14

Auf den Schneehängen des Torvaldsberges war die Mittagsstunde angebrochen.

Ivar und ich sahen uns um. Wir konnten unsere Verfolger sehen, vier an der Zahl, vier schwarze Punkte.

»Wir wollen ausruhen«, sagte Ivar.

Ich kniff die Augen zusammen, um sie vor der grellen Sonne zu schützen, die von den Schneeflächen reflektiert wurde. Forkbeard setzte sich mit dem Rücken an einen Felsen. Auch ich nahm Platz, mit untergeschlagenen Beinen, wie ein Krieger.

Wir waren am Eckpfosten von Svein Blue Tooths Halle hinabgeklettert. Im Licht des brennenden Gebäudes sahen wir überall verstreut Leichen liegen. Einige Kurii waren dabei, sich an ihnen gütlich zu tun. In einer Ecke des Palisadenzauns drängten sich die Mädchen zusammen, bewacht von mehreren Kurii. Wir sprangen ungesehen in den Hof und hielten uns im Schatten der Halle. In einem günstigen Augenblick erreichten wir ungesehen die Palisade und kletterten hinüber.

Ich öffnete die Augen und blickte ins Tal hinab. Die vier Punkte waren größer geworden.

Nach unserer Flucht aus der Halle Svein Blue Tooths hatte Forkbeard darauf bestanden, daß wir uns in seinem Lager umsahen. Das Unternehmen war gefährlich gewesen. Zu unserer Bestürzung wimmelte es in der Gegend von Kurii. Ihre Zahl war nicht zu schätzen – es mochten Hunderte, sogar Tausende sein. Sie schienen sich überall zu befinden. Zweimal wurden wir verfolgt, doch im Gewirr der Spuren und abgelenkt von frischem Blut hatten unsere Verfolger die Fährte verloren. Einmal sahen wir, wie sich zwei Kurii wegen eines Opfers stritten. Ein paarmal warfen wir uns zwischen Gefallenen zu Boden und stellten uns tot. Mehrfach kamen wir ganz dicht an fressenden Ungeheuern vorbei, die uns gar nicht bemerkten. Offenbar war der Angriff gleichzeitig gegen die Halle und das Thinglager gerichtet gewesen. Aber zutiefst entsetzt waren wir, als wir feststellten, daß sich Menschen zwischen den Kurii bewegten, Menschen, die nicht angegriffen wurden. Die Männer trugen gelbe Tücher. Offenbar hatten die Kurii menschliche Verbündete gefunden.

»Schau mal«, sagte Forkbeard und deutete zum Strand hinab. Einige Meter vom Ufer entfernt entdeckten wir zwischen den anderen Schiffen eine neue Armada. Ihre dunklen Umrisse bewegten sich behäbig im Wasser.

Ein Schiff stach aus dieser Flotte hervor. Es war groß und hatte achtzig Ruder. »Der Schwarze Sleen«, sagte Ivar, »das Schiff Thorgards von Scagnar!«

Hunderte von Kurii befanden sich zwischen uns und den Schiffen.

Ivar und ich sahen uns an. Wir verstanden nun, was der Kur bei Thorgard von Scagnar gewollt hatte.

Die Kurii sind Landwesen, die das Meer nicht lieben. Bei ihrem Marsch nach Süden sollte die Flotte Thorgards von Scagnar ihre Westflanke decken. Außerdem konnten die Schiffe zu Kommunikationszwecken herangezogen werden und die vorrückenden Armeen versorgen. Auf diese Weise hatte der Marsch der Kurii Unterstützung von See. Die Strategie der Kurii war hervorragend – eine Strategie, deren volles Ausmaß sicher nur auf den Stahlschiffen der Kurii bekannt war.

»Könnten wir uns nicht auch frei bewegen, wenn wir gelbe Tücher hätten?« fragte Forkbeard.

»Möglich«, sagte ich.

»Dann wollen wir uns welche borgen.«

Eine Kolonne von Männern näherte sich; sie alle trugen gelbe Tücher. An der Spitze marschierte ein großer Mann in einem weiten Umhang – Thorgard von Scagnar. Auch er hatte sich ein gelbes Tuch an die Schulter gebunden.

