Dreizehn

Wenn Sie wissen wollen, wie San Francisco ohne das Erdbeben und das Feuer ausgesehen hätte, müssen Sie nach Seattle fahren – eine alte Hafenstadt, die auf Hügeln errichtet wurde, mit Straßen wie Schluchten, durch die der Wind pfeift. Außer der öffentlichen Bibliothek ist nichts modern, und in den Slums sieht man Kopfsteinpflaster und roten Backstein wie in Teilen von Pocatello, Idaho. Die Slums ziehen sich meilenweit hin und wimmeln von Ratten. Im Zentrum, in der Nähe der großen Hotels, gibt es ein blühendes Einkaufsviertel. Der Wind bläst von Kanada herüber, und wenn die Boeing 900 auf dem Sea-Tac-Flugplatz landet, erhascht man einen Blick auf die Berge, aus denen er kommt. Sie sind furchterregend.

Am Flughafen nahm ich ein Taxi. Die Fahrerin kroch mehrere Meilen im Schneckentempo durch den Verkehr, bis wir endlich das Olympus erreicht hatten, ein typisches Großstadthotel mit Einkaufspassage im Untergeschoss und zahllosen Speisesälen. Tatsächlich war es eine Welt für sich, eine gelb beleuchtete Welt aus Teppichen, altem versiegeltem Holz, gut angezogenen und munter plaudernden Menschen, Fluren und Aufzügen sowie Zimmermädchen, die alles fleißig sauber hielten.

Auf meinem Zimmer machte ich das Radio an, sah kurz aus dem Fenster zur Straße hinunter, stellte die Belüftung ein, zog die Schuhe aus und schlurfte auf dem Teppichboden umher. Dann öffnete ich den Koffer und machte mich ans Auspacken. Vor einer Stunde war ich noch in Boise gewesen; jetzt befand ich mich an der Westküste, an der Grenze zu Kanada. Das war besser als Autofahren – ich war von der einen Stadt direkt in die nächste gelangt, ohne das platte Land dazwischen ertragen zu müssen. Nichts hätte mich mehr freuen können.

Ein gutes Hotel kann man daran erkennen, dass einen der Zimmerservice nie direkt ansieht, wenn man ihn kommen lässt. Er blickte zu Boden, durch einen hindurch, an einem vorbei; man bleibt unsichtbar, selbst wenn man in Unterhosen dasteht oder nackt ist. Der Angestellte kommt ganz leise herein mit dem gebügelten Hemd oder dem Essen, der Zeitung oder dem Drink; man drückt ihm das Trinkgeld in die Hand, er murmelt ein leises Dankeschön, und schon ist er wieder weg. Es hat beinahe etwas Japanisches, wie sie einen nicht ansehen. Man hat das Gefühl, als wäre überhaupt niemand im Zimmer gewesen. Die Hotelangestellten haben so großen Respekt vor der Privatsphäre ihres Gastes, dass es schon unheimlich ist. Natürlich muss man das alles nachher bezahlen. Aber lassen Sie sich nie weismachen, dass es das nicht wert wäre. Ein Mensch, der sich am Rande eines psychotischen Zusammenbruchs befindet, könnte durch wenige Tage in einem First-Class-Hotel mit seinen Geschäften und seinem Rund-um-die-Uhr-Service vollständig wiederhergestellt werden, glauben Sie mir.

Langsam fragte ich mich, wieso ich mich tags zuvor überhaupt dermaßen aufgeregt hatte. Ich kam mir vor wie auf einer wohlverdienten Erholungsreise. Ich hätte mein Leben hier verbringen können, mit Essen im Speisesaal, Zeitunglesen, Shopping – bis mir das Geld ausging. Aber ich hatte hier etwas zu erledigen. Das ist das Harte daran: das Hotel zu verlassen und draußen diese windigen grauen Gehwege hinunterzudackeln. Man ist wieder in einer Welt, in der einem niemand die Tür aufhält; man steht an der Kreuzung neben Leuten, denen man nichts mehr voraus hat; man ist wieder nur ein ganz normales, leidendes Individuum, Beute für jede vorbeikommende Unbill. Es ist, als würde man noch einmal das Trauma seiner Geburt erleben, aber wenigstens kann man am Ende, wenn man seine Sachen erledigt hat, wieder zurück ins Hotel flitzen.

Und wenn man regen Gebrauch von dem Telefon in seinem Zimmer macht, kann man sich einige Ausflüge ersparen. Man erledigt möglichst viel auf diese Weise, ja man versucht sogar, die Leute dazu zu bringen, einen im Hotel aufzusuchen statt umgekehrt.

Diesmal jedoch ließen sich meine Angelegenheiten nicht im Hotel erledigen; ich versuchte es gar nicht erst. Ich schob es einfach so lange hinaus, wie es ging: Ich verbrachte den Rest des Tages auf meinem Zimmer, und als es dunkel wurde, ging ich hinunter zur Bar und dann in einen der Speisesäle, und danach spazierte ich durch die Läden und in die Lobby und noch einmal durch die Läden. Ich trieb mich herum, wo immer man sich herumtreiben konnte, ohne nach draußen in die kalte, fast schon kanadische Nacht treten zu müssen.

Und die ganze Zeit über hatte ich die .38er in der Innentasche meines Mantels.

Es war seltsam, hierherzukommen, um etwas Illegales zu tun. Vielleicht ließ sich das alles ja auch auf legale Weise erledigen, ließ sich durch die Lincoln ein Weg finden, Pris Barrows’ Händen zu entreißen. Aber auf einer tieferen Ebene genoss ich es, mit einer Waffe nach Seattle gekommen zu sein. Ich mochte das Gefühl, allein zu sein und niemanden zu kennen und mich bald mit Mr. Sam Barrows auseinanderzusetzen, ohne dass mir jemand half. Es war wie in einem alten Western. Ich war der Fremde in der Stadt, bewaffnet und mit einer Mission.

Ich ging zurück auf mein Zimmer, lag auf dem Bett, las Zeitung, sah fern, ließ mir um Mitternacht einen Kaffee kommen. Morgen früh spüre ich Barrows auf, sagte ich mir.

Dann – es war vielleicht halb eins und ich wollte gerade schlafen gehen – kam mir ein Gedanke: Warum nicht Barrows jetzt gleich anrufen? Ihn wecken. Ohne ihm zu sagen, wer ich bin, einfach nur: Ich krieg dich, Sam. Ihm richtig Angst einjagen, ihn wissen lassen, dass ich in der Stadt bin.

Raffiniert!

Ich hatte ein, zwei Drinks intus, oder waren es sechs oder sieben? Ich nahm den Hörer ab und sagte der Vermittlung des Hotels: »Geben Sie mir Sam K. Barrows. Die Nummer weiß ich nicht.«

Kurz darauf hörte ich Barrows’ Telefon klingeln und spielte im Kopf noch einmal durch, was ich sagen würde. Lassen Sie Pris wieder zu R & R Associates zurück, würde ich sagen. Ich hasse sie, aber sie gehört zu uns. Für uns ist sie das personifizierte Leben… Das Telefon klingelte und klingelte; offenbar war niemand zu Hause oder niemand mehr wach genug, um ranzugehen. Schließlich legte ich auf.

Was für eine dämliche Situation für einen erwachsenen Mann! Wie konnte jemand wie Pris für uns auf einmal das Leben an sich repräsentieren? Sind wir dermaßen verwirrt? Oder sagt das nicht eher etwas über das Leben aus als über uns? Es ist doch nicht unser Fehler, dass das Leben so ist. Wir haben uns das doch nicht ausgedacht. Oder etwa doch?

Und so weiter. Ich muss ein paar Stunden herumgetigert sein, ohne etwas anderes im Kopf zu haben als diese diffusen Grübeleien. Ich befand mich in einem schrecklichen Zustand. Es war wie eine Virusgrippe, aber eine, die den Stoffwechsel im Gehirn angreift und einen fast umbringt. So kam es mir jedenfalls vor. Ich hatte jeden Kontakt mit der Realität verloren, sogar mit der des Hotels; ich wusste nichts mehr vom Zimmerservice, von der Einkaufspassage, den Bars und den Speisesälen, ja ich blieb nicht einmal mehr am Fenster des Zimmers stehen, um mir die erleuchteten Straßenschluchten anzusehen. Es ist eine Art zu sterben, so den Kontakt zur Stadt zu verlieren.

Nach einer Weile – ich lief immer noch auf und ab – klingelte das Telefon.

Ich nahm ab. »Hallo.«

Es war nicht Sam Barrows. Es war Maury, der mich von Ontario aus anrief.

»Woher wusstest du, dass ich im Olympus bin?« Ich war völlig von den Socken; es war, als hätte er mich mithilfe irgendeiner magischen Fähigkeit aufgespürt.

»Ich wusste, dass du in Seattle bist. Und ich wusste, dass du das beste Hotel nehmen würdest. Ich wette, du hast dich in der Hochzeitssuite eingenistet und gerade irgendeine Frau bei dir.«

»Da muss ich dich enttäuschen. Ich bin hier, weil ich Sam Barrows umbringen will.«

»Umbringen? Mit was denn? Mit deinem Dickschädel? Willst du ihm damit so lange in die Magengrube hauen, bis er tot umfällt?«

Ich erzählte Maury von der .38er.

»Jetzt pass mal auf, Kumpel.« Seine Stimme war ganz ruhig. »Wenn du das tust, sind wir alle ruiniert.«

Ich erwiderte nichts.

»Dieser Anruf kostet uns ein Vermögen. Ich habe nicht vor, hier stundenlang auf dich einzureden wie ein Seelsorger. Schlaf dich aus und ruf mich morgen an, ja? Versprich mir das oder ich ruf die Polizei an und lass dich auf deinem Zimmer festnehmen, so wahr mir Gott helfe.«

»Gut, okay.«

»Du musst es versprechen.«

»Schon gut, Maury, ich verspreche dir, heute Abend nichts mehr zu unternehmen.« Wie konnte ich auch? Ich hatte es versucht und war bereits gescheitert; ich lief ja nur auf und ab.

»Na schön. Hör zu, Louis. Deswegen kommt Pris nicht zurück. Ich habe selbst auch schon daran gedacht. Aber es würde nur ihr Leben ruinieren, wenn du dorthin fährst und diesen Typen über den Haufen schießt. Lass dir das mal durch den Kopf gehen, dann kommst du zu demselben Schluss wie ich, glaub mir. Denkst du denn, ich würde es nicht selber machen, wenn ich davon überzeugt wäre, dass es etwas bringt?«

»Keine Ahnung.« Ich hatte Kopfschmerzen und war todmüde. »Ich möchte bloß noch ins Bett.«

»Ja, du kannst gleich schlafen. Aber vorher möchte ich, dass du dich mal im Zimmer umsiehst. Steht da irgendwo so ein Tischchen mit Schubladen? Ja? Schau in die obere Schublade. Jetzt gleich, während ich noch am Telefon bin. Schau da rein.«

»Wozu?«

»Da liegt eine Bibel drin.«

Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Dieser Schweinepriester, dachte ich. Mir so einen Rat zu geben. Wäre ich bloß nicht nach Seattle gekommen. Ich war wie das Stanton-Simulacrum, wie eine Maschine, die sich durch eine Welt bewegte, die sie nicht verstand. Die Seattle nach einer Ecke absuchte, die ihr bekannt vorkam, wo sie ihre gewohnten Kunststückchen vorführen konnte. In Stantons Fall eine Kanzlei eröffnen. In meinem Fall – was? Irgendwie versuchen, wieder eine vertraute Umgebung herzustellen, so unangenehm sie auch sein mochte. Ich hatte mich an Pris und ihre Grausamkeit gewöhnt, ja, ich hatte mich sogar an die Begegnungen mit Sam K. Barrows und seinem Anwalt gewöhnt. Mein Instinkt trieb mich vom Unbekannten zum Bekannten zurück, es war die einzige Richtung, in der ich funktionierte.

Jetzt weiß ich, was ich will, sagte ich mir. Ich will Barrows Enterprises angehören. Ich will dazugehören, wie Pris. Ich will ihn überhaupt nicht erschießen.

Ich wechsle zur anderen Seite über.

Ich will nicht unbedingt den Lunar Fling tanzen, darauf bin ich nicht aus. Ich will nicht ins Fernsehen kommen, bin nicht daran interessiert, meinen Namen in Neonschrift zu sehen. Ich will mich einfach bloß nützlich machen. Ich will, dass der große Mann sich meiner Fähigkeiten bedient.

Ich griff zum Hörer und wählte Maurys Nummer. Es klingelte eine Weile, dann ging Maury ran. Er klang verschlafen.

»Warst du schon im Bett? Hör zu, Maury. Ich muss es dir sagen. Ich tue mich mit Barrows zusammen, und zum Teufel mit dir und meinem Vater und Chester und Stanton, der ohnehin nur ein Diktator ist und uns das Leben zur Hölle machen würde. Der Einzige, dem ich das nur ungern antue, ist Lincoln. Aber wenn er wirklich so allwissend und verständnisvoll ist, dann wird er mir schon vergeben.«

»Wie bitte?« Maury schien mich nicht verstanden zu haben.

»Ich verkaufe meine Anteile.«

»Nein. Da liegst du falsch.«

»Wie kann ich falschliegen? Was soll das heißen, ich liege falsch?«

»Wenn du zu Barrows gehst, wird es keine R & R Associates mehr geben. Also auch nichts, was du verkaufen könntest. Wir machen dann einfach dicht, Kumpel.«

»Ist mir doch egal. Ich weiß nur, dass Pris recht hat – du kannst einem Menschen wie Barrows nicht begegnen, ohne dass er nicht dein Leben verändert. Er ist ein Stern, ein Komet. Du folgst ihm, oder dein Leben hat jeden Sinn und Zweck verloren. Es ist ein Instinkt. Du wirst das eines Tages auch merken. Barrows ist genial. Ohne ihn sind wir Schnecken. Was ist der Sinn des Lebens? Sich durch den Staub zu schleppen? Man lebt nicht ewig. Wenn du dich nicht zu den Sternen streckst, bist du tot. Die .38er, die ich dabeihabe – wenn ich es nicht zu Barrows Enterprises schaffe, werde ich mir das Hirn aus dem Schädeln ballern. Das meine ich ernst.«

Maury erwiderte nichts.

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Aber ich musste es dir sagen.«

»Du bist krank. Ich werde… ich rufe Doktor Horstowski an.«

»Wozu das denn?«

»Damit er mit dir Kontakt aufnimmt. Telefonisch. Jetzt gleich.«

»Gut.« Ich legte auf.

Ich saß auf dem Bett und wartete, und tatsächlich etwa zwanzig Minuten später klingelte erneut das Telefon.

»Hallo.«

Eine weit entfernte Stimme. »Hier ist Milton Horstowski.«

»Louis Rosen.«

»Mr. Rock hat mich angerufen.« Pause. »Wie geht es Ihnen, Mr. Rosen? Mr. Rock sagte, Sie wirkten wegen irgendetwas aufgeregt.«

»Ja, aber, das geht Sie gar nichts an. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Partner, mehr nicht. Ich bin jetzt in Seattle, um mich einem viel größeren, fortschrittlicheren Unternehmen anzuschließen. Erinnern Sie sich noch, dass ich Sam K. Barrows erwähnt habe?«

»Ja, ich kenne ihn.«

»Ist das also so verrückt?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Das mit der Pistole habe ich nur erzählt, um ihn zu provozieren. Es ist spät, und ich bin ein bisschen betrunken. Es ist nicht einfach, eine Partnerschaft zu beenden.« Ich wartete kurz, aber Horstowski erwiderte nichts. »Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen. Wenn ich nach Boise komme, schaue ich vielleicht einmal bei Ihnen vorbei. Wissen Sie, das alles geht mir ganz schön an die Nieren. Pris ist weg. Sie hat sich Barrows angeschlossen.«

»Ja, ich weiß. Wir stehen immer noch in Kontakt.«

»Ich glaube, ich habe mich in sie verliebt. Könnte das sein? Ich meine, bei einer Person meines psychologischen Typs?«

»Wäre möglich.«

»Na ja, jedenfalls kann ich ohne sie nicht leben, also bin ich jetzt in Seattle. Aber das mit der Pistole war nur so dahergeredet, das können Sie Maury gern ausrichten, falls es ihn beruhigt. Ich wollte ihm nur zeigen, dass ich es ernst meine, verstehen Sie?«

»Ja. Ich glaube schon.«

Wir redeten noch eine Weile, ohne dass dabei etwas herauskam, dann verabschiedete er sich. Ich legte auf und dachte: Der Bursche verständigt wahrscheinlich gleich die Polizei oder das hiesige FBMH. Ich darf kein Risiko eingehen; dass er es könnte, reicht schon.

Also packte ich so schnell wie möglich meine Sachen. Dann verließ ich das Zimmer, nahm den Aufzug hinunter ins Erdgeschoss und bat am Empfang um die Rechnung.

»War vielleicht irgendetwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit, Mr. Rosen?«, fragte der Hotelangestellte.

»Nein, nein. Ich habe endlich die Person erreicht, die ich hier treffen wollte, und ich soll gleich bei ihm vorbeikommen.«

Ich bezahlte die Rechnung – sie war ziemlich moderat – und bat um ein Taxi. Als es kam, trug der Portier meinen Koffer nach draußen und verstaute ihn im Kofferraum des Wagens. Ich gab ihm ein paar Dollar Trinkgeld, und einen Moment später schoss das Taxi in den für diese Zeit überraschend dichten Verkehr hinaus.

Als wir an einem ansprechend aussehenden Motel vorbeikamen, merkte ich mir die Adresse. Ich ließ das Taxi ein paar Blocks weiter anhalten, bezahlte und ging zu Fuß zurück. Dem Motelbesitzer erzählte ich, dass ich mit dem Wagen liegengeblieben sei und trug mich unter dem Namen James W. Byrd – Geschäftsmann auf Durchreise – ein, den ich mir gerade ausgedacht hatte. Ich zahlte im Voraus und ging mit dem Schlüssel in der Hand zu Zimmer sechs.

Es war sauber und hell, genau, was ich wollte. Ich legte mich gleich hin. Beim Wegdämmern dachte ich: Jetzt kriegen sie mich nicht, ich bin in Sicherheit. Morgen gehe ich zu Barrows und unterbreite ihm die Neuigkeit, dass ich auf seine Seite wechsle. Und dann bin ich wieder bei Pris, werde sie bei ihrem Aufstieg zum Ruhm begleiten. Ich werde ihr sagen, was ich für sie empfinde, dass ich sie liebe. Vielleicht heiraten wir ja. Sie ist vermutlich noch viel schöner als früher, jetzt wo sie unter Barrows’ Obhut war. Und wenn er mir Konkurrenz machen will, dann fege ich ihn vom Angesicht der Erde. Der wird mir nicht im Weg stehen, der nicht…

Mit diesem Gedanken schlief ich ein.

Gegen acht weckte mich die Sonne; ich hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Die in einer Reihe geparkten Autos draußen glitzerten. Es würde ein schöner Tag werden.

Was war mir in der Nacht durch den Kopf gegangen? Wirres Zeug, wie ich Pris heiratete und Sam Barrows killte. Die Phantasien eines kleinen Jungen. Beim Einschlafen fällt man wieder in die Kindheit zurück, eindeutig… Und doch: Ich war hierhergekommen, um Pris für mich zu gewinnen, und wenn Barrows sich mir in den Weg stellte – Pech für ihn.

Ich schlurfte ins Bad, nahm eine lange kalte Dusche und dachte über mein Vorgehen nach. Zunächst musste ich mich Barrows auf angemessene Weise nähern, musste meine tatsächlichen Gefühle verbergen, meine wahren Motive. Ich würde ihm sagen, dass ich für ihn arbeiten wollte, vielleicht beim Design des Simulacrums helfen, die ganze Erfahrung einbringen, die ich während der Jahre mit Maury und Jerome gesammelt hatte. Aber kein Sterbenswörtchen von Pris, denn wenn er auch nur ansatzweise etwas davon merkte, dann… Du bist clever, Sam K. Barrows, dachte ich. Aber meine Gedanken lesen kannst du nicht.

Während ich mich anzog, übte ich vor dem Spiegel. Mein Gesicht war absolut gelassen, niemand wäre darauf gekommen, dass mein Herz gerade aufgefressen wurde, vom Wurm der Begierde, von der Liebe zu Pris Frauenzimmer oder Womankind oder wie sie sich derzeit nannte. Das ist ein Zeichen von Reife, sagte ich mir. In der Lage zu sein, seine wahren Gefühlen zu verbergen, eine Maske aufzusetzen. Einen Mann wie Barrows zu täuschen. Wenn man das kann, hat man es geschafft.

Wenn nicht – ist man erledigt.

Ich ging frühstücken – Eier mit Schinken, Toast, Kaffee, Saft –, dann, um halb zehn, kehrte ich auf mein Zimmer zurück und zog das Telefonbuch von Seattle hervor. Ich brauchte eine ganze Weile, die Aufstellung von Barrows’ diversen Unternehmen durchzugehen, bis ich endlich das eine fand, in dem er wohl gerade war. Ich wählte die Nummer.

»Northwest Electronics«, meldete sich eine junge Frau munter. »Guten Morgen.«

»Ist Mr. Barrows schon da?«

»Ja, Sir, aber er spricht gerade. Ich verbinde Sie mit seinem Büro.«

Eine Pause, dann eine andere Stimme, ebenfalls weiblich, aber viel tiefer und älter klingend. »Mr. Barrows’ Büro. Mit wem spreche ich?«

»Ich hätte gern einen Termin mit Mr. Barrows. Louis Rosen aus Boise. Mr. Barrows kennt mich.«

»Einen Moment.« Wieder eine Pause. »Mr. Barrows kann jetzt mit Ihnen sprechen. Bitte, Sir.«

Ich räusperte mich. »Hallo.«

»Wie geht’s Ihnen, Rosen? Was kann ich für Sie tun?« Barrows klang gut gelaunt.

»Wie… wie geht es Pris?«

»Pris geht es gut. Wie geht es Ihrem Vater und Ihrem Bruder?«

»Gut.«

»Muss interessant sein, einen Bruder zu haben, dessen Gesicht auf dem Kopf steht. Ich hätte ihn wirklich gern kennengelernt. Hören Sie, warum kommen Sie nicht auf einen Sprung vorbei, solange Sie in Seattle sind? Heute so gegen eins?«

»Ja, gegen eins.«

»Gut. Bis dann.«

»Warten Sie, Barrows. Werden Sie Pris heiraten?«

Keine Antwort.

»Ich knall Sie ab.«

»Wie bitte?«

»Ich habe hier eine in Japan hergestellte, encephalotrope flugfähige Antipersonenmine. Und ich werde sie im Raum Seattle aussetzen. Wissen Sie, was das heißt?«

»Ähm, nicht genau. Encephalotrop – hat das nicht irgendwas mit dem Gehirn zu tun?«

»Ja, mit Ihrem Gehirn. Wir haben Ihr Hirnstrommuster aufgezeichnet, als Sie in unserem Büro in Ontario waren. Es war ein Fehler, dorthin zu kommen. Die Mine wird Sie aufspüren und detonieren. Sobald sie unterwegs ist, lässt sie sich nicht mehr aufhalten. Es ist aus mit Ihnen.«

»Ja, klar.«

»Pris liebt mich. Sie hat es mir gestanden. Lassen Sie die Finger von ihr. Wissen Sie überhaupt, wie alt sie ist?«

»Ja, achtzehn.«

Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Ich bring ihn um, sagte ich mir. Wirklich! Er hat meine Kleine. Wer weiß, was er mit ihr anstellt…

Ich wählte noch mal und landete wieder bei der munteren jungen Frau in der Zentrale. »Northwest Electronics. Guten Morgen.«

»Ich habe gerade mit Mr. Barrows gesprochen.«

»Oh, sind Sie unterbrochen worden? Ich stelle Sie noch mal durch, Sir, einen Moment.«

»Nein. Sagen Sie Mr. Barrows einfach, dass ich ihn mit meiner hochentwickelten Technik erwischen werde. Können Sie ihm das bitte ausrichten? Wiederhören.« Ich legte wieder auf.

Er wird die Nachricht bekommen, dachte ich. Aber vielleicht hätte ich besser gesagt, dass er Pris herbringen soll oder so. Würde er das tun, um seine Haut zu retten? Und ob er das tun würde! Er würde sie jederzeit aufgeben. Sie bedeutete ihm nichts; für ihn war sie nur eine schöne junge Frau mehr. Ich war der Einzige, der sie für das liebte, was sie wirklich war.

Ich nahm den Hörer ab und wählte. »Northwest Electronics. Guten Morgen.«

»Stellen Sie mich bitte noch einmal zu Mr. Barrows durch.«

Eine Reihe von Klicklauten.

»Büro von Mr. Barrows. Wer spricht?«

»Hier ist Louis Rosen. Ich würde gern mit Barrows reden.«

»Einen Augenblick, Mr. Rosen.«

Ich wartete.

»Hallo, Louis. Sie scheuchen ja ganz schön die Hühner auf, was?« Barrows gluckste. »Ich habe den Army-Stützpunkt ein Stück die Küste runter angerufen, und es gibt tatsächlich so etwas wie eine encephalotrope Mine. Wie sind Sie da denn rangekommen? Ich wette, in Wirklichkeit haben Sie gar keine.«

»Überlassen Sie mir Pris, und ich verschone Sie.«

»Jetzt mal halblang.«

»Sie denken, das ist irgendein Spielchen? Nein, ich liebe Pris. Alles andere ist mir egal. Also, was ist nun?« Meine Stimme bebte. »Oder muss ich erst rüberkommen und sie holen? Ich habe hier alle möglichen Waffen. Ich meine es ernst!« In meinem Hinterkopf sagte eine Stimme: Der Hurensohn wird sie aufgeben, der ist doch stinkfeige.

»Beruhigen Sie sich, Mann.«

»Na schön, dann mach ich mich jetzt auf den Weg zu Ihnen.«

»Jetzt hören Sie mal zu, Rosen. Ich vermute, Maury Rock hat Sie dazu angestachelt. Aber ich habe mit Dave gesprochen und er hat mir versichert, dass der Tatbestand der Unzucht mit Minderjährigen nicht greift, wenn…«

»Unzucht?«, rief ich. »Ich mach Sie kalt!« In meinem Hinterkopf sagte die Stimme: Ja, mach ihn fertig, den Hurensohn.

»Sie sind ja psychotisch, Rosen. Ich werde Maury anrufen, der ist wenigstens normal. Ich werde ihm sagen, dass Pris wieder zurück nach Boise fliegt.«

»Wie bitte? Wann?«

»Heute. Aber nicht mit Ihnen zusammen. Ich glaube, Sie sollten zu einem Psychiater gehen, Sie sind sehr krank.«

»Also gut.« Ich wurde etwas ruhiger. »Heute. Aber ich bleibe hier, bis Maury anruft und sagt, dass Pris in Boise ist.« Dann legte ich auf.

Wow!

Ich stolperte ins Bad und wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser.

Sich dermaßen irrational und unbeherrscht aufzuführen, zahlte sich also aus. Was für eine Lektion in meinem Alter. Ich hatte ihn dermaßen erschreckt, dass er mich für irre hielt. Aber war ich das nicht wirklich? Hatte mich die Angst, Pris zu verlieren, nicht durchdrehen lassen?

Ich ging wieder zum Telefon und rief Maury in der Fabrik in Boise an. »Pris kommt zurück. Sag mir Bescheid, sobald sie bei euch ist. Ich bleibe noch hier. Ich habe Barrows einen Riesenschrecken eingejagt.«

»Das glaube ich erst, wenn ich sie sehe.«

»Der Mann hat Angst vor mir, Maury, panische Angst. Dir ist nicht klar, was der ganze Stress für einen gemeingefährlichen Irren aus mir gemacht hat.« Ich gab ihm die Telefonnummer des Motels.

»Hat dich Horstowski gestern Nacht angerufen?«

»Ja, aber er ist inkompetent. Du hast dein ganzes Geld verschwendet. Ich habe nichts als Verachtung für ihn übrig, und wenn ich zurückkomme, werde ich ihm das auch sagen… Maury, ich liebe Pris.«

Längeres Schweigen, dann: »Hör mal, sie ist noch ein Kind.«

»Ich möchte sie heiraten. Ich bin nicht so einer wie Sam Barrows.«

»Mir doch egal, was du für einer bist oder nicht bist. Du kannst sie nicht heiraten, sie ist zu jung. Sie muss zurück auf die Schule. Lass die Finger von meiner Tochter, Louis!«

»Nein, wir lieben uns. Du kannst uns nicht trennen. Ruf mich an, sobald sie in Boise eintrifft. Sonst mache ich Barrows fertig.«

»Du brauchst Hilfe vom FBMH, Louis. Ich würde dich Pris nie heiraten lassen, für alles Geld der Welt nicht. Und auch aus sonst keinem Grund. Wärst du nur nie nach Seattle geflogen. Sie sollte bei Barrows bleiben, ja, mit Barrows ist sie besser dran als mit dir. Was kannst du ihr schon bieten? Sieh dir doch an, was Barrows einer Frau alles bieten kann.«

»Er hat eine Prostituierte aus ihr gemacht.«

»Ach, das ist doch nur Geschwätz, weiter nichts. Unsere Partnerschaft ist beendet, Louis. Ich rufe Barrows an und sage ihm, dass ich nichts mehr mit dir zu tun habe. Pris soll bei ihm bleiben.«

»Zum Teufel mit dir!«

»Du als mein Schwiegersohn? Du denkst, ich habe sie zur Welt gebracht, damit sie dich heiraten kann? Ich lach mich tot. Du bist ein Niemand! Scher dich fort!«

Ich war wie betäubt. »Ich… ich will sie heiraten.«

»Hast du Pris gesagt, dass du sie heiraten willst?«

»Nein, noch nicht.«

»Sie wird dir ins Gesicht spucken.«

»Na und.«

»Na und? O Mann, du hast sie wirklich nicht mehr alle. Ich werde mit der Lincoln besprechen, wie ich unsere Partnerschaft für immer beenden kann.«

Das Telefon klickte; er hatte aufgelegt.

Ich konnte es nicht fassen. Ich saß auf dem Bett und starrte zu Boden. Also war Maury genau wie Pris hinter dem Geld her, wollte wie sie ganz nach oben. Nun, von irgendwoher musste sie es ja haben…

Was mache ich jetzt?, fragte ich mich. Wenn ich mir eine Kugel durch den Kopf jage, sind alle zufrieden. Sie kommen bestens ohne mich zurecht.

Doch die Stimme in meinem Kopf, die Stimme meiner Instinkte, sagte Nein. Mach sie alle fertig, sagte sie. Die ganze Bagage – Pris und Maury, Barrows, Stanton, die Lincoln. Steh auf und kämpfe.

Ein Schock, so etwas von seinem Partner zu erfahren: Wie er wirklich über einen denkt, wie er einen insgeheim sieht. Was für eine furchtbare Sache – die Wahrheit.

Kein Wunder, dass er sich auf dieses Babysitter-Simulacrum gestürzt hat; er ist froh, dass seine Tochter abgehauen ist, um Sam Barrows’ Geliebte zu werden. Er hat das Buch auch gelesen: ›Marjorie Morningstar‹.

Jetzt wusste ich, wie die Welt funktioniert. Wie die Menschen tickten. Was ihnen das Wichtigste im Leben war. Und es genügte, um auf der Stelle tot umzufallen oder sich einweisen zu lassen.

Aber ich gebe nicht auf, sagte ich mir. Ich will Pris, sie gehört zu mir. Mir doch egal, was Maury oder Barrows oder sonstwer davon halten. Mir egal, welchen Götzen sie hinterherhecheln. Ich weiß, was mir meine innere Stimme sagt: Hol Pris von ihnen weg und heirate sie. Sie war von Anfang an dazu bestimmt, die Frau von Mr. Louis Rosen aus Ontario, Oregon zu werden.

Ich griff zum Hörer und wählte.

»Northwest Electronics. Guten Morgen.«

»Geben Sie mir noch mal Mr. Barrows. Louis Rosen hier.«

Pause, dann: »Mr. Barrows’ Büro.«

»Geben Sie mir Barrows.«

»Mr. Barrows ist nicht im Hause. Mit wem spreche ich?«

»Louis Rosen. Richten Sie Mr. Barrows aus, er soll Miss Frauenzimmer…«

»Wen?«

»Miss Womankind. Sagen Sie Barrows, er soll sie mit einem Taxi zu mir ins Motel schicken.« Ich gab die Adresse durch. »Sagen Sie ihm, er soll sie auf gar keinen Fall in ein Flugzeug nach Boise setzen. Sagen Sie ihm, dass ich sonst komme und sie hole.«

»Ich kann ihm nichts sagen, weil er nicht hier ist. Er ist nach Hause gefahren.«

»Dann rufe ich ihn eben zu Hause an.« Ich drückte die Gabel und wählte die Nummer von gestern Nacht.

Pris ging ran.

»Ich bin’s. Louis. Louis Rosen.«

»Du meine Güte! Wo bist du? Du klingst so nahe.« Sie wirkte nervös.

»Ich bin in Seattle. Ich bin hier, um dich vor Sam Barrows zu retten.«

»Mein Gott!«

»Hör zu, Pris. Bleib, wo du bist. Ich komme gleich vorbei. Ja? Hast du verstanden?«

»Nein, Louis.« Ihre Stimme wurde hart. »Ich habe heute Morgen mit Horstowski gesprochen. Er hat mich vor dir und deinen Wutanfällen gewarnt.«

»Sag Barrows, er soll dich in ein Taxi setzen und hierher schicken.«

»Ich dachte eigentlich, dass Sam anruft.«

»Wenn du nicht mitkommen willst, bring ich dich um.«

»Ha! Versuch’s doch, du Widerling.«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »Pris, ich…«

»Du Prolet. Du Schwachkopf. Geh zum Teufel, wenn du denkst, du kannst hier mal eben ein Stück vom Kuchen abkriegen. Ich weiß genau, was du willst. Ihr Idioten kriegt es ohne mich nicht hin, ein Simulacrum zu designen, stimmt’s? Also wollt ihr mich zurückhaben. Aber wenn du hier aufkreuzst, mach ich eine Riesenszene und behaupte, dass du mich vergewaltigt hast, und dann wanderst du für den Rest deines Lebens ins Gefängnis. Also denk lieber noch mal darüber nach.«

»Ich liebe dich, Pris.«

»Ach, geh dir was fürs Bett suchen. Und nenn mich nicht Pris. Ich heiße Pristine, Pristine Womankind. Jetzt tu mir den Gefallen und flieg zurück nach Boise und spiel weiter mit deinen armseligen kleinen Simulacra herum, ja?« Sie wartete, doch mir fiel nichts ein, was ich hätte erwidern können, jedenfalls nichts, das es wert war, ausgesprochen zu werden. »Lebwohl, du jämmerlicher Niemand. Und bitte nerv mich zukünftig nicht mehr mit deinen Anrufen. Heb sie dir für irgendeine Tussi auf, die von dir betatscht werden will. Falls du es überhaupt hinkriegst, eine aufzutreiben, die billig genug ist.« Ein Klicken – sie hatte aufgelegt.

Ich zitterte, bebte vor Erleichterung, endlich vom Telefon, von ihr weggekommen zu sein. Weg von dieser schneidenden, anklagenden, vertrauten Stimme.

Pris, dachte ich, ich liebe dich. Aber warum? Was habe ich getan, dass ich so von dir angezogen werde? Was für ein verrückter Trieb ist das?

Ich setzte mich aufs Bett und schloss die Augen.

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