Zwölf

Ich hatte befürchtet, Pris’ Wechsel zu Barrows würde Maury so belasten, dass er als Partner nicht mehr viel taugte. Aber da lag ich falsch. Tatsächlich verdoppelte er seine Anstrengungen, beantwortete schriftliche Anfragen bezüglich Orgeln und Kleinklaviere, arrangierte Lieferungen in alle Himmelsrichtungen und stürzte sich in die Aufgabe, das Babysitter-Simulacrum zu designen und in Produktion zu bringen.

Ohne Bob Bundy konnten wir keine neuen Schaltungen entwickeln, also galt es, die alten zu modifizieren. Unser Babysitter würde eine Weiterentwicklung der Lincoln sein – sozusagen ein Nachfahr.

Vor vielen Jahren war Maury ein Science-Fiction-Magazin namens Thrilling Wonder Stories in die Hände gefallen, und darin stand eine Story über Roboter, die wie riesige mechanische Hunde kleine Kinder beschützten. Sie wurden ›Nannys‹ genannt, offenbar nach der Hündin Nana in ›Peter Pan‹. Maury gefiel der Name, und als sich unser Vorstand zusammensetzte – Stanton als Vorsitzender, dazu ich, Maury, Jerome und Chester sowie unser Justiziar Abraham Lincoln –, schlug er vor, ihn zu benutzen.

»Das Magazin oder der Autor könnte uns verklagen«, gab ich zu bedenken.

»Ach, das ist dermaßen lange her«, erwiderte Maury. »Das Magazin gibt es gar nicht mehr, und der Autor ist wahrscheinlich längst tot.«

»Fragen wir unseren Justiziar.«

Nach sorgfältiger Erwägung kam die Lincoln zu dem Schluss, dass die Bezeichnung ›Nanny‹ für einen mechanischen Babysitter inzwischen nicht mehr geschützt war. »Denn mir ist aufgefallen«, argumentierte sie, »dass der Name Ihnen allen bekannt war, obwohl Sie die Geschichte nicht gelesen haben, aus der er ursprünglich stammt.«

Also nannten wir unsere Babysitter-Simulacra Nannys. Die Entscheidungsfindung kostete uns allerdings mehrere Wochen, weil die Lincoln erst noch ›Peter Pan‹ lesen musste. Und es machte ihr so viel Spaß, dass sie es zu den Vorstandssitzungen mitbrachte und unter viel Gekicher daraus vorlas. Wir hatten keine Wahl, wir mussten diese Lesungen über uns ergehen lassen.

»Ich habe Sie ja gewarnt«, sagte die Stanton, als die Lincoln einmal gerade nicht im Raum war.

»Und dann noch ausgerechnet ein verfluchtes Kinderbuch«, brummte Maury. »Wenn er schon laut vorlesen muss, warum dann nicht die New York Times?«

Maury hatte zwischenzeitlich in der Hoffnung, etwas über Pris zu erfahren, die Seattier Zeitungen abonniert. Er war zuversichtlich, bald eine entsprechende Meldung zu finden. Dass sie dort war, stand fest, denn bei ihm zu Hause war ein Umzugswagen vorgefahren und hatte den Rest ihrer Sachen mitgenommen – und der Fahrer hatte Maury erzählt, dass er alles nach Seattle transportieren sollte.

»Du könntest immer noch zur Polizei gehen«, sagte ich zu ihm.

Bedrückt schüttelte er den Kopf. »Ich habe Vertrauen in Pris. Ich weiß, dass sie den richtigen Weg finden und zu mir zurückkehren wird. Und machen wir uns doch nichts vor – sie steht unter Vormundschaft. Rechtlich gesehen habe ich ihr gar nichts mehr zu sagen.«

Ich für meinen Teil hoffte nach wie vor, dass sie nicht zurückkehrte; ohne sie war ich wesentlich entspannter. Außerdem hatte ich trotz Maurys Niedergeschlagenheit den Eindruck, dass er besser arbeiten konnte. An ihm nagten nicht mehr so viele familiäre Sorgen. Und er musste nicht mehr jeden Monat Doktor Horstowskis horrende Rechnung bezahlen.

»Glaubst du, Sam Barrows hat einen besseren Analytiker für sie aufgetan?«, fragte er mich eines Abends. »Wie viel ihn das wohl kostet? Drei Tage die Woche für jeweils vierzig Dollar – das sind fast fünfhundert im Monat. Nur um ihre kaputte Psyche in Ordnung zu bringen.« Er schüttelte den Kopf.

