Dillia — der Morgen

(Auftritt Wu Julee, schlafend)

Wu Julee erwachte aus einem traumlosen Schlaf und schaute sich um. Sie fühlte sich seltsam und ein wenig schwindlig.

Was alles andere in den Hintergrund drängte, war, daß der Schmerz verschwunden war.

Sie schloß die Augen und schüttelte heftig den Kopf. Das Schwindelgefühl verstärkte sich einen Augenblick, dann ließ es nach.

Sie schaute sich um.

Sie befand sich in einem herrlichen Wald, wie sie noch keinen gesehen hatte. Bäume wuchsen kerzengerade fünfzig und mehr Meter empor, verschwanden beinahe in leichtem Morgendunst. Das Unterholz war ebenso üppig und von saftigem Grün. Überall wuchsen wunderschöne Blumen. In der Nähe gab es einen Weg, säuberlich gepflegt, aus dickem Sägemehl zwischen kleinen Steinrändern. In der Ferne war ein schwaches, aber anhaltendes Brausen zu hören, das jedoch nicht bedrohlich wirkte, nur merkwürdig.

Der Weg schien in der einen Richtung zu dem Brausen zu führen, und sie beschloß, ihm zu folgen. Das Gehen empfand sie als seltsam, aber sie fühlte sich ganz und gar seltsam. Sie ging ungefähr einen Kilometer den Weg entlang, und er führte sie zum Ursprung des zunehmenden Rauschens.

Sie erreichte einen Wasserfall, der in drei Stufen majestätisch an einem Berg herabstürzte, dessen graues Gestein glattgewaschen worden war. Der Wasserfall speiste einen Fluß oder Strom, der schnell, aber seicht über steinigen Boden hinwegfloß. Hier und dort sah sie umgestürzte Baumstämme, manche mit moosartigen, gelbgrünen Gewächsen bedeckt. Kleine Insekten summten überall.

Sie fuhr herum, als es im Unterholz knackte. Ein kleines, braunes Pelz-Säugetier mit Nagetierkopf und breitem, flachem Schwanz sprang in den Fluß, einen Zweig im Maul. Sie beobachtete es, bis es am anderen Ufer im Schilf verschwand.

Sie blickte auf ihr Spiegelbild im Wasser, sah das Gesicht einer jungen Frau unter zwanzig, nicht schön, aber angenehm, mit langem, braunem Haar, das über kleine, wohlgeformte Brüste fiel.

Sie griff mit einer Hand hinauf und strich das Haar an der Seite zurück. Ihre Haut war hellbraun, ihre Handflächen wirkten ein wenig heller, schienen aber aus härterer Haut zu sein. Ich habe spitze Ohren, dachte sie, als sie sichtbar wurden. Sie versuchte, einem plötzlichen Impuls folgend, sie zu bewegen — und sie stellten sich auf und zuckten merklich!

Dann sah sie an ihrem Körper hinunter. An der Taille verdichtete sich der helle Flaum, der unter ihrer Brust begann, zu Haaren von ihrer Hautfarbe. Ihre Augen erfaßten zwei stämmige Beine, die in große, flache Hufe ausliefen.

Seltsam, dachte sie. Hufe und spitze Ohren, die zucken.

Sie drehte den Körper an den Hüften halb herum und blickte hinter sich. Ein langer, kräftig aussehender Pferdeleib, getragen von zwei Hinterbeinen, war deutlich sichtbar — und ein Schwanz! Ein großer, buschiger Schwanz, mit dem sie, wie sie entdeckte, peitschen konnte.

Was bin ich? dachte sie erschrocken. Wo ist das hier?

Sie versuchte, sich zu erinnern, aber es kam nichts. Es ist, als wäre ich gerade geboren worden, dachte sie. Ich kann mich an nichts erinnern, nicht an meinen Namen, an nichts.

Es gab einen Ausdruck dafür, dachte sie, und sie versuchte, ihn ins Gedächtnis zu rufen. Amnesie, das war es. Gedächtnisverlust. Sie blieb betäubt einige Minuten am Fluß stehen. Insekten umsurrten sie am Hinterteil, und sie fegte sie automatisch mit ihrem Schwanz weg.