Zwei Schatten stürzten sich auf die letzten beiden Männer in der Kolonne.

Kurz darauf stand Ivar Forkbeard mit geballten Fäusten in seinem Lager. Das Zelt war niedergebrannt, die Zeltstangen lagen am Boden. Nichts rührte sich mehr.

»Schau«, sagte ich und zog ein Stück der Zeltbahn zur Seite. Wir blickten auf die Leiche eines Kur hinab, der mit blicklosen Augen in den Himmel starrte.

»Einer meiner Männer hat sich mit Erfolg gewehrt«, sagte Forkbeard.

»Man wird bald erkennen, daß wir nicht zu Thorgards Streitkräften gehören«, sagte ich. »Sie werden uns jagen.«

»Es ist möglich, daß wir schon jetzt gejagt werden – von den Kurii aus der Halle.«

»Ja, man kennt unsere Fährte. Wir müssen fliehen.«

»Nein«, sagte Ivar. »Wir müssen auf den Torvaldsberg.«

»Was meinst du?«

»Es wird Zeit.« Er sah sich zwischen den Ruinen seines Lagers um. In der Ferne loderte die brennende Halle Svein Blue Tooths. »Es wird Zeit.«

Die schwarzen Punkte waren weiter gewachsen.

Ich blickte zu den Hängen des Torvaldsbergs empor, »Es ist Wahnsinn, dort hinaufzuklettern«, sagte ich. »Wir haben keine Seile. Wir haben keine Erfahrung mit Bergen.«

Die Kurii waren noch etwa einen Pasang entfernt. Sie hatten sich die Äxte und Schilde auf den Rücken gebunden und kletterten über einen Geröllhang in unsere Richtung. Wenn sie Eisflächen erreichten, gingen sie nicht darum herum, sondern streckten ihre Krallen aus und überquerten sicher das abschüssige Gelände. Forkbeard und ich hatten mehrere Ehn verloren, weil wir solche Stellen umgehen mußten. Unsere Verfolger wurden mit diesen Hindernissen sichtlich viel besser fertig.

Wenn sie dann wieder Felsgestein erreichten, verhielten die Kurii einen Augenblick, senkten die Nasen und orientierten sich an Spuren, die für einen Menschen unauffindbar sein mußten.

Ivar Forkbeard stand auf. Es gab keine Deckung mehr zwischen unserer Position und dem Beginn der Steilhänge.

Die Kurii, die ihn sahen, stimmten ein Freudengeheul an.


Ich glitt aus und hing nur noch an den Händen an einem winzigen Felsvorsprung. Im nächsten Augenblick fand mein Fuß neuen Halt. Meine Finger schmerzten. Meine Füße waren klamm und gefühllos von dem Eis. Doch am Oberkörper schwitzte ich.

»Du darfst immer nur einen Fuß und eine Hand bewegen«, sagte Ivar. »Weiter geht's!«

Ich wagte es nicht, hinabzublicken. Die Kurii unter uns waren deutlich zu hören.

Der Torvaldsberg ist ein schwierig begehbarer Berg, doch er ist nicht unbezwingbar, selbst wenn man keine Kletterausrüstung hat. Ich folgte Forkbeard so dicht wie möglich, und es dauerte nicht lange, bis ich begriff, daß er genau wußte, was er tat. Er schien ein unheimliches Gespür dafür zu haben, Vorsprünge und Risse im Stein ausfindig zu machen, die aus zwei oder drei Fuß Entfernung kaum zu sehen waren.

Aber auch die Kurii waren ausgezeichnete Bergsteiger, auch wenn sie nun nicht mehr aufzuholen vermochten.

Es mußte etwa zur vierzehnten Ahn gewesen sein, vier Stunden nach der Mittagsstunde, als Forkbeard mich auf einen Felsvorsprung hob.

»Die Kurii«, sagte er, »können uns nicht auf demselben Weg erreichen.«

»Warum?«

»Die Griffmöglichkeiten sind zu flach, und das Gewicht der Kurii ist zu groß. Du hast doch sicher bemerkt, daß die Vorsprünge immer flacher geworden sind.«

»Ich habe gemerkt, daß der Weg immer schwieriger wurde«, sagte ich. »Du scheinst den Berg ziemlich gut zu kennen. Offenbar bist du schon einmal hier gewesen.«

Ivar lächelte. »Ja, als Junge schon habe ich den Torvaldsberg erstiegen.«

»Du hast von Griffmöglichkeiten gesprochen.«

»Ich habe sie selbst geschaffen.«

Und plötzlich kam es mir gar nicht mehr verwunderlich vor, daß er sich so zuversichtlich bewegt hatte. Ich hatte schon geahnt, daß er den Berg kannte – und nun hatte ich auch eine Erklärung dafür, warum die Kurii, die von Natur aus bessere Kletterer waren, an diesem Hang nicht aufholen konnten. Offenbar machte sich Forkbeard hier einen Weg zunutze, den er sich vor Jahren zumindest teilweise selbst geschaffen hatte.

»Dieser Sims hier«, sagte Forkbeard grinsend, »ist eine Kurfalle. In meiner Jugend wurde ich hier einmal von einem Kur gejagt. Er verfolgte mich zwei Tage lang. Ich bereitete einen Weg vor, auf dem er mir folgen konnte – bis auf die letzten zwanzig Fuß. Danach waren die Vorsprünge für die Finger eines Kur zu schmal.«

Unter uns ertönte ein wütendes Schnaufen.

»Und so habe ich als Junge meinen ersten Kur getötet.« Forkbeard stand auf und trat an den Rand des Felsvorsprungs, wo mehrere große Steine zu sehen waren. »Ein Teil der Steine, die ich damals zusammentrug, ist noch immer da.«

Den Kur unter uns beneidete ich nicht.

Ich blickte über die Felskante. »Er klettert immer noch«, flüsterte ich und zog mein Schwert. Es war sicher kein Problem, dem Ungeheuer den Zugang zu unserem Felsvorsprung zu verwehren.

Hinter dem ersten Kur, der einige Fuß unter uns hing, befand sich ein zweiter. Die beiden anderen waren weiter unten am Hang, wo es weniger steil war.

Der erste Kur war nur noch etwa zehn Fuß von uns entfernt, als er ausrutschte und mit lautem Schrei in die Tiefe stürzte. Fünf Ihn später landete er auf einem Geröllhang.

»Zu schmal, wie ich gesagt habe«, bemerkte Ivar.

Der zweite Kur, der sich fünfundzwanzig Fuß unter uns befand, blickte knurrend zu uns herauf.

Der Felsbrocken, den Ivar geschleudert hatte, traf ihn voll im Gesicht.

Die Falle, die vor vielen Jahren von einem torvaldsländischen Jungen aufgebaut worden war, funktionierte noch immer. Ich bewunderte Forkbeard.

Die beiden anderen Kurii hockten unter uns am Hang und blickten zu uns empor. Sie machten keine Anstalten mehr, uns nachzuklettern.


Kurz nach der zehnten Stunde des nächsten Tages erreichten wir den Gipfel des Torvaldsbergs. Obwohl hier oben viel Schnee lag, ragte doch da und dort das Felsgestein hervor, freigeweht von dem Wind, der hier oben mit ziemlicher Stärke blies.

Ich richtete mich auf und warf einen Blick in die Runde. Die Schönheit dieses Ausblicks spottet jeder Beschreibung.

Durch Gefahren und Widrigkeiten hatten wir uns zu diesem Ziel vorgearbeitet – und ich hatte einen Sieg errungen, der nicht mein Sieg, sondern der Sieg einer Welt war, einer Welt und ihrer Schönheit. Ich hatte hier nicht einen Berg erobert, sondern der Berg schenkte mir einen Blickpunkt, der mich erkennen ließ, wie unbedeutend ich war und wie schön und kostbar die Wirklichkeit und das Leben und der Sonnenschein auf einer öden, kalten Landschaft waren. Ivar stand schweigend neben mir.

»Du bist schon einmal hier gewesen«, sagte ich, »als Junge.«

»Ja«, sagte Ivar. »Und ich habe es nie vergessen.«

»Bist du hierhergekommen, um zu sterben?«

»Nein. Aber ich habe sie nicht finden können.«

Ich sah ihn verwirrt an.

»Ich habe sie damals nicht finden können und finde sie auch jetzt nicht.«

»Was?« fragte ich.

»Unwichtig«, erwiderte er und wandte sich ab.

Von unten näherten sich die beiden Kurii. Wir beobachteten sie. Die Wesen richteten sich auf und blickten ebenfalls in die Ferne.

Dann wandten sie sich in unsere Richtung. Wir zogen unsere Waffen, und die Kurii nahmen ihre Äxte und Schilde zur Hand.

Ivar und ich sprangen von dem Felsen, auf dem wir gestanden hatten. Die beiden Kurii näherten sich von links und rechts. Sie hatten die Ohren angelegt und bewegten sich sehr vorsichtig.

Die große Axt fuhr auf mich zu. Ich rollte durch den Schnee ab und versuchte nach vorn zu hechten, um mit der Klinge zuzustoßen. Doch ich glitt aus. Die Axt bohrte sich dort in den Boden, wo ich eben noch gestanden hatte. Ein Granitbrocken traf mich schmerzhaft. Ich taumelte zurück. Der Kur ließ sich Zeit und lauerte mit erhobener Axt. Ich sah seine Augen über dem Schild. »Ha!« brüllte ich und tat, als wollte ich angreifen. Die Axt bewegte sich etwas, wurde aber nicht geschwungen. Dann schnaubte das Wesen und hob die Axt. Ich wußte, daß die Klinge mich nicht rechtzeitig erwischen konnte, und griff an. Und genau das hatte sich der Kur erhofft. Er hatte mich hereingelegt! Mit gewaltiger Kraft traf mich der schwere Schild von der Seite, schleuderte mich vierzig Fuß durch die Luft. Halb geblendet vor Schmerz rollte ich durch den Schnee. Wieder dröhnte die Axt auf Granit, und wieder traf mich der Schild wie ein Hammer. Ich richtete mich taumelnd auf. Mein linker Arm war gefühllos, vermutlich gebrochen. Meine Schulter fühlte sich wie Holz an. Und die Axt fuhr erneut hoch. Aufschreiend verlor ich das Gleichgewicht und stürzte über einen Felsabhang. Zwanzig Fuß tiefer landete ich im Schnee. Zu meiner Rechten erblickte ich eine kleine dunkle Öffnung, die etwa einen Fuß breit und hoch war. Ich taumelte darauf zu. In der Höhle ging es in gleicher Höhe weiter. »Ivar!« brüllte ich. »Ivar!« Ich hörte den Blutschrei eines Kur, den ich nicht sehen konnte. Ivar machte kehrt und sprang zu mir herunter in den Schnee. Die beiden Kurii standen wutschnaubend über uns. Ich deutete auf die Öffnung. Mit blitzenden Augen untersuchte Forkbeard meinen Fund. Ich bewegte die Finger meiner linken Hand. Ich hatte Gefühl im Arm, doch ich wußte noch nicht, ob er gebrochen oder nur geprellt war. Ich steckte das Schwert wieder in die Scheide; Ivar nickte und zwängte sich rücklings durch die schmale Öffnung. Ich folgte ihm. Forkbeard half mir, zerrte mich hinein. Im nächsten Augenblick schob sich ein langer Kur-Arm durch die Öffnung zu uns herein. Forkbeard schlug mit dem Schwert danach, und der Kur zog sich mit einem Schmerzensschrei zurück. Die beiden Ungeheuer setzten sich einige Fuß von der Höhlenöffnung entfernt in den Schnee. Kurii sind geduldige Jäger. Sie würden warten.

Ich rieb mir die Schulter und hob den linken Arm. Er war offenbar nicht gebrochen.

»Komm mit!« sagte Ivar aufgeregt.

Ich fragte mich, wie tief die enge Höhle sein mochte. Auf Händen und Füßen kroch ich hinter dem Torvaldsländer her.

»Hier!« sagte Ivar. »An der Wand!«

Er führte meine Finger zu einer Stelle an der Felswand. Ich spürte vertikale Zeichen, die rechtwinklige Verlängerungen hatten.

»Du hast sie gefunden!« rief Forkbeard. »Du hast sie gefunden!«

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