Mir fiel dieser Werbespruch wieder ein, mit dem die Behörden vor einem Jahr oder so jedes Postamt der Vereinigten Staaten zugeklebt hatten.

WEISEN SIE DEN WEG ZU GEISTIGER GESUNDHEIT -


SEIEN SIE DER ERSTE IN IHRER FAMILIE, DER IN EINE NERVENKLINIK GEHT!

Und Schulkinder mit grellen Buttons auf der Brust hatten abends an der Tür geklingelt, um Spenden für die psychologische Forschung zu sammeln. Alles im Namen der Volksgesundheit.

»Barrows tut mir leid«, sagte Maury. »Ich hoffe um seinetwillen, dass sie ein Simulacrum für ihn designt, aber ich bezweifle es. Ohne mich ist sie nur ein Amateur. Dieses Mosaik im Badezimmer – das war eine der wenigen Sachen, die sie je zu Ende gebracht hat. Und dabei ist noch für ein paar Hunderter Material übrig geblieben.«

»Wow.« Ich gratulierte mir und uns allen im Stillen für die Tatsache, dass Pris nicht mehr bei uns war.

»Natürlich: Diese kreativen Projekte – sie stürzt sich immer richtig auf sie, jedenfalls am Anfang. Man darf sie nicht unterschätzen. Schau dir nur mal an, wie sie die Körper von Stanton und Lincoln designt hat. Du musst zugeben, dass sie gut ist.«

»Durchaus.«

»Und wer wird uns jetzt das Nanny-Design machen, wo Pris weg ist? Du nicht, du hast nicht für einen Zehner künstlerisches Talent. Ich auch nicht. Und auch nicht diese Witzfigur, die du deinen Bruder nennst.«

»Wie wäre es mit mechanischen Babysittern im Bürgerkriegs-Design?«

Er sah mich verwirrt an.

»Dieses Design haben wir ja schon. Wir produzieren zwei Modelle, einen Babysitter im Blau der Yankees, einen im Grau der Rebellen. Feldposten, die ihre Pflicht erfüllen. Was sagst du dazu?«

»Was ist ein Feldposten?«

»So etwas wie ein Wächter, nur dass es sehr viele davon gibt.«

Maury dachte kurz nach. »Ja, ein Soldat verkörpert Pflichterfüllung. Und die Kinder wären begeistert. Außerdem kämen wir damit von diesem unpersönlichen Roboter-Design weg. Das ist eine gute Idee, Louis. Rufen wir den Vorstand zusammen und entscheiden darüber. Jetzt gleich, damit wir mit der Arbeit beginnen können.« Er lief voller Eifer zur Tür. »Ich rufe Jerome und Chester an und dann gehe ich runter und sage Lincoln und Stanton Bescheid.« Die beiden Simulacra wohnten im Erdgeschoss von Maurys Haus; die Wohnungen waren ursprünglich vermietet gewesen, doch jetzt hielt Maury sie für diesen Zweck frei. »Sie werden doch nichts dagegen haben, oder? Gerade Stanton – er ist so ein Dickschädel. Wenn er nun findet, dass es… Blasphemie ist?«

»Wenn sie dagegen sind, werben wir eben weiter dafür.

Am Ende werden wir uns durchsetzen, denn was sollte man ernsthaft dagegen haben? Von irgendwelchen puritanischen Vorstellungen von Stantons Seite abgesehen.«

Doch obwohl es meine eigene Idee war, überkam mich ein seltsames Gefühl – als hätte ich in meinem Moment der Kreativität, meinem letzten Ausbruch von Inspiration, uns und allem, wofür wir standen, den Todesstoß versetzt. Warum war das so? War sie mir zu leicht zugeflogen, diese Idee? Es war doch nur eine Adaption dessen, womit wir – das hieß Maury und seine Tochter – ursprünglich angefangen hatten. Damals hatten sie davon geträumt, sämtliche Schlachten des Bürgerkriegs nachzuspielen, mit Millionen von Teilnehmern; jetzt begeisterten wir uns an der schlichten Vorstellung eines mechanischen Dieners im Bürgerkriegsdesign, der der Hausfrau ihre täglichen Pflichten abnahm. Irgendwo unterwegs war unsere Vision auf der Strecke geblieben. Wir waren wieder nur eine kleine Firma, die versuchte, Geld zu machen. Ein Schmalspur- Barrows, wenn man so wollte. Bald würden wir diesen Nanny-Plunder auf den Markt werfen und mit einer verlogenen Werbemasche anpreisen oder irgendeinem Trick wie die Kleinanzeigen.