Plötzlich fingen ihre Ohren Gelächter auf — ein Mädchen und ein Junge, dachte sie. Sie kamen den Weg herauf. In panischer Angst hielt sie Ausschau nach einem Versteck, fand aber keines, bevor das Paar herangetrabt kam. Sie sehen aus wie halbe Menschen auf den Körpern von Arbeitsponys, dachte sie. Was waren Menschen, und was Ponys?

Die beiden Wesen waren nicht besonders groß, aber der Junge fast einen Kopf größer und entsprechend massiger als das Mädchen. Das männliche Wesen war von goldener Farbe, mit silberweißen Haaren bis zu den Schultern und vollem Bart. Das Mädchen war seltsamerweise von geflecktem Grau, vermischt mit großen, schwarzen Flecken bis hinauf zu ihrem Oberkörper. Ihr Haar war grau und schwarz gestreift, ihre grauen Brüste waren viel voller als die der Beobachterin.

Kein Nabel, dachte sie albern. Wir haben keinen Nabel.

Das Paar sah sie und blieb stehen, betrachtete sie neugierig, ohne Feindseligkeit oder Angst.

»Hallo!«rief der Junge. Er schien nicht älter als vierzehn oder fünfzehn zu sein, das Mädchen war ungefähr gleich alt. »Ich glaube, dich haben wir hier noch nicht gesehen.«

Sie zögerte, dann erwiderte sie:»Ich — ich glaube, ich war auch noch nicht hier. Ich — ich weiß es einfach nicht.«Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Die beiden Zentauren sahen, daß sie sich quälte, und liefen auf sie zu.

»Was ist denn?«fragte das Mädchen mit hoher Stimme.

Sie begann zu weinen.

»Ich weiß es nicht. Ich kann mich an nichts erinnern«, schluchzte sie.

»Na, na«, sagte der Junge und streichelte ihren Rücken. »Weine dich aus, und dann erzähle uns alles.«

Das Streicheln beruhigte sie. Sie richtete sich auf und wischte sich die Tränen ab.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie hustend. »Ich bin einfach am Weg aufgewacht und kann mich an nichts erinnern — wer ich bin, wo ich bin, nicht einmal, was ich bin.«

Der Junge betrachtete ihr Gesicht und betastete ihren Kopf.

»Tut das weh?«fragte er.

»Nein. Es kitzelt überall, sonst nichts.«

Er starrte in ihre Augen.

»Keine Trübung«, sagte er. »Keine Verletzung zu finden. Erstaunlich.«

»Ach, hör mal, Jol, was hast du denn erwartet?«fragte seine Begleiterin.

»Irgendein Anzeichen für Verletzung oder einen Schock«, erwiderte er. »Komm, Mädchen, zeig mal deine Zunge.«

Sie tat es verlegen, und er untersuchte sie. Es war eine große Zunge, flach und breit, und von grau-rosiger Farbe.

»Du kannst sie wieder hineintun«, sagte er. »Kein Belag. Man würde es sehen, wenn du eine Krankheit oder einen Schock hättest.«

»Vielleicht ist sie verhext worden, Jol«, meinte die graugesprenkelte Zentaurin und wich ein wenig zurück.

»Vielleicht, aber dann geht es uns auch nichts an.«

»Was sollen wir tun?«fragte seine Freundin.

Jol drehte sich herum, und zum erstenmal sah Julee, daß er eine Art Satteltasche umgeschnallt hatte.

»Zuerst duschen wir«, sagte er, nahm ein Stück Seife, Stoffteile und Handtücher aus der Tasche, öffnete den Gurt und ließ sie auf den Boden fallen. »Dann bringen wir unser rätselhaftes Mädchen hier ins Dorf und übergeben sie jemandem, der mehr versteht als wir.«

Und genau das taten sie. Nach einigem Zögern folgte ihnen Julee und tat, was sie ihr vormachten.

»Du brauchst dich nicht zu fest abzutrocknen«, sagte das Mädchen, das Dal hieß. »Das geht in der Luft ganz schnell.«

Sie machten sich zu dritt wieder auf den Weg. Als sie den Wald verließen, tauchten das Dorf und die Landschaft dahinter auf.

Der Fluß strömte aus majestätischen Bergen mit schneebedeckten Gipfeln, die sich auf beiden Seiten öffneten und ein fruchtbares Tal und sanft gewellte Hügel freigaben.

