Zwei

Der Mark VII Saloon Jaguar ist ein riesiges, weißes Auto, ein Sammlerstück, mit Nebelscheinwerfern, einem Kühlergrill wie beim Rolls Royce, Armaturen aus handpoliertem Walnussholz, Ledersitzen und viel Innenraumbeleuchtung. Maury hielt seinen 54er Mark VII in tadellosem Zustand und perfekt eingestellt, aber auf dem Freeway, der Ontario mit Boise verbindet, konnten wir nicht schneller als neunzig Meilen fahren.

Das Spaziertempo machte mich ganz unruhig. »Ich wünschte, du würdest endlich mit dem Erklären anfangen, Maury. Bring mir die Zukunft gleich jetzt nahe, so gut es in Worten eben geht!«

Hinter dem Steuer zog Maury an seiner Corina-Sport-Zigarre und lehnte sich zurück. »Was geht Amerika heutzutage im Kopf herum?«

»Sex.«

»Nein.«

»Die inneren Planeten des Sonnensystems zu beherrschen, bevor die Russen so weit sind.«

»Nein.«

»Na schön, sag du’s mir.«

»Der Bürgerkrieg von 1861.«

»Das glaubst du wohl selbst nicht.«

»Doch, mein Freund. Dieses Land ist besessen vom Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten. Und ich sag dir, warum. Er ist das erste und einzige Nationalepos, an dem wir teilhatten – darum.« Er blies Zigarrenrauch in meine Richtung. »Er hat aus uns Amerikanern Männer gemacht.«

»Mir geht er nicht im Kopf herum.«

»Halte in irgendeiner Großstadt der USA an einer belebten Straßenkreuzung und frag zehn Passanten, was ihnen im Kopf herumgeht – sechs davon würden antworten: ›Der amerikanische Bürgerkrieg von 1861.‹ Seit mir das vor ungefähr einem halben Jahr klargeworden ist, habe ich mir darüber Gedanken gemacht, was man damit anfangen kann. Ich glaube, es ist von eminenter Wichtigkeit für MASA Associates. Wenn wir das wollen. Wenn wir bereit sind. Erinnerst du dich noch an die Hundert-Jahr-Feiern?«

»Ja. 1961.«

»Ein Reinfall. Eine Handvoll Leute ist losgezogen und hat ein paar Schlachten nachgespielt, und das war’s. Schau mal auf die Rückbank.«

Ich knipste die Innenbeleuchtung an, drehte mich um und sah auf der Rückbank ein langes, in Zeitungspapier gewickeltes Bündel von der Form einer Schaufensterpuppe. Aus dem mangelnden Brustumfang schloss ich, dass es sich nicht um eine Frau handelte. »Ja, und?«

»Das ist es. Daran habe ich gearbeitet.«

»Während ich kreuz und quer durch das Land gefahren bin!«

»Genau. Das hier wird, nach einer gewissen Anlaufzeit, den Verkauf von Kleinklavieren und Elektroorgeln dermaßen in den Schatten stellen, dass uns ganz schwummrig werden wird.« Maury nickte entschieden. »Wenn wir also in Boise ankommen… Hör zu, ich will nicht, dass uns dein Vater oder Chester das Leben schwer machen. Deshalb weihe ich dich jetzt schon ein. Diese Maschine da hinten ist Millionen wert, für uns oder wer sonst zufällig darüber stolpert. Ich hätte gute Lust, irgendwo anzuhalten und sie dir zu demonstrieren. Vielleicht an irgendeinem Imbiss. Oder an einer Tankstelle. Jedenfalls irgendwo, wo es hell ist.« Er wirkte jetzt sehr angespannt, seine Hände zitterten stärker als sonst.

»Das ist nicht zufällig eine Louis-Rosen-Attrappe, oder? Du willst mir keins überbraten, damit das Ding meinen Platz einnimmt?«

Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu. »Wie kommst du denn darauf? Nein, das nicht. Aber so ganz daneben liegst du gar nicht, mein Freund. Das zeigt mir, dass wir immer noch auf einer Wellenlänge funken, wie damals, in den frühen Siebzigern, als wir jung und ahnungslos und ohne Verstärkung waren, mal abgesehen von deinem Vater und deinem kleinen Bruder, der uns allen eine Warnung sein sollte. Ich frage mich, warum Chester nicht Veterinär geworden ist, das hatte er doch eigentlich werden wollen. Dann wären wir verschont geblieben. Stattdessen eine Klavierfabrik in Boise, Idaho. Was für ein Wahnsinn!«

