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Am Nachmittag erreichte ich Marlenus’ Lager. Das Tor schwang sanft im Wind. Die Stämme der Palisadenmauer waren an vielen Stellen aus dem Boden gerissen oder abgebrochen worden. An einer Stelle hatte es sogar einen Brand gegeben. Die noch vorhandenen Zelte waren angesengt und zerfetzt. Aufgebrochene Kisten lagen herum – und viel Asche. Ich bemerkte, daß die Brandschäden sich auf das Innere des Lagers beschränkten – ein Hinweis darauf, daß der Feind die Brände nach dem Eindringen in das Lager gelegt hatte. Nichts deutete darauf hin, daß das Tor eingeschlagen worden war.

Ich bückte mich und fand eine schlichte Kette aus Muscheln der Vosksorp. Sie war zerrissen und mochte einem kämpfenden Panthermädchen vom Hals gerissen worden sein.

Ich untersuchte die Fußspuren. Um einige Feuerstellen lagen die Reste eines Festmahls und leere Flaschen. Der Wein stammte aus Marlenus’ Vorräten. Ich wußte, daß er nur Weine Ars trank.

Einige Vögel kreisten über den Ruinen des Lagers. Zum erstenmal in seinem Leben hatte sich Marlenus verrechnet.

Es war nicht sehr schwierig, die Ereignisse nachzuvollziehen. Marlenus wollte in Kürze den Wald verlassen. Aus diesem Anlaß hatte er ein Festmahl angeordnet. Als Ehrengäste waren dazu auch die Panthermädchen aus Huras Bande geladen. Marlenus’ Männer, die den Erfolg der Expedition und den Ruhm ihres Ubar feierten, hatten nach Kriegerart dem Wein kräftig zugesprochen.

Als das Fest seinen Höhepunkt erreichte, hatten ein paar Panthermädchen die Wächter am Tor überwältigt und das Tor geöffnet. Auf ein Zeichen hin waren die Panthermädchen im Lager, unterstützt durch die von draußen hereindrängenden Tyrer, mit Knüppeln und Seilen und Speerschäften zum Angriff übergegangen. Mit dem Verrat von innen und dem Angriff von außen mußte das Lager eine leichte Beute gewesen sein. Außerhalb des Palisadenzauns fand ich mehrere Leichen, von denen bereits einige von Sleen und anderen Raubtieren angefressen worden waren. Die Männer Ars hatten sich mutig gewehrt, doch alles in allem hatte es nur etwa vierzig Gefallene gegeben. Fünfundzwanzig Tote trugen das Gelb von Tyros.

Der Überfall hatte die Lagerbewohner offenbar völlig überrascht und war planmäßig verlaufen.

Marlenus hatte ich nicht unter den Gefallenen gefunden – so nahm ich an, daß der Ubar zusammen mit etwa fünfundachtzig Mann in die Gefangenschaft geraten war.

Neun von meinen Leuten waren bei Marlenus gewesen. Auch von ihnen war keiner gefallen, so daß sie wohl ebenfalls gefangengenommen worden waren. Zusammen mit Rim, der von den Angreifern aus meinem Lager mitgenommen worden war, verfügte Sarus aus Tyros also über etwa sechsundneunzig männliche Gefangene und zahlreiche Frauen in seiner Gewalt – die Sklavinnen Sheera, Cara, Tina und Grenna aus meinem Lager, Verna und ihre Frauen aus Marlenus’ Lager sowie die Sklavinnen, die Marlenus mitgebracht hatte.

Meiner Schätzung nach standen also noch etwa hundertundfünfundzwanzig Mann unter Sarus’ Kommando.

Ich verließ das Lager am Nachmittag. Hier konnte ich nichts mehr tun.

Die Männer aus Tyros hatten es sicher sehr eilig, ihre Gefangenen durch die Wälder nördlich von Laura und Lydius zu führen und die Austauschstelle zu erreichen, wo die Rhoda und die Tesephone auf sie warten sollten.

Doch das würde seine Zeit dauern, denn es war nicht leicht, angekettete Gefangene durch den Wald zu schaffen.

