Siebzehn

Als mein Vater und Chester mich am nächsten Tag nach Boise zurückbrachten, stellte sich heraus, dass Doktor Horstowski mich nicht behandeln konnte oder wollte. Er machte jedoch verschiedene psychologische Tests mit mir, um eine Diagnose zu stellen. Bei einem musste ich einer Aufnahme von Stimmen zuhören, die so leise flüsterten, dass nur ab und zu ein paar Satzbrocken zu verstehen waren. Die Aufgabe bestand darin, aus dem, was man verstand, zu schließen, um was es insgesamt ging.

Ich glaube, Horstowski hat seine Diagnose aufgrund der Ergebnisse dieses Tests gestellt, denn ich war mir sicher, dass sich die Stimmen über mich ausließen, über meine Fehler, meine Schwächen. Sie analysierten mich, bewerteten mein Verhalten, ja ich hörte sie über Pris und unsere Beziehung herziehen.

Horstowski seufzte. »Jedes Mal, wenn Sie das Wort ›ist‹ gehört haben, dachten Sie, man hätte ›Pris‹ gesagt. Und was Sie für ›er‹ gehalten haben, waren meist nur Wörter wie ›sehr‹ oder ›schwer‹.« Er sah mich betrübt an – und dann wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben.

Aber noch war ich für die Psychiater nicht verloren, denn Doktor Horstowski übergab mich dem Bundesbeauftragten des Federal Bureau of Mental Health in Zone 5, dem pazifischen Nordwesten. Ich hatte schon von ihm gehört. Sein Name war Doktor Ragland Nisea, und ihm oblag es, die abschließende Entscheidung über sämtliche seine Zone betreffende Einweisungsverfahren zu fällen. Seit 1980 hatte er Tausende von psychisch Kranken in die überall im Land verteilten Kliniken des FBMH eingewiesen. Er wurde allgemein als brillanter Psychiater angesehen, und wir hatten seit Jahren gescherzt, dass wir alle Nisea früher oder später in die Hände fallen würden – ein Witz, der sich für einen gewissen Prozentsatz von uns als zutreffend erwies.

»Sie werden sehen, Doktor Nisea ist äußerst einfühlsam«, sagte Horstowski, während er mich zur Geschäftsstelle des FBMH in Boise fuhr.

»Nett von Ihnen, dass Sie mich hinbringen.«

»Ich muss da sowieso fast jeden Tag hin. Wissen Sie, ich erspare Ihnen damit das Erscheinen vor Gericht. Bei Doktor Nisea sind Sie besser dran als vor einer Jury.«

Ich nickte.

»Sie hegen doch keine feindseligen Gefühle deswegen, oder? Es ist keine Schande, in eine Klinik des FBMH eingewiesen zu werden. Das geschieht fast jede Minute – einer von neun Menschen leidet an einer psychischen Erkrankung, die es ihm unmöglich macht…« Er redete weiter; ich hörte nicht hin. Ich kannte das alles schon, aus der Fernsehwerbung, aus unzähligen Zeitungsartikeln.

Aber tatsächlich hatte ich feindselige Gefühle ihm gegenüber – weil er mich loswerden wollte, weil er mich dem FBMH übergab –, obwohl ich wusste, dass er gesetzlich dazu verpflichtet war, wenn er zu dem Schluss kam, ich wäre psychotisch. Und ich hatte feindselige Gefühle allen anderen gegenüber, die beiden Simulacra eingeschlossen. Während wir durch die sonnigen, vertrauten Straßen von Boise fuhren, war mir, als ob sie alle Verräter und Feinde wären, als wäre ich von einer fremden, hasserfüllten Welt umgeben.

