die darinsaßen, ruderten mühelos mit der Strömung. Verwundert sahen sie dem Jungen zu.

Er stand bis zum Gürtel im Wasser, beugte den Oberkörper nach vorn, plantschte, ging weiter. Dann begann er zu paddeln, ungelenk, mit den Bewegungen eines Kindes. Sein Kopf fuhr hin und her. Die rechte Hand war geöffnet, die linke zur Faust geballt.

„He, du Wasserratte, nicht so zapplig!" riefen die Frauen. Sascha hob das Gesicht. Die Frauen sahen, daß seine Augen zugeschwollen waren. Als sie ihn ins Boot gezogen hatten, öffnete sich seine linke Hand, und der einen Frau fiel ein schwarzer Kompaß aufs Knie.



Am Abend lag Senja bereits im Krankenhaus. Sascha erblickte erst zwei Tage später die Sonne wieder.

„Warum mußtest du auch durch den Sumpf waten?" fragten ihn die Leute. „Konntest du nicht herumgehen?"

Er erwiderte: „Senja hat gesagt, daß ich die Richtung nicht verlieren darf."

„Aber daß du schwimmen wolltest! Der Fluß ist dort einen Kilometer breit, stellenweise noch mehr. Wenn du nun ertrunken wärst?"

Sascha runzelte unwillig die Stirn. „Senja hatte gesagt, daß ich die Richtung nicht verlieren darf", wiederholte er ungehalten. „Ich hatte einen Kompaß, und die Nadel zeigte immer geradeaus. Was kann ich dafür, daß ein Kompaß so funktioniert."

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