Im Dorf — eine Reihe einfacher, aber stabiler Blockhäuser an einem blaugrünen See — herrschte rege Geschäftigkeit. Die Felder waren gepflügt und bepflanzt, und sie sah einige Zentauren zwischen den Reihen einer unbekannten Feldfrucht.

Der ganze Ort schien nicht mehr als einige hundert Leute fassen zu können, dachte sie, und erwähnte das ihren Begleitern gegenüber.

Jol lachte.

»Das beweist, daß du von seeabwärts sein mußt«, meinte er. »Da gibt es ein paar ziemlich große Gemeinschaften. Hier im Tal leben fast tausend, aber wir haben uns überall ausgebreitet. Im Ort leben nur fünfzig oder sechzig Leute die ganze Zeit.«

Die Hauptstraße war breit und dick mit Sägemehl bestreut. Die meisten Gebäude hatten zur Straße hin eine offene Seite. Das größte Gebäude war das erste, das sie erreichten. Es enthielt eine große Schmiede, wo mehrere männliche und weibliche Zentauren glühendes Metall bearbeiteten. Sie sah, wie eine Frau ein Hinterbein hob, während ein kräftiger Mann, der einen Schutzlatz trug, etwas auf ihren Fuß hämmerte, offenbar schmerzlos.

Andere Gebäude erwiesen sich als Geschäfte, die landwirtschaftliche Geräte, Saatgut und dergleichen verkauften. Es gab sogar einen Barbier und eine Bar, die jetzt zwar geschlossen war, aber sich durch große Fässer und Steinkrüge zu erkennen gab.

»Ist es hier immer so warm und schwül?«fragte sie Jol.

Er lachte leise.

»Nein, das ist ein Vier-Jahreszeiten-Hex«, sagte er. »Dann holen wir alle unsere Gammot-Pelzmäntel und Mützen und Handschuhe heraus und toben im kalten Schnee herum.«

Ein Gammot war, wie sie entdeckte, eines der großen Nagetiere, wie sie es am Fluß unten gesehen hatte.

»Es muß ein großer Mantel sein«, meinte sie, und Jol und Dal lachten.

»Du hast wirklich das Gedächtnis verloren!«sagte Dal. »Die Behaarung an unseren Leibern und eine Fettschicht vom Sommer und Herbst her halten ordentlich warm. Nur die unbehaarten Teile brauchen Schutz.«

»Du kannst die Herde und Kamine sehen«, meinte Jol. »Im Herbst werden die Vorderwände wieder angebracht, und es ist behaglich warm im Inneren.«

»Sieht so aus, als könnte jeder, der nicht ehrlich ist, hier alles mitnehmen, was ihm einfällt«, sagte Julee.

Sie erstarrten beide und sahen sie seltsam an.

»Das kommt hier nicht vor«, erklärte Jol aufgebracht.

Seine Reaktion überraschte sie, und sie entschuldigte sich.

»Es — es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, warum ich so etwas denke.«

»Es kommen manchmal Händler von anderen Sechsecken, und sie haben versucht, etwas mitzunehmen«, sagte Dal. »Nützt ihnen hier aber nichts. Man kann nur durch den See herein, der vierzig Kilometer lang ist. In den Wäldern hat keiner Aussichten gegen uns, und jeder, der einen sechs Kilometer hohen Berg bei großer Kälte erklimmen wollte, würde mehr verlieren, als er mitnehmen könnte.«

Sie erreichten ein kleines Gebäude, an dem ein Holzschild hing. Es zeigte ein sechseckiges Symbol von zwei kleinen Bäumen. Im Inneren stand ein älterer Zentaur mit langen, weißen Haaren und ungepflegtem Bart, der bis unter seine Brustwarzen reichte.

Er hätte gewiß sehr bedeutsam an seinem unordentlichen Schreibtisch ausgesehen, dachte sie belustigt, wenn er nicht fest geschlafen und laut geschnarcht hätte.

»Das ist Yomax«, sagte Jol. »Er ist zugleich Bürgermeister, Posthalter, Förster und Wildhüter hier. Um sieben Uhr öffnet er immer, genau nach Vorschrift, aber da das Boot nicht vor halb zwölf kommt, schläft er bis dahin meistens noch.«Er brüllte:»He, Yomax! Wach auf! Dienstgeschäfte!«

Der alte Mann regte sich, wischte sich die Augen und reckte nicht nur die Arme, sondern seinen ganzen langen Leib.