An der Austauschstelle sollten die Gefangenen zweifellos an Bord der Schiffe gebracht und als Sklaven nach Tyros geschafft werden. Auch würde man sicher versuchen, Talena ausfindig zu machen und zu erwerben oder zu entführen.

Es wäre ein großer Triumph für die Tyrer, den großen Marlenus in Sklavenketten vor den Rat von Tyros zu führen. Ich konnte mir den Triumphzug durch die Stadt vorstellen.

Doch gefesselte Sklaven kommen nicht schnell voran, auch wenn sie mit der Peitsche angetrieben werden.

Den Männern aus Tyros lag sicher am Herzen, ihre Beute schleunigst zum Meer zu schaffen. Doch zuvor forderten sicher die Panthermädchen ihr Recht. Die kommende Nacht, so vermutete ich, galt den grausamen Riten der Panthermädchen.

Ich kehrte zu meinen vier Sklavinnen zurück, die ich gefesselt und geknebelt zurückgelassen hatte, bevor ich ins Lager gegangen war.

Ich löste die Fußfesseln der Mädchen und setzte mich wortlos in Bewegung. Sie folgten mir ohne Aufforderung. Dabei behielten sie die Knebel im Mund, denn wir waren noch in der Nähe des Feindes. So konnten sie mich nicht verraten.

Ich kehrte in Marlenus’ Lager zurück und nahm dort mühelos die Spur der Tyrer und der Panthermädchen auf. Es war Nacht.

Ich stand auf einem kräftigen Ast, an den Stamm eines Baumes gelehnt, etwa zwölf Meter über dem Boden, von dem aus ich die gesamte Lichtung überschauen konnte.

Es war die Lichtung, die diese Nacht Hura als Tanzkreis dienen sollte. Sie enthielt zugleich das Nachtlager der Tyrer.

Mehrere große Feuer brannten zwischen den Bäumen. Dazwischen lagen gefesselt die Männer des Marlenus. Ein Tyrer saß an einer Trommel und schlug einen monotonen Rhythmus. Panthermädchen eilten stolz über die Lichtung. Der Schein des Feuers erhellte die Baumstämme am Rand der Lichtung.

Innerhalb des vorgesehenen Tanzkreises entdeckte ich Hura, die sich mit Mira unterhielt. Ich hätte beide mit meinen Pfeilen erlegen können, unternahm jedoch nichts. Ich hatte andere Pläne.

Am Rand der Lichtung machte ich Sarus aus, den Kapitän der Rhoda, den Anführer der Tyrer. Er nahm seinen gelben Helm ab und wischte sich die Stirn. Es war ein heißer Abend.

Es gibt zwei Strategien, nach denen ein Krieger vorgehen kann. Die erste zielt darauf ab, zunächst den gegnerischen Anführer umzubringen. Die zweite sieht vor, ihn vor den Augen seiner Männer hilflos und ohnmächtig dastehen zu lassen. Ich entschied mich für den zweiten Weg.

Ich sah, wie zwei Tyrer ein großes Metallbecken voller glühender Kohlen brachten. Sie trugen es an einer großen Metallstange, die sie mit Handschuhen anfaßten. Aus den Kohlen ragte der Griff eines Brandeisens.

Im nächsten Augenblick wurde ein großer Mann aus dem Dunkeln herbeigezerrt. Obwohl er angekettet war, wehrte er sich heftig. Speerschäfte hielten ihn im Zaum. Als ihm die Handfesseln abgenommen wurden, mußten ihn vier Männer bändigen. Schließlich wurde er an vier kleinen Pfählen im Erdreich festgemacht und lag nun hilflos am Boden – Marlenus aus Ar!

Der Trommler beschleunigte seinen Rhythmus. Im Hintergrund machte ich die Schatten von Zelten aus.

Der Feuerkessel stand nur zwei Meter von Marlenus entfernt. Die Flammen wurden geschürt. Einer der Tyrer hob das Brandeisen, das rotglühend war, in die Höhe. An seinem Ende schimmerte in Spiegelschrift das Sklavenzeichen Gors.

Der Mann mit dem Lederhandschuh stieß das Eisen wieder ins Feuer. Es war noch nicht heiß genug.

Marlenus wehrte sich vergeblich gegen seine Fesseln.

Auf meinem Ast hockend, wartete ich ab und beobachtete die Männer und Frauen unter mir. Wie viele waren es? Was für einen Eindruck machten sie? Wer war am wachsamsten? Wer mochte mir am gefährlichsten werden?

Ich blickte zu den Monden auf. Die Zeremonie konnte bald beginnen.

Ich saß sprungbereit auf dem Ast. Ich war geduldig. In mir pulsierte nicht mehr das Blut des Kaufmanns – sondern ein älteres, fast vergessenes Blut, das Blut des Kriegers, des Jägers.

Meine vier Pagamädchen hatte ich gefesselt zurückgelassen und mit einigen Dornbüschen umgeben, die sie vor Raubtieren schützen sollten.

Jetzt griff der Mann mit dem Lederhandschuh wieder nach dem Brandeisen, das inzwischen weißglühend geworden war. Huras Panthermädchen betraten den Tanzkreis – es waren über hundert. Die goreanischen Monde standen hoch am Himmel, als Hura dem Mann aus Tyros ein Zeichen gab, das Brandeisen wieder in das Feuer zu schieben.

Ich starrte in den Kreis hinab. Die Mädchen legten ihre Waffen ab und drängten sich um Marlenus’ gefesselte Gestalt, starrten ihn wortlos an.

»Brandet ihn!« befahl Hura.

Wieder griff der Tyrer mit dem schweren Handschuh zu und nahm das Brandeisen heraus. Die Mädchen murmelten befriedigt.

Marlenus hatte mir einmal Brot, Feuer und Salz verweigert. Er hatte mich aus Ar verbannt. Er hatte dafür gesorgt, daß ich wie ein Narr dastand.

Ich lächelte. Ich schuldete ihm nichts – außer vielleicht Rache für tausend kleine Erniedrigungen, für tausend kleine Niederlagen, die er mir beigebracht hatte.

Er sollte als Sklave zur Küste und von dort zur Insel seiner Feinde, nach Tyros, geschafft werden. Er würde nackt im Triumphzug seiner Feinde gehen, an einen Tharlarionwagen gebunden, inmitten von Blüten, die von der Menge am Straßenrand geworfen wurden. Und schließlich würde man ihn vor den Hohen Rat von Tyros zerren – als Sklaven. Sarus, der Anführer der Tyrer, würde ihn dann dem Rat überantworten – ein schmähliches Ende für den großen Marlenus, dem dann ein Sklavenschicksal bevorstand.

Ich lächelte.

»Brandet ihn!« rief Hura.

Mehrere Panthermädchen, begierig, ihren ekstatischen Tanz zu beginnen, hielten Marlenus am Bein fest. Grinsend hob der Tyrer das glühende Brandeisen. Gleich würde sich das heiße Zeichen tief in die Haut des Mannes brennen und Marlenus aus Ar auch sichtbar zum Sklaven machen.

Doch das Eisen zuckte nicht vor, sondern fiel nutzlos ins Gras, entzündete die trockenen Halme. Hura stieß einen Wutschrei aus. Die Panthermädchen, die neben Marlenus knieten, blickten erschrocken auf. Der Tyrer hatte sich vornübergebeugt und richtete sich nun langsam, sehr langsam auf. Er schien verwirrt zu sein.

Dann drehte er sich langsam um und stürzte ins Gras.

Mein stahlgespitzter Pfeil, mit den Federn einer Voskmöwe versehen, war ihm ins Herz gedrungen.

Unten im Lager herrschte Verwirrung. Rufe wurden laut, die Männer aus Tyros sprangen auf und liefen durcheinander. Erde wurde auf die Feuer geworfen.

Ich glitt lautlos von dem Ast, auf dem ich gelauert hatte, und verschwand in der Nacht.

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