15

Auf allen vieren kroch ich hinter Forkbeard durch den engen Gang, wobei ich mich einmal auf die linke Seite drehen mußte, um mich durch eine schmale Öffnung zu winden. Dahinter schien mehr Platz zu sein, und ich hob vorsichtig die Hände und richtete mich auf. Ich hörte Forkbeard in der Dunkelheit herumtasten. Dann ertönte das Schlagen von zwei kleinen Stücken Eisenpyrit. Im nächsten Augenblick sprühten Funken, die in einen kleinen Haufen aus winzigen Mooszweigen fielen. Mehrere dieser Haufen, etwa fünfzehn Zentimeter hoch, lagen auf einem Felsvorsprung, daneben verschiedene Feuersteine und Stahlstücke. Ich erschauderte.

Forkbeard hatte eine Fackel gefunden, die er an das glimmende Moos hielt. Ich zog eine zweite Fackel aus einem Metallring an der Wand und stieß sie ebenfalls in die Glut.

Keiner von uns sagte etwas.

Der Gang verlor sich vor uns in der Dunkelheit. Er war etwa acht Fuß hoch und ebenso breit. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine Reihe von Ringen mit dunklen Fackeln. Links und rechts befanden sich Buchstaben einer hohen, eckigen Schrift an den glattgemeißelten Wänden.

»Alte Runen«, sagte Ivar.

»Kannst du sie lesen?«

»Nein.«

Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Ich betrachtete eine der Darstellungen. Sie zeigte einen Mann auf dem Rücken eines Vierbeiners.

»Schau mal«, sagte ich, und deutete darauf.

»Interessant. Ein Reiter auf einem Fabeltier – aber die Sage kenne ich nicht.«

Ich starrte auf das Bild. So etwas hatte ich auf Gor noch nie gesehen. Ich fragte mich, wer dieses Bild in den Fels gemeißelt hatte. Es war sehr alt. Offenbar hatte der Künstler eine Welt gekannt, von der Ivar Forkbeard keine Ahnung hatte. Das vierbeinige Wesen war eindeutig ein Pferd.

Der Gang wurde jetzt so breit, daß wir uns darin verloren vorkamen. Die Reliefs und Ornamente nahmen an Vielfalt und Farbigkeit zu. Ringsum steckten dunkle Fackeln in ihren Ringen.

»Kannst du diese Runen nicht lesen?« fragte ich Ivar.

»Ich bin doch kein Runenpriester«, erwiderte er entrüstet.

Seine Reaktion war ziemlich mürrisch. Ich wußte, daß er einige Runen zu lesen vermochte. Die Zeichen hier waren vielleicht zu alt oder entsprachen einem Dialekt, den er nicht kannte.

»Aber hier ist ein Zeichen, das jeder Dummkopf kennt.«

Auch ich hatte den Buchstaben schon oft gesehen – aber niemand hatte ihn mir bisher erklärt.

»Was bedeutet er?« fragte ich.

»Weißt du das wirklich nicht?«

Er wandte sich ab, und ich folgte ihm. Kurz darauf nahmen wir neue Fackeln von den Wandringen, entzündeten sie und löschten die alten.

Nun kamen wir an verschiedenen offenen Truhen vorbei, in denen Schätze ruhten – Münzen und Edelsteine, Ringe und Armbänder. Danach erreichten wir einen großen Torbogen, den Eingang zu einem riesigen Raum, der sich außerhalb des flackernden Lichtscheins unserer Fackeln im Dunkeln verlor.

Forkbeard deutete mit der Fackel auf das große Zeichen über dem Tor, das Zeichen, das er mir eben nicht erklärt hatte.

»Ich glaube, ich weiß, was das Zeichen bedeutet«, sagte ich.

»Und?«

»Es ist das Namenszeichen Torvalds«, sagte ich.

»Ja.«

»Torvald«, sagte ich erschaudernd, »ist doch nur eine Gestalt der Legenden. Jedes Land hat solche sagenhaften Helden und Gründer, seine mystischen Riesen.«

»Dies«, sagte Forkbeard, »ist die Kammer Torvalds. Wir haben die Ruhestätte Torvalds gefunden! Torvald schläft im Torvaldsberg, und zwar seit tausend Jahren. Er wartet darauf, geweckt zu werden. Sobald sein Land ihn braucht, wird er erwachen. Und dann wird er uns in den Kampf führen. Er wird wieder Anführer sein für die Männer des Nordens.«

»Es gibt keinen Torvald«, sagte ich.

»Wir müssen ihn wecken.«

Bekümmert blickte ich hinter Forkbeard her, der mit erhobener Fackel in die große Kammer trat. Es wollte mir nicht unmöglich erscheinen, daß die Sagen um Torvald ein Körnchen Wahrheit enthielten. Es mochte einmal einen Torvald gegeben haben, einen Mann, der vor über tausend Jahren in dieses Land gekommen war. Doch heute gab es diesen Mann nicht mehr. Es bedrückte mich, wenn ich daran dachte, welche Enttäuschung auf meinen leichtgläubigen Freund Forkbeard wartete.

Seine Hoffnung, einen sagenumwitterten Helden zu finden, der die Männer des Nordens zu den Waffen rief, um sie gegen die Kurii zu führen, mußte enttäuscht werden.

Dieser Höhlenraum, das wußte ich, war von Menschen geschaffen worden. Vielleicht handelte es sich tatsächlich um die Grabkammer Torvalds, die seit vielen Jahrhunderten vergessen war, bis jetzt zwei fliehende Männer zufällig wieder darauf stießen. Vielleicht traf es zu, daß Torvald im Torvaldsberg begraben und daß seine Grabstätte versteckt worden war, um sie vor Neugierigen und Grabräubern zu schützen. Und wenn dem so war, konnten sich wirklich Legenden darum gerankt haben, Legenden, in denen das Rätsel des verlorenen Grabes eine große Rolle spielte. Diese Geschichten waren in den langen Winternächten bestimmt immer wieder an den Feuern erzählt worden und hatten sich von Dorf zu Dorf ausgebreitet, von einem einsamen Hof zum ändern. Und in einer dieser Sagen mochte tatsächlich zum Ausdruck kommen, daß der große Torvald gar nicht tot war, sondern nur schlief und wieder erwachen würde, wenn sein Land ihn brauchte.

Forkbeard stand nun neben der großen Steinbank, die mit schwarzen staubigen Fellen bedeckt war.

Am Fuß der Bank befanden sich Waffen, am Kopfende hingen an der Felswand unter einem großen Schild zwei gekreuzte Speere und daneben ein gewaltiges Schwert in einer Scheide. Neben dem Kopfende ruhte auf einer Steinplattform ein großer Helm mit Hörnern.

Forkbeard sah mich an.

Die Bank war leer.

Er sagte nichts. Er setzte sich auf die Kante der Bank und stützte den Kopf in die Hände. Seine Fackel, die auf dem Boden lag, flackerte und erlosch. Forkbeard rührte sich nicht. Im Gegensatz zu den meisten anderen Goreanern weinten die Torvaldsländer selten. Nun stieg ein trockenes Schluchzen in seiner Kehle auf. Natürlich ließ ich mir nicht anmerken, daß ich diesen Laut gehört hatte.

»Wir haben verloren«, sagte er schließlich. »Rothaar, wir haben verloren.«

Ich hatte eine neue Fackel angezündet und sah mich in der Kammer um. Torvald hatte sich also doch nicht in seinem Grabmal begraben lassen. Die Stätte des Todes war leer.

»Wo ist Torvald?« rief Ivar Forkbeard.

Ich zuckte die Achseln.

»Es gibt keinen Torvald!« fuhr Forkbeard fort. »Torvald existiert gar nicht! Nicht einmal seine Gebeine sind hier.«

»Torvald war ein großer Kapitän«, sagte ich. »Vielleicht ist er an Bord seines Schiffs verbrannt, das Schwarzer Hai hieß – das hast du mir selbst gesagt.« Ich sah mich um. »Aber wenn das so wäre, warum ist dann dieses Grabmal gebaut worden?«

»Dies ist kein Grab«, sagte Ivar Forkbeard. »Dies ist eine Schlafkammer. Es gibt hier keine Knochen von Tieren oder Thralls – die Reste von Opfern.« Er sah sich um. »Warum hat Torvald eine Schlafkammer in den Torvaldsberg meißeln lassen?«

»Damit die Menschen seines Landes zum Torvaldsberg kommen, um ihn zu wecken«, sagte ich.

Forkbeard sah mich an.

Zwischen den Waffen am Fußende der Bank zog ich einen langen dunklen Pfeil hervor. Er war über einen Meter lang, der Schaft war mindestens zwei Zentimeter dick. Die Spitze bestand aus Eisen und hatte Widerhaken. Die Federn am anderen Ende waren gut fünfzehn Zentimeter lang; Federn der Küstenmöwe.

Ich hob den Pfeil. »Was ist das?«

»Ein Kriegspfeil.«

»Und was ist das hier für ein Zeichen an der Seite?«

»Das Zeichen Torvalds.«

»Warum befindet sich der Pfeil wohl hier?« fragte ich.

»Damit die Kämpfer ihn finden?«

»Das nehme ich auch an.«

Er hob die Hand und nahm mir den Pfeil ab.

»Sende den Kriegspfeil aus«, sagte ich.

Forkbeard betrachtete den Pfeil.

»Ich glaube, ich beginne einen Mann zu verstehen, der vor mehr als tausend Wintern gelebt hat«, sagte ich. »Dieser Mann, nennen wir ihn ruhig Torvald, schuf in einem Berggipfel eine Schlafkammer, in der er aber nicht schlafen wollte, sondern in die andere Menschen kommen sollten, um ihn zu wecken. Doch hier sollten sie nicht Torvald finden, sondern sich selbst, sich selbst, Ivar, allein und mit einem Kriegspfeil.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich glaube, Torvald war ein großer und weiser Mann«, sagte ich. »Als Torvald diese Kammer schuf, hatte er nicht die Absicht, sich selbst hier wecken zu lassen, sondern es sollten diejenigen erwachen, die zu ihm kommen wollten.«

»Die Kammer ist leer«, sagte Ivar. »Nein«, erwiderte ich. »Wir sind hier.«

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nicht Torvald muß in dieser Kammer erwachen, sondern wir. In der Hoffnung, daß andere die Arbeit für uns tun, finden wir hier nur uns selbst und einen Kriegspfeil. Ist dies nicht Torvalds Art, uns aus einer tausendjährigen Vergangenheit zu sagen, daß wir uns nur auf uns selbst verlassen können und nicht auf andere? Wenn das Land gerettet werden soll, dann von uns und anderen wie uns. Es gibt keine Zaubersprüche, keine Götter, keine Helden, die uns retten werden. In dieser Kammer soll nicht Torvald zum Leben erweckt werden, sondern du und ich.« Ich sah Forkbeard an. »Hebe den Pfeil des Krieges«, sagte ich.

Und ich trat mit erhobener Fackel von der Bank zurück. Mit entschlossenem Gesicht hob Forkbeard den Arm, den Pfeil in der Faust.

Ich war nicht einmal ein Torvaldsländer, und doch war ich als einziger zugegen, als der Kriegspfeil gehoben wurde, tief unter den Felsen des Torvaldsberges.

Dann schob Forkbeard den Pfeil in seinen Gürtel, bückte sich und begann die Waffen durchzusehen. Er wählte zwei Speere aus und reichte mir einen. »Wir müssen noch zwei Kurii töten«, sagte er.

Загрузка...