»Deine Familie hat nicht einmal das getan, die hat nie irgendwas gebaut oder etwas erfunden. Das sind nur Zwischenhändler, die in der Bekleidungsindustrie Aufträgen hinterherhecheln. Ich meine, was haben sie denn dazu beigetragen, uns ins Geschäft zu bringen, so wie Chester und mein Vater? Also, was ist das da hinten? Ich will es wissen. Und ich werde nicht an irgendeiner Tankstelle oder einem Imbiss halten. Ich habe das Gefühl, dass du mich hintergehen willst.«

»Ich kann es mit Worten nicht beschreiben.«

»Natürlich kannst du das. Du bist doch ganz groß darin, jemanden einzuwickeln.«

»Okay. Ich werde dir sagen, warum dieses Fest zum Bürgerkriegsjubiläum in die Hosen gegangen ist. Weil alle, die damals bereit gewesen sind, ihr Leben für die Union oder für die Konföderation zu lassen, längst tot sind. Es wird ja keiner hundert Jahre alt, und wenn doch, dann sind sie für nichts mehr zu gebrauchen – sie können nicht kämpfen, sie können kein Gewehr mehr halten. Richtig?«

»Du meinst, du hast da hinten eine Mumie liegen oder einen Untoten, wie in den Horrorfilmen?«

»Ich werde dir sagen, was ich dort habe. Dort hinten auf der Rückbank, in Zeitungen eingewickelt, liegt Edwin M. Stanton.«

»Und wer ist das?«

»Lincolns Kriegsminister.«

»Ja, klar!«

»Wirklich.«

»Wann ist er gestorben?«

»Vor langer Zeit.«

»Dachte ich’s mir doch.«

»Hör zu. Dort auf dem Rücksitz liegt ein Simulacrum. Eine Mensch-Maschine. Ich habe sie gebaut, beziehungsweise ich habe sie Bob Bundy bauen lassen. Sie hat mich 6000 Dollar gekostet, aber das war es wert. Lass uns an einer Raststätte anhalten, dann packe ich sie aus und führe sie dir vor. Anders geht’s nicht.«

Ich bekam eine Gänsehaut. »Stimmt das wirklich?«

»Denkst du etwa, ich erzähle dummes Zeug?«

»Nein.«

»Also schön.« Maury betätigte den Blinker. »Ich halte dort vorn, bei Tommy’s Italian Fine Diner.«

»Und dann? Was meinst du mit vorführen?«

»Wir packen sie aus, gehen mit ihr rein und lassen sie eine Pizza mit Hähnchen und Schinken bestellen. Das meine ich mit vorführen.«

Maury parkte den Jaguar, stieg aus, öffnete die hintere Tür und riss das Zeitungspapier von dem menschenförmigen Bündel. Ein älterer Herr mit geschlossenen Augen und weißem Bart kam zum Vorschein. Seine Kleidung war museumsreif. Er hatte die Hände über der Brust gefaltet.

»Du wirst schon sehen, wie überzeugend diese Maschine ist, wenn sie erst ihre Pizza bestellt.« Maury betätigte einige Schalter auf dem Rücken des Simulacrums.

Auf einmal nahm das Gesicht der Maschine einen mürrischen, in sich gekehrten Ausdruck an, und sie sagte: »Ich darf Sie doch sehr bitten, mein Freund, Ihre Finger von meinem Leib zu lassen.« Sie schob Maurys Hände weg.

Maury grinste mich an. »Siehst du?«

Die Maschine setzte sich auf und klopfte sich methodisch ab; ihr Blick war ernst, fast feindselig, als wäre sie überzeugt, wir hätten ihr irgendetwas angetan, sie hinterrücks k.o. geschlagen vielleicht, und sie sei gerade erst wieder zu sich gekommen. Mir war klar, dass sich der Mann hinter dem Tresen von Tommy’s Italian Fine Diner würde täuschen lassen; klar, dass Maury seine Sache längst bewiesen hatte. Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie er sie eingeschaltet hatte, wäre ich selbst überzeugt gewesen, nur einen schlecht gelaunten älteren Herrn in altmodischer Kleidung und mit langem weißem Kinnbart vor mir zu sehen, der sich zornig abklopfte.

»Ja«, murmelte ich.

Maury hielt die hintere Tür des Jaguars auf. Die Edwin-M.-Stanton-Maschine rutschte herüber und stieg in würdevoller Haltung aus.