»Nein«, rief ich Maury hinterher. »Die Idee ist Schrott. Vergiss es!«

Er blieb in der Tür stehen. »Warum? Sie ist super!«

»Weil sie…« Ich konnte es nicht erklären. Ich fühlte mich ausgelaugt. Verzweifelt. Einsam. Wer oder was fehlte mir? Pris Frauenzimmer? Die ganze Bande, Barrows und Blunk und Colleen Nild und Bob Bundy und Pris – was machten sie jetzt gerade? Welchen verrückten Plan heckten sie gerade aus?

»Spuck’s aus. Warum?«

»Sie ist… kitschig.«

»Kitschig? Von wegen.« Er funkelte mich an.

»Vergiss die Idee. Was, glaubst du, treibt Barrows jetzt gerade? Meinst du, die bauen die Edwards? Oder klauen sie uns gerade die Idee mit der Hundertjahrfeier? Oder hecken etwas völlig Neues aus? Maury, wir haben keine Vision. Das ist unser Problem.«

»Klar haben wir eine.«

»Nein. Weil wir nicht verrückt sind. Wir sind viel zu normal. Wir sind nicht wie deine Tochter, wir sind nicht wie Barrows. Ist doch so, oder? Sag bloß, du fühlst es nicht? Den Mangel an Verrücktheit hier? Das Herumbasteln an irgendeinem monströsen, durchgeknallten Projekt bis in die Puppen, das vielleicht mittendrin abgebrochen wird, damit man etwas Neues, genauso Durchgeknalltes anfangen kann.«

»Ja, mag sein. Aber Herrgott noch mal, Louis, wir können uns nicht einfach zum Sterben hinlegen, nur weil Pris die Seite gewechselt hat. Kannst du dir nicht denken, dass ich selbst solche Gedanken gehabt habe? Ich kenne sie besser als du, mein Freund, viel besser. Aber wir müssen weitermachen und tun, was wir können. Deine Idee eben, die kommt vielleicht nicht an die Glühbirne oder das Streichholz ran, aber sie ist gut. Sie ist machbar und lässt sich verkaufen. Sie wird funktionieren. Und was haben wir denn Besseres? Auf jeden Fall sparen wir damit Geld – wir brauchen keinen Designer von außen holen, der die Nannys entwirft, und auch keinen Ingenieur als Ersatz für Bundy, falls der sich überhaupt ersetzen lässt.«

Geld sparen, dachte ich. Darüber brauchen sich Pris und Barrows keine Gedanken zu machen, die schicken mal kurz einen Umzugswagen rüber, um Pris’ Kram von Boise nach Seattle zu schaffen. Wir sind Schmalspurunternehmer. Wir sind Zwerge. Ohne Pris sind wir nichts…

Was ist denn jetzt los? Habe ich mich etwa in sie verliebt? In eine Frau mit Augen aus Eis, eine von Ehrgeiz zerfressene Schizoide, die unter Vormundschaft des FBMH steht und für den Rest ihres Lebens in therapeutischer Behandlung bleiben muss? Eine ehemalige Psychotikerin, die sich in hirnrissige Projekte stürzt, die jeden verleumdet und angreift, der ihr nicht genau das gibt, was sie haben will? Wie kann man sich in eine solche Frau, in ein solches Monstrum verlieben?

