18

»Das Meer! Das Meer!« rief der Mann.

Er stolperte aus dem Unterholz zwischen den mächtigen Waldbäumen.

Er stand allein an der hohen Küste auf den Kieselsteinen des Strandes, eine einsame Gestalt. Er war unrasiert. Die Tunika, die einmal hellgelb gewesen war, hing zerrissen und verdreckt an seinem Körper.

Er stolperte zum Wasser hinab, wobei er zweimal hinfiel, und erreichte schließlich den eigentlichen Sandstrand und das Treibholz und die Algen, die die Morgenflut an Land gewaschen hatte. Er taumelte ins flache Wasser, sank dort in die Knie. Im ersten Morgenwind und im frischen Salzduft des Wassers kniete er und sah zu, wie die Wellen zurückwichen und ihn auf dem glatten feuchten Sand zurückließen. Er preßte die Handflächen und die Lippen in den Sand. Als das Wasser wieder heranschwemmte, hob er den Kopf, stand auf und ließ die Feuchtigkeit um seine Fußgelenke spielen.

Dann wandte er sich um und blickte in die Richtung, in der sich in vielen tausend Pasang Entfernung das Sardargebirge erhob. Mich übersah er im Schatten zwischen den Bäumen. Er hob die Hände zum Sardar, zu den Priesterkönigen Gors. Dann fiel er wieder auf die Knie und schleuderte das Naß herum; ich sah die Tropfen in der Sonne blitzen.

Er lachte, und dann drehte er sich um und stapfte wieder die Küste herauf.

»Das Meer!« rief er in den Wald. »Das Meer!«

Er war ein mutiger Mann, Sarus aus Tyros, Kapitän der Rhoda. Er war seinen Männern allein vorausgeeilt. Und hatte als erster das schimmernde Thassa gesehen. Die Tage und Nächte seines schrecklichen Alptraums waren nun vorbei – so hoffte er.

Er und seine Männer hatten das Meer erreicht. Ich hatte es ihnen gestattet.

Ich suchte den westlichen Horizont ab. Doch jenseits der schäumenden Brandung erstreckte sich die ungebrochene Fläche des Thassa bis zu einem glatten Horizont. Keine Segel waren zu sehen – kein Schiff aus Tyros näherte sich der Küste. Der Horizont war leer.

Irgendwo legten sich Männer in die Ruder. Irgendwo, ich kannte den Ort nicht, folgten Ruderer dem Rhythmus des Keleusteshammers – an Bord der Rhoda, wie auch an Bord der leichten Galeere Tesephone aus Port Kar, die sicher nicht fern war.

Die beiden Schiffe sollten Sarus und seine Männer aufnehmen.

Doch auf den langen Stränden des Meeres am Westrand der riesigen nördlichen Wälder fand man sich nicht so leicht. Ein Signal mußte gesetzt werden.

»Das Meer!« riefen nun auch andere, die aus dem Wald stürzten.

Erschöpft beobachtete Sarus die Begeisterung seiner Männer.

Seine Gefolgsleute, fünfundfünfzig Krieger aus Tyros, stolperten wie er über den Kies zum Wasser hinab. Sie hatten fast schon nicht mehr damit gerechnet, das Thassa wiederzusehen. Sie hatten den Wald bezwungen. Ich hatte es ihnen gestattet.

Auch ich hatte eine Verabredung mit der Rhoda und der Tesephone.

Die Rhoda hatte entscheidend in meine Pläne eingegriffen – auf eine Art, die mir nicht gefiel. Und im Laderaum der Tesephone befanden sich meine Männer, die im Lager am Laurius gefangengenommen worden waren.

In diesem Augenblick kam eine Gruppe von einundzwanzig gefesselten Sklaven aus dem Wald. Die Männer waren am Hals zusammengekettet.

Fünfundsiebzig Sklaven waren gefesselt im Wald zurückgelassen worden. Sarus hatte sie nicht umbringen lassen – wahrscheinlich aus Angst vor dem Langbogen. Andererseits hatte er es mir auch nicht leichtgemacht, denn er hatte die fünfundsiebzig Mann in einem großen Kreis um mehrere Bäume festketten lassen – ein kluger Schachzug.