»Hat sie denn überhaupt Geld?«, fragte ich.

»Klar. Aber stell keine so albernen Fragen – das hier ist die ernsteste Angelegenheit, mit der du je konfrontiert wurdest. Hier geht es um unsere wirtschaftliche Zukunft, ja die des ganzen Landes. Heute in zehn Jahren könnten wir beide stinkreich sein, dank dieses Maschinchens hier.«

Wir betraten das Restaurant und bestellten eine Pizza. Als sie kam, war die Kruste an den Rändern verbrannt. Die Edwin M. Stanton machte eine lautstarke Szene, drohte dem Inhaber mit der Faust. Schließlich bezahlten wir unsere Rechnung und gingen wieder.

Inzwischen lagen wir eine Stunde hinter dem Zeitplan zurück, und ich fragte mich, ob wir überhaupt noch zur Rosen-Fabrik kommen würden. Also bat ich Maury, auf die Tube zu drücken, als wir wieder in den Jaguar einstiegen.

Maury betätigte den Anlasser. »Der Wagen schafft glatte dreihundert. Ich verwende diesen trockenen Raketentreibstoff, den sie gerade auf den Markt gebracht haben.«

»Gehen Sie keine unnötigen Risiken ein«, belehrte ihn die Edwin M. Stanton mit verdrießlicher Stimme, als der Wagen auf die Straße hinausschoss. »So lange der mögliche Gewinn diese nicht bei weitem übertrifft.«

»Danke gleichfalls«, erwiderte Maury.

Die Rosen Kleinklaviere & Elektronische Orgeln-Fabrik in Boise, Idaho, fällt nicht sonderlich auf, denn das eigentliche Gebäude, die Produktionsanlage technisch gesprochen, ist ein einstöckiger Bau, so flach wie ein Blechkuchen. Der Parkplatz geht nach hinten raus, und über dem Büro hängt ein Schild mit Buchstaben aus schwerem Kunststoff und roten Lampen dahinter. Nur das Büro hat Fenster.

Zu dieser späten Stunde war alles dunkel und abgesperrt, niemand war mehr da. Also fuhren wir zum Wohngebiet hinüber.

»Was halten Sie von der Gegend?«, fragte Maury die Edwin M. Stanton.

Die Maschine, die aufrecht hinten im Jaguar saß, erwiderte: »Recht unwürdig und zweifelhaft.«

»Hören Sie«, sagte ich, »meine Familie wohnt hier in der Nähe des Industriegebiets, um problemlos zu Fuß zur Fabrik zu kommen.« Es machte mich wütend, dass eine bloße Nachbildung tatsächliche menschliche Wesen in ein schlechtes Licht rückte, zumal einen so grundanständigen Menschen wie meinen Vater. Und was meinen Bruder anging – nur wenige Strahlungsmutanten kommen in der Kleinklavier- und Elektroorgelindustrie so weit wie Chester Rosen. ›Personen besonderer Geburtsjahrgänge‹, wie sie genannt werden. Diskriminierung und Vorurteile lauern überall, die meisten, gesellschaftlich höhergestellten Berufe sind ihnen verwehrt.

Es war natürlich immer eine gewisse Enttäuschung für die Familie Rosen, dass Chesters Augen da liegen, wo sein Mund sein sollte, und umgekehrt. Aber dafür kann er nichts – keiner von denen, die so sind wie er, kann etwas dafür. Daran sind die Wasserstoffbombentests der 50er- und 60er-Jahre schuld. Ich weiß noch, wie ich als Junge medizinische Bücher über angeborene Defekte gelesen habe – das Thema interessiert die Öffentlichkeit jetzt natürlich schon eine ganze Weile –, und da gibt es welche, gegen die ist Chester gar nichts. Bei dem einen, der mich damals in eine wochenlange Depression gestürzt hat, zerfällt der Embryo in der Gebärmutter und wird in Stücken geboren, ein Kiefer, ein Arm, eine Handvoll Zähne, einzelne Finger; wie einer von diesen Plastikbausätzen, mit denen kleine Jungs sich ein Flugzeug basteln, nur dass sich die Einzelteile des Embryos überhaupt nicht verbinden lassen, mit keinem Klebstoff der Welt. Dann gibt es Embryos, die vollständig behaart sind, wie ein Pantoffel aus Yak-Fell. Und welche, die austrocknen, sodass die Haut einreißt; sie sehen aus, als wären sie draußen in der Sonne verwittert. Also lasst mal bloß Chester in Ruhe!

