Murithel — irgendwo im Inneren

»Wir sind in Schwierigkeiten«, sagte Nathan Brazil halblaut.

Drei Tage waren sie jetzt unterwegs, zumeist im Schutz der Dunkelheit, geleitet von Cousin Bats überscharfem Sehvermögen bei Nacht und dem eingebauten Sonar. Sie waren an Hunderten, vielleicht Tausenden der blutdurstigen Murnies vorbeigekommen, hatten unglaubliches Glück gehabt und wußten es. Aber nun hörte das Gebirge auf.

Sie erreichten plötzlich eine steile Felswand. Vor ihnen, Richtung Osten, breitete sich endlose Prärie aus.

Das Land war zu dieser Jahreszeit noch trocken, aber die Prärie war von gelbem Gras mit rötlichen Blüten bedeckt. Und es gab Herden mit Tausenden, vielleicht Zehntausenden der Antilopen, von denen die Murnies sich ernährten.

In Gruppen von drei oder vier Zelten aus Tierhäuten, nie mehr als sieben Gruppen auf einmal, waren zahllose Murnie-Lager aufgeschlagen.

Brazil starrte auf die Szene, und irgend etwas störte ihn.

»Wie wollen wir da jemals durchkommen?«sagte Wuju. »Wir können nicht gegen sie alle kämpfen, nicht einmal im Dunkeln.«

»Wir schlagen hier erst einmal unser Lager auf«, sagte Cousin Bat, »und heute nacht fliege ich hinüber und stelle fest, wie weit wir wirklich kommen müssen, um Deckung zu finden. Vielleicht fällt euch etwas ein, bis ich zurückkomme.«

Sie einigten sich auf dieses Vorgehen, schürften eine Nische in den Steinsims und versuchten zu schlafen, zuerst mit Brazil als Wache, dann mit Bat und schließlich mit Wuju, wie es sich eingespielt hatte.

Nathan Brazil träumte wieder seine seltsamen Träume, als er wachgerüttelt wurde.

»Nathan«, flüsterte Wuju drängend, »aufwachen. Es ist fast dunkel.«

Er stand auf und versuchte, den Schlaf abzuschütteln. Sie stanken alle nach Schweiß und Kot, und Brazil fragte sich nebenbei, ob die Murnies gute Witterung besaßen. Er war überzeugt davon, daß er sie an ihrer Stelle auf fünf Kilometer gerochen hätte.

Brazil ging lautlos zu Bat.

»Alles bereit?«fragte er das Nachtwesen.

»Der Wind kommt aus der falschen Richtung«, erwiderte die Fledermaus. »Wenn die Ebene zu groß ist, muß ich mindestens einmal landen. Das behagt mir nicht.«

»Ich möchte, daß Sie auf jeden Fall einmal landen und versuchen, mir eine Handvoll von dem Gras mitzubringen.«

»Haben Sie etwas im Sinn?«

»Vielleicht«, sagte er. »Wenn wir Glück haben — und wenn wir nicht zur Grenze flüchten müssen.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann. Wir müssen in einem Schwung hier durch, wissen Sie. Wenn wir uns erst einmal festgelegt haben, gibt es kein Versteck.«

Brazil sah ihn merkwürdig an.

»Wissen Sie, ich kann Sie einfach nicht ausrechnen«, sagte er.

»Was gibt es da auszurechnen? Es geht auch um meinen Hals.«

»Warum fliegen Sie nicht einfach darüber hinweg? Es geht vielleicht nicht in einem Zug, aber Sie könnten sich die Stellen aussuchen. Warum bleiben Sie bei uns?«

Die Fledermaus zeigte ihr Rattengebiß.

»Um die Wahrheit zu sagen, ich habe mir das vor allem in den letzten Tagen ein paarmal überlegt. Es ist außerordentlich verlockend, jetzt erst recht, aber ich kann nicht.«

»Warum nicht?«fragte Brazil verständnislos.

Die Fledermaus überlegte eine Weile.

»Sagen wir nur soviel: Ich war schon einmal in der Lage, Leuten zu helfen, die in Gefahr schwebten. Ich möchte nicht noch mehr Leute auf dem Gewissen haben.«

»Wir müssen alle unser Kreuz tragen«, erklärte Brazil verständnisvoll. »Ich erst recht.«

»Es läuft auf mehr hinaus als auf das Gewissen, Brazil«, erwiderte Cousin Bat ernsthaft. »Ich habe andere Menschen gekannt. Sie wollten, wie ich, Macht, Reichtum, Ruhm — alle die Gründe für das Streben. Sie logen, betrogen, stahlen, folterten, töteten sogar dafür. Ich will diese Dinge auch, Brazil, aber habe ich ein größeres Recht darauf als sie? Vielleicht macht die Tatsache, daß sie Sie im Stich lassen würden, und ich nicht, mich ihnen überlegen, ich weiß es nicht.«Damit flog er in die Dunkelheit, als die Sonnenstrahlen hinter den Felsen im Westen verzuckten.

»Was für ein seltsamer Mann«, meinte Wuju verwundert.

»Fledermaus, meinst du«, sagte er mit tonlosem Lachen. »Er hat da offener gesprochen, als ich dachte. Aber seltsam ist nicht das richtige Wort. Ungewöhnlich, vielleicht. Wenn er die Wahrheit gesagt hat, ist er ein guter Freund, ein besonders übler Feind und möglicherweise einer der gefährlichsten Menschen auf diesem Planeten.«

Sie begriff nicht, wovon er sprach, ging aber auch nicht weiter darauf ein. Sie hatte etwas viel Wichtigeres auf dem Herzen.

»Nathan«, fragte sie leise, »müssen wir sterben?«

»Ich hoffe nicht«, sagte er leichthin. »Mit etwas Glück —«

»Die Wahrheit, Nathan«, unterbrach sie ihn. »Wie sind unsere Chancen?«

»Nicht gut«, antwortete er offen. »Aber ich habe in meinem langen Leben schon ebenso Schlimmes oder Schlimmeres durchgemacht. Ich überlebe, Wuju. Ich —«Seine Stimme brach plötzlich, und er wandte sich ab. Sie begriff, und in ihre Augen traten kleine Tränen.

»Aber die Leute rings um dich herum nicht«, ergänzte sie. »Das ist es, nicht wahr? Das ist das Kreuz, das du trägst. Wie oft bist du schon der einzige Überlebende gewesen, Nathan?«

Er starrte eine Weile in die Dunkelheit hinaus, dann sagte er, ohne sich umzudrehen:»So weit kann ich nicht zählen, Wuju.«


* * *

Cousin Bat kam nach einer guten Stunde zurück. Brazil und Wuju beschäftigten sich in ihrem Unterschlupf, und er war neugierig. Sie sahen auf, als er näherkam, und Brazil sagte nur:»Nun?«

»Fünf Kilometer, mehr oder weniger«, erwiderte die Fledermaus ruhig. »Bevor man viel weiter kommt, gibt es einen steilen Abfall zu einem Flußtal. Schlammufer mit trägem Wasser, das sich kaum bewegt.«

Brazils Miene schien sich aufzuhellen.

»Können wir praktisch geradeaus durch?«fragte er.

»Ja. Unten stelle ich euch auf und zeige euch die Richtung. Ich fliege über euch, damit ihr auf der Linie bleibt.«

»Gut. Und was ist mit den Antilopen?«

»Es sind Zehntausende. In großen Gruppen beieinander. Aber keine zu nah bei uns.«

»Ausgezeichnet«, sagte Brazil erregt. »Und jetzt das Wichtigste — haben Sie von dem Gras etwas mitgebracht?«

Cousin Bat ging ein Stück zurück, griff nach einem Büschel Gras und brachte es Brazil, der es aufhob, untersuchte, betastete, sogar hineinbiß. Das Gras war spröde und brach, wenn man es zu stark verbog.

»Nur aus Neugier, was machen Sie da?«fragte die Fledermaus.

Brazil griff in eine Tasche und zog eine Handvoll der winzigen Stäbchen heraus.

»Streichhölzer«, sagte er. »Habt ihr nicht nachgedacht? Habt ihr euch nicht umgesehen draußen auf der Ebene?«

Sie starrten ihn verständnislos an.

»Ich habe nichts gesehen außer Antilopen, Murnies und Gras«, sagte Wuju schließlich.

»Nein, nein! Nicht, was ihr seht. Was ihr nicht seht. Sagt mir, was ihr draußen seht.«

»Nichts als Dunkelheit«, erklärte Wuju.

»Nichts als schlafende Antilopen, Murnies und Gras«, meinte Bat.

»Genau!«sagte Brazil aufgeregt. »Aber was ihr nicht seht, irgendwo da draußen, ist etwas, das wir in jedem Lager der Murnies gesehen haben, an dem wir bisher vorbeigekommen sind.«

Sie begriffen immer noch nicht, und er sagte nach einer Pause:»Hört mal, warum zünden die Murnies Lagerfeuer an? Nicht, um ihre Nahrung zu kochen — sie essen sie roh, sogar oft lebendig. Es liegt daran, daß sie es für kalt halten? Und natürlich, um sich nachts vor den Hunderudeln zu schützen. Es muß sehr wichtig für sie sein, sonst hätten wir die Lagerfeuer nicht überall gesehen. Aber draußen auf der Prärie gibt es keine. Keine Lichtpunkte, keine Funken, nichts. Und das Flußbett ist breit, das Wasser seicht und fließt kaum. Versteht ihr jetzt?«

»Ich glaube schon«, sagte Wuju zögernd. »Es ist die Trockenzeit. Draußen auf dem Grasland übersteigt ihre Furcht vor einem Buschfeuer ihre Angst vor den Hunden oder ihre Sehnsucht nach Wärme.«

»Es muß sein wie Zunder«, sagte Brazil. »Wenn sie vor jedem Feuer Angst haben, muß es so trocken sein, daß eine Kleinigkeit genügt, um es zu entzünden. Wenn der Wind richtig steht, könnten wir es ihnen so heiß machen dort unten, daß wir für sie das Unwichtigste sind.«

»Der Wind steht ideal«, sagte Bat.

»Gut.«Brazil zog sich nackt aus und sprang auf Wujus Rücken. Er zog das Hemd unter den Achseln zusammen. »Nimm die Enden an beiden Seiten und knote sie fest um dich. Nein! Ganz fest, sage ich. So fest es geht. Ja, schon besser.«Dann zog er die dehnbare Hose um sich und band sie vor ihr zusammen. Es dauerte einige Minuten, bis er, rücklings auf ihr reitend, zufrieden war. Vor sich hatte er den Rucksack, die beiden Taschen voll Streichhölzer waren in Griffweite. Dann rieb er sich mit dem Kochfett dick ein.

Cousin Bat nickte zustimmend. Die zwei sahen einander stumm an, dann setzte sich die Fledermaus in Bewegung. Wuju folgte ihm. Brazil verfluchte die Tatsache, daß er nichts sehen konnte.

»Halt!«rief er plötzlich, und die anderen erstarrten. »Deine Haare, Wuju. Du mußt sie zusammenbinden. Nimm das alte Hemd. Den Säbel mußt du ohnehin tragen.«

Sie zog die Haare nach vorn und über ihre linke Brust, damit sie die Waffe in ihrer rechten Hand nicht behinderten. Brazil war nun dreifach festgeknotet und kam sich vor, als würde er in Stücke zerschnitten, aber genauso wollte er es haben.

Sie hatten den Plan oft genug durchgesprochen, aber Brazil war immer noch nervös. Wuju konnte bis zu fünfunddreißig Kilometer in der Stunde schaffen, aber nur auf kurzen Strecken. Sie würde über fünf Kilometer weit mit voller Kraft laufen müssen, dann einen Graben hinunter und weiter, solange sie konnte.

Cousin Bat flog hinauf und kreiste eine Minute, die ihnen wie eine Stunde erschien. Dann hörten sie ihn hinter sich herankommen.

»Jetzt«, sagte das Fluggeschöpf. »Los!«

Wuju hetzte mit höchster Geschwindigkeit über die Prärie.

Brazil sah die Gräser hinter ihr verschwinden und klammerte sich fest. Er saß auf einer knochigen Stelle und wurde wild durchgerüttelt. Obwohl die Nacht klar war und er gut sah, konnte er die Berge schon nicht mehr erkennen.

Los, Wuju! dachte er angespannt. Weiter!

»Etwas nach rechts«, tönte Bats Stimme von oben herunter, und sie gehorchte. »Zuviel!«Sie hörte die Stimme der Fledermaus zwei oder drei Meter über sich:»Richtig. Jetzt geradeaus.«

Brazil geriet in Panik, als die Verschnürung sich lockerte, und klammerte sich am Rucksack fest. Plötzlich platzten die Knoten der oberen beiden Schnüre, und er prallte mit dem Kopf gegen den Rucksack, der festgeschnallt war.

»Nathan!«hörte er Wuju keuchend rufen.

»Nur weiter!«schrie er.

Plötzlich schwoll Lärm um sie an, Grunzen, Stöhnen, Geschrei.

»Nathan!«kreischte sie. »Sie sind vor uns!«

»Lauf einfach auf sie zu, so schnell du kannst!«schrie er. »Hau mit deinem Säbel zu!«Er packte die Streichhölzer, zündete sie an den harten Ledergurten an. Sie flammten auf, erloschen aber im Wind sofort.

Plötzlich raste Wuju in sie hinein, und sie brüllten und hieben nach ihr. Sie stach die ersten nieder und stellte fest, daß die Waffe wie durch Butter zu gehen schien. Einmal, zweimal noch stach sie zu, und sie kreischten vor Schmerzen auf und umklammerten ihre Wunden.

Und dann war sie hindurch.

»Noch welche voraus?«brüllte Brazil.

»Noch nicht«, rief Bat herunter, »weiter!«

»Es sind genug hinter uns!«schrie Brazil. »Lauf langsamer, damit ich wenigstens ein Streichholz anzünden kann!«

Wuju wurde langsamer, und er versuchte es wieder. Die Streichhölzer brannten in seiner Hand, gingen aber aus, bevor sie zu Boden fielen.

»Brazil!«rief Bat aufgeregt. »Ein ganzer Haufen von ihnen! Ganz schnell von rechts!«

Plötzlich stürmte aus dem Gras eine Gruppe von sechs oder sieben Murnies auf sie zu. Nathan spürte einen sengenden Schmerz in seinem rechten Bein. Ein Murnie sprang hoch und erwischte Wuju am Rücken, hieb ihr eine tiefe Wunde kurz vor dem Rucksack in den Leib. Sie kreischte, bäumte sich auf, schlug mit dem Säbel zu.

Brazil klammerte sich auf irgendeine Weise fest und riß mit einer Kraft, die ihn selbst überraschte, eine der Taschen voll Streichhölzer ab. Er zündete eines an und warf es in die Tasche. Die Zündhölzer explodierten, und er warf das ganze Ding ins Gras.

Eine Minute lang geschah nichts, und Wuju hetzte auf die Murnies zu, wo scheinbar eine Lücke entstanden war. Sie hatten einen Jagdkreis gebildet, die Speere angriffsbereit in den Händen.

Plötzlich flammte die ganze Welt auf.

Was sie alle betäubte, war die Plötzlichkeit und Heftigkeit.

Mein Gott! dachte Brazil. Es ist, als wäre das ganze Zeug aus Zellulose!

Brazil sah Cousin Bat auf einen Murnie herabstoßen und mit den handähnlichen Füßen wie mit Fäusten zustoßen. Der riesenhafte grüne Wilde brach zusammen.

Die ganze Welt wurde plötzlich taghell. Vor sich sahen sie das Flußtal wie einen Spalt im Land.

Die Murnies begannen, zu kreischen und davonzustürmen. Die Antilopen gerieten in Panik und hetzten in allen Richtungen davon, trampelten viele Murnies nieder.

Wuju sprang in die Schlucht und verlor das Gleichgewicht, überschlug sich, stürzte den steilen Hang hinunter. Brazil wurde davongeschleudert und landete am Ufer. Er blieb eine Minute betäubt liegen, dann raffte er sich auf und schaute sich um. Vom Feuer oben war noch der Widerschein zu erkennen, aber hier unten im Tal herrschten fast völlige Dunkelheit und Stille.

Dumpf und schwindlig rannte er das Tal hinunter. Er suchte nach Wuju, konnte sie aber nirgends finden.

»Wuju!«schrie er heiser. »Wuju!«Doch seine Stimme richtete nichts aus gegen den Lärm über ihm, die Schreie von den Flammen erfaßter Tiere und in Panik flüchtender Murnies, von denen viele über die Kante ins Tal stürzten.

Er lief zum schlammigen Ufer, in den Fluß hinein und folgte ihm. Der steinige Boden verletzte ihm die Füße, aber er nahm die Schmerzen nicht wahr, rannte, ohne zu denken, ziellos den Fluß hinunter.

Bald blieben Lichtschein und Lärm weit hinter ihm zurück, aber noch immer trieb er sich vorwärts. Plötzlich stolperte er und fiel vornüber ins Wasser. Er kroch einige Meter weiter, raffte sich auf und stürmte vorwärts.

Der stinkende Sumpfgeruch umgab ihn, hüllte ihn ein, und er lief trotzdem weiter. Bis ihn plötzlich alles einholte und er zusammenbrach, bewußtlos, bevor er in Wasser, Steine und Sumpf hineinstürzte.

Загрузка...