Im Wald zurückgelassen, mußten die Sklaven an Hunger oder Durst oder unter den Angriffen von Raubtieren sterben. Sie zu schützen, hätte die Kräfte des Feindes abgelenkt, sie zu befreien, erforderte eine mehrstündige Aktion mit Werkzeugen, die ich nicht hatte. Entweder mußten die Ketten aufgebrochen oder die Bäume gefällt werden. Ein ausgezeichneter Plan. Sarus war kein Dummkopf.

Nachdem er seinen unbekannten Verfolgern dieses Hindernis in den Weg gelegt hatte, war er mit seinen ausgewählten Gefangenen, zu denen natürlich Marlenus gehörte, und mit den vierundzwanzig Sklavinnen einschließlich Verna, Cara, Grenna und Tina eilig weitergezogen, dem vorgesehenen Treffpunkt mit den beiden Schiffen entgegen.

Nachdem ich die Mehrzahl von Huras Mädchen gefangen hatte, war ich mit meinen Angriffen auf Sarus und seine Kolonne zurückhaltend gewesen. Auch Hura, die noch einundzwanzig Mädchen hatte, erreichte ungeschoren das Meer.

Ich hörte die Freudenrufe der Panthermädchen, als sie nun aus dem Wald traten und den Strand entdeckten. Sie rannten zum Wasser, wateten darin herum. Sie lachten und bespritzten und erfrischten sich.

Gleich darauf kamen auch die gefesselten Sklavinnen aus dem Wald, angeführt von Sheera, Cara, Tina und Grenna. Hinter Grenna folgte das erste Mädchen aus Vernas Bande, in deren Mitte Verna ging, die oft verzweifelt gegen ihre Fesseln angekämpft hatte. Ich erinnerte mich an ihren Schrei, mit dem sie reagiert hatte, als Marlenus ihr die Jungfräulichkeit nahm. Nun stand sie niedergeschlagen, verschwitzt und schmutzig inmitten der anderen Gefangenen. Hinter ihr kamen die übrigen Mädchen aus ihrer Bande, zum Schluß die anderen Sklavenmädchen aus Marlenus’ Lager.

Es war interessant festzustellen, daß keine der Sklavinnen aufgegeben worden war. Aber das entsprach der Marktlage für Sklaven auf Gor – Sklavinnen waren weitaus wertvoller als versklavte Männer.

Mira ging zu den Sklavinnen und packte ein Mädchen, das etwa in der Mitte stand, am Sklavenkragen. So zerrte sie die Gruppe wie ein großes »V« auf das Wasser zu.

»Kommt, Sklavinnen!« befahl sie.

Ich vermutete, daß Miras Position in Huras Bande unverändert war, daß ihr die Tat nicht angelastet wurde.

Ich lächelte, während sie die Mädchen zum Wasser zog. Sie war mein. Zweifellos hoffte sie mir zu entfliehen, doch das sollte nicht geschehen.

»Ans Wasser!« befahl Sarus.

Marlenus richtete sich auf und wanderte stolz auf die Wasserlinie zu. Die anderen Männer, zu denen Rim und Arn gehörten, folgten ihm.

Ich hatte meine Angriffe in den letzten beiden Tagen eingestellt. In einer bestimmten Absicht. Die Tyrer sollten wieder Hoffnung schöpfen.

Sie hatten schließlich keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatten. Ihre Gegner mochten Sklavenjäger sein – dafür gab es ein gutes Argument. Meine Pfeile hatten stets nur Männern gegolten, während die Frauen vereinzelt oder in Gruppen verschwunden waren – wahrscheinlich um versklavt zu werden. Meine Taktik hätte durchaus der einer Gruppe von Sklavenjägern entsprechen können.

Mira wußte natürlich, daß wir es nicht in erster Linie auf Sklaven abgesehen hatten, doch sie durfte den Mund nicht aufmachen, damit sie ihre Mitwirkung bei unserem Plan nicht verriet. Sie würde schweigen, denn sie wollte weiterleben.

Doch auch Mira wußte nicht, wie viele Leute ich hatte. Das entsprach durchaus meiner Absicht. Zweifellos nahm sie an, daß ich mit einer großen Bande Panthermädchen zusammenarbeitete.

Ich beobachtete meine Feinde aus dem Dickicht. Kein Segel zeigte sich auf dem Thassa. Der große Kreis des Horizonts war leer. Sarus und seine Männer, durch meine Überfälle zur Eile angetrieben, hatten die Küste wahrscheinlich viel eher erreicht als erwartet. Natürlich hoffte ich darauf, daß er für sein Rendezvous mit der Rhoda und der Tesephone viel zu früh gekommen war.