Es war, als wäre Pris für mich nicht nur das Leben, sondern auch das Anti-Leben – das Tote, das Grausame, das Verletzende. Und damit zugleich die personifizierte Existenz. Leben in seiner berechnenden, harten, rücksichtslosen Realität. Ich ertrug ihre Gegenwart nicht und ihre Abwesenheit auch nicht. Ohne Pris vertrocknete ich wie eine Fliege auf der Fensterbank, unbemerkt und unwichtig; in ihrer Nähe war ich zerrissen, am Boden zerstört, doch irgendwie lebendig – dann gab es mich. Genoss ich es, zu leiden? Nein. Aber das Leiden schien einfach zum Leben dazuzugehören, und ohne Pris gab es kein Leiden, nichts Unberechenbares, Unfaires, Verrücktes. Und es gab auch kein Leben, nur Möchtegernpläne und ein verstaubtes kleines Büro, in dem zwei Männer Sandkastenspiele veranstalteten… Ich wollte weiß Gott nicht, dass Pris oder irgendjemand sonst mir Leid zufügte. Aber zu leiden hieß, dass man nah an der Wirklichkeit war. In einem Traum gibt es Angst, aber keinen tatsächlichen, körperlichen Schmerz, keine alltäglichen Qualen, wie Pris sie uns durch ihre bloße Gegenwart verschaffte. Es war nichts, was sie uns antat; es war eine natürliche Folge dessen, was sie war.

Wir konnten diesen Qualen nur entkommen, indem wir uns Pris vom Hals schafften. Aber etwas anderes war geschehen: Wir hatten Pris verloren. Und damit die unmittelbare Wirklichkeit mit all ihren Widersprüchen und Absurditäten. Von nun an war das Leben vorhersagbar: Wir würden die Bürgerkriegs-Nannys produzieren, würden das eine oder andere Geld machen und so weiter. Aber was für eine Bedeutung hatte das? Was spielte es für eine Rolle?

»Hör mir zu, Louis«, sagte Maury. »Wir müssen da durch.«

Ich nickte.

»Ernsthaft. Wir dürfen nicht aufgeben. Wir rufen jetzt den Vorstand zusammen, und du unterbreitest ihnen deine Idee. Und du hängst dich richtig rein, als ob du wirklich daran glaubst. Ja? Versprichst du mir das?« Er kam zu mir und schlug mir auf den Rücken. »Komm schon. Hoch mit dem Hintern, Kumpel!«

»Na gut. Aber du sprichst mit jemandem, der eigentlich schon unter der Erde ist.«

»Ja, genau so guckst du auch aus der Wäsche. Aber jetzt komm. Wir müssen ohnehin nur Stanton überzeugen. Lincoln wird uns keine Probleme machen – er hockt ja bloß in seinem Zimmer und lacht sich über ›Winnie Pu‹ kaputt.«

»Was zum Teufel ist das nun schon wieder? Noch so ein Kinderbuch?«

»Genau das, Kumpel. Los jetzt!«

Ich gab mir einen Ruck und machte mich auf den Weg. Aber ins Leben zurückholen konnte mich nichts außer Pris. An dieser Tatsache kam ich nicht vorbei, und sie kostete mich jeden Tag mehr Kraft.

Der erste Artikel in einer Seattler Zeitung, in dem Pris vorkam, wäre uns beinahe entgangen, denn auf den ersten Blick handelte er gar nicht von ihr. Wir mussten ihn mehrmals lesen, bis wir uns ganz sicher waren.

Er handelte von Sam Barrows – das hatte unsere Aufmerksamkeit erregt. Und von einer hinreißenden jungen Künstlerin, mit der er sich in den Nachtclubs sehen ließ. Der Name der jungen Frau lautete, dem Verfasser zufolge, Pristine Womankind.

»Herrgott noch mal«, rief Maury mit tiefrotem Gesicht. »Womankind, das ist englisch für Frauenzimmer. Es soll eine Übersetzung sein, aber es stimmt nicht. Ich habe euch da nämlich immer etwas vorgemacht, dir und Pris und meiner Exfrau. Frauenzimmer bedeutet nicht das weibliche Geschlecht, es bedeutet Hure.« Er las sich den Artikel noch einmal durch. »Sie hat ihren Namen geändert, aber sie hat keine Ahnung. Es müsste Pristine Streetwalker heißen. Was für eine Farce! Und weißt du, wo sie das her hat? Aus ›Marjorie Morningstar‹. Morgenstern… Daher hat Pris die Idee. Und aus Priscilla wird Pristine.« Er stiefelte hektisch durch das Büro. »Ich weiß, dass es Pris ist, es muss Pris sein. Hör dir die Beschreibung an:

Bei Swami’s gesichtet: Niemand anders als Sam (The Big Man) Barrows, in Begleitung seines – wie wir es für Kinder, die lange aufbleiben, gern ausdrücken – »neuen Proteges«, einem Mädel schärfer als der Bleistift, mit dem eine Lehrerin der sechsten Klasse die Schulaufgaben benotet, das da heißt – und jetzt verschlucken Sie sich nicht – Pristine Womankind, mit einem Nicht-von-dieser-Welt- Gesichtsausdruck, schwarzen Haaren und einer Figur, die diese alten hölzernen Galionsdinger (Sie wissen schon) vor Neid erblassen lässt. Ebenfalls dabei Dave Blunk, der Rechtsanwalt, der uns erzählt, dass Pris eine Künstlerin und darüber hinaus mit Gaben gesegnet ist, die man nicht sehen kann. Und, sagte er, vielleicht wird sie demnächst im Fernsehen zu sehen sein, als Schauspielerin…

Gott, was für ein Dreck!« Maury warf die Zeitung auf den Tisch. »Diese Klatschkolumnisten haben doch alle ein Rad ab. Aber es geht eindeutig um Pris. Nur was soll das heißen, dass sie als Fernsehschauspielerin auftreten wird?«

»Barrows gehört vermutlich auch ein Fernsehsender.«

»Ihm gehört eine Hundefutterfabrik, die eine wöchentliche Fernsehshow sponsert, eine Art Variete-Sendung. Und wahrscheinlich macht er ordentlich Druck, dass sie Pris ein paar Minuten geben. Nur wozu? Sie kann überhaupt nicht schauspielern. Sie hat keinen Funken Talent. Ich glaube, ich gehe zur Polizei. Er schläft mit ihr! Dieses Vieh schläft mit meiner Tochter!« Maury rief beim Flughafen an und versuchte, einen Raketenflug nach Seattle zu bekommen. »Ich flieg da hin und lass ihn festnehmen«, erklärte er zwischen den Telefonaten. »Nein, ich nehme gleich selbst eine Waffe mit – zur Hölle mit der Polizei. Die Kleine ist erst achtzehn, das ist eine Straftat. Ich mach ihn fertig. Der geht für fünfundzwanzig Jahre hinter Gitter.«

»Jetzt hör mir mal zu, Maury. Barrows hat das alles von vorne bis hinten durchdacht. Er hat diesen Anwalt, Blunk. Die haben sich abgesichert. Frag mich nicht wie, aber die haben an alles gedacht. Bloß weil irgendein Klatschkolumnist schreibt, dass deine Tochter…«

»Dann bring ich eben sie um.«

»Warte! Setz dich um Himmels willen hin und hör mir zu. Ob sie mit ihm schläft oder nicht, weiß ich nicht. Ja, wahrscheinlich ist sie seine Geliebte. Aber wir können es nicht beweisen. Natürlich, du kannst sie zwingen, nach Ontario zurückzukehren, doch selbst dann wird er sich irgendwas einfallen lassen.«

»Wäre sie doch bloß in Kansas City geblieben. Wäre sie bloß nie aus der Nervenklinik rausgekommen. Sie ist doch noch ein Kind.« Er sah mich an. »Und was könnte er sich einfallen lassen?«

»Er könnte sie mit irgendeinem Hiwi in seiner Firma verheiraten. Dann hat ihr niemand mehr etwas zu sagen.« Ich hatte mit der Lincoln gesprochen und wusste Bescheid. Sie hatte mir klargemacht, wie schwer es war, gegen einen Mann wie Barrows anzutreten, der die Paragrafen zurechtbiegen konnte wie Pfeifenreiniger. Für ihn waren sie keine Vorschriften, keine Hindernisse, sondern Gebrauchsgegenstände.

»Ja, ich verstehe, worauf du hinauswillst. Als rechtmäßigen Vorwand, sie in Seattle zu behalten.« Maurys Gesicht war grau.

»Und dann siehst du sie nie wieder.«

»Und sie wird mit zwei Männern schlafen. Mit ihrem Hiwi-Ehemann, irgendeinem Büroboten in irgendeiner Fabrik, die Barrows gehört, und… mit Barrows.« Er starrte mich an.

»Maury, du solltest den Tatsachen ins Auge sehen. Pris hat wahrscheinlich schon mit Männern geschlafen.«

Seine Züge verzerrten sich noch mehr.