»Hmff! Was's los?«schnob er. »Irgendeiner ärgert mich dauernd.«Er drehte sich um. Sein Blick richtete sich auf Wu Julee, und er war plötzlich hellwach. »Ah! Hallo!«sagte er. »Ich kann mich nicht erinnern, dich schon gesehen zu haben.«

»Sie hat ihr Gedächtnis verloren, Yomax«, erklärte Jol. »Wir haben Sie unten am Dreifall gefunden.«

»Sie weiß überhaupt nichts«, warf Dal ein.

Der alte Mann runzelte die Stirn, kam auf sie zu und untersuchte sie so gründlich wie vorher Jol. Er kratzte sich am Bart und dachte nach.

»Und du erinnerst dich an gar nichts?«fragte er zum fünften- oder sechstenmal, während Julee immer wieder verneinen mußte.

»Sehr sonderbar«, sagte er. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Heb dein rechtes Vorderbein«, sagte er. Sie tat es. Er griff nach dem Huf und drehte ihn nach oben.

»Ich glaube, sie ist verhext«, behauptete Dal.

»Seht euch das an«, meinte Yomax leise. Die beiden anderen drängten sich zu ihm.

»Sie hat keine Eisen!«rief Dal.

»Und nicht nur das, nichts deutet darauf hin, daß sie je welche gehabt hat«, sagte Yomax.

»Beweist gar nichts«, meinte Dal. »Ich kenn' viele, die keine Eisen tragen, vor allem oben im Tal.«

»Das ist wahr«, sagte Yomax und ließ Julees Bein sinken. »Aber der Huf ist unberührt. Keine tiefreichenden Verfärbungen, keine Steinchen, nichts. Wie bei einer Neugeborenen.«

»Ach, das gibt es doch nicht«, meinte Jol.

»Ich sagte doch, sie ist verhext«, ließ sich Dal wieder vernehmen.

»Ihr zwei verschwindet jetzt«, erklärte Yomax und scheuchte sie mit den Händen fort. »Ich glaube, ich weiß zum Teil, was hier los ist.«

Die beiden entfernten sich, kamen wieder zurück, und Yomax mußte sie ein paarmal anschreien, damit sie endlich gingen.

»Also, junge Dame«, sagte er, als er mit Julee allein war, »ich will dir ein paar Namen sagen, vielleicht kennst du einen davon.«

»Gut.«

»Nathen Brassel«, begann er und las von einem Blatt Papier ab, das er aus dem Schreibtisch gezogen hatte. »Vardja Dipla ZwölfEinundsechzig. Dayton Hain. Wo Jolie. Na?«

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Nie gehört, jedenfalls glaube ich das.«

»Hmm. Ich bin sicher, daß ich recht habe. Die einzige mögliche Erklärung. Paß auf. Wenn das Boot kommt, werden wir ja sehen. Alter Zugang aus derselben Gegend wie die Namen hier — vor zehn oder fünfzehn Jahren. Er steuert das Fährschiff, seit der alte Gletin nicht einsehen wollte, wie alt er schon war, und vor zwei Jahren bei einem Sturm über Bord ging. Er wird sich an die alte Sprache noch erinnern. Der soll mit dir reden.«

Sie unterhielten sich, bis das Boot eintraf, und er erklärte ihr, wie es in Dillia zuging. Sie erfuhr von der Schacht-Welt und den Hexagons, hörte, daß die Mutter die Kinder aufzog, die Familie aber die gemeinsame Verantwortung trug. Da es Ehe und Erbgut nicht gab, schlossen sich Leute zu Familien zusammen, die sich miteinander verstanden, ohne auf das Geschlecht besonders zu achten. Das ganze Sechseck von Dillia war eine Ansammlung von kleinen Städten und Dörfern, erfuhr sie, wegen der niedrigen Geburtenrate und auch wegen der technologischen Beschränkungen. Alles, was komplizierter war als die allereinfachste Dampfmaschine, funktionierte in Dillia einfach nicht.

Kurz danach war der anhaltende Pfiff einer Dampfpfeife zu hören, der von den Bergen widerhallte.