Sarus und seine Männer glaubten möglicherweise, die »Sklavenjäger«, die sie seit einigen Tagen nicht mehr belästigt hatten, seien nun zufriedengestellt. Schließlich hatten die Tyrer genügend hübsche Mädchen zurückgelassen. Sarus war es egal, daß viele verbündete Panthermädchen nun Sklavenketten tragen mochten, und auch Hura war sicher mit der Entwicklung nicht unzufrieden, solange sie nicht selbst versklavt wurde. Sie und Sarus hatten unbehelligt die Küste erreicht.

Und wenn die »Sklavenjäger« noch nicht zufrieden waren, konnten sie die fünfundsiebzig männlichen Sklaven mitnehmen, die im Wald zurückgeblieben waren. Eine so reiche Beute mußte jedem Sklavenhändler vollauf genügen.

Sarus hatte sich das gut überlegt. Nur war ich eben kein Sklavenhändler.

Ich blickte zur Küste hinab. Meine Feinde und ihre Gefangenen standen an der Wasserlinie.

Ich lächelte, als Marlenus, der knietief im Wasser stand, zum Horizont blickte. Er starrte in die Richtung, in der Tyros liegen mußte. Seine mächtigen Fäuste ballten sich in den Sklavenfesseln.

Die Tyrer warfen ihre gelben Kappen in die Luft und jubelten und bespritzten sich lachend mit Wasser. Sie hatten den Wald überstanden. Sie hatten das Meer erreicht!


Am Nachmittag beobachtete ich, wie einige Sklavenmädchen, die paarweise zusammengefesselt und von Panthermädchen oder Tyrern bewacht wurden, sich daranmachten, Treibholz zu sammeln und am Waldrand Äste abzubrechen.

Das Holz wurde an einer Stelle aufgeschichtet, die etwa sechs Meter über der Wasserlinie lag. Hier türmte sich bald ein großer Scheiterhaufen auf.

Wenn dieser Holzhaufen brannte, war er ein ausgezeichnetes Signal für die Schiffe. So war es sicher vereinbart.

Ich bemerkte, daß Cara und Tina zusammengebunden waren. Sheera und Grenna bildeten ein zweites Paar. Beide wurden scharf bewacht, denn Sheera galt offenbar als Unruhestifterin. Auch Verna und ihre Begleiterin hatten zwei Wächter bekommen. Ich freute mich über die Zusammenstellung der Mädchenpaare, die meinen Plänen entgegenkam.

Einige der Tyrer drangen mutig in den Wald ein und fällten zahlreiche junge Stämme. Ich störte sie nicht. Die Pfähle wurden an beiden Enden zugespitzt und oben am Kiesstrand in den Boden gerammt. So bildete sich Stamm um Stamm eine grobe halbkreisförmige Palisade von etwa dreißig Metern Länge. Sie schirmte die Gruppe vom Wald ab. Auf der offenen Seite zum Meer hin wurden kleine Feuerstellen angelegt, die die Tiere verscheuchen sollten. Die Palisade sollte in erster Linie vor meinen Pfeilschüssen schützen.

Es wurde schnell dunkel. Zweifellos wurde die Palisade aus diesem Grund noch nicht geschlossen.

Von der offenen Seite führte eine Doppelreihe kleiner Feuer zu dem großen Scheiterhaufen. Durch diesen feuergeschützten Gang sollte das große Signal versorgt werden.

Ich konnte nicht in das Lager schießen, ohne mich dem Wasser zu nähern, was bedeutet hätte, daß ich den Schutz des Waldes verlassen mußte. Doch daran hatte ich auch gar kein Interesse.

»Zündet das große Feuer an!« rief Sarus. Seine Leute stimmten ein Jubelgeschrei an, als die Fackel in das ölgetränkte Holz gestoßen wurde. Nach wenigen Sekunden zuckten wie in einer Explosion mächtige Flammen empor. Die Tyrer waren Hunderte von Pasang von jeder Zivilisation entfernt, doch die Flammen dieses Feuers machten ihnen Freude. Es war ihr Signal für die Rhoda und die Tesephone. Die Männer aus Tyros begannen zu singen, während sie in das Feuer starrten.

Hinten in der halbkreisförmigen Palisade lagen hilflos Marlenus und die anderen Gefangenen.