Der Jaguar hielt vor dem Haus meiner Familie. Ich’ konnte Licht im Haus sehen, im Wohnzimmer; meine Mutter, mein Vater, mein Bruder sahen fern.

»Schicken wir die Edwin M. Stanton allein die Treppe hinauf«, sagte Maury. »Sie soll an der Tür klopfen, und wir bleiben im Auto sitzen und sehen zu.«

»Mein Vater wird sie als Fälschung erkennen, eine Meile gegen den Wind. Gut möglich, dass er sie sogar die Treppe hinunterwirft, und dann bist du die sechshundert los, die du in das Ding gesteckt hast.« Oder wie viel Maury doch noch gleich investiert hatte auf MASA-Kosten.

»Das Risiko gehe ich ein.« Er wandte sich um, sah die Maschine an. »Gehen Sie hoch zu der Tür, auf der 1429 steht, und läuten Sie. Und wenn ein Mann aufmacht, sagen Sie: ›Nun gehört er der Ewigkeit an.‹ Und dann bleiben Sie einfach dort stehen.«

»Was soll das denn bedeuten?«, fragte ich. »Was für eine Gesprächseröffnung soll das sein?«

»Das ist Stantons berühmter Kommentar, der in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Bei Lincolns Tod.«

»Nun gehört er der Ewigkeit an«, übte die Stanton, während sie den Gehweg überquerte und die Stufen hinaufging.

»Ich werde dir zu gegebener Zeit erklären, wie die Edwin M. Stanton konstruiert ist«, sagte Maury zu mir. »Wie wir das gesamte verfügbare Datenmaterial über Stanton zusammengestellt und es an der Universität von Los Angeles in die Zentralmonade eingespeist haben, die dem Simulacrum als Gehirn dient.«

»Weißt du eigentlich, was du da tust, Maury? Du ruinierst MASA mit diesen Spielchen, mit diesem hirnverbrannten Blödsinn. Ich hätte mich nie mit dir einlassen sollen. Ich…«

»Ruhig«, unterbrach mich Maury, als die Stanton an der Tür klingelte.

Die Tür ging auf, und mein Vater erschien, in Pyjamahosen, Pantoffeln und dem neuen Bademantel, den ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Zweifellos eine ehrfurchtgebietende Gestalt.

Die Edwin M. Stanton, die schon zu ihrer kleinen Rede angesetzt hatte, stockte. »Sir«, sagte sie schließlich, »ich habe die Ehre, Ihren Sohn Louis zu kennen.«

»Ah ja«, erwiderte mein Vater. »Er ist im Moment unten in Santa Monica.«

Die Edwin M. Stanton schien nicht zu wissen, was Santa Monica war. Neben mir fluchte Maury verzweifelt; ich hingegen fand es urkomisch, wie das Simulacrum dort stand – wie ein trotteliger Handelsvertreter, dem nichts zu sagen einfiel.

Trotzdem war es beeindruckend zu sehen, wie die beiden alten Herren einander gegenüberstanden: die Stanton mit ihrem weißen Kinnbart, in ihrer altmodischen Kleidung, und mein Vater, der auch nicht viel neuer aussah. Das Zusammentreffen der Patriarchen, dachte ich. Wie in der Synagoge.

Nach einer Weile sagte mein Vater: »Wollen Sie nicht hereinkommen?« Er hielt die Tür auf, die Stanton trat ein, die Tür ging zu, und die erleuchtete Veranda war wieder leer.

Verdutzt sah ich Maury an. »Was sagt man dazu?«

Wir folgten den beiden. Die Haustür war nicht abgeschlossen, also gingen wir hinein.

Die Stanton saß im Wohnzimmer, in der Mitte des Sofas, die Hände auf den Knien, und unterhielt sich mit meinem Vater, während Chester und meine Mutter weiter fernsahen.

»Dad«, sagte ich, »du verschwendest nur deine Zeit, wenn du mit diesem Ding sprichst. Weißt du, was das ist? Eine Maschine, die Maury in seinem Keller zusammengebastelt hat.«

Mein Vater und die Stanton hielten inne und sahen mich an.

»Dieser nette alte Herr?« Das Gesicht meines Vaters nahm einen Ausdruck rechtschaffenen Zorns an, seine Brauen sträubten sich. »Vergiss nicht, Louis, dass der Mensch nur ein Schilfrohr ist, das schwächste Glied der Natur. Aber verdammt noch mal, mein Sohn, er ist ein denkendes Schilfrohr. Es muss sich nicht gleich das ganze Weltall gegen ihn waffnen, ein Wassertropfen genügt, um ihn zu töten.« Er deutete mit dem Finger auf mich. »Aber selbst wenn ihn das ganze Weltall zermalmen würde, na und? Weißt du, was ich dann sagen würde? Der Mensch wäre nur umso edler! Und willst du wissen warum? Weil er weiß, dass er sterben wird – und weil das Weltall nichts davon weiß. Darin besteht unsere ganze Würde. Im Denken. Der Mensch ist klein und kann Raum und Zeit nicht ermessen, aber er kann Gebrauch von dem Gehirn machen, das Gott ihm gegeben hat. Und was dieses ›Ding‹ hier angeht, wie du es nennst. Das ist kein Ding. Das ist ein enosch, ein Mensch… Aber da muss ich euch einen Witz erzählen.« Und schon legte er los, halb auf jiddisch, halb auf englisch.

Als er fertig war, schmunzelten wir alle, obwohl es mir so vorkam, als ob das Lächeln der Edwin M. Stanton etwas förmlich, ja gezwungen war.

Ich kramte in meinen Erinnerungen an das, was ich über Stanton gelesen hatte. Er hatte als ziemlich ruppiger Typ gegolten damals, während des Bürgerkriegs und der anschließenden Wiedereingliederung, vor allem in jener Zeit, als er mit Andrew Johnson aneinandergeriet, als er versuchte, den Präsidenten seines Amtes entheben zu lassen. Vermutlich schätzte er den humanistisch angehauchten Witz meines Vaters nicht sonderlich, hatte er sich so etwas während seiner Arbeit doch ständig von Lincoln anhören müssen. Aber mein Vater war auf keine Weise zu bremsen; er war der Sohn eines bedeutenden Spinoza-Experten, und obwohl er nie über die Seventh Grade hinausgekommen war, hatte er doch alle möglichen Bücher und Dokumente gelesen und mit literarischen Persönlichkeiten auf der ganzen Welt korrespondiert.

»Tut mir leid, Jerome«, sagte Maury zu meinem Vater, als der gerade eine kurze Pause einlegte, »aber es stimmt.« Er ging zu der Edwin M. Stanton, bückte sich und betätigte einen Schalter hinter ihrem Ohr.

»Oh«, gab die Stanton von sich und erstarrte. Das Leuchten ihrer Augen erlosch, sie war so leblos wie eine Schaufensterpuppe. Ein ziemlich heftiger Anblick. Wir wurden alle still, und selbst Chester und meine Mutter sahen für einen Moment vom Fernseher auf. Wenn an dem Abend nicht ohnehin schon philosophiert worden wäre, das hätte definitiv dazu geführt. Schließlich stand mein Vater auf und ging hinüber, um das Ding in Augenschein zu nehmen.

Er schüttelte den Kopf. »Wie brutal.«

»Ich kann sie wieder anstellen«, sagte Maury.

»Nein, darum geht es mir gar nicht.« Mein Vater setzte sich wieder, machte es sich leidlich bequem und fragte dann mit leicht resignierter, ernüchterter Stimme: »Und, Jungs? Wie waren die Verkäufe in Vallejo?« Während wir uns noch eine Antwort überlegten, zückte er eine Anthony & Cleopatra-Zigarre, wickelte sie aus und zündete sie an. Es war eine hochwertige Zigarre mit Havannafüllung und grünem Deckblatt, und ihr Duft erfüllte augenblicklich das Wohnzimmer. »Haufenweise Orgeln und Amadeus-Gluck-Klaviere verkauft?« Er kicherte in sich hinein.

»Die Klaviere sind weggegangen wie geschnitten Brot«, sagte Maury. »Aber nicht ein Mensch wollte eine Orgel haben.«

Mein Vater runzelte die Stirn.

»Wir haben uns schon darüber Gedanken gemacht, Jerome, und sind zu einigen Ergebnissen gekommen. Die Rosen-Elektroorgel…«

»Moment. Nicht so schnell, Maurice. Auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs gibt es nichts, was mit der Rosen-Orgel vergleichbar wäre.« Mein Vater nahm eine der Hartfaserplatten vom Beistelltisch, auf denen wir zu Demonstrationszwecken Widerstände, Solarzellen, Transistoren, Verkabelung und so weiter angebracht hatten. »Das hier zeigt, wie sie funktioniert. Hier der Verzögerungskreis, der dem Klang mehr Volumen, Kraft und Dynamik verleiht, und hier…«

»Jerome, ich weiß, wie die Orgel funktioniert. Lass mich bitte ausreden.«

»Na schön.« Mein Vater legte die Platte wieder weg. »Aber wenn du von uns erwartest, dass wir die Basis unseres Lebensunterhalts lediglich aus verkaufstechnischen Gründen aufgeben – und ich weiß, wovon ich spreche, ich bin auf dem Gebiet ja selbst nicht unerfahren –, nur weil vielleicht die Verkaufstechnik überholt ist oder sich keiner mehr Mühe gibt, einen Abschluss zu…«

»Jerome, hör mir zu. Ich schlage vor, dass wir uns vergrößern.«

Mein Vater hob eine Braue.

»Ihr Rosens könnt natürlich so viele Elektroorgeln herstellen, wie ihr wollt. Aber der Umsatz, den wir mit ihnen machen, wird immer weiter sinken, so einzigartig und toll sie auch sind. Was wir brauchen, ist etwas wirklich Neues. Hammerstein produziert diese Stimmungsorgeln und kommt hervorragend an damit – die haben den Markt fest in der Hand, in der Richtung brauchen wir es gar nicht erst zu versuchen. Darum also meine Idee hier.«

Mein Vater griff sich ans Ohr und schaltete seine Hörhilfe ein.

»Dieses Simulacrum hier. Die Edwin-M.-Stanton-Maschine. Es ist, als wäre Stanton heute Abend leibhaftig hier, um mit uns zu diskutieren. Das könnte man wunderbar in Schulen einsetzen, für Lehrzwecke. Aber das ist noch gar nichts – ich hatte das zunächst im Sinn, aber jetzt kommt erst der richtige Knüller. Wir gehen zu Präsident Mendoza und schlagen ihm vor, den Krieg – Krieg generell – abzuschaffen und durch einen Festakt zum, sagen wir, 125. Jubiläum des Amerikanischen Bürgerkriegs zu ersetzen. Und die Rosen-Fabrik liefert dafür sämtliche Teilnehmer, Simulacra von allen: Lincoln, Stanton, Jeff Davis, Robert E. Lee, Longstreet und als Soldaten ungefähr drei Millionen einfache Modelle, die wir ständig auf Vorrat halten. Und die Schlachten werden richtig gekämpft, mit richtigen Toten, die Simulacra werden zu Klump geschossen, anstatt nur eine billige Nummer abzuliefern wie irgendwelche Collegeschüler, die Shakespeare aufführen. Versteht ihr, worauf ich hinauswill? Seht ihr, was das für Potenzial hat?«

Wir schwiegen alle. Ja, dachte ich, das hat durchaus Potenzial.

»In fünf Jahren könnten wir so groß wie General Dynamics sein«, fügte Maury mit stolzgeschwellter Brust hinzu.

Mein Vater sah ihn nachdenklich an und zog an seiner Zigarre. »Ich weiß nicht, Maurice. Ich weiß nicht.« Er schüttelte den Kopf.

»Wieso nicht? Was stimmt denn daran nicht?«

»Vielleicht, dass du dich von den Zeitläufen hast mitreißen lassen.« Die Stimme meines Vaters klang erschöpft. Er seufzte. »Oder werde ich langsam alt?«

»Ja, du wirst alt!« Maury war plötzlich ganz rot im Gesicht.

»Gut möglich.« Mein Vater war einen Moment lang still, dann setzte er sich auf und sagte: »Nein, deine Idee ist zu… ehrgeizig, Maurice. Ich bin kein auscher Godel, und du auch nicht.«

»Jetzt komm mir nicht wieder mit deinem Jiddisch.«

»Wir sind keine schwerreichen Leute, meine ich. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen.«

»Na gut, wenn euch die Idee nicht zusagt… Aber ich habe schon zu viel hineingesteckt, ich mache weiter. Ich habe in der Vergangenheit eine Menge guter Ideen gehabt, die wir umgesetzt haben, und das ist bis jetzt die beste. So sind die Zeiten nun mal, Jerome. Wir müssen etwas unternehmen.«

Betrübt, in sich versunken, rauchte mein Vater seine Zigarre weiter.

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