Drei

Maury, der nach wie vor hoffte, mein Vater würde sich überzeugen lassen, ließ die Stanton dort – in Kommission, wenn man so will –, und wir fuhren zurück nach Ontario. Inzwischen war es fast Mitternacht, und da die mangelnde Begeisterung meines Vaters uns beide bedrückte, lud Maury mich ein, bei ihm zu übernachten – was ich nur allzu gerne annahm.

Als wir bei seinem Haus ankamen, stießen wir auf seine Tochter Pris, von der ich angenommen hatte, dass sie immer noch in der Kasanin-Klinik in Kansas City war, in der Obhut des Federal Bureau of Mental Health. Pris stand, wie ich von Maury wusste, seit ihrem dritten Jahr in der Highschool unter der Vormundschaft des Staates; Tests, die in den öffentlichen Schulen routinemäßig durchgeführt wurden, hatten ihre »Problemdynamik« ergeben, wie es die Psychiater heutzutage nennen – anders ausgedrückt, ihren schizophrenen Zustand.

»Sie wird dich aufmuntern«, sagte Maury, als er meine Zögerlichkeit bemerkte. »Und Aufmunterung ist genau das, was wir beide brauchen. Sie ist ganz schön groß geworden, seit du sie das letzte Mal gesehen hast. Sie ist kein Kind mehr. Komm rein.« Er griff meinen Arm und zog mich ins Haus.

Sie saß im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Sie trug pinkfarbene Sporthosen, ihre Haare waren kurz geschnitten, und sie hatte abgenommen. Um sie herum lagen lauter bunte Kacheln, die sie mit einer großen Zange in unregelmäßige Scherben zerbrach.

»Komm, sieh dir das Badezimmer an«, sagte sie und sprang auf. Ich folgte ihr misstrauisch.

Sie hatte alle möglichen Seeungeheuer und Fische an die Badezimmerwände gemalt. Sogar eine Meerjungfrau, die rote Mosaiksteine als Brüste besaß, jeweils mit einem hellen Stein in der Mitte. Der Anblick war abstoßend und faszinierend zugleich.

»Warum nicht gleich kleine Glühbirnen als Nippel nehmen?«, fragte ich. »Wenn jemand zum Pinkeln reinkommt und das Licht anmacht, leuchten sie auf und weisen ihm den Weg.«

Es bestand kein Zweifel daran, dass die jahrelange Beschäftigungstherapie in Kansas City sie in diesen Mosaikrausch getrieben hatte; die Psycholeute standen auf alles, was kreativ war. Vater Staat hatte buchstäblich Zehntausende von Patienten in seinen übers Land verteilten Kliniken stecken, die alle eifrig webten oder malten oder tanzten oder Schmuck herstellten oder Bücher banden oder Theaterkostüme nähten. Und diese Patienten waren dort nicht freiwillig, sondern von Gesetzes wegen. Wie Pris waren viele von ihnen während der Pubertät auffällig geworden, die Zeit, in der Psychosen dazu neigten, auszubrechen.

Offenbar ging es Pris jetzt besser, sonst hätten sie sie wohl kaum hinausgelassen. Nur dass sie mir immer noch nicht normal oder natürlich vorkam. Als wir zurück ins Wohnzimmer gingen, sah ich sie mir genauer an; ihr kleines, herzförmiges Gesicht, die schwarzen, mit einem Haarreif zurückgehaltenen Haare, der Harlekin-Effekt, den sie ihrem seltsamen Make-up verdankte, die Augen schwarz umrandet, der Lippenstift fast schon lila. Es ließ sie unwirklich und puppenhaft erscheinen; irgendwo hinter der Maske, die sie aus ihrem Gesicht gemacht hatte, war sie verlorengegangen. Und ihre Magerkeit setzte dem Effekt noch die Krone auf: Sie sah aus wie eine auf merkwürdige Weise animierte Figur aus einem Totentanz. Das kam vermutlich nicht von der üblichen Aufnahme von fester und flüssiger Nahrung – vielleicht kaute sie nur Walnussschalen. Aber irgendwie sah sie auch gut aus, nur ein bisschen extravagant, um es milde auszudrücken. Insgesamt sah sie allerdings weniger normal aus als die Stanton.

»Schatz«, sagte Maury zu ihr, »wir haben die Edwin M. Stanton drüben bei Louis’ Vater gelassen.«

Sie blickte auf. »Abgeschaltet?« In ihren Augen war ein wildes Feuer, das mich zugleich entsetzte und beeindruckte.

»Pris«, sagte ich, »die Ärzte haben ja wirklich ganze Arbeit geleistet. Was für eine gut aussehende Frau aus dir geworden ist, jetzt wo du erwachsen und wieder draußen bist.«

»Danke«, erwiderte sie ohne jeden Gefühlsausdruck. Ihr Tonfall war schon früher immer völlig flach gewesen, ganz egal in welcher Situation, sogar während schwerer Krisen. Und dabei war es geblieben.

Ich wandte mich Maury zu. »Uff, ich bin ganz schön geschafft.«

Wir klappten das Bett im Gästezimmer auseinander, warfen Laken und Decken drauf und ein Kissen. Pris machte keine Anstalten, uns zu helfen; sie blieb im Wohnzimmer und zerschnitt Kacheln.

»Wie lange arbeitet sie schon an diesem Wandbild im Bad?«, fragte ich.

»Seit sie aus Kansas City zurück ist, also schon eine ganze Weile. Die ersten paar Wochen musste sie sich regelmäßig beim hiesigen FBMH melden. Sie ist nicht richtig draußen, sie ist auf Bewährung, bekommt ambulante Therapie. Man könnte sagen, sie ist leihweise draußen.«

»Geht’s ihr wirklich besser?«

»Viel besser. Ich hab dir ja nie erzählt, wie schlimm es war auf der Highschool. Wir hatten keine Ahnung, was nicht stimmte. Ehrlich gesagt bin ich heilfroh über den McHeston Act. Wenn man es nicht gemerkt hätte, wenn sie immer kränker geworden wäre, wäre sie inzwischen entweder eine ausgewachsene schizophrene Paranoikerin oder eine verwahrloste Hebephrenikerin. Mit Dauereinweisung.«

»Sie sieht so merkwürdig aus.«

»Was hältst du von dem Mosaik?«

»Es wird den Wert des Hauses nicht gerade steigern.«

»Und ob es ihn steigert!«

Pris erschien an der Tür zum Gästezimmer. »Ich hab gefragt, ob sie abgeschaltet ist.« Sie funkelte uns an, als hätte sie erraten, dass wir über sie geredet hatten.

»Ja«, erwiderte Maury. »Außer Jerome hat sie wieder angemacht, um Spinoza mit ihr zu diskutieren.«

»Was weiß die Stanton denn überhaupt?«, fragte ich. »Ist sie mit einem Haufen zufällig ausgewählter Fakten ausgestattet worden? Denn wenn nicht, dann wird mein Vater schnell das Interesse verlieren.«

Pris verzog den Mund. »Sie verfügt über dieselben Fakten, die der originale Edwin M. Stanton gehabt hat. Wir haben sein Leben bis in die kleinste Einzelheit recherchiert.«

Ich komplimentierte die beiden aus dem Zimmer, dann zog ich mich aus und legte mich hin. Bald darauf hörte ich Maury seiner Tochter gute Nacht sagen und im Schlafzimmer verschwinden. Und dann hörte ich nichts – außer, wie zu erwarten gewesen war, das scharfe Knacken vom Zerlegen der Fliesen.

Eine Stunde lang lag ich da und versuchte zu schlafen, dämmerte weg und wurde von dem Geräusch wieder zurückgeholt. Schließlich stand ich auf, machte Licht, zog mich an, brachte meine Haare in Ordnung, rieb mir die Augen und ging ins Wohnzimmer. Pris saß genauso da wie vorher, nach Yoga-Art, mit einem riesigen Haufen zerbrochener Kacheln um sich herum.

»Bei dem Lärm kann ja keiner schlafen.«

»Wie furchtbar.« Sie sah nicht einmal auf.

»Ich bin ein Gast.«

»Geh halt woanders hin.«

»Ich weiß genau, was der Gebrauch dieser Zange symbolisiert, Pris. Die Kastration von abertausend Männern, einer nach dem anderen. Hast du dafür die Klinik verlassen? Um hier die ganze Nacht herumzusitzen und so was zu machen?«

»Nein. Ich besorge mir einen Job.«

»Und was für einen? Bei den Arbeitslosenzahlen?«

»Die machen mir keine Angst. Es gibt auf der ganzen Welt niemanden wie mich. Ich habe bereits ein Angebot von einer Firma, die Auswanderungen organisiert. Die haben haufenweise statistische Arbeiten zu erledigen.«

»Dann wirst du also darüber entscheiden, wer die Erde verlassen darf.«

»Nein, ich habe abgelehnt. Ich habe nicht vor, irgendeine x-beliebige Büroangestellte zu werden. Hast du je von Sam K. Barrows gehört?«

»Nein.« Aber irgendwie kam mir der Name bekannt vor.

»In Look war mal ein Artikel über ihn. Mit zwanzig stand er jeden Morgen um fünf auf, aß ein Schälchen Backpflaumen, machte einen Dreikilometerlauf durch die Straßen von Seattle und kehrte anschließend auf sein Zimmer zurück, um sich zu rasieren und eine kalte Dusche zu nehmen. Und dann zog er los und studierte seine Gesetzesbücher.«

»Dann ist er also Rechtsanwalt.«

»Nicht mehr. Geh mal zum Bücherregal. Da liegt die Look-Ausgabe noch.«

»Warum sollte mich das interessieren?« Trotzdem ging ich mir die Zeitschrift holen.

Und tatsächlich war auf der Titelseite das Foto eines Mannes, unter dem

SAM K. BARROWS, AMERIKAS GESCHÄFTSTÜCHTIGSTER JUNGER MULTIMILLIARDÄR

stand. Die Ausgabe war vom 18. Juni 1981, also noch ziemlich aktuell. Barrows joggte gerade eine der am Wasser gelegenen Straßen in der Innenstadt von Seattle hinauf, in Khakishorts und einem grauen Sweatshirt, bei Sonnenaufgang, wie es aussah, munter keuchend, ein Mann mit glänzendem, völlig kahl rasiertem Schädel, die Augen wie die kleinen Steine im Gesicht eines Schneemanns: ausdruckslos, winzig. Ohne jede Emotion – nur die untere Gesichtshälfte schien zu grinsen.

»Falls du ihn mal im Fernsehen gesehen hast…«

»Ja, ich habe ihn im Fernsehen gesehen.« Jetzt erinnerte ich mich wieder, denn damals, vor etwa einem Jahr, hatte der Mann einen ziemlich schlechten Eindruck auf mich gemacht. Seine monotone Sprechweise – er hatte sich zu dem Interviewer hinübergebeugt und auf ihn eingemurmelt. »Und für ihn möchtest du arbeiten?«

»Sam Barrows ist der größte Immobilienspekulant, den es je gegeben hat.«

»Darum geht uns wahrscheinlich der Grund und Boden aus. Alle Grundstücksmakler gehen pleite, weil es nichts zu verkaufen gibt. Millionen von Menschen – und keinen Platz, wo sie hinkönnen.« Dann fiel es mir wieder ein: Barrows hatte genau dieses Problem gelöst. Mit einer ganzen Serie von Klagen hatte er die Regierung der Vereinigten Staaten dazu gezwungen, private Spekulationen mit Grund und Boden auf anderen Planeten zu genehmigen. Praktisch im Alleingang hatte er den Weg für Parzellierungsunternehmer auf Luna, Mars und Venus freigemacht; sein Name würde für immer in die Geschichtsbücher eingehen. »Das also ist der Mann, für den du arbeiten möchtest. Der Mann, der unberührte Welten verseucht hat.« Seine Vertreter priesen die Parzellen von Büros überall in den USA aus an.

»Unberührte Welten verseucht? Das ist doch nur ein Slogan dieser Umweltschützer.«

»Aber wahr. Wie will man das Land denn nutzen, wenn man es erst einmal gekauft hat? Wie lebt man darauf? Ohne Wasser, ohne Luft, ohne Wärme, ohne…«

»Das wird alles geliefert.«

»Und wie?«

»Genau darum ist Barrows ein so großer Mann. Wegen seiner Vision. Barrows Enterprises arbeitet Tag und Nacht…«

»Das alles ist reine Abzocke.«

Stille. Angespannte Stille.

»Hast du dich je wirklich mit Barrows unterhalten? Es ist das eine, einen Helden zu haben – du bist eine junge Frau, und es ist nur natürlich für dich, einen Mann zu verehren, der auf den Titelbildern der Zeitschriften und im Fernsehen zu sehen ist. Und er ist reich und hat im Alleingang den Mond für Kredithaie und Immobilienspekulanten zugänglich gemacht. Aber du hast mir etwas davon erzählt, dass du dir einen Job besorgen willst.«

»Ja, ich habe mich für einen Job in einer seiner Firmen beworben. Und ich habe ihnen gesagt, dass ich ihn gern persönlich sprechen möchte.«

»Da haben sie aber gelacht.«

»Nein, sie haben mich zu seinem Büro geschickt. Er hörte mir für eine geschlagene Minute zu. Dann hatte er sich natürlich wieder um seine anderen Geschäfte zu kümmern.«

»Und was hast du zu ihm gesagt in deiner Minute?«

»Ich habe ihn angesehen, er hat mich angesehen. Du hast ihn nie in Wirklichkeit erlebt. Er ist unglaublich attraktiv.«

»Im Fernsehen hat er eher was Echsenhaftes.«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich ein Gespür für Versager habe. Wenn ich seine Sekretärin wäre, käme niemand an mir vorbei, der nur seine Zeit verschwenden will. Ich kann knallhart sein. Und gleichzeitig würde ich nie jemanden abweisen, der wichtig ist. Verstehst du?«

»Aber kannst du auch Briefe öffnen?«

»Dafür gibt es Maschinen.«

»Dein Vater tut das. Das ist sein Job bei uns.«

»Und genau darum würde ich auch nie für euch arbeiten. Weil ihr so erbärmlich klein seid, euch gibt es eigentlich gar nicht. Nein, ich kann keine Briefe öffnen. Ich kann keinerlei Routinearbeiten. Aber ich sag dir, was ich kann. Es war meine Idee, die Edwin M. Stanton zu bauen.«

Ich sah sie ungläubig an.

»Maury wäre da gar nicht draufgekommen. Bundy – er ist ein Genie. Voller Inspiration. Aber das ist das Einzige, was er kann, der Rest seines Gehirns ist durch die fortschreitende Hebephrenie völlig hinüber. Ich habe die Stanton entworfen, und er hat sie gebaut. Und sie ist ein Erfolg, du hast sie gesehen. Aber ich will es gar nicht als Verdienst angerechnet haben, das habe ich nicht nötig. Es hat Spaß gemacht. Wie das hier.« Sie begann wieder, ihre Kacheln zu zerschneiden. »Kreative Arbeit.«

»Und Maury, was hat der getan? Dem Ding die Schuhe zugebunden?«

»Maury hat das Ganze organisiert. Er hat dafür gesorgt, dass wir alles hatten, was wir brauchten.«

Ich bekam das entsetzliche Gefühl, dass das, was sie sagte, der Wahrheit entsprach. Klar, ich konnte zur Sicherheit Maury fragen. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass dieses Mädchen überhaupt wusste, wie man log; sie war praktisch das genaue Gegenteil ihres Vaters. Vielleicht schlug sie ja nach ihrer Mutter, die ich nie kennengelernt hatte. Die Familie war zerbrochen, lange bevor ich Maury kennengelernt hatte. »Und? Wie läuft deine ambulante Psychoanalyse so?«

»Gut. Und deine?«

»Ich brauche keine.«

»Da liegst du falsch. Du bist sehr krank, genau wie ich.« Sie lächelte zu mir herauf. »Stell dich den Tatsachen.«

»Würdest du mit diesem Geknackse aufhören, damit ich schlafen kann?«

»Nein. Ich will den Kraken heute Nacht noch fertig kriegen.«

»Wenn ich nicht schlafen kann, fall ich irgendwann um.«

»Ja und?«

»Bitte!«

»Noch zwei Stunden.«

»Sind die alle wie du? Die Leute, die aus den staatlichen Kliniken kommen? Die jungen Leute, die wieder auf Kurs gebracht wurden? Kein Wunder, dass wir Probleme mit dem Orgelabsatz haben.«

»Organabsatz? Was für Organe wollt ihr denn absetzen? Ich für meinen Teil habe alle Organe, die ich brauche.«

»Orgeln, nicht Organe. Elektronische Orgeln. Obwohl, wer weiß. Vielleicht verkaufen wir ja bald auch elektronische Organe.«

»Ich brauche keine, ich habe welche aus Fleisch und Blut.«

»Besser, sie wären elektronisch und du würdest ins Bett gehen und deinen Gast schlafen lassen.«

»Du bist nicht mein Gast. Bloß der von meinem Vater. Und komm mir nicht mit ins Bett gehen – oder ich sag meinem Vater, dass du mich gefragt hast, ob ich mit dir schlafen will, und das war’s dann mit MASA Associates und deiner Karriere. Du wirst dir wünschen, nie irgendeine Orgel gesehen zu haben, elektronisch oder nicht. Also geh brav in die Heia und sei froh, dass du keine größeren Sorgen hast als nicht einschlafen zu können.« Sie fuhr fort, Kacheln zu zerbrechen.

Einen Moment lang stand ich da und fragte mich, was ich tun sollte. Schließlich wandte ich mich ab und ging – ohne dass mir eine schlagfertige Entgegnung eingefallen wäre – zurück in mein Zimmer. Mein Gott, dachte ich. Gegen die ist diese Stanton-Kiste reinste Wärme und Freundlichkeit.

Und doch hatte sie mir keine Feindseligkeit entgegengebracht. Sie hatte einfach nur kein Gespür dafür, was sie so von sich gab, ob sie etwas Verletzendes gesagt hatte – sie machte eben mit ihrer Arbeit weiter. Aus ihrer Sicht war nichts weiter geschehen, ich spielte keine Rolle für sie.

Und wenn sie mich nun wirklich nicht leiden konnte… Aber war das überhaupt möglich? Hatte dieses Wort für sie irgendeine Bedeutung? Vielleicht wäre das besser, dachte ich, während ich die Zimmertür abschloss. Es wäre menschlicher, nachvollziehbarer, wenn sie eine Abneigung gegen mich gehabt hätte. Aber einfach weggescheucht zu werden, nur damit sie weitermachen, ihre Arbeit beenden konnte – als wäre ich irgendein Hemmnis, ein störendes Element, nichts weiter.

Vermutlich konnte sie nur die Oberfläche der Menschen wahrnehmen, entschied ich. War sich ihrer nur bewusst, soweit es ihre einschränkende oder nicht einschränkende Wirkung auf sie betraf… Mit solchen Gedanken lag ich da, das eine Ohr ins Kissen gepresst, das andere mit dem Arm abgedeckt, um das Geknackse zu dämpfen, die endlose Folge von Schnitten, die sich bis in alle Ewigkeit fortsetzte.

Mir war klar, warum sie sich zu Sam K. Barrows hingezogen fühlte. Zwei vom gleichen Schlag, oder eher aus der gleichen Werkstatt. Im Fernsehen und auch jetzt wieder, beim Blick auf die Zeitschrift – es war, als wäre Barrows der obere Teil seines Kopfes geöffnet und das Gehirn durch ein Steuersystem oder eine Rückkopplungsschaltung aus Selenoiden und Relais ersetzt worden, die ferngesteuert wurde. Oder vielleicht saß dort oben auch irgendetwas an den Kontrollen, betätigte mit raffinierten Bewegungen die Schalter.

Und wie merkwürdig es doch war, dass diese junge Frau mitgeholfen hatte, das fast schon liebenswerte Simulacrum zu erschaffen, als wäre sie sich auf einer unterbewussten Ebene des Defizits in ihrem Inneren bewusst, der leeren, abgestorbenen Mitte, und würde es fleißig kompensieren.

Am nächsten Morgen frühstückten Maury und ich in einem kleinen Café in der Nähe der Firma. Als wir einander in der Essnische gegenübersaßen, fragte ich: »Wie krank ist deine Tochter eigentlich, Maury? Wenn sie immer noch unter der Vormundschaft des FBMH steht, muss sie ja…«

»Ein Zustand wie der ihre lässt sich nicht heilen.«

Maury nippte an seinem Orangensaft. »Es ist ein lebenslanger Prozess, der immer wieder schwierige und weniger schwierige Phasen durchläuft.«

»Würde sie immer noch als Schizophrene unter den McHeston Act fallen, wenn man heute mit ihr den Benjamin-Sprichworttest durchführen würde?«

»Die würden nicht mehr den Benjamin-Test nehmen, sondern diesen sowjetischen Test, diese bunten Bauklötze von Vygotsky und Luria. Dir ist gar nicht klar, wie früh sie von der Norm abgewichen ist, falls man überhaupt von jemandem sagen kann, er sei Bestandteil einer ›Norm‹.«

»Ich hab den Benjamin-Test in der Schule damals bestanden.« Der Test war seit 1975 – in manchen Bundesstaaten sogar noch früher – die unerlässliche Voraussetzung, um als ›normal‹ zu gelten.

»Also nach dem zu urteilen, was sie mir in der Klinik erzählt haben, als ich sie abgeholt habe, würde man sie im Moment nicht als schizophren einstufen. Das war sie praktisch nur drei Jahre lang. Sie haben ihren Zustand zurückgedreht auf vor diesem Zeitpunkt, auf das Integrationsvermögen, das sie ungefähr mit zwölf gehabt hat. Und das ist ein nicht-psychotischer Zustand und fällt somit nicht unter den McHeston Act. Also darf sie frei herumlaufen.«

»Dann ist sie also eine Neurotikerin.«

»Sie nennen es atypische Entwicklung oder latente beziehungsweise Borderline-Psychose. Sie kann sich zu einer Neurose entwickeln, zu einer Zwangsneurose oder zu voller Schizophrenie aufblühen, wie es bei Pris während ihres dritten Highschool-Jahres passiert ist.«

Während er sein Frühstück aß, erzählte mir Maury von ihrer Entwicklung. Ursprünglich war sie ein sehr zurückhaltendes Kind gewesen, also das, was das FBMH verkapselt oder introvertiert nennt. Sie hielt sich abseits, hatte alle möglichen Geheimnisse, etwa ein Tagebuch und kleine Verstecke im Garten. Dann, mit ungefähr neun Jahren, begann sie unter Angstvorstellungen zu leiden, so massiv, dass sie einen Großteil der Nacht aufblieb und durchs Haus tigerte. Mit elf entwickelte sie großes Interesse an Naturwissenschaften; sie besaß einen Chemiebaukasten und tat nach der Schule nichts anderes, als damit herumzuexperimentieren. Sie hatte wenige bis gar keine Freunde und schien auch keine zu wollen.

Doch die richtigen Probleme kamen erst in der Highschool. Sie hatte Angst, große Gebäude zu betreten, also auch die Schule, und fürchtete sich vor dem Busfahren. Wenn sich die Türen des Busses schlossen, hatte sie das Gefühl zu ersticken. Und sie konnte in der Öffentlichkeit nicht essen. Selbst wenn ihr nur eine einzige Person zusah, musste sie ihr Essen schon in irgendeine Ecke tragen wie ein wildes Tier. Etwa zur gleichen Zeit war sie zwanghaft geworden: Alles hatte ganz genau an seiner Stelle zu sein. Sie streifte den ganzen Tag ruhelos durchs Haus und stellte sicher, dass alles sauber war. Sie wusch sich die Hände manchmal zehn-, fünfzehnmal hintereinander.

»Nicht zu vergessen«, fügte Maury hinzu, »dass sie stark übergewichtig wurde. Sie war wirklich ganz schön dick, als du sie zum ersten Mal gesehen hast. Von selbst fing sie an, Diät zu machen. Hungerte sich die Pfunde herunter. Das tut sie sogar heute noch.«

»Und ihr brauchtet den Sprichworttest, um herauszufinden, dass sie geistig nicht gesund war? Bei der Vorgeschichte?«

Maury zuckte mit den Schultern. »Wir haben uns etwas vorgemacht. Haben uns gesagt, dass sie bloß neurotisch ist. Phobien und Rituale und so was…«

Am meisten bekümmerte es ihn, dass seine Tochter irgendwann den Sinn für Humor verloren hatte. Anstatt albern und sorglos zu sein wie früher, wurde sie so penibel wie ein Buchhalter. Und nicht nur das: Früher hatte sie Tiere gemocht; dann, während ihres Aufenthalts in Kansas City, konnte sie plötzlich keine Hunde oder Katzen mehr ertragen. Ihr Interesse an Chemie war allerdings geblieben, und das – ein Beruf sozusagen – erschien Maury als gute Sache.

»Hilft ihr die ambulante Therapie?«

»Sie bleibt damit auf einem stabilen Niveau. Sie rutscht nicht wieder ab. Sie hat immer noch starke hypochondrische Tendenzen, wäscht sich immer noch viel die Hände. Damit wird sie nie aufhören. Und sie ist immer noch überpenibel und verschlossen. Ich kann dir sagen, wie man das nennt: schizoide Persönlichkeit. Ich habe die Auswertung des Rorschachtests gesehen, den Doktor Horstowski mit ihr gemacht hat. Das ist der ambulante Arzt hier in Zone 5 nach der Systematik des FBMH. Horstowski soll sehr gut sein, aber er nimmt keine Kassenpatienten, also kostet es uns einen Haufen Geld.«

»Da seid ihr nicht die Einzigen, wenn man der Fernsehwerbung trauen darf. Wie war das noch gleich, jeder Vierte hat eine gewisse Zeit in einer staatlichen Klinik verbracht?«

»Das mit der Klinik ist mir egal, die ist umsonst. Was mich stört, ist diese teure ambulante Nachbehandlung. Es war Pris’ Idee, wieder nach Hause zu kommen, nicht meine. Ich glaube nach wie vor, sie wird wieder in der Kasanin landen, aber sie hat sich auf den Entwurf des Simulacrums gestürzt, und wenn sie nicht damit beschäftigt war, hat sie die Badezimmerwände mit Mosaiken gepflastert. Sie ist ständig in Bewegung. Ich habe keine Ahnung, wo sie die Energie hernimmt.«

»Wenn ich so darüber nachdenke, wie viele Leute ich kenne, die an einer psychischen Erkrankung gelitten haben, dann ist das kaum zu fassen. Meine Tante Gretchen, sie ist in der Harry-Stack-Sullivan-Klinik in San Diego. Mein Cousin Leo Roggis. Mein Englischlehrer an der Highschool, Mr. Haskins. Der alte italienische Rentner ein Stück die Straße runter, George Oliveri. Ich erinnere mich noch an einen Kumpel beim Militär, Art Boles. Er hatte Schizophrenie und kam in die Fromm-Reichmann-Klinik in Rochester, New York. Dann Alys Johnson, mit der ich auf dem College zusammen war. Sie ist in der Samuel-Anderson-Klinik in Zone 3, also in Baton Rouge, Louisiana. Und ein Mann, für den ich gearbeitet habe, Ed Yeats – Schizophrenie, die sich zur Paranoia auswuchs. Und Waldo Dangerfield, noch ein Kumpel. Gloria Milstein, eine frühere Bekannte von mir, die wirklich enorme Brüste hatte, wie Birnen… Sie ist weiß Gott wo. Sie wurde bei einem psychologischen Einstellungstest erwischt, als sie sich als Schreibkraft beworben hatte. Die Typen vom FBMH kamen runtergesaust und zack, weg war sie. Sie war sehr süß. Dann John Franklin Mann, ein Gebrauchtwagenhändler, den ich kannte. Er erwies sich bei einem Test als Schizophrener und wurde abgeholt und vermutlich in die Kasanin gesteckt, weil er Verwandte in Missouri hatte. Und Marge Morrison, noch eine Bekannte von mir. Sie hatte die Sorte Hebephrenie, an die ich lieber nicht denken will. Aber sie ist wieder draußen, ich hab eine Karte von ihr bekommen. Und Bob Ackers, ein ehemaliger Mitbewohner. Und Eddy Weiss…«

Maury war aufgestanden. »Gehen wir lieber.«

Wir verließen das Café. »Kennst du eigentlich diesen Sam Barrows?«, fragte ich.

»Klar. Nicht persönlich natürlich. Aber ich weiß, dass er ein Teufelskerl ist. Er würde auf alles wetten. Wenn eine seiner Geliebten – und das ist allein auch schon wieder eine Geschichte –, wenn eine seiner Geliebten aus dem Fenster springen würde, würde er darauf wetten, womit sie zuerst auf dem Pflaster aufschlägt, mit dem Kopf oder mit dem Hintern. Als würde einer dieser Großspekulanten von früher in ihm weiterleben. Für einen Menschen wie ihn ist das Leben ein Glücksspiel. Ich bewundere ihn.«

»Pris bewundert ihn auch.«

»Nein – sie betet ihn an, verdammt. Sie ist ihm begegnet. Sie haben sich gegenseitig niedergestarrt. Er hat sie elektrisiert oder magnetisiert oder irgend so einen Scheiß. Danach hat sie wochenlang kaum ein Wort rausgebracht.«

»Das war, als sie auf Jobsuche war?«

Maury nickte. »Sie hat den Job zwar nicht gekriegt, aber sie ist ins Allerheiligste vorgedrungen. Weißt du, dieser Bursche kann in alle Richtungen Möglichkeiten aufspüren, Chancen, die andere in tausend Jahren nicht sehen würden. Such dir bei Gelegenheit mal die Fortune-Ausgabe raus, die haben vor zehn Monaten oder so einen Riesenartikel über ihn gebracht.«

»Nach dem, was Pris mir erzählt hat, hat sie ihm gegenüber den Mund ganz schön voll genommen.«

»Sie hat ihm gesagt, dass sie eine unglaublich wertvolle Mitarbeiterin sein könnte – was niemand erkennt. Er sollte es wohl erkennen, jedenfalls hat sie gesagt, dass sie in seiner Firma bis an die Spitze aufsteigen und im ganzen Universum bekannt werden würde. Davon abgesehen hat sie sich einfach so aufgeführt, wie sie nun mal ist. Sie hat ihm gesagt, dass sie ebenfalls eine Spielernatur wäre und bereit sei, alles aufs Spiel zu setzen, um für ihn arbeiten zu können. Kannst du das glauben?«

»Nein.« Davon hatte sie mir nichts erzählt.

Maury schwieg einen Moment, dann sagte er: »Die Edwin M. Stanton war ihre Idee.«

Also stimmte es. In meinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. »Und war es auch ihre Idee, Stanton zu nehmen?«

»Nein, das kam von mir. Sie wollte eigentlich ein Simulacrum, das wie Sam Barrows aussieht. Aber es gab nicht genug Datenmaterial für das Zentralmonadenlenksystem, also haben wir uns Nachschlagewerke über berühmte historische Figuren besorgt. Und ich habe mich schon immer für den Bürgerkrieg interessiert, das war früher mal ein Hobby von mir. Das hat dann den Ausschlag gegeben.«

»Verstehe.«

»Sie denkt trotzdem ständig nur an Barrows. Ihr Therapeut nennt das eine Obsession.«

Wir gingen weiter zum Büro von MASA Associates.

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