»Ich sag dir das wirklich nicht gern, aber die Art und Weise, wie sie neulich abends mit mir geredet hat…«

»Na schön. Belassen wir es dabei.«

»Mit Barrows zu schlafen, wird sie nicht umbringen, und dich wird es auch nicht umbringen. Zumindest wird sie kein Kind kriegen, dafür wird er schon sorgen. Er ist schlau genug, sie regelmäßig impfen zu lassen.«

Maury nickte düster. »Am liebsten wäre ich tot.«

»Geht mir genauso. Aber weißt du noch, was du vor nicht einmal zwei Tagen zu mir gesagt hast? Dass wir weitermachen müssen, ganz egal, wie wir uns fühlen? Jetzt sage ich dasselbe zu dir. Ganz egal, was Pris dir und mir bedeutet hat.«

»Ja.«

Also machten wir da weiter, wo wir aufgehört hatten.

Auf der letzten Vorstandssitzung hatte sich die Stanton dagegen verwahrt, dass die Nannys das Grau der Rebellen trugen. Sie war durchaus bereit, das Bürgerkriegsthema mitzutragen, doch die Soldaten mussten treue Unionisten sein. Wer würde sein Kind schon einem Rebellen anvertrauen? Wir akzeptierten das, und Jerome erhielt den Auftrag zur Umrüstung der Fabrik. In der Zwischenzeit machten wir uns in Ontario an die Entwürfe, berieten uns mit einem japanischen Elektroingenieur, den wir auf Teilzeitbasis eingestellt hatten.

Ein paar Tage später stolperte ich über einen weiteren Artikel in einer Seattler Zeitung, diesmal vor Maury.

Miss Pristine Womankind, das faszinierende junge Starlet mit dem rabenschwarzen Haar, eine Entdeckung von Barrows Enterprises, wird für die Überreichung des goldenen Baseballs an die Champions der Little League zur Verfügung stehen. Das erklärte Irving Kahn, der Pressesprecher von Mr. Barrows, heute gegenüber Vertretern der Nachrichtenagenturen. Da noch ein Entscheidungsspiel der Little League aussteht, ist offen, wer…

Also beschäftigte Barrows neben Blunk und der übrigen Meute auch noch einen Presseagenten. Er hielt seinen Teil des Handels ein, worauf auch immer sie sich geeinigt hatten, daran bestand kein Zweifel. Und ich bezweifelte ebenso wenig, dass auch Pris ihren Teil einhielt. Sie ist in guten Händen, sagte ich mir. Vermutlich gibt es in den USA niemanden, der geeigneter wäre, ihr zu geben, was sie sich vom Leben verspricht.

Der Artikel trug die Überschrift OBERLIGA ZEICHNET DEN NACHWUCHS AUS, womit Pris jetzt ›Oberliga‹ war. Die weitere Lektüre ergab, dass Barrows für die Trikots der Little-League-Mannschaft aufgekommen war, die aller Voraussicht nach den goldenen Baseball gewinnen würde – überflüssig zu erwähnen, dass er auch den goldenen Baseball selbst sponserte.

Ja, ich hatte keinen Zweifel, dass Pris sehr zufrieden war. Schließlich hatte Jayne Mansfield in den 50ern auch als ›Miss Gerader Rücken‹ angefangen; ihre Wahl durch die amerikanischen Chiropraktiker war ihr erster öffentlicher Auftritt gewesen. Und sie hatte damals eine fast schon krankhafte Neigung zu gesunder Ernährung gehabt.

Schauen wir also mal, was für Pris drin ist, dachte ich. Als Erstes überreicht sie einer Schulmannschaft den goldenen Baseball, und von da an steigt sie rasch auf. Vielleicht verschafft ihr Barrows eine Strecke mit Aktfotos in Life, das ist durchaus drin, sie bringen ja jede Woche eine. Das würde ihren Bekanntheitsgrad sprunghaft ansteigen lassen. Dann könnte sie kurz Präsident Mendoza heiraten. Er ist schon wie oft verheiratet gewesen? Einundvierzigmal, manchmal kaum länger als eine Woche. Oder sich zumindest zu einer der Partys im Weißen Haus einladen lassen oder auf die Hochseeyacht des Präsidenten oder auf seinen luxuriösen Feriensatelliten. Aber am besten zu einer Party; die Schönheiten, die dort aufmarschieren, haben eine goldene Zukunft vor sich, ihnen stehen alle möglichen Karrieren offen, vor allem im Showbereich. Denn wenn Präsident Mendoza sie will, dann will sie auch jeder andere Mann in den USA; schließlich hat der Präsident der Vereinigten Staaten, wie jedermann weiß, nicht nur einen unglaublich erlesenen Geschmack, sondern auch die erste Wahl an…

Ich machte mich selbst verrückt mit diesen Gedanken.