Yomax griff nach einem Stoffsack und führte sie zum See, der hundertfünfzig Meter vom Ort entfernt begann. Sie sah einen einfachen Holzsteg mit mehreren großen Pfosten, sonst nichts. Ein paar Bewohner standen in der Nähe.

Auf den Steg fuhr das seltsamste Fahrzeug zu, das sie je gesehen hatte. Ein riesiges, ovales Floß, so sah es aus, auf dem ein zweites Floß befestigt war, getragen von massiven, gekreuzten Baumstämmen. In der Mitte gab es einen einzelnen, riesigen schwarzen Dampfkessel, aus dessen Kamin weißer Rauch quoll.

Ein Zentaur, am ganzen Leib schwarz-weiß gestreift, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, stand an einem großen Rad, das zwischen zwei langen Hebeln angebracht war. Die Hebel führten hinab zum Kessel und schienen nichts anderes zu bewirken, als einem braunen Zentauren-Heizer zu signalisieren, wann er am Kessel das eine oder andere Ventil zu betätigen hatte. Der Kessel war durch dicke Taue und Ketten mit einem kleinen hölzernen Schaufelrad am Heck verbunden.

Auf dem ersten Deck standen ungefähr zwanzig verschiedenfarbige Dillianer, manche zwischen Eichentruhen, die unbekannte Fracht enthielten. Unter dem Gerüst schien eine Theke mit Fässern und Krügen aufgebaut zu sein, daneben lag ein großer Ballen Korn.

Wu Julee hatte mit Yomax schon einen Imbiß eingenommen und wußte, daß die Zentauren Pflanzenfresser waren, die gelegentlich verschiedene Speisen kochten, meist aber Korn und Gras von den Feldern aßen. Schmeckte gut, wie sie festgestellt hatte.

Ein paar Dorfbewohnern wurden Taue zugeworfen, und sie vertäuten das Boot. Der Kapitän ging nach hinten und kam über eine kaum erkennbare Rampe auf das Unterdeck.

Yomax warf die Post einem Mann der Besatzung zu, der sie auf das Boot warf. Der Kapitän ergriff einen ähnlichen Sack, sprang auf den Steg und drückte Yomax die Hand, bevor er ihm den Postsack reichte.

Yomax stellte Wu Julee den Dampfschiffkapitän vor.

»Das ist Klamath«, sagte der alte Mann. »Kein richtiger Name für einen Dillianer, aber er ist damit geboren.«

»Freut mich, Lady, äh…?«

»Sie weiß ihren Namen nicht, Klammy«, sagte Yomax. »Ist heute früh aufgetaucht und weiß von nichts. Ich glaube, sie ist ein Neuzugang, und dachte, du kannst vielleicht helfen.«Er erläuterte dem Kapitän seinen Einfall mit der Sprache.

»Schwerer, als du glaubst«, erwiderte der Kapitän nachdenklich. »Ich denke zwar in der alten Sprache, aber alles wird automatisch sofort übersetzt. Es wäre einfacher, wenn ich etwas für sie schreiben könnte.«

Julee schüttelte traurig den Kopf.

»Ich bin sicher, daß ich nie lesen gelernt habe. Ich weiß es einfach.«

»Hmm… Tja, Yomax, du mußt aufpassen. Es wird nicht leicht sein, durch den Übersetzungsprozeß alte Worte zu schmuggeln. Ich weiß einfach nicht, ob ich Erfolg habe oder nicht. Für mich klingt das alles gleich. Wenn Sie etwas versteht und du nicht, haben wir es geschafft.«Er dachte lange nach, dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf. »Ich glaube, der Versuch lohnt sich«, sagte er, »aber selbst wenn sie es nicht versteht, beweist es nicht viel. Also dann… Unter Verwendung des Drei-KY-Spektroanalyseprogramms kann die Sternenbewegung berechnet werden durch die Phasenverschiebung der Beobachtungen mit Hilfe der Infraspektrometerschaltungen in der Navigations-Matrix für darstellbare Kursbahnen«, sagte Klamath. Er verstummte und sah Yomax an. »Wie war das?«

»Ich habe vielleicht jedes fünfte Wort verstanden«, sagte der alte Mann. »Wie ist es mit der Dame hier?«

Julee schüttelte verwirrt den Kopf.

»Viele lange Worte, aber was sie bedeuten, weiß ich nicht.«

»Kannst du dich an eines erinnern?«fragte Klamath.

Sie dachte nach.

»Ma-Matrix, glaube ich. Phasenverschiebung?«

Klamath lächelte.

»Das gute alte Navigationshandbuch!«rief er. »Du bist wirklich aus meiner Gegend des Alls. Es gibt in dieser Sprache hier einfach keine Entsprechung.«

Yomax nickte befriedigt.

»Sie ist also eine von den letzten vier.«

»Fast mit Sicherheit.«Klamath nickte. »Ich habe auf sie alle geachtet, weil ich einen kenne, jedenfalls oberflächlich. Er ist fast eine lebende Legende unter den Raumfahrern, und wir wissen, wo er ist, und wo diese Vardia ist. Du mußt das Mädchen sein, das krank war. Das würde die Gedächtnisprobleme erklären.«

»Wer bin ich dann?«fragte sie aufgeregt. »Ich möchte es wissen.«

»Wahrscheinlich ein Mädchen namens Wu Julee«, sagte Klamath.

»Wu Julee«, wiederholte sie. Der Name klang ihr völlig fremd. Sie konnte nicht sagen, ob er ihr eigentlich gefiel.

»Ich fahre in einer Stunde seeabwärts, und in Donmin rede ich mit dem Ratsherrn«, meinte Klamath. »Inzwischen bleibst du am besten hier. Hier kann man sich erholen und sein Leben genießen, und das brauchst du wahrscheinlich.«

Die Männer begaben sich zur Bar im Ort, und Julee, die sich langweilte, ging hinaus, wo sie auf Jol und Dal stieß.

»Sie sagen, ich bin ein Neuzugang«, erklärte sie ihnen. »Ich heiße Wu Julee. Ich sei krank gewesen, heißt es.«

»Na, jetzt bist du gesund«, gab Jol zurück. »Vielleicht kommt dein Gedächtnis auch irgendwann zurück.«Er sah Julee an, stotterte ein wenig herum, ermahnte sich schließlich und sagte:»Paß auf, Dal und ich haben uns überlegt, ob wir eine eigene Familie gründen, da Dal schwanger ist. Es gibt so wenige von unserem Alter hier oben, und mit unseren eigenen Familien kommen wir nicht so gut aus. Warum schließt du dich uns nicht an?«

Julee zögerte kurz, dann sagte sie:»Gerne — wenn Yomax nichts dagegen hat.«

»Dem macht es nichts aus. Er will ohnehin, daß wir was arbeiten, und wenn wir die Gruppe bilden, müssen wir unseren Teil der Ernte selbst einbringen.«

Und so einfach war es wirklich.

Sie suchten sich eine Stelle tief im Wald flußaufwärts aus und begannen, als erstes einen Weg anzulegen. Mit einer großen Säge und der Hilfe eines Försters hieben sie zwei Bäume an einem kleinen Bach um und rodeten die Stelle. Wu Julee arbeitete begeistert mit. Die anderen gaben ihr den Namen Wuju, was ihr viel besser gefiel. Aus den zerschnittenen Stämmen errichteten sie ein Blockhaus, der Boden wurde mit Sägemehl bestreut, ein Steinherd diente als Kochstelle und Winterofen. Es gab einen großen Gemeinschaftsbereich mit einfachen Tischen, eine Arbeitsfläche und fünf Boxen — eigentlich Schlafräume mit Anlehnstützen, weil die Dillianer im Stehen schliefen. Die zusätzlichen Boxen waren für Dals Nachwuchs gedacht, und für einen anderen Zentauren, der sich ihnen noch anschließen mochte. Jol und Dal brachten ihr im Wald das Fallenstellen, das Abhäuten und Verarbeiten der Felle bei.

Im Spätsommer brachte Dal ihr Fohlen zur Welt, groß und voll ausgeformt, aber mit weichem, farblosem Flaum auf einer rötlichen, runzligen Haut, die den Jungen wie einen alten Mann aussehen ließ.

Das Kind würde über ein Jahr ohne Gebiß sein und gesäugt werden müssen, obwohl es wenige Stunden nach der Geburt schon stehen und sogar laufