Die Spiegeleier

Auf der Insel wuchsen krummbeinige Kiefern, Heidelbeerbüsche, niedriges Wacholdergestrüpp. Zwei Menschen waren angekommen.

Das Schutzhäuschen lag am Ufer einer kleinen Bucht. Dahinter begann der See. Er zog sich durch die ganze Insel. Vom Meer war er nur durch einen aufgelockerten Baumgürtel getrennt.

Die Brut der Sägetaucher schwamm vertrauensselig bis in unmittelbare Nähe des Häuschens, aber den Mann und den Jungen würdigten die Vögel keines Blickes. Die beiden waren gekommen, um sie zu schützen, nicht zu töten.

Der Ornithologe in seiner grünen, mit vielen Taschen versehenen Wetterjacke saß am Ufer und schrieb etwas in sein Notizbuch. Ein wenig abseits, auf einem Haufen von sprödem, trockenem Blasentang lag der Junge. Er war lang aufgeschossen, und an seinem Körper konnte man die Knochen zählen. Jetzt stützte er sich auf die Ellbogen.

Er sah durch ein Fernglas. In dem hellgrünen Oval, dicht vor seinen Augen, schwammen Wellen mit weißen, zerfließenden Kämmen.

Langsam hob er den Feldstecher höher. Im gleichen Tempo sanken die Wellen nach unten, verschwanden aus dem Gesichtskreis, und oben traten neue an die Stelle der alten. Dann kräuselte sich ein Streifen, die Brandung, durch das Oval, und der zweihöckrige Gipfel einer anderen Insel wurde sichtbar. Auf einem der beiden Hügelchen stand der vergitterte Scheinwerfer des Blinkgeräts. Bis dorthin waren es sieben Kilometer. Mit Hilfe des Glases konnte man die Bretter der Holzverkleidung zählen. Gleich unterhalb der Blinkanlage befand sich die Naturschutzverwaltung, aber das Gebäude war durch ein Kap verdeckt. Der Junge bewegte den Kopf leicht zur Seite. Da sprang das Blinkgerät nach links. Mit fabelhafter Geschwindigkeit huschten die Hänge des Festlandufers dahin, und vor den Augen zitterte der Schornstein der Fischfabrik.

Bis zur Stadt waren es sechzehn Kilometer. Bei ruhigem Wetter klang von dort Musik herüber, und man hörte das Heulen der Schiffssirenen.

Sie saßen bereits den zweiten Tag an der Bucht fest. Der Sturm hatte ihnen den Rückweg abgeschnitten.

Der Junge ließ das Fernglas sinken und blickte den Ornithologen an, der noch immer in sein Büchlein schrieb. Dabei saß er so dicht am Wasser, daß die Brandung bis in seine Nähe spritzte. Viktor dachte angewidert, daß dieser Mensch wahrscheinlich alles genau nach Vorschrift tat.

Vor einer Woche waren sie, fünf junge Naturfreunde, aus der Stadt zur Schutzverwaltung gefahren. Dort hatte man ihnen eröffnet, sie seien zur unrechten Zeit gekommen, die Beringung der Vögel habe begonnen, und niemand könne sich um sie kümmern. Wenn sie aber Lust hätten, sollten sie als Naturschutzhelfer arbeiten, jeweils einer mit einem Beauftragten zusammen.

Und ob sie wollten! Einmütig standen sie vor dem Gebäude der Naturschutzverwaltung. Dann war dieser hagere Ornithologe in der Wetterjacke herangetreten.


„Ich fahre jetzt raus", sagte er, „einer kann mitkommen. Die Arbeit hat's in sich." Nach diesen Worten kletterte er, ohne sich noch einmal umzusehen, ins Boot. Offenbar war es ihm völlig gleichgültig, wer ihn begleitete.

Er machte das Boot von der Schwimmsperre los und legte die Riemen ein. Sicher wäre er auch allein abgestoßen, hätte Viktor sich nicht entschlossen, ihm zu folgen.

„Setz dich. Rudern kannst du?"

„Freilich, dies Jahr habe ich an der Regatta teilgenommen", entgegnete Viktor und wartete auf die üblichen Fragen: An welcher Regatta? Welchen Platz habt ihr belegt?

Die Fragen blieben aus.

Der Ornithologe ruderte mit kurzen, flachen Schlägen wie jemand, der gewöhnt ist, große Entfernungen zu überwinden.

„Vielleicht soll ich Sie mal ablösen?"

„Das ist keine Regatta. Hier wird gearbeitet."

Der Ornithologe saß auf der Mittelbank, Viktor im Heck, ihm gegenüber. Häufig begegneten sich ihre Blicke, und der Ornithologe runzelte die Stirn. Er war an Einsamkeit gewöhnt.


Die fliehenden Rücken der Inseln zerfurchten den Meerbusen wie ein schwimmender Flottenverband.

Das Boot näherte sich einem baumlosen Inselchen. Der Ornithologe zog einen Kreis, um die jungen Vögel ans Ufer zu treiben. Als die Nestlinge das Boot sahen, strebten sie dem Land zu und steckten den Schnabel zwischen die Steine. Ihre erstarrten Körperchen schaukelten wie Spielzeugschiffchen auf den Wellen.

„Die Mehrzahl der Vögel nistet auf solchen kahlen, kleinen Inseln", erklärte der Ornithologe im Tonfall eines unfreiwilligen Pädagogen.


„Ich weiß", entgegnete Viktor.

Der Ornithologe sprang ans Ufer, bückte sich und hob einen jungen Schlangenadler auf. Das tat er so behutsam, als hätte er eine heiße Kartoffel in die Hände genommen.

