Murithel — eine Stunde vor Sonnenaufgang

Wuju hatte einige Schwierigkeiten mit dem unebenen, steinigen Boden, aber sie waren vierzig Kilometer in das Hex vorgerückt, ohne einer der vorherrschenden Lebensformen zu begegnen.

Sie hörten ein Flattern, dann landete Cousin Bat vor ihnen.

»Ein wenig höher gibt es eine brauchbare versteckte Höhle«, sagte er leise. »Ein guter Platz für das Lager. Ein kleiner Stamm Murnies befindet sich auf der anderen Seite dieser Bäume dort, aber es scheint ein Jagdtrupp zu sein, der auf der Ebene bleiben dürfte.«

Cousin Bat führte sie hinauf zur Höhle. Es begann, schon hell zu werden, als sie sie erreichten. Sie konnten von der Höhle aus kilometerweit sehen, dank der Form der Felsen und Steinblöcke vor dem Eingang, aber nicht von unten gesehen werden.

»Ich übernehme die erste Wache«, sagte Brazil. »Wuju ist todmüde, und Sie sind die halbe Nacht herumgeflogen, Bat.«

Die anderen legten sich zur Ruhe, Brazil setzte sich an den Höhleneingang und sah die Sonne heraufkommen. Die Luft war frisch und kühl, aber nicht unangenehm. Vermutlich 18 Grad Celsius, dachte er, hohe Luftfeuchtigkeit. Das in der Ferne drohende Gewitter war noch nicht näher gerückt.

Die Sonne stand hoch über den fernen Bergen, als er die ersten Murnies sah, eine kleine Gruppe, kaum ein Dutzend, hinter einem rehartigen Tier herstürmend. Sie waren über zwei Meter groß, schätzte er, obwohl das bei dieser Entfernung schwer zu bestimmen war, fast rechteckig, durchgehend hellgrün, sehr schmal — auf unfaßbare Weise schmal, denn als einer sich zur Seite drehte, konnte er ihn kaum noch erkennen. Aus der Ferne wirkten sie wie hellgrün bemalte Sträucher. Zwei Arme, zwei Beine — aber wenn sie still standen, floß alles ineinander.

Er war erstaunt darüber, daß er auf diese Entfernung Einzelheiten erkennen konnte. Ihre gelben Augen mußten größer sein als Eßteller, dachte er, und diese Münder — riesenhaft, schienen sie quer über den ganzen Körper zu verlaufen und gaben den Blick auf Rötliches frei, wenn sie geöffnet wurden. Und sie hatten Zähne — selbst von hier aus sah er, daß sie weiße, große Dolche waren.

Sie waren ungeschickte Jäger, holten das braune Tier aber ein, umringten es und stachen es mit Speeren tot, rissen Fleischklumpen heraus und stopften sie sich in die Münder, rauften sogar miteinander. Innerhalb von wenigen Minuten hatten sie das ganze Tier verschlungen, samt den Knochen. Es mußte 150 Kilogramm gewogen haben. Dann huschten sie davon.

Sieben Tage, dachte er. Bei unserer Geschwindigkeit werden wir sieben Tage in ihrem Land sein. Und das auch nur, wenn alles gutgeht. Warum hatte er nur zugelassen, daß Wuju mitgekommen war. Allein, oder auch mit Cousin Bat, wäre es kein Problem gewesen.

Was war die Liebe wirklich? Sie hatte gesagt, Liebe sei es, wenn einem ein anderer wichtiger sei als die eigene Person.

Nur müde, hatte der Zentaur in seinem Traum gesagt. Er war auch müde. Er hatte es satt, blind durch seine vielen Leben zu rennen. Was gingen ihn die Murnies an, was scherte ihn Skander?

Warum habe ich so lange gelebt? dachte er. Nicht altern war nicht genug. Die meisten Leute starben ohnehin nicht an hohem Alter. Irgend etwas brachte sie vorher ums Leben.

Ihn nicht.

Er hatte stets überlebt. Mitgenommen, blutend, tausende Male halb tot, aber irgend etwas in ihm wollte ihn nicht sterben lassen.

Er erinnerte sich plötzlich an den Fliegenden Holländer, der mit einer Geistermannschaft die Meere der Welt umsegelte, allein, bis auf einen kurzen Urlaub alle fünfzig Jahre, verdammt, bis eine schöne Frau ihn so innig liebte, daß sie bereit war, ihr Leben für ihn hinzugeben.

Wer befiehlt dem Holländer? fragte er den Wind. Wer hat ihn zu seinem Schicksal verdammt?

Das ist Psychologie, dachte er. Der Holländer, Diogenes — das bin alles ich. Deshalb bin ich anders.

Alle die Millionen im Lauf der Jahrhunderte, die sich getötet haben, als niemand sich um sie scherte. Nicht ich, ich bin verflucht.

Dieser Mann aus — wie hieß das Land? England, ja. Orwell. Hatte ein Buch geschrieben, in dem stand, daß eine totalitäre Gesellschaft sich durch die grundlegende Eigensucht des einzelnen aufrechterhält. Als es darauf ankam, verrieten Held und Heldin einander.

Jeder glaubte, er spräche von der Angst vor einem zukünftigen totalitären Staat, dachte Brazil bitter. Das stimmte nicht. Er sprach von den Menschen um ihn herum, in seiner eigenen aufgeklärten Gesellschaft.

Du warst zu gut für diese schmutzige kleine Welt, hatte er gesagt, aber er war geblieben. Warum? Im Scheitern?

Wessen Scheitern? fragte er sich plötzlich verwirrt. Er hatte die Antwort beinahe, aber sie entglitt ihm wieder.

Plötzlich nahm er hinter sich eine Bewegung wahr und fuhr herum. Wuju kam langsam heran. Er betrachtete sie forschend, als hätte er sie noch nie gesehen. Ein schokoladenbraunes Mädchen mit spitzen Ohren, verschmolzen mit einem braunen ShetlandPony. Und trotzdem paßte es, dachte er. Zentauren wirkten stets edel und schön.

»Sie hätten einen von uns rufen sollen«, sagte sie leise. »Die Sonne steht fast senkrecht. Ich dachte, Sie schlafen.«

»Nein«, erwiderte er träge. »Habe nur nachgedacht.«Er blickte hinunter in das Tal, in dem es jetzt von rehähnlichen Tieren und Murnies zu wimmeln schien.

»Worüber?«

»Über Dinge, an die ich ungern denke«, sagte er rätselhaft. »Sie suchen mich heim, auch wenn ich nichts davon weiß.«

Sie beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange.

»Ich liebe dich, Nathan«, flüsterte sie.

Er stand auf und ging in die Höhle hinein. Im Vorbeigehen tätschelte er ihr Hinterteil. Als er sich neben Cousin Bat ausstreckte, sagte er ganz leise, mit einem schiefen Lächeln, zu sich selbst:»Tust du das, Wuju? Tust du das wirklich?«

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