Das alles hatte sich natürlich in den Tests gezeigt, die Horstowski mit mir durchgeführt hatte. Beim Rorschachtest etwa hatte ich jeden Klecks, jedes Bild als voller scheppernder, scharfkantiger Maschinen interpretiert, die am Anbeginn der Zeit geschaffen worden waren, um mir Verletzungen zuzufügen. Und jetzt, auf der Fahrt zum FBMH, sah ich reihenweise Autos, die uns folgten. Uns folgten, weil ich wieder in der Stadt war – die Fahrer der Autos waren in dem Moment informiert worden, als ich auf dem Flughafen von Boise gelandet war.

»Kann Doktor Nisea mir helfen?«, fragte ich, als wir vor einem großen, modernen Bürogebäude hielten. Auf einmal spürte ich eine leichte Panik. »Ich meine, das FBMH verfügt über diese ganzen neuen Methoden, die nicht einmal Sie haben, die gerade erst…«

»Das hängt davon ab, was Sie mit ›helfen‹ meinen.« Horstowski öffnete die Tür und bedeutete mir, mitzukommen.

Und so war ich schließlich dort, wo vor mir so viele andere gelandet waren: im Federal Bureau of Mental Health, diagnostische Abteilung. Der erste Schritt in einen neuen Abschnitt meines Lebens – vielleicht.

Wie recht Pris doch gehabt hatte! Dass ich einen zutiefst instabilen Zug an mir hätte, der mich eines Tages in Schwierigkeiten bringen würde. Unter Wahnvorstellungen leidend, erschöpft und hoffnungslos war ich schließlich von den Behörden einkassiert worden, wie sie selbst vor einigen Jahren. Ich hatte Horstowskis Diagnose zwar nicht gesehen, aber ich war mir sicher, dass er schizophrene Reaktionen festgestellt hatte – ich spürte sie ja selbst. Wozu also das Offensichtliche leugnen?

Aber es gab noch Hilfe für mich. Noch befand ich mich im Frühstadium, war die Krankheit nicht voll ausgebrochen, hatten sich noch keine dauerhaften Verhaltensstörungen wie Hebephrenie oder Paranoia eingestellt. Noch war ich therapierbar. Ich konnte meinem Vater und Bruder also dankbar sein, dass sie genau zur rechten Zeit gehandelt hatten.

Und obwohl mir das alles klar war, begleitete ich Horstowski in einem zutiefst verängstigten Zustand in die Büroräume des FBMH. Ich war einsichtig und war es gleichzeitig nicht; ein Teil von mir wusste Bescheid, verstand, der Rest war in Aufruhr wie ein gefangenes Tier, das zurück in seine vertraute Umgebung wollte, zurück an die Orte, die es kennt. In diesem Augenblick konnte ich nur für einen kleinen Teil von mir sprechen – der Rest machte, was er wollte.

Das alles verdeutlichte mir die Notwendigkeit des McHeston Act. Ein psychotisches Individuum, wie ich es war, konnte nicht von sich aus Hilfe suchen; es musste per Gesetz dazu gezwungen werden.

Du bist auch mal so gewesen, Pris, dachte ich. Sie haben dich aufgestöbert und von den anderen getrennt, haben dich weggeholt, wie sie mich weggeholt haben. Und sie haben es geschafft, dich wiederherzustellen, dich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Wird ihnen das auch mit mir gelingen? Und werde ich wie du sein, wenn die Therapie vorbei ist? In welchen früheren Zustand meines Ich werden sie mich zurückversetzen? Was werde ich dann für dich empfinden? Werde ich mich noch an dich erinnern? Und wenn ja, wirst du mir immer noch so viel bedeuten?

Doktor Horstowski lieferte mich im Warteraum ab, und eine Stunde lang saß ich inmitten der anderen verwirrten, kranken Menschen, bis endlich eine Schwester kam und mich ins Büro von Doktor Nisea brachte. Er erwies sich als gutaussehender Mann, nur wenig älter als ich, mit sanften braunen Augen, dichtem Haar und einer vorsichtigen Art, die ich bisher nur bei Tierärzten bemerkt hatte. Er fragte mich, ob ich wusste, warum ich bei ihm war.