Eine Woche später entdeckte ich Pris beim Durchblättern der Fernsehzeitschrift. Sie trat tatsächlich in der Show auf, die von Barrows’ Hundefutterfabrik gesponsert wurde. Dem Programm zufolge spielte sie die Assistentin in einer Messerwerfernummer; brennende Messer wurden auf sie geworfen, während sie den Lunar Fling tanzte und dabei einen dieser neuen durchsichtigen Badeanzüge trug. Die Szene war in Schweden gedreht worden – solche Badeanzüge sind an den Stränden der USA nach wie vor verboten.

Ich erzählte Maury nichts davon, doch er stolperte selbst darüber. Einen Tag vor der Sendung rief er mich zu sich und zeigte mir die Zeitschrift. Dort war auch ein kleines Foto von Pris abgedruckt, nur ihr Kopf und die Schultern. Es war jedoch so aufgenommen, dass man den Eindruck hatte, sie sei nackt. Wir starrten es beide grimmig an. Aber es gab nichts daran zu rütteln – sie sah glücklich aus. Im Hintergrund waren grüne Hügel und Wasser zu sehen. Und davor diese lachende, schwarzhaarige, schlanke junge Frau, voller Leben und Begeisterung und Energie. Voller… Zukunft.

Ja, die Zukunft gehört ihr, wurde mir beim Betrachten des Fotos klar. Ob sie nun nackt auf einem Ziegenhaarteppich für Life posiert oder ein Wochenende lang die Geliebte des Präsidenten spielt oder wild im Fernsehen tanzt, während brennende Messer auf sie geschleudert werden – sie ist immer noch authentisch, so schön wie die Hügel und der Ozean, und niemand kann das zerstören oder beschädigen, wie wütend und elend er sich auch fühlen mag. Was haben Maury und ich denn zu bieten? Was können wir ihr geben? Nur etwas, das nach gestern, nach der Vergangenheit riecht. Nach Alter und Sorge und Tod.

»Ich glaube, ich flieg mal nach Seattle«, sagte ich.

Maury erwiderte nichts; er las zum tausendsten Mal den Text in der Fernsehzeitschrift.

»Ich mache mir ehrlich gesagt nichts mehr aus Simulacra. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber so ist es nun mal. Ich möchte einfach nur nach Seattle und schauen, wie es ihr geht. Vielleicht komme ich danach…«

»Du kommst nicht wieder. Und sie auch nicht.«

»Vielleicht doch.«

»Wollen wir wetten?«

Ich hielt zehn Dollar dagegen. Mehr konnte ich nicht tun – es nutzte nichts, ihm ein Versprechen zu geben, das ich womöglich nicht halten konnte.

»Das ist das Ende von R & R Associates«, murmelte er.

»Vielleicht. Aber ich muss trotzdem dorthin.«

Am gleichen Abend noch packte ich meine Sachen und buchte für den nächsten Morgen einen Raketenflug nach Seattle. Jetzt konnte mich nichts mehr aufhalten; ich machte mir nicht einmal die Mühe, Maury anzurufen und ihm Bescheid zu sagen. Wozu auch? Er konnte ja doch nichts ausrichten.

Meine .45er aus der Militärzeit war zu groß, also packte ich stattdessen eine kleinere Pistole ein, eine .38er. Ich wickelte sie in ein Handtuch und legte eine Schachtel Munition dazu. Ich war nie ein besonders guter Schütze gewesen, doch in einem Raum normaler Größe traf ich ein menschengroßes Ziel. Und wenn alles schiefging – meinen eigenen Kopf würde ich ganz bestimmt treffen.

Da es nichts mehr zu tun gab, machte ich es mir mit ›Marjorie Morningstar‹ gemütlich, das mir Maury geliehen hatte. Vermutlich war es dasselbe Exemplar, das Pris damals gelesen hatte. Durch die Lektüre hoffte ich einen tieferen Einblick in ihre Psyche zu bekommen.

Am nächsten Morgen stand ich früh auf, rasierte mich, nahm ein leichtes Frühstück zu mir und machte mich auf den Weg zum Flughafen.

Загрузка...