Unbemerkt verschwand ich in der Dunkelheit. Ich mußte mich mit der Tesephone und der Rhoda in Verbindung setzen, ehe sie Sarus erreichten.

Dazu brauchte ich allerdings Hilfe. Im Augenblick mußte ich mich jedoch in Geduld fassen. Ich beschloß, ein paar Ahn zu schlafen.


Als ich erwachte, waren etwa zwei oder drei Ahn vergangen, wenn ich die Stellung der Monde richtig deutete. Ich wusch mich an einem kleinen Bach, aß einige Streifen Tabukfleisch, die ich in einem kleinen Beutel bei mir trug, und kehrte zum Waldrand zurück. Die tyrische Tunika, die mir schon einmal gedient hatte, trug ich zusammengerollt auf dem Rücken. Ich hatte ein grünes Gewand angezogen, das nun in der Dunkelheit schwarz wirkte, und bewegte mich mit der Vorsicht eines Kriegers – ein Schatten unter vielen.

Zu meiner Freude konnte ich feststellen, daß das Signalfeuer niedergebrannt war. Es mußte bald geschürt und mit neuem Holz gespeist werden.

Nicht lange mußte ich in der Dunkelheit warten, bis ich aus dem Lager laute Befehle und das Jammern der Sklavinnen hörte, das jedoch im Klatschen von Peitschen unterging. Nach wenigen Minuten kamen sechs Mädchen, wieder zu zweit zusammengefesselt, aus der Umfriedung. Jedem Paar folgte ein Mann aus Tyros.

Ich bemerkte, daß Sarus klugerweise nur Mädchen ausgesucht hatte, die sich im Wald nicht auskannten. Ehemalige Panthermädchen hätten vielleicht die Gelegenheit zur Flucht benutzt. Das erste Paar bestand aus Cara und Tina, die anderen kannte ich nicht; sie mußten aus Marlenus’ Lager stammen. Diese Mädchen hatten ausnahmslos große Angst vor dem Wald und hätten dort sicher keinen Tag lang überlebt. Ich hatte gehofft und mir ausgerechnet, daß Tina unter den Mädchen sein würde, die zum Holzsammeln ausgeschickt wurden. Schon in Lydius hatte ich vermutet, daß mir die kecke kleine Sklavin einmal nützen könnte – ich hatte damals jedoch nicht geahnt, welche Pläne ich einmal mit ihr haben würde.

Die Tyrer, die den Mädchen folgten, hatten keine große Lust, in den Wald einzudringen.

»Sammelt Holz, aber schnell, und kehrt dann zurück!« rief einer der Männer.

»Schick uns nicht in den Wald!« flehte Cara.

Doch seine Antwort war die Peitsche. Schluchzend sprangen die Mädchen auf, eilten an den Waldrand und begannen Äste abzubrechen und Holzstücke zu sammeln.

Cara und Tina schluchzten verzweifelt. Sie hatten Angst vor der Peitsche, doch zugleich fürchteten sie die Gefahren des Waldes, die Dunkelheit, die Tiere. Sie stammten aus zivilisierten Städten – der nächtliche Wald mit seinen Geräuschen und Gefahren war ein Alptraum für sie.

Sie trugen zwei Armvoll Zweige aus dem Wald und fielen vor ihrem Wächter auf die Knie.

»Mehr Holz, Mädchen!« sagte er.

»Ja, Herr.«

»Und geht tiefer in den Wald.« Der Mann machte eine Bewegung mit der Peitsche.

Widerstrebend kehrten sie in die Dunkelheit zwischen den Bäumen zurück und sammelten neues Holz. Nach wenigen Minuten waren sie schwer bepackt wieder zur Stelle.

Sie knieten vor dem Mann in der gelben tyrischen Tunika nieder, der am Strand auf sie wartete.

»Ist das jetzt genug?« fragte Cara, ohne den Kopf zu heben.

»O ja, es ist genug«, erwiderte ich.

Sie hoben verblüfft die Köpfe.

»Seid still!« sagte ich warnend.

»Du!« hauchte Cara.

»Herr!« flüsterte Tina mit weit aufgerissenen Augen.

»Wo ist der Wächter?« wollte Tina wissen.

»Er ist gestolpert und zu Boden gefallen. Dabei hat er sich wohl den Kopf an einem Stein gestoßen.«

Ich rechnete damit, daß er einige Stunden bewußtlos blieb.

»Ich verstehe«, sagte Cara lächelnd.

Er hatte nicht mit einem Angriff vom Meer her gerechnet. Am Strand lagen viele flache Kieselsteine herum – und sein Kopf war mit einem in Berührung gekommen.

»Du schwebst hier in großer Gefahr, Herr«, sagte Tina. »Du mußt fliehen.«

Ich blickte zur Palisade hinüber, die etwa zweihundert Meter entfernt war. Ich wischte mir den Sand von der rechten Hand. Dann sah ich Tina an.

»Im Lager sind über fünfzig Tyrer«, sagte sie.

»Genau sind es fünfundfünfzig, und hinzu kommt Sarus aus Tyros, der Anführer«, stellte ich fest.

Sie starrte mich verdattert an. »Du bist uns gefolgt«, sagte sie flüsternd.

»Du mußt fliehen!« drängte Cara.

Tina lächelte. »Ich glaube, das Risiko liegt jetzt eher bei den Tyrern«, sagte sie.

Ich blickte zu den Monden auf. Wir hatten fast die zwanzigste Stunde, den Beginn eines neuen goreanischen Tages. Ich mußte mich beeilen.

»Folgt mir«, sagte ich zu den beiden Sklavinnen.

Sie sprangen auf und schritten eilig mit mir über den Strand.

Hinter uns hörte ich jemand einen Namen rufen – zweifellos den Namen des Wächters, den ich niedergeschlagen hatte. Wahrscheinlich nahm man an, die Mädchen hätten den Wächter überlistet und ihn niedergeschlagen, um zu fliehen. Natürlich mußten sich die Tyrer darüber wundern, denn die Sklavinnen waren Stadtmädchen gewesen, die vor dem Wald Angst gehabt hatten.

Hinter uns flammten Fackeln auf. Die Suche nach dem Wächter begann.

Ich ging schneller. Die Mädchen versuchten Schritt zu halten. Das Holz ließen wir am Strand liegen. Die Tyrer mochten es ruhig für ihr Signalfeuer verwenden – es würde ihnen sowieso nichts mehr nützen.


Ich blickte zur Sonne auf. Wir hatten die goreanische Mittagsstunde, die zehnte Ahn.

Ich brach einen großen Zweig von einem umgestürzten Baum und zerrte ihn zu dem großen Holzstapel, den ich mit Caras und Tinas Hilfe aufgetürmt hatte.

Die beiden Sklavinnen waren sehr tüchtig gewesen.

»Fertig«, sagte ich schließlich.

Wir betrachteten das große Gebilde aus trockenen Ästen und Treibholz.

Die ganze Nacht hindurch waren wir unterwegs gewesen. Auch am Morgen hatten wir uns keine Pause gegönnt, sondern sofort mit dem Holzsammeln begonnen. Die beiden Mädchen hatten es nicht gewagt, mich nach meinen Absichten zu fragen. Mein Holzstapel befand sich etwa zwanzig Pasang südlich des Lagers der Tyrer.

Die Mädchen lächelten mich müde an.

»An den Waldrand«, sagte ich.

Zwischen den Bäumen richtete ich uns ein kleines Lager ein, von dem aus man den Strand überschauen konnte, der hier oben voller Steine war und erst zum Wasser hin einen sauberen Sandstreifen bot. Ich fesselte Tina an einen großen Baum, so daß sie das Meer überschauen konnte.

»Du hast die erste Wache«, sagte ich zu ihr. »Du gibst mir sofort Bescheid, wenn du ein Segel am Horizont siehst.«

»Ja, Herr«, sagte Tina.

Ich gab beiden Mädchen zu essen und zu trinken, legte auch Cara in Sklavenfesseln und hockte mich mit dem Rücken an einen Baumstamm.

Ich erinnerte mich an Cara, wie ich sie bei Samos zum erstenmal gesehen hatte. Sie hatte uns während unseres Spiels bedient. Rim, damals noch ein Sklave, hatte die Szene beobachtet.

Ich blickte zu Tina hinüber, die angestrengt auf das Meer hinausschaute. Es schien sehr lange her zu sein, daß sie mir in Lydius den Geldbeutel abgenommen hatte.

Ich legte mich auf das trockene Laub und blickte noch einen Augenblick zu den Zweigen und Blättern empor. Dann schlief ich schnell ein.

Am Nachmittag stand ich einmal auf, um Tina und Cara auszutauschen. Tina sollte später frisch und munter sein. Sie schlief ein, ehe ich sie richtig neben mir hingelegt hatte.


Als es dunkel geworden war, verließ ich mein Lager. Ich band Cara und Tina los und blickte zu den Monden empor. Dann schaute ich aufs Meer hinaus, eine riesige, ruhige Wasserfläche, die nun im Licht der Monde schimmerte.

Wahrscheinlich würden wir schon heute nacht zum Ziel kommen.

»Wie schön das Meer ist!« sagte Cara.

Ich trank etwas Wasser aus meiner Gürtelflasche und aß einige Streifen Tabukfleisch. Auch die Mädchen bekamen ihr Teil.

Dann sah ich mich um. Das Mondlicht würde noch etwa eine Ahn anhalten. Wie Tarns bewegten sich düstere Wolkenstreifen nach Süden. Sie verbargen die Sterne und verdunkelten den Himmel.

Am Strand jedoch herrschte Ruhe, die Ruhe einer lauen Frühsommernacht. Wenn es ein Unwetter gab, dann war es noch weit entfernt; wir sahen nur die rasch dahinziehenden Wolken. Bei uns war die Nacht ruhig und ziemlich warm – und irgendwo auf dem Thassa, noch verborgen durch die Krümmung des Horizonts, näherten sich die Rhoda und die Tesephone, ja sie mußten schon ganz in der Nähe sein.

Die Brandung des Thassa rauschte unermüdlich gegen den Strand, ein ewiges, unruhiges Geräusch.

»Es ist Zeit«, sagte ich zu meinen Sklavinnen.

Gemeinsam gingen wir den Strand hinab und näherten uns dem großen Scheiterhaufen, den wir aufgetürmt hatten.

Ich zog einen kleinen glatten Stein und eine flache Metallscheibe aus der Tasche. Dann machte ich Feuer und steckte den großen Holzstapel in Brand.

Goreanische Galeeren sind im allgemeinen nachts nicht unterwegs; es ist üblich, daß sich die Seeleute bei Dunkelheit einen geschützten Ort an der Küste suchen.

Doch wegen der Gefährlichkeit der Küste und der Wichtigkeit der Mission rechnete ich damit, daß die Rhoda und die Tesephone kein Strandlager aufgeschlagen hatten, wenn sie auch irgendwo vor Anker liegen mochten. Wäre ich der Kommandant der beiden Schiffe gewesen, hätte ich vor der Küste beigedreht und wäre nur an Land gegangen, um Wasser oder Frischfleisch zu beschaffen. Jedenfalls hätte ich eine goreanische Seemannsregel beachtet – auf jeden Fall in Sichtweite von der Küste zu bleiben. Die goreanische Galeere, ein Kraweelboot, lang und mit geringem Tiefgang, ist auf Kampfkraft und Geschwindigkeit gebaut, nicht für die Weiten des Thassa. Die viel kleineren Schiffe der Männer aus Torvaldsland, die überlappende gebogene Planken haben, sind weit seetüchtiger. Das ist auch unumgänglich, wenn sie in den unruhigen nördlichen Gewässern überleben wollen, wo es selten einen ruhigen Tag gibt. Ihre Schiffe haben einen weitaus größeren Tiefgang als unsere Galeeren, und sie sind auch widerstandsfähiger – weil sie nämlich elastischer auf den Wasserdruck reagieren. Sie müssen ständig ausgeschöpft werden und sind deshalb wenig für Frachten geeignet. Die Männer aus Torvaldsland stören sich daran jedoch nicht, weil sie sich ohnehin nicht als Kaufleute betrachten.

Sie haben übrigens viereckige Segel und – eine interessante Einzelheit – zwei Bugspriete, einen an jedem Ende. Dies erleichtert es ihnen, die Schiffe auf den Strand zu setzen – eine Eigenschaft, die in starker Brandung sehr vorteilhaft ist. Auch können die Ruderer, indem sie sich einfach auf ihren Bänken umdrehen, in Sekundenschnelle die Fahrtrichtung des Schiffes wechseln, ohne zu wenden. Natürlich gilt das nicht hundertprozentig, denn beispielsweise hat das Steuerruder, das sich auf der Steuerbordseite des Schiffes befindet, seine größte Wirkung, wenn sich das Schiff in der üblichen Richtung vorwärts bewegt. Trotzdem ist diese Wendigkeit zuweilen sehr nützlich. Zum Beispiel ist es sehr schwierig, ein Schiff aus Torvaldsland zu rammen – nicht nur wegen der geringen Größe, welche natürlich die Manövrierbarkeit und Geschwindigkeit erhöht, sondern besonders wegen der Fähigkeit, blitzschnell die Fahrtrichtung zu wechseln.

Die Schiffe aus Torvaldsland wagen sich im Süden bis nach Shendi und Bazi vor, und im Norden sogar bis zum großen Eismeer, und im Westen bis zu den Klippen von Tyros und den Terrassen von Cos. Die Männer aus Torvaldsland sind wilde Seefahrer und Kämpfer und durchstreifen die Welt manchmal nur, um zu sehen, was unter dem schimmernden Horizont des Thassa liegt. Ihren Legenden zufolge halten sie sich für Dichter, Liebhaber und Krieger. In den Legenden anderer Völker sehen sie anders aus – da sind sie blonde Riesen, die Feuer spucken, Türen einschlagen, Frauen vergewaltigen und Kinder fressen; Riesen, größer als Bäume, mit spitzen Ohren und Augen wie Feuer und Händen wie Klauen und Haken. Sie gelten als Wilde, als blutrünstige Barbaren mit geflochtenen Zöpfen und Fell- und Lederkleidung, bewaffnet mit gewaltigen Äxten, die mit einem Schlag einen Baum umhauen oder einen Mann in zwei Teile spalten können.

Nach goreanischen Sagen wurde der Mensch von den Priesterkönigen aus dem Schlamm der Erde und dem Blut von Tarns erschaffen. Die Legenden in Torvaldsland sehen die Herkunft des Menschen anders. Dort beschlossen die Götter, sich Sklaven zu formen, denn sie waren alle Götter und hatten keine Sklaven. Sie nahmen eine Hacke, mit der der Boden bestellt wurde, und legten sie zwischen sich. Sie sprühten Wasser über sie und rieben sie mit Schweiß von ihren Körpern ein. Aus dieser Hacke wurden die meisten Menschen geformt. Doch in derselben Nacht machte einer der Götter etwas Verhängnisvolles – vielleicht handelte er aus Neugier, vielleicht war er aber nur unvorsichtig oder wütend – jedenfalls schleuderte er seine große Axt zu Boden, und diese Axt benetzte er mit Paga und seinem Blut, und die Axt lachte und sprang auf. Der Gott und die anderen Götter vermochten sie nicht zu fangen, und so wurde die Axt in der Legende zum Vater aller Torvaldsländer.

Natürlich gab es noch einen anderen Grund, warum der Kommandant der Rhoda und der Tesephone besser in Sichtweite der Küste blieben – er mußte auf ein Signal achten. Er durfte das Signalfeuer nicht verpassen, das irgendwo am langen Sandstrand die Position von Sarus und seiner Gefolgschaft markierte.

Auch wenn er beigedreht hatte und fünf oder zehn Pasang entfernt lag, mußte er unser hoch loderndes Feuer sehen – und es für Sarus’ Signal halten.

Ich blickte Tina an. Eine Seite ihres Körpers war vom Feuer rötlich angestrahlt.

»Verstehst du dich darauf, den Männern zu gefallen?« fragte ich.

»Ja, Herr«, erwiderte sie.

Ich brachte Cara in den Wald und fesselte sie dort in einigem Abstand fest, ohne ihr zu sagen, was ich plante. Sie starrte mich fragend an, als ich sie knebelte, doch ich wandte mich wortlos ab.

An den Waldrand zurückgekehrt, entdeckte ich zwei Lichter auf dem Meer. Ich ging zu Tina, griff ihr ins Haar und zerrte sie zu mir heran.

»Was ist die Pflicht einer Sklavin?« frage ich.

»Absoluter Gehorsam«, sagte sie.

Ich blickte zum Meer, wo die beiden Lichter schon heller geworden waren. Es mußten die beiden Schiffe sein. Nach der Bewegung der Laternen zu urteilen, gingen sie in etwa vierhundert Meter vor der Küste vor Anker. Plötzlich erschien ein drittes Licht, das tiefer über dem Wasser lag.

Ich zog die Sklavenpeitsche und berührte damit Tina an der Schulter. Sie sah mich erschrocken an.

»Bitte schlag mich nicht. Ich will dir ja gehorchen!«

»Dann hör zu. Hier sind deine Anweisungen.«


»Hallo!« rief der Mann und sprang aus dem Ruderboot. »Es ist nur ein Mädchen!«

»Beschützt mich, ihr Herren!« rief Tina, taumelte aus der Dunkelheit und fiel vor dem Mann aus Tyros auf die Knie. Er hatte blankgezogen. Andere Männer verließen das Boot und sahen sich um. Alles in allem waren sechzehn Tyrer an Land gekommen.

Der Mann steckte sein Schwert wieder ein, zerrte das hübsche Mädchen hoch und las ihren Sklavenkragen. »Ein Mädchen Bosks aus Port Kar!« lachte er und schob sie von sich. »Der Kerl hat ein gutes Auge für Sklavinnen.«

»Ich wurde meinem Herrn von dem schrecklichen Sarus aus Tyros gestohlen!« schluchzte Tina.

Die Männer sahen sich amüsiert an. »Ich bin ausgerückt, aber da waren Sleen und Panther im Wald! Ich wurde verfolgt und bin knapp entkommen.« Sie senkte schluchzend den Kopf. »Ich kann im Wald nicht leben! Nehmt mich bitte mit, ihr Herren.«

»Hast du das Feuer angesteckt?« fragte ein Mann.

»Ja, Herr!« sagte das Mädchen erstickt. »Ich wollte ein Schiff auf mich aufmerksam machen. Wenn ihr mich nur nicht Sarus zurückgebt! Ihr kennt ihn doch, nicht wahr?«

»Wer ist denn das?« fragte der Anführer der Männer, der selbst das Gelb der Tyrer trug. Die Männer hinter ihm grinsten.

»Welches Glück, daß ich euch gefunden habe!«

Die Männer lachten schallend. Tina stand zitternd vor ihnen.

»Beschützt mich!« flehte sie.

»Unser Schutz hat seinen Preis«, sagte der Anführer und betrachtete sie von oben bis unten.

»Bitte«, flüsterte das Mädchen.

»Wir werden sehen«, sagte der Tyrer. »Zuerst mußt du mal zeigen, was du kannst.«


Während die Männer einer nach dem anderen sich mit der Sklavin vergnügten und die anderen fasziniert jeweils dem zusahen, der gerade intensiv mit ihr beschäftigt war, achteten sie wenig auf ihre Umgebung. So bemerkte kaum einer den Baumstamm, der einige Meter entfernt in der Brandung schwamm und sich gegen die Flut auf die dunklen Umrisse vor der Küste zubewegte.

Mein Vorhaben an Bord der Rhoda dauerte nicht lange.

Nach einer halben Ahn hatte ich das Schiff unbemerkt wieder verlassen.

Gleich darauf zerrten die Männer die neu gewonnene und völlig erschöpfte Sklavin in ihr Ruderboot und machten sich auf den Rückweg zum Schiff. Als sie sich der Rhoda und der Tesephone näherten, kamen sie an einem Baumstamm vorbei, der langsam auf die Küste zutrieb.

Ich sah die Lampe des Ruderboots kleiner werden und war vollauf zufrieden.

Etwa zweihundert Meter entfernt schob ich den Stamm an Land und richtete mich langsam auf. Tina hatte höchstens zwei Nächte Zeit, ihre Arbeit zu tun. Aus dem Schatten des Waldes beobachtete ich die Lampen. Das Ruderboot erreichte die Rhoda, und sein Licht wurde gelöscht. Anschließend wurden auch die Positionslaternen der Rhoda und der Tesephone ausgeblasen.

Heute nacht würden sich beide Schiffe ein oder zwei Pasang weit von der Küste zurückziehen und dort bis morgen früh ankern. Es wäre nicht klug gewesen, eine fremde Küste bei Nacht zu erkunden. Außerdem rechneten die Tyrer wohl erst in einigen Tagen mit Sarus und hatten es nicht eilig. Im übrigen gab es auf den beiden Schiffen heute nacht wohl einen Grund zum Feiern. Vielleicht legte man dazu die beiden Fahrzeuge sogar nebeneinander. Die Männer waren lange unterwegs gewesen.

Tina wußte, was sie zu tun hatte. Und ich hatte beobachtet, daß sie ihr Geschäft verstand – und hart war im Nehmen.

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