»Ich bin hier, weil ich keine Basis mehr habe, von der aus ich anderen Menschen meine Bedürfnisse und Gefühle mitteilen kann.« Während des Wartens hatte ich mir das alles genau überlegt. »So besteht für mich keine Möglichkeit mehr, meine Bedürfnisse in der Realität zu befriedigen. Stattdessen muss ich mich in meine Phantasie flüchten.«

Nisea lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah mich nachdenklich an. »Und das möchten Sie ändern.«

»Ich möchte Befriedigung finden, echte Befriedigung.«

»Haben Sie denn überhaupt nichts mit den anderen Menschen gemein?«

»Gar nichts. Meine Wirklichkeit liegt gänzlich außerhalb der Welt, die die anderen erfahren. Sie zum Beispiel -Sie würden es für ein Hirngespinst halten, wenn ich Ihnen davon erzählen würde. Von ihr, meine ich.«

»Von ihr?«

»Pris.«

Er wartete, aber ich sagte nichts weiter.

»Doktor Horstowski hat mir am Telefon von Ihnen erzählt. Offensichtlich haben wir es hier mit einer Problemdynamik zu tun, die wir den Magna-Mater-Typus der Schizophrenie nennen. Gesetzlich bin ich allerdings verpflichtet, zuerst den James-Benjamin-Sprichworttest an Ihnen durchzuführen und dann den sowjetischen Vygotsky-Luria-Klotztest.« Nisea nickte, und eine Assistentin mit Notizblock und Bleistift kam nach vorne zum Tisch. »Ich werde Ihnen jetzt verschiedene Sprichwörter nennen, und Sie sagen mir, was sie bedeuten. Sind Sie bereit?«

»Ja.«

»›Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.‹«

Ich überlegte. »Ohne Aufsicht kommt es zu Übeltaten.«

Wir fuhren fort, und ich machte so weit alles richtig, bis wir zu einem Sprichwort kamen, das sich für mich als fatal erwies.

»›Ein Stein, der rollt, setzt kein Moos an.‹«

So sehr ich mir auch den Kopf zerbrach, ich kam nicht auf die Bedeutung. Schließlich sagte ich ins Blaue hinein: »Na ja, es bedeutet, dass jemand, der ständig aktiv ist und niemals innehält und nachdenkt…« Nein, das klang falsch. »Es bedeutet, dass jemand, der ständig aktiv ist und immer mehr an geistiger und moralischer Statur gewinnt, nicht erstarren wird.« Auch nicht. »Ein Mensch, der tätig ist und in Bewegung bleibt, wird im Leben weiterkommen.«

Nisea nickte. »Ah ja.« Mir wurde klar, dass ich gerade, im Rahmen der rechtsgültigen Diagnostik, eine schizophrene Denkstörung hatte erkennen lassen.

»Habe ich es falsch gesagt?«

»Ich fürchte, ja. Die allgemein anerkannte Bedeutung des Sprichworts ist das genaue Gegenteil dessen, was Sie gesagt haben. Es wird so verstanden, dass ein unbeständiger…«

»Nein, sagen Sie es mir nicht. Ich weiß es wieder. Ein unbeständiger Mensch wird es zu nichts bringen.«

Nisea schmunzelte leicht und ging zum nächsten Sprichwort über. Doch die gesetzliche Bedingung war erfüllt – ich wies nun offiziell eine psychische Beeinträchtigung auf.

Nach den Sprichwörtern probierten wir es mit dem Sortieren bunter Klötze, jedoch ohne großen Erfolg. Nisea war ebenso erleichtert wie ich, als ich aufgab und die Klötze wegschob.

»Gut, das wär’s.« Er schickte die Assistentin hinaus. »Wir können uns jetzt den Formalitäten widmen. Ziehen Sie eine bestimmte Klinik vor? Meiner Meinung nach ist die in Los Angeles die beste, aber das liegt vielleicht auch nur daran, dass ich sie am besten kenne. Die Kasanin-Klinik in Kansas City…«

»Ja, schicken Sie mich dorthin.«

»Aus irgendeinem bestimmten Grund?«

»Freunde von mir waren dort.«

Er sah mich skeptisch an.

»Und einen guten Ruf hat sie auch. Fast alle, die ich kenne, denen mit ihrer Erkrankung wirklich geholfen wurde, sind in der Kasanin gewesen. Andere Kliniken sind natürlich auch gut, aber das ist die beste. Meine Tante Gretchen etwa – sie war der erste psychisch kranke Mensch, den ich kennengelernt habe. Und von denen gibt es eine ganze Menge. Mein Cousin Leo Roggis, er ist immer noch irgendwo in einer der Kliniken. Mein Englischlehrer auf der Highschool, Mr. Haskins, er ist in einer Klinik gestorben. Dann war da noch ein alter Italiener, der in meiner Straße wohnte, George Oliveri. Er hatte katatone Zustände. Ein Kumpel beim Militär, Art Bowles – er hatte Schizophrenie und kam in die Fromm-Reichmann-Klinik in Rochester, New York. Dann Alys Johnson, mit der ich auf dem College zusammen war. Sie ist in der Samuel-Anderson-Klinik in Zone 3 – das ist in Baton Rouge, Laramie. Und ein Mann, für den ich einmal gearbeitet habe, Ed Yeats. Er erkrankte an Schizophrenie, die in akute Paranoia überging. Waldo Dangerfield, noch ein Kumpel von mir. Gloria Milstein, eine Bekannte – sie wurde durch einen Psychotest aufgespürt, als sie sich um eine Stelle als Schreibkraft bewarb. Die Leute vom FBMH haben sie gleich mitgenommen. Sie war sehr attraktiv, ohne den Test wäre da niemand draufgekommen. Und John Franklin Mann, ein Gebrauchtwagenhändler, den ich kannte – ein Test erwies ihn als Schizophrenen, und ab ging’s, in die Kasanin, glaube ich, weil er Verwandte in Missouri hat. Und Marge Morrison, noch eine Bekannte von mir. Sie ist wieder draußen, und ich bin mir sicher, dass sie in der Kasanin war. Von den ganzen Leuten waren alle, die in die Kasanin geschickt wurden, anschließend so gut wie neu. In der Kasanin werden nicht nur die Vorschriften des McHeston Act erfüllt – dort wird richtig geheilt. So kommt es mir jedenfalls vor.«

Nisea schrieb ›Kasanin-Klinik K.C.‹ in das Formular. »Ja, Kansas City soll gut sein. Der Präsident hat zwei Monate dort verbracht, wussten Sie das?«

»Davon habe ich gehört.« Jeder kannte die Geschichte vom heldenhaften Kampf des Präsidenten mit seiner psychischen Erkrankung in der Pubertät.

»Nun gut, bevor wir uns voneinander verabschieden, möchte ich Ihnen noch etwas über den Magna-Mater-Typus erzählen.«

»Gerne.«

»Tatsächlich handelt es sich um ein besonderes Interessengebiet von mir. Ich habe mehrere Monografien darüber geschrieben. Sie kennen die Anderson-Theorie, die jede Unterform der Schizophrenie mit einer Unterform der Religion gleichsetzt?«

Ich nickte. Diese Theorie war von praktisch jedem Hochglanzmagazin der USA thematisiert worden; es war die aktuelle Mode.

»Die Hauptform der Schizophrenie ist demnach die heliozentrische. Darunter leiden Sie nicht. Die heliozentrische Form ist die simpelste und entspricht der frühesten bekannten Religion, der Sonnenanbetung, darunter der Mithraismus, der heliozentrische Kult der Römerzeit, und die Verehrung von Mazda, der frühe persische Sonnenkult. Die Sonne steht für den Vater der Patienten.«

Ich nickte.

»Die Magna Mater nun, die Form, die Sie haben, bezieht sich auf den Kult der Großen Göttin im mediterranischen Raum zur Zeit der mykenischen Kultur. Ischtar, Kybele, Attis, später dann Athene, schließlich die Jungfrau Maria. Ihnen ist Folgendes widerfahren: Ihre Anima, die Verkörperung Ihres Unbewussten, wurde nach außen projiziert und wird nun dort von Ihnen wahrgenommen und verehrt.«

»Verstehe.«

»Und sie wird als gefährliches, feindseliges, doch zugleich anziehendes Wesen wahrgenommen. Die Verkörperung aller Gegensätze: Sie hat alles Leben in sich und ist doch tot, alle Liebe und ist doch kalt, alle Kreativität und neigt doch zu destruktivem analytischem Denken. Wenn diese Gegensätze unmittelbar erfahren werden, wie es gerade bei Ihnen geschieht, ist es unmöglich, mit ihnen fertig zu werden. Sie verwirren Ihr Ego und vernichten es schließlich, denn wie Sie wissen, sind sie in ihrer ursprünglichen Form Archetypen und können nicht durch das Ego integriert werden.«

»Aha.«

»Es ist der große Kampf des Bewusstseins, zu einem Verständnis seiner eigenen kollektiven Aspekte zu gelangen, seines Unbewussten, und dieser Kampf ist zum Scheitern verurteilt. Die Archetypen des Unbewussten müssen mittelbar erfahren werden, durch die Anima, und in einer gutartigen Form, die frei von bipolaren Eigenschaften ist. Dafür müssen Sie eine völlig andere Beziehung zu Ihrem Unbewussten aufbauen. So, wie die Sache gerade aussieht, sind Sie passiv, das Unbewusste besitzt sämtliche Entscheidungsgewalt.«

»Richtig.«

»Ihr Bewusstsein ist verkümmert und daher nicht länger handlungsfähig. Es besitzt keine andere Autorität als diejenige, die es aus dem Unbewussten bezieht, und im Augenblick ist es vom Unbewussten abgeschnitten. Also lässt sich über die Anima keine Harmonie herstellen. Sie haben eine relativ harmlose Form der Schizophrenie, Mr. Rosen. Aber es ist immer noch eine Psychose und erfordert die Behandlung in einer staatlichen Klinik. Ich würde Sie gern wiedersehen, wenn Sie aus Kansas City zurückkommen – es wird Ihnen dann viel besser gehen.« Nisea lächelte mich aufmunternd an, und ich erwiderte sein Lächeln.

In einer formalen Anhörung vor Zeugen überreichte er mir dann den Einweisungsbescheid und fragte, ob es irgendwelche Gründe gäbe, warum ich nicht sofort nach Kansas City überstellt werden sollte. Mir fielen keine ein. Er gab mir acht Stunden zur Regelung meiner persönlichen Angelegenheiten und ließ seine Assistentin einen Flug reservieren. Dann verabschiedeten wir uns voneinander.

Ich fuhr mit einem Taxi zu Maurys Haus, wo ich einen Großteil meiner Habseligkeiten zurückgelassen hatte. Dort angekommen, klopfte ich an der Tür.

Es war offenbar niemand zu Hause. Ich drehte den Türknauf – es war nicht abgeschlossen. Also betrat ich das stille, verlassene Haus.

Im Badezimmer war das Wandmosaik, an dem Pris damals gearbeitet hatte. Jetzt war es fertig. Ich betrachtete es für eine Weile, die Meerjungfrau und den Fisch, den Kraken mit den hellen Knopfaugen. Ein Stück Fliese hatte sich gelockert. Ich riss es ganz ab, rieb den krümeligen Klebstoff von der Rückseite und steckte es in die Tasche.

Nur für den Fall, dass ich dich vergessen sollte, dachte ich. Dich und dein Badezimmermosaik, deine Meerjungfrau mit den pinken Brüsten, deine schönen, monströsen Geschöpfe, die unter der Wasseroberfläche tanzen, im friedlichen, ewigen Wasser… Sie hatte die Linie über Kopfhöhe gezogen, beinahe zwei Meter fünfzig hoch. Darüber Himmel, allerdings nur ein wenig – der Himmel spielte in ihrer Schöpfung keine Rolle.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Jemand war ins Haus gekommen. Ich wartete, und nach einiger Zeit kam Maury Rock an der Badezimmertür vorbeigerauscht. Als er mich sah, blieb er ruckartig stehen. »Louis Rosen… In meinem Badezimmer.«

»Ich bin gleich wieder weg.«

»Eine Nachbarin hat mich im Büro angerufen. Sie hat gesehen, wie du hineingegangen bist.«

»Immer wird mir hinterherspioniert. Überall. Egal, wo ich bin.« Ich blieb stehen, wo ich war, die Hände in den Taschen.

»Sie fand einfach, dass ich Bescheid wissen sollte. Ich dachte mir schon, dass du es bist.« Er sah meinen Koffer und die Sachen, die ich zusammengesucht hatte. »Du bist doch kaum erst aus Seattle zurück – und jetzt willst du schon wieder los?«

»Ich muss, Maury. Das verlangt das Gesetz.«

Er blickte mich an und wurde dabei ganz rot im Gesicht. »Tut mir leid, Louis. Ich wollte nicht…«

»Ich bin heute beim Benjamin-Test und bei diesem Klotz-Ding durchgefallen. Es ist bereits alles arrangiert.«

Er rieb sich das Kinn. »Wer hat dich verpfiffen?«

»Mein Vater und Chester.«

»Deine eigene Familie?«

»Sie haben mich vor der Paranoia bewahrt. Aber sag mal, Maury – weißt du, wo sie steckt?«

»Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen, ganz ehrlich. Trotz allem.«

»Rat mal, wo ich zur Behandlung hinkomme.«

»Kansas City?«

Ich nickte.

»Vielleicht findest du sie dort. Vielleicht hat das FBMH sie sich wieder geschnappt und vergessen, mir Bescheid zu sagen.«

»Ja, könnte sein.«

Er klopfte mir auf den Rücken. »Viel Glück, mein Freund. Ich weiß, dass du da wieder rauskommst. Du hast bestimmt Schizophrenie – was anderes gibt’s ja gar nicht mehr.«

Ich holte die Scherbe aus der Tasche und zeigte sie ihm. »Ein Andenken an sie. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«

»Nein. Behalte sie nur. Oder nimm gleich einen ganzen Fisch. Oder eine Brust.«

»Die Scherbe genügt.«

Eine Weile standen wir verlegen da und sahen uns an. »Und wie ist es so, schizophren zu sein?«, fragte er schließlich.

»Schlimm, Maury. Ganz, ganz schlimm.«

»Hab ich mir gedacht. Hat Pris auch immer gesagt. Sie war froh, es hinter sich zu haben.«

»Dass ich nach Seattle gefahren bin, damit ging es los. Das nennt man katatone Erregtheit, das Gefühl, dass man unbedingt etwas unternehmen muss. Es stellt sich dann aber immer als das Falsche heraus, man erreicht nichts damit. Man merkt es und gerät in Panik, und dann kriegt man sie, die richtige Psychose. Ich hab Stimmen gehört und… Dinge gesehen.«

»Was denn für Dinge?«

»Pris.«

»Auutsch.«

»Bringst du mich zum Flughafen?«

»Natürlich.« Er nickte energisch.

»Ich muss erst am späten Abend dort sein. Also könnten wir vielleicht vorher noch etwas zusammen essen. Weißt du, ich möchte es vermeiden, meiner Familie zu begegnen nach dem, was passiert ist. Ich schäme mich irgendwie.«

»Wie kommt es, dass du so vernünftige Sachen sagst, wo du doch schizophren bist?«

»Ich stehe gerade nicht unter Druck, also kann ich meine Aufmerksamkeit bündeln. Das passiert nämlich bei einem schizophrenen Schub – die Aufmerksamkeit wird geschwächt, sodass sich unbewusste Prozesse breitmachen und die Macht übernehmen. Sie kapern sozusagen das Bewusstsein, sehr archaische Prozesse, archetypische, wie sie ein Nicht-Schizophrener zuletzt gehabt hat, als er fünf gewesen ist.«

»Du denkst also verrücktes Zeug, wie dass alle gegen dich sind und du der Mittelpunkt des Universums bist?«

»Nein. Wie Doktor Nisea mir erklärt hat, sind es die heliozentrischen Schizophrenen, die…«

»Nisea? Ragland Nisea? Natürlich, es ist ja gesetzlich vorgeschrieben, dass du ihn aufsuchen musst. Er hat auch Pris damals eingewiesen. Er hat den Vygotsky-Luria-Klotztest mit ihr gemacht, persönlich. Ich wollte ihn immer mal kennenlernen.«

»Brillanter Mann. Und sehr human.«

»Bist du denn gefährlich?«

»Nur, wenn man mich reizt.«

»Sollte ich dann besser gehen?«

»Ja. Aber ich sehe dich heute Abend, hier, zum Essen. Gegen sechs. Dann bleibt noch genug Zeit, den Flug zu kriegen.«

»Kann ich irgendetwas für dich tun? Dir irgendetwas besorgen?«

»Nein. Aber danke.«

»Okay.« Maury drehte sich um und ging. Kurz darauf hörte ich die Vordertür zufallen. Es war wieder still im Haus. Ich war wieder allein.

Später aßen Maury und ich zusammen, dann fuhr er mich in seinem weißen Jaguar zum Flughafen. Ich sah zu, wie die Straßen an mir vorbeizogen, und jede Frau, die ich sah, erinnerte mich – wenigstens für einen Moment – an Pris; jedes Mal dachte ich, dass sie es war, aber sie war es nicht.

Der Flug, den man für mich gebucht hatte, war erster Klasse und auf dieser neuen australischen Rakete, der C-80. Das FBMH, dachte ich, hat offenbar jede Menge öffentlicher Gelder zum Verbraten. Nach einer halben Stunde Flug landeten wir bereits wieder. Ich stieg aus der Rakete und hielt nach meinem Empfangskomitee Ausschau.

Ein junger Mann und eine junge Frau kamen auf mich zu. Beide trugen sie Mäntel mit bunten, strahlenden Schottenmustern. Das waren sie – in Boise hatte man mir gesagt, dass ich auf solche Mäntel achten sollte.

»Mr. Rosen?«, fragte der junge Mann.

»Ja.«

Die beiden nahmen mich in die Mitte, und gemeinsam gingen wir zum Flughafengebäude. »Ein bisschen arg kalt heute, nicht wahr?«, sagte die Frau. Sie waren keine zwanzig, halbe Kinder noch. Vermutlich waren sie aus lauter Idealismus zum FBMH gegangen. Sie lenkten mich zur Gepäckausgabe, machten gedämpfte Konversation über nichts Besonderes… Ich wäre ganz entspannt gewesen, hätte ich nicht bereits im grellen Licht der Leuchtfeuer, mit denen die Schiffe eingewiesen wurden, gesehen, dass die junge Frau Pris erstaunlich ähnlich sah.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich sie.

»Julie. Und das ist Ralf.«

»Haben Sie… erinnern Sie sich noch an eine Patientin, die Sie hier vor ein paar Monaten gehabt haben, eine junge Frau aus Boise namens Pris Frauenzimmer?«

»Tut mir leid, ich bin erst letzte Woche in die Kasanin-Klinik versetzt worden. Er auch. Wir sind noch nicht lange beim Bureau.«

»Und gefällt es Ihnen? Entspricht es Ihren Erwartungen?«

»Oh, es ist unglaublich bereichernd, nicht, Ralf?« Ihr Kollege nickte. »Wir möchten hier gar nicht wieder aufhören.«

»Wissen Sie irgendetwas über mich?«

»Nur dass Doktor Shedd mit Ihnen arbeiten wird«, erwiderte Ralf.

»Und er ist super«, fügte Julie hinzu. »Er wird Ihnen gefallen. Er tut so viel für die Menschen, er hat so viele geheilt!«

Meine Koffer kamen; Ralf nahm einen, ich den anderen, und wir gingen zum Ausgang.

»Das ist ein schöner Flughafen«, sagte ich. »Ich bin hier noch nie gewesen.«

»Ja, sie haben ihn erst dieses Jahr fertiggestellt. Es ist der Erste, der sowohl Erd- als auch Weltraumflüge abfertigen kann. Sie können von hier aus direkt zum Mond fliegen.«

»Ich nicht«, flüsterte ich.

Kurz darauf saßen wir in einem Klinik-Hubschrauber und flogen über die Dächer von Kansas City. Die Luft war kalt und frisch, und unter uns glühten eine Million Lichter in unzähligen Mustern, die gar keine Muster waren.

»Glauben Sie«, fragte ich meine Begleiter, »dass jedes Mal, wenn jemand stirbt, in Kansas City ein neues Licht aufblinkt?«

Ralf und Julie schmunzelten.

»Wissen Sie, was mit mir passiert wäre, wenn es das FBMH-Programm nicht gäbe? Ich wäre jetzt tot. Es hat mir buchstäblich das Leben gerettet.«

Jetzt lächelten sie.

»Gott sei Dank ist der McHeston Act durch den Kongress gekommen.«

Sie nickten feierlich.

»Sie wissen nicht, wie es ist, dieses katatone Drängen zu spüren, diesen Druck. Er treibt einen weiter und weiter, und dann bricht man plötzlich zusammen. Man weiß, dass man nicht richtig im Kopf ist, dass man in einem Schattenreich lebt. Ich hatte vor meinem Vater und meinem Bruder Geschlechtsverkehr mit einer Frau, die nur in meiner Phantasie existierte. Ich hörte Leute über uns reden, während wir es miteinander machten. Durch die Tür.«

»Sie haben es durch die Tür miteinander gemacht?«, fragte Ralf erstaunt.

Julie schüttelte den Kopf. »Er meint, er hat sie durch die Tür reden gehört. Nicht wahr, Mr. Rosen?«

»Ja. Dass Sie es erklären mussten, zeigt, in welchem Maße mir meine Fähigkeit zur Kommunikation abhanden gekommen ist. Früher hätte ich das mit Leichtigkeit klar und deutlich ausdrücken können. Erst als Doktor Nisea zu dem Stein, der rollt, kam, wurde mir bewusst, was für eine Kluft sich zwischen mir und dem Rest der Gesellschaft aufgetan hat.«

»Ah ja, die Nummer 6 im Benjamin-Sprichwort-Test.«

»Ich frage mich, welches Sprichwort Pris damals nicht hinbekommen hat.«

»Pris?«, fragte Julie.

»Schätze mal«, sagte Ralf, »die Frau, mit der er Geschlechtsverkehr hatte.«

»Ganz genau. Sie ist mal hier gewesen, vor Ihrer Zeit. Jetzt geht es ihr wieder gut. Sie ist meine Große Mutter, sagt Doktor Nisea. Ich habe mein Leben der Verehrung von Pris gewidmet. Ich habe ihren Archetypus nach außen projiziert, ich sehe nichts als sie, alles andere ist für mich unwirklich. Dieser Flug gerade, Sie beide, Doktor Nisea, die Klinik – das sind alles bloß Schatten.«

Nachdem ich das gesagt hatte, ließ sich das Gespräch nur schwerlich fortsetzen. Also brachten wir den Rest des Fluges schweigend hinter uns.

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