„Paß auf, wie man das macht."

„Ich weiß, ich weiß", entgegnete Viktor, „ich habe schon voriges Jahr..."

Der Ornithologe tat, als wäre er taub. Er streckte das Vogelbeinchen und schloß ein silberschimmerndes Metallreifchen mit einer eingravierten Nummer darum.

„Vor allen Dingen mußt du aufpassen, daß du das Bein nicht verletzt."

„Ich weiß", entgegnete Viktor, „bitte, geben Sie mir einen Ring."

„Du wirst die Kücken einfangen und sie mir bringen."

„Wozu haben Sie mir dann gezeigt, wie man es macht?" fragte Viktor. Dieser Mensch fing an, ihn aufzubringen.

Der Ornithologe runzelte die Stirn.

„Nimm den linken Uferstreifen, aber sei schön vorsichtig, damit du nicht auf so ein kleines Kerlchen trampelst. Sie haben sich zwischen den Steinen versteckt."

So gingen sie die Insel ab, der Junge auf der einen, der Ornithologe auf der andern Seite. Zwischen ihnen lagen dreißig Meter Land. Viktor lieferte die eingefangenen Vögel ab. Der Naturschutzbeauftragte nahm sie vorsichtig in Empfang, und wenige Sekunden später flatterten sie, mit einem Ring versehen, davon. Alles geschah lautlos und flink. Die Stille ging dem Jungen auf die Nerven. Für den Ornithologen war er Luft. Viktor dachte: Wenn ich ihm die leere Hand hinhalte, steckt er mir bestimmt einen Ring an den Finger, dann latscht er genauso maulfaul weiter wie bisher, ohne sich noch mal umzugucken.

„Quälen wir sie nicht?" fragte Viktor, als er dem Ornithologen das nächste Kücken reichte.

„Was sein muß, muß sein", war die lakonische Antwort.


Schön, dachte Viktor, dann kriegst du von mir eben kein Wort mehr zu hören.


Wenige Minuten später fing er das erste Eiderentchen. Der kleine dunkelbraune Knäuel lag in seinen Handflächen und hackte hilflos mit dem breiten Schnabel auf die Finger ein. Das Kücken war feucht. Es zitterte. Viktor lief zu dem Ornithologen hinüber.

„Das ist bestimmt krank. Vielleicht nehme ich es lieber mit?"

„Kerngesund", sagte der Ornithologe, „die Drüsen sondern noch wenig Fett ab, deshalb wird das Gefieder naß. Laß das Kleine laufen. Bei dir lebt es höchstens vierundzwanzig Stunden."

„Wieso bei mir?"

„Auch bei mir", ergänzte der Ornithologe trocken. Am ersten Tag beschrieben sie einen großen Kreis und fuhren noch fünf andere Inselchen ab. Viktor war so müde, daß es ihm vor den Augen flimmerte. Als sie das letzte kleine Eiland betraten, kam es ihm schon vor, als wimmelte das ganze Ufer von jungen Vögeln. Er bückte sich oft und breitete die Hände über einen Stein statt über ein Kücken.

Auf dem Rückweg ruderte der Ornithologe länger als eine Stunde in kurzem, gleichmäßigem Rhythmus, als wäre er kein Mensch, sondern eine Maschine. Das Wasser schlief, und sie trieben an Inseln vorüber, die zu träumen schienen. Dann versank die Mitternachtssonne hinter dem Horizont. Nun lagen die Landflecken finster da wie bucklige Fabelwesen.



Viktor erwachte, als das Boot gegen die Schwimmsperre stieß. Er stieg aus und trabte auf das Haus zu.

Der Ornithologe hielt ihn zurück. „Warte. Wo wirst du dich hinlegen?"


„Ich habe einen Schlafsack eingepackt." „Willst du nichts essen?" „Hab was mitgebracht."


„In Ordnung." Der Ornithologe blickte auf die Uhr. Es war halb eins. „Um sechs brechen wir wieder auf." Er sah Viktor an, dann wieder zur Uhr.


„Schön, um acht."

„Von mir aus um fünf", erwiderte Viktor barsch. Der Ornithologe wies ihn zurecht. „Hier bestimme ich."

Da schlenderte Viktor weiter und schlurfte absichtlich laut. Als er die Treppe hochging, sah er, daß der Ornithologe bereits im Boot saß und wenige Sekunden später losruderte.


Im Zimmer schliefen Viktors Freunde. Sie hatten sich mit ihren Schlafsäcken auf dem Fußboden ausgestreckt und lagen in einer Reihe wie Soldaten. Viktor tat es ihnen gleich. Im Nu war er eingeschlafen.


Fast im gleichen Augenblick, so schien es ihm, rüttelte ihn jemand an der Schulter. Schlaftrunken sprang er hoch und schwankte auf den Beinen. Nur ganz allmählich, wie ein Bild auf einem Stück Fotopapier, nahm das von Sonnenlicht durchflutete Zimmer Gestalt an.

„Komm frühstücken", forderte ihn der Ornithologe auf, „nebenan stehen Brei und Tee auf dem Tisch."

„Ich habe mein Essen mitgebracht." Viktor angelte nach dem Rucksack.

„Das steckst du ein. Es ist schon neun Uhr."


Eine halbe Stunde später waren sie bereits weit draußen. Wieder saßen sie stumm im Boot. Nur das Plätschern der Ruder Schläge unterbrach die Stille. Abermals kamen sie an Inseln vorüber, die dalagen, als wären sie in den Spiegel der See eingelassen. An diesem Tage hatten sie nur ein einziges Reiseziel. Bis dorthin waren es zwanzig Kilometer.

Fünf Stunden wiegte sich der Ornithologe pausenlos auf seinem Bänkchen. Dann sprang er ans Ufer, wippte auf den Zehen, rekelte sich, und über sein Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. Es war ihm angenehm, daß er endlich den Rücken strecken konnte.

Auf dieser Insel beringten sie dreizehn Kücken. Viktor überlegte: Den Rückweg eingerechnet, kommen auf jeden Vogel drei Kilometer.


Bevor sie aufbrachen, ließen sie sich nieder, um zu essen. Der Ornithologe holte Brot, Wurst und eine Thermosflasche aus dem Rucksack. Viktor packte Kuchen, eine lange Semmel und Wurst aus. Sie saßen auf zwei platten Steinen. Vor ihnen lagen die Lebensmittel. Sie tranken ihren Tee aus einem Kunststoffbecher und schnitten das Brot mit einem Messer. So kauerten sie nebeneinander, beide abgespannt, unausgeschlafen — Menschen, die am selben Werk schufen. Viktor wartete darauf, daß der Ornithologe ihn ansprach oder ihm die Hand auf die Schulter legte oder sonst etwas tat, wofür Viktor ihm sofort alles verziehen hätte.


Der Ornithologe schlürfte seinen Tee und nahm den heißen Becher aus der einen Hand in die andere. Zum Schluß schüttelte er die Krumen von den Knien. Dann stand er auf.

Da begriff Viktor, daß er umsonst gewartet hatte. Es würde kein Gespräch geben. Er sah den Mann mit einem Blick an, in dem fast etwas wie Haß lag. Wußte denn der überhaupt, was ein Menschenherz bewegte? Vielleicht war es der Ausdruck dieser Jungenaugen, was den Ornithologen veranlaßte, wenigstens ein paar Phrasen durch die Zähne zu murmeln?

,,Hat's dir auf der Insel gefallen?"

„Ja", erwiderte Viktor.

„Wir haben eine Silbermöwe beringt. Das gelingt nur selten."

„Ich werde rudern", sagte Viktor brummig.

„Gut", willigte der Ornithologe ein.

Fünf Tage lang fuhren sie Eiland auf Eiland ab, erst die entfernteren, dann die näheren. Immer enger wurden die Kreise, und schließlich verblieben auf ihrem Abschnitt nur noch wenige Inseln in der Mitte des Meerbusens. Noch nie in seinem dreizehnjährigen Leben hatte Viktor so viel arbeiten müssen. Trotzdem schaffte der Ornithologe mehr. Er kletterte auch dann ins Boot und ruderte los, wenn Viktor in seinem Schlafsack ruhte. Er schlief so gut wie gar nicht. Man sah es an seinem abgezehrten, von Sonne und Wetter gezeichneten Gesicht und an den borkigen Lippen, zwischen denen eine glimmende Papiros zitterte: Seine Bewegungen waren nervös, flink wie bei ihrer ersten Begegnung. Als Viktor wieder einmal in das lange, hagere Gesicht blickte, kam ihm der Gedanke, dieser Mann sehe aus wie ein hungriger Hund.

Von Tag zu Tag verriet der merkwürdige Mensch größere Eile. Gewöhnlich kehrten die beiden als letzte zurück und brachen als erste auf. Der Ornithologe war unerbittlich gegen sich selbst. Doch gab ihm dies das Recht, unerbittlich auch gegen andere zu sein?

Viktor spürte die Jungvögel auf. Er ruderte, teilte mit seinem Gefährten das Essen. Aber selbst im Boot, wenn der Ornithologe die Riemen schwang, wagte Viktor nicht einzuschlafen. Er wollte kein Schwächling sein. Schließlich war er am Meer geboren, und durch seine Körpergröße wirkte er viel älter. Man hätte ihn für sechzehn halten können. In seinen Adern floß das Blut der Vorfahren, tüchtiger Seebären, und der Eigensinn des Großvaters war in ihm lebendig. Niemals hätte er sich eine Blöße gegeben, lieber wäre er gestorben. Der Ornithologe aber bemerkte nichts von alledem. Der zielstrebige Eifer des Jungen blieb ihm verborgen. Viktors mißgünstige Gefühle ließen ihn genauso kalt, wie ihn sicherlich seine Symphathie gelassen hätte. Und das war der Grund, weshalb Viktor ihn beinahe haßte.

Neben diesem haßähnlichen Gefühl wohnte jedoch ein zweites, und dieses zweite regte sich nicht minder kräftig.


Wie gesagt, Viktor ist am Meer aufgewachsen. Er weiß, was arbeiten heißt. Ob er wollte oder nicht, er bewunderte den sonderbaren Kauz, der es nicht einmal für nötig befunden hatte, seinen Namen zu nennen. Den Jungen wurmte es, daß er sein Werk nicht auch so gut verstand wie der Ornithologe.

Gegen Abend des fünften Tages bedeckten sich die Berggipfel auf dem Festland mit dicken Wolken. Vom Meer her machte sich eine frische Brise auf. Viktor und sein Meister befanden sich gerade auf einem kleinen Eiland, das im Schutze einer größeren Insel lag, so daß sie den Wind nicht richtig merkten. Als sie ihren Rundgang beendet hatten, warf der Ornithologe einen flüchtigen Blick auf die Fluten, die sie vom Verwaltungsgebäude trennten. In der Mitte der Wasserstraße tanzten vom Wind gepeitschte Schaumkämme.

,,Es scheint, wir sitzen in einer Mausefalle", unkte der Ornithologe.

Viktor hüllte sich in Schweigen. Er wollte seinen Dreier nicht dazugeben.


„Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zum Schutzhäuschen zu rudern und auf besseres Wetter zu warten."

„Ist man bloß eine kleine Brise", meinte Viktor mit finsterem Gesicht und starrte auf die Spitze seiner Schuhe.

„Hier merkt man den Wind kaum, weil wir uns hinter der Insel befinden. Guck mal, was draußen los ist." Viktor blickte gleichfalls zur Mitte der Wasserfläche. In der bewegten Luft flatterten die Möwen wie Papierfetzen.

Die Insel, auf der das Schutzhäuschen stand, war etwa dreihundert Meter entfernt. Zehn Minuten später setzten sie bereits den Fuß über die Schwelle.

Den Sommer über blieb das Häuschen leer. Zwei eiserne Bettgestelle mit eingedrückten Matratzen füllten das halbe Zimmer aus. An einer Wand stand ein Öfchen, dessen kleine Tür durch Drahtschlaufen festgehalten wurde. Auf dem Tisch lag ein Bastbeutel mit Salz. Die Tapete war schon alt, und an einer Stelle hatte jemand mit fetten Tintenbuchstaben an die Wand geschrieben: „Der Beobachter Wassiljew ist ein Wilddieb."

„Auf dem Boden muß es Daunenfedern geben", murmelte der Ornithologe und ging hinaus. Er kam bald zurück, um einen Armvoll fest zusammengepreßtes Heu auf das eine Bettgestell zu breiten. „Du kannst dich hinlegen. Bei mir hat's damit noch Zeit."

Viktor schielte ihn von unten an, schwieg aber. „Ich warte, bis die Flut am höchsten steht, dann muß ich das Boot aufs Land ziehen", erklärte der Ornithologe.

„Ich bleibe auch auf."

Der Mann zuckte die Schultern, ließ sich am Tisch nieder und zog sein Büchlein aus der Kartentasche.


Der Junge setzte sich auf den Bettrand. Eine Minute später folgte er dem Drang, die Beine auszustrecken. Nach zwei Minuten war er eingeschlafen.

Als er am nächsten Morgen erwachte, lag er noch lange mit geschlossenen Augen im Bett, jede Sekunde darauf gefaßt, an der Schulter gerüttelt und zum Aufstehen ermahnt zu werden. Da ihn aber niemand wecken wollte, wurde es ihm schließlich zu dumm. Er drehte den Kopf auf die andere Seite und erblickte den Ornithologen, der im Schlaf mit der einen Wange auf das geöffnete Buch gesunken war. Die Arme hatte er weit von sich gestreckt und die Hände gefaltet.

Da fiel Viktor ein: Richtig, das Boot! Vorsichtig, damit die Stahlfedern nicht knarrten, kroch er vom Bett herunter und lief ans Ufer. In geringer Höhe jagten Wolkenfetzen über die Insel. Auf der anderen Seite der Bucht bog der Wind die jungen Birken zur Erde. Von dort drang dumpfer Lärm herüber. In gleichmäßigen Abständen spritzten an den Steinen weiße Wassersäulen empor. Das Schutzhaus hatte eine günstige Lage. Der Wind verschonte die Bucht, so daß es hier verhältnismäßig ruhig war. Nur manchmal schwappte eine ungestüme Woge über das Ufer, streifte kaum das Heck des Bootes, flutete zurück. Gischt schäumte hinterher.

Der Ornithologe hatte über das Boot gewacht und es zu der Zeit aufs Land gezogen, als das Wasser am höchsten stand.

Viktor verharrte eine Weile am Ufer. Dann schlenderte er zum See, der fünfzig Meter hinter dem Schutzhäuschen begann. Die jungen Sägetaucher erschraken vor ihm. Ihre Mutter blickte sich besorgt um und steuerte in die Mitte des Sees. Wie auf eine Schnur gereiht, schwamm die Brut hinterher. Man hätte die Kücken mit einem Knüppel erschlagen können.


Viktor wandte sich dem Häuschen zu. Der Ornithologe stand bereits draußen und betrachtete das Meer. Zwischen der Insel und dem Festland bäumten sich träge die Wellen auf. Von hier sahen sie wie Gekräusel auf einem Spielbassin aus, aber Viktor wußte, daß sich die Fischer bei solchem Wetter auch mit einem Motorboot nur ungern hinauswagten.

„Wenn du's dir verkneifen kannst, geh mal nicht an den See", sagte der Ornithologe mahnend, ohne sich umzudrehen, „du schreckst nur die Brut auf, das ist nicht gut."

Viktor dachte sich seinen Teil.

„Siehst du, wir können uns wieder aufs Ohr hauen.

Schade, jammerschade. Aber was willst du machen?

Legst du dich noch mal hin?"


Es war eine sehr persönliche Frage, und Viktor konnte sie nicht einfach übergehen.

„Nein", sagte er.

„Wenn du Hunger hast, schlaf."

Viktor war hungrig wie ein Bär. Am Vortage hatten sie zwar gefrühstückt, aber nichts eingesteckt. Sie wollten ja beizeiten zurück sein.

„Ich bin ganz satt", schwindelte er, getreu seinem Entschluß, stark zu bleiben.

Der Ornithologe trat ins Haus. Viktor hörte, wie die Bettfedern quietschten. Es klang unsagbar kränkend. Selbstverständlich wußte der Ornithologe keinen Rat, aber es war wohl nicht nötig, sich so aufzuführen.

„Wenn du feststellen willst, ob jemand auf See was taugt, mußt du bis zum nächsten Sturm warten", hatte der Ornithologe einmal gesagt. Nun war Sturm gekommen, aber es gab keinen Kampf, keine lauten Kommandos, nur das Tosen der Naturgewalten. Und das Quietschen der Bettfedern. Und ein erbärmliches Leeregefühl im Magen.


Der erste Tag auf der Insel verlief ohne Zwischenfälle.

Auch der nächste Morgen brachte nichts Neues. Viktor kroch durchs Gebüsch und pflückte eine Handvoll unreife, mattgrün schimmernde Heidelbeeren. Sie zogen ihm das Wasser im Mund zusammen, und das Zahnfleisch schmerzte.

Beide, der Junge und der Mann, schliefen eine Woche Vorrat. Und jetzt lag Viktor auf einem Haufen von verdorrtem Seetang. Da er nichts Besseres zu tun wußte, beguckte er sich die über der Stadt hängenden Rauchfahnen durchs Fernglas. In der Nähe der Fischfabrik lagen zwei Trawler vor Anker. Beide Schiffe gehörten der Naturschutzverwaltung. Wie, wenn sie nun in See stächen? Doch Viktor erwartete keine Hilfe. Ach wo, wie sollte jemand auf die Idee kommen, sie zu suchen? Auf keinen Fall schon heute.

Er setzte das Glas ab und studierte die Hinteransicht des Ornithologen, der seine grüne Wetterjacke trug. Jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig als zu warten. Viktor begriff dies sehr gut. Aber daß der Mensch es fertigbrachte, auch in diesen Minuten er selbst zu bleiben und seelenruhig wie zuvor in seinem Notizblock zu kritzeln, war mehr als empörend.

Viktor stand auf und bummelte in den Wald.


„Daß du mir nicht an den See gehst!" ermahnte ihn der Ornithologe.


„Wo werd ich denn, dort ist doch die Brut", entgegnete der Junge herausfordernd. „Die Kleinen könnten vor Angst krepieren."

Der Ornithologe blickte ihm erstaunt nach. Dann vergrub er sich wieder in seine Schreibarbeit.

Als Viktor ein paar Meter gegangen war, versperrte ihm eine umgestürzte Birke den Weg. Noch steckte Leben in dem Stamm und in den grünen Blättern.


Irgendwo hatte er gelesen: Wenn man die Birkenrinde einkerbt, fließt süßer Saft heraus. Er griff in die Hosentasche, um nach dem Messer zu kramen, und fand — eine Praline. Vergessen war der Birkensaft. Was für eine wunderhübsche Praline! Noch dazu eine mit einer Erdbeere auf dem Papier. Langsam wickelte er die mit Schokolade überzogene Süßigkeit aus und legte sie auf die flache Hand. Betörender Erdbeergeruch kitzelte ihm die Nase.

Zwischen den Baumstämmen erblickte er den zu Stein erstarrten, unbeweglichen Rücken des Ornithologen. Da krampften sich seine Finger zusammen. Die Augen blieben starr auf den Mann gerichtet. Er schob die Praline in den Mund, zermalmte sie genußvoll mit den Zähnen, schwelgte im Gefühl seiner Rache und hatte nur den einen Wunsch, daß sich der Ornithologe umdrehen möge.

Dann rollte er das Konfektpapier zu einem Kügelchen zusammen, warf es in die Heidelbeerstauden und ging an den Strand.

„Komm mal her", rief der Ornithologe. Viktor trat heran.

„Sieh mal, wie der Tang im Wasser wieder zu leben beginnt. Dort drüben ist er noch tot, aber wo die Flut hinkommt, entfaltet er sich wie eine Blume."

Viktor blickte den Ornithologen erstaunt an.

„Sie sprechen mit mir, damit ich den Hunger nicht so spüre?"

„Ist's denn sehr schlimm damit?" „Ach wo."

„Dann nimm." Der Ornithologe zog ein zerdrücktes Stück Brot aus der Tasche.

Viktor spürte, daß er rot wurde, und legte die Hände auf den Rücken.

„Ich mag nicht", hauchte er.

„Hör mal, ich habe schon ärgeren Hunger ertragen müssen. Außerdem esse ich es sowieso nicht."

Er sagte es mit unveränderter Stimme, weder bittend noch fordernd, aber Viktor wußte: Essen wird er es bestimmt nicht.

Da streckte der Junge die Hand aus und nahm das Brot.

„Ich denke, morgen sind wir wieder zu Hause", sagte der Ornithologe.

Viktor trat einen Schritt zurück, wandte sich ab und ging rasch das Ufer entlang. Das Brot preßte er gegen die Brust. Die Beine waren jetzt stark und trugen ihn mit Leichtigkeit, fast mühelos, über die Steine. Das Hungergefühl und die Müdigkeit waren verschwunden, von unerträglicher Scham verdrängt.

Am Kap spürte er den Wind, der durch die Baumwipfel pfiff und von oben seinen Rücken peitschte. Über die schlüpfrigen, von Tang bedeckten Steine schritt er dem Wasser zu. Von hier sah er nur noch das Dach des Schutzhäuschens.

Er holte weit aus und schleuderte das Brot, so weit er konnte, ins Meer. Dann hockte er sich hin. Lange betrachtete er den zweihöckrigen Gipfel, der hinter den Fluten aufragte. Sieben Kilometer gischtende See trennten ihn von jener Insel. Dort drüben gab es Brot in Hülle und Fülle. Zwanzig Meter weiter schimmerte ein brauner Kanten. Die Strömung trieb ihn auf das Ufergeröll zu, und der Junge dachte, wenn das Brot ans Ufer gespült werden sollte, würde es schwerhalten, ein zweites Mal darauf zu verzichten, aber er dachte auch, daß er sich sehr tapfer geschlagen habe, und bei diesem Gedanken traten ihm Tränen in die Augen.

Viktor wandte sich ab. Sein Blick fiel auf die kleine Insel. Dort waren sie vom Sturm überrascht worden. Er konnte sogar den großen Stein erkennen, in dessen Nähe ihn der kleine Schlangenadler gehackt hatte.


Daneben befand sich sein Nest, und ein Stückchen weiter, auf dem höchsten Punkt des Inselchens, nisteten im Holundergebüsch Eiderenten. Dort lagen in einem Körbchen aus Daunenfedern acht große, warme Eier.

Einer Eingebung folgend, sprang Viktor auf die Füße. Acht warme Rieseneier; dreihundert Meter bis zu einem herrlichen, dampfenden Gericht! Und er kann hinrudern, weil die Insel ihn vor dem Sturm schützt und die See auf diesem Abschnitt nicht so hoch geht.

Der Ornithologe saß im Boot. Mit einer Konservendose schöpfte er das Wasser aus. Durch die Wolkendecke blinzelte die Sonne. Sie beschien sein Gesicht, dessen Haut vom vielen Wind und Wetter rauh geworden war und dessen Backenknochen scharf hervorsprangen. Es war das Gesicht eines müden Menschen. Viktor las eine zweite Büchse auf, die am Ufer lag, und begann gleichfalls, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Er fürchtete die Frage, weshalb er fortgelaufen sei, aber der Ornithologe blieb stumm.

Erst nach geraumer Zeit sagte er: ,,In zwei Stunden haben wir volle Flut. Dann müssen wir das Boot ins Wasser schieben. Wahrscheinlich kriegen wir eine ruhige Nacht."

Viktor wollte jetzt nicht, daß sich der Sturm legte. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, acht Rieseneier zu holen. Sie würden was zu essen haben, jeder vier. Nichts konnte ihn hindern, rüberzurudern, auch nicht der Sturm, selbst wenn er weiter zunehmen sollte.

Die Wellen züngelten die trockenen Steine hinauf und schwappten zurück ins Meer. Jede Woge kam ein kleines Stückchen weiter als ihre Vorgängerin, doch alles in allem stieg die Flut qualvoll langsam. Viktor kehrte sich ab. Als er wieder hinschaute, schwamm das erste Bändchen Blasentang bereits im Wasser. Bis zur vollen Flut verblieben noch anderthalb Stunden.

Die volle Flut trat pünktlich ein, kündigte sich mit einem weithin tönenden Schlag gegen das Heck des Bootes an.

„Zugepackt", gebot der Ornithologe, „bloß paß auf, daß du dich nicht überanstrengst, sonst wird dir schwindlig."

Viktor ergriff eine Holzstange. Er stemmte sich aus Leibeskräften dagegen, bis der steinige Strand und das Meer Karussell zu fahren schienen und bunte Kreise vor seinen Augen schwammen.

„Jetzt müssen wir warten, bis das Wasser zurückgeht", erklärte der Ornithologe, „dann stoßen wir das Boot allmählich runter. Ich passe schon auf. Du kannst dich inzwischen hinlegen. Wenn es soweit ist, rufe ich dich."


Viktor war es recht. „Ich lege mich gleich hin. Nur, ich habe zehn tote Kücken gesehen. Beinah hätte ich vergessen, es Ihnen zu erzählen. Unten, am See, wo das Futterhäuschen steht. Sie treiben auf dem Wasser."

„Was für Kücken? Das ist doch dummes Zeug!"

„Nein, zehn Stück, sie schwimmen mit dem Bauch nach oben", wiederholte Viktor eigensinnig.

Diese Lüge hatte er sich vorher zurechtgelegt.

„Komm, zeig sie mir."

„Bei mir dreht sich alles wie ein Karussell", wandte Viktor ein.

Und das war keine Lüge. „Am Futterhäuschen?"

„Ja."

„Ich bin gleich zurück", versprach der Ornithologe.


Kaum war er hinter den Bäumen verschwunden, als Viktor das Boot ins Wasser schob. Er ruderte schnell, um aus der Bucht heraus zu sein, bevor der Ornithologe zurückkam.

Hier war das Wasser verhältnismäßig ruhig. Von der See her rollten nicht allzu hohe Wellen heran. Wo es ins offene Meer hinausging, hielt Viktor inne. Vorn, ganz nahe, nur durch eine unsichtbare Linie getrennt, schäumten lärmende Brecher auf die Insel zu. Sie kamen langsam und unaufhörlich, in endloser Folge.

Viktor hob unentschlossen die Riemen, ließ sie sinken, hob sie wieder und begriff, daß er den letzten Mut verlieren und umkehren würde, wenn er noch ein paar Sekunden zögerte. Er schaute zurück zum Ufer und erblickte den Ornithologen, der stolpernd über die Steine rannte und etwas schrie. Da legte sich der Junge in die Riemen. Er durchbrach die heimtückische Linie.



Eine Woge packte das Boot, hob es mit Leichtigkeit, aber zugleich mit unwiderstehlicher Gewalt empor. Dann stieß sie den Bug genießerisch ins Wasser. Das Ufer vollführte einen hüpfenden, wiegenden Tanz. Ein Abgrund tat sich auf. Das Boot stürzte hinein. Über dem Rand wuchs eine grüne Wand aus geäderten Blasen und Schaum empor. Erschaudernd schlug Viktor beide Riemen hinein, und langsam kroch das Boot nach oben, schwang sich auf den Kamm einer neuen Woge und klatschte mit dem Boden abermals in den sich öffnenden Schlund.

Das Wasser lief unter den Riemen davon. Viktor versuchte, die zurückweichenden Massen zu fangen, sich gegen die hochwachsenden Wellenberge zur behaupten. Er hatte Angst, solche Angst wie noch nie im Leben. Wirre, unzusammenhängende Gedanken kreuzten durch sein Hirn. O ja, er hatte viel Schlimmes getan, sich gegen die Mutter versündigt, den Menschen fortzulocken.

Viktor legte die acht schweren, warmen Eier in seine Mütze und machte sich auf den Rückweg zum Boot. Er spürte, wie die Beine merkwürdig weich wurden und wie sie einknickten.

Dann begann alles von vorn.

Wieder schaukelte das Boot und legte sich auf die Seite. Wieder tanzten Himmel und Ufer. Und der tosende Wasserstreifen am Eingang der Bucht. Und die komische weiße Menschengestalt am Kap. Viktor ruderte das Boot in die Bucht. Der Ornithologe stand am Strand. Er trug nichts als seine Unterwäsche. Er hat sich ausgezogen, dachte der Junge, ausgezogen, weil er schwimmen wollte. Jetzt war er nahe daran, diesen Menschen ins Herz zu schließen.

„Hast du den Unfug mit den toten Vögeln ausgeheckt, um ein bißchen spazierenzufahren?" frag'e der Ornithologe leise.

„Jawohl", entgegnete Viktor. „Jawohl", wiederholte er klangvoll, denn jetzt war er glücklich. „Sonst hätten Sie mich doch nicht fortgelassen."

„Du bist ein Schuft", sagte der Ornithologe. Er drehte sich um und ging, ohne noch ein Wort zu verlieren, auf die Tür zu.


„Warten Sie doch", rief ihm Viktor nach, „sehen Sie, was ich gebracht habe!" Unangenehme Gedanken blitzten in ihm auf: Er versteht mich nicht, er denkt, daß ich nur so...

Der Ornithologe war stehengeblieben. Viktor lief zu ihm hin. Er streckte die Hände aus, die die Mütze hielten, blickte dem Ornithologen in die Augen und lachte, um zu zeigen, daß er nichts übelnahm.

„Soso", meinte der Ornithologe, und Viktor sah, daß sich sein Gesicht mit roten Flecken bedeckte, „sag mal, wer hat dir das Recht gegeben, die Nester zu plündern, 'die wir pflegen? Mich haben sie sogar im Krieg freigestellt. Verstehst du? An der Front sterben Menschen, aber mich haben sie nach Hause geschickt, weil es hier keinen gab, der sich um die Vögel kümmern konnte. Weißt du überhaupt, daß nur ein paar hundert Eidernester existieren? Und daß unser Naturschutzgebiet das einzige in der Sowjetunion ist, wo noch Eiderenten brüten?"

Viktor schwieg verlegen. Die zornigen, ungerechten Worte des Ornithologen hatten ihn wie Peitschenhiebe getroffen.

„Weißt du, daß unsere Arbeiter wochenlang nicht aus den Booten kommen? Seit fünfzehn Jahren lebe ich hier. Als ich herkam, warst du noch nicht geboren. Biologe willst du werden? Du bist ein junger Naturfreund? Das bildest du dir vielleicht ein. In Wahrheit bist du ein Wilddieb. So, du hast Hunger. Ganze zwei Tage haben wir nichts gegessen, ganze zwei Tage. Und die Eiderente brütet einmal im Jahr. Du bildest dir wohl ein, daß du eine Heldentat begangen hast? Wie ein Feigling hast du dich benommen! Von deinem Magen hast du dich unterkriegen lassen."

Viktor war zerknirscht, beleidigt, stand mit gesenktem Kopf da und schwieg, weil er fürchtete, in Tränen auszubrechen.

,,Das Nest dort drüben hast du ausgenommen?" fragte der Ornithologe.

,,Doch nicht für mich." Viktor schluckte und sprach nun lauter: „Ich wollte Ihnen ... Ihr Brot habe ich nicht gegessen. Ins Meer habe ich es geschmissen."

„Was?"

„Ich bin kein Wilddieb. Verstehen Sie", schrie Viktor jetzt, „meinetwegen können Sie an Ihrem Brot ersticken!"

Der Ornithologe seufzte, ging langsam zum Boot, breitete seine Wetterjacke auf den Boden und wickelte die Eier ein. Dann zog er Hosen und Stiefel an, stieß das Boot ab und sprang hinein. Der irrsinnige Gedanke, daß er es darauf abgesehen haben könnte, sich zu ertränken, durchzuckte Viktors Hirn.


„Was machen Sie denn?" fragte er ängstlich.

„Ich schaffe die Eier fort", erwiderte der Ornithologe, der seine alte Ruhe zurückgefunden hatte, „marsch, ins Haus, und ohne Tricks. Klar?"

„Nein, es ist nicht klar", entgegnete Viktor und blieb am Ufer. Das Boot verschwand ums Kap. Viktor ging ein Stück weiter, stellte sich hinter einen Baum und beobachtete den Ornithologen. Die Wellen spielten mit dem Boot, das ständig zu kentern drohte. Viktor preßte die Brust an den Stamm, und jedesmal, wenn sich das Boot auf die Seite legte und vom Kamm einer Woge in den Abgrund stürzte, stockte ihm das Herz. Mit Entsetzen dachte er an die Möglichkeit, daß der Ornithologe nicht wiederkommen würde.

Aber er kam wieder. Zweimal legte er die Strecke zurück. Dann kroch er, von Seewasser durchtränkt, ans Ufer. In den Händen hielt er die zusammengerollte Wetterjacke. Was nun folgte, war das komischste von allem.

Der Ornithologe trat ins Haus, nahm ein Bündel Tang und eine mit Wasser gefüllte Konservendose mit. Das Wasser kippte er auf die Herdplatte, die er sorgfältig säuberte. Danach trug er Reisig herein, zerbrach es auf den Knien. Die trockenen Holzstücke und den Seetang setzte er in Brand. Viktor hatte sich aufs Bett gelegt und sah dem sonderbaren Treiben mit Erstaunen zu. Wenn der Ornithologe den Kopf wandte, schloß er die Augen.

Die Herdplatte erwärmte sich. Der Ornithologe faltete die Wetter jacke auseinander, holte zwei große

Eidereier hervor und schlug sie auf. Den Inhalt goß er auf die Herdplatte. Ein angenehmer Duft, vermischt mit Rauchgeruch, erfüllte das Zimmer. Viktor biß sich auf die Lippen, bis es schmerzte.

„Komm essen", rief ihn der Ornithologe.

Viktor lag, ohne sich zu rühren.

„Ich sehe doch, daß du nicht schläfst."

„Ich esse nichts", entgegnete Viktor. Die Augen ließ er geschlossen.


Der Ornithologe nahm den ungleichmäßig gebackenen Fladen mit den beiden gelben Dottern vom Herd und legte ihn auf den Tisch.

„Iß", wiederholte er müde und stampfte mit schweren Tritten hinaus.

Viktor fuhr auf, spähte durchs Fenster. Der hagere Ornithologe stand hoch aufgerichtet am Ufer. Er sah dem Spiel der Wellen zu.

Eine Hand streckte sich nach den Spiegeleiern aus, brach ein knuspriges, hauchdünnes Stück vom Rand ab und steckte es in den Mund. Viktor empfand den unerträglich süßen Beigeschmack des gebräunten Eiweißes. Voller Verachtung für sich selber, aber außerstande, seine Eßlust länger zu zähmen, schnitt er den gargebackenen Fladen in zwei Teile, bestreute den größeren mit grobkörnigem Salz und verzehrte ihn gierig.

Dann legte er sich aufs Bett. Rasch schlief er ein. Er träumte von einer Woge, die das Ufer überflutete, größer und größer wurde und ihn über die Erde jagte. Er rannte durch eine Straße, in der die Türen und Fenster der Häuser vernagelt waren, klopfte, aber niemand öffnete. Da erreichte ihn die Woge, und Viktor weinte.

Mitten in der Nacht wurde er von dem Ornithologen geweckt.

Die See hatte sich beruhigt. Anderthalb Stunden später befanden sie sich vor dem Gebäude der Naturschutzverwaltung.

Der verschlafene Beobachter kam ihnen entgegen.

„Seid wohl im Schutzhäuschen steckengeblieben?" fragte er gähnend.

„So ist es", erwiderte der Ornithologe. „Hab ich mir schon gedacht. Wollt ihr was essen?"

„Gib dem Jungen. Aber nicht zuviel. Er hat zwei Tage gefastet."

„Was?" wunderte sich der Beobachter.

„Und sonst? Alles in Ordnung?"

„Alles in Ordnung", erwiderte der Ornithologe.

„Bist ein Held." Der Beobachter schmunzelte.

„Geh an die Arbeit!" wies ihn der Ornithologe trocken zurecht.

Nach dem Mahl suchte Viktor das Zimmer auf, das man den Kindern zugewiesen hatte. Die anderen ruhten auf dem Fußboden. Sie mußten sehr müde sein. Nicht einer rührte sich. Auch Viktor kroch in seinen Schlafsack, lag aber mit offenen Augen da. In seinem Kopf toste noch die See. Hinter der Bretterwand klapperte ein Teller, und eine Stimme, wahrscheinlich die des Beobachters, flüsterte: „Morgen schicken wir die jungen Naturfreunde nach Hause. Wie hat sich denn deiner gemacht? Alles überstanden? Muß doch schwer sein für so einen Knirps, zweimal vierundzwanzig Stunden..."

„Er ist kein Knirps", berichtigte ihn der Ornithologe. „Weißt du was, wenn ich nicht irre, ist bei uns eine Laborantenstelle frei? Bis September behalte ich ihn hier."

„Im Labor?"

„Ja."

„Diesen Knirps! Wo Sie sogar der Studentin einen Korb gegeben haben."

„Er ist kein Knirps. Ich behalte ihn hier. Wenn er, natürlich nur, wenn er will."

Viktor setzte sich aufrecht und lehnte den Rücken gegen die Wand. In dieser Stellung verharrte er lange, bis die beiden hinter der Scheidewand verstummten.

Auf dem Fußboden prusteten einträchtig die Jungen. Viktor legte sich auf den Bauch und zog einen von ihnen am Bein.

„Wowka", flüsterte er, „Wowka, hör mal, was ich dir zu sagen habe."

Wowka hob den Kopf, blickte Viktor mit schlaftrunkenen Augen an und kuschelte sich wieder ins Kissen.

Viktor schnippte ihn leicht mit dem Finger an den Hinterkopf. Dann ging er hinaus auf die Treppe.

Zu schlafen hatte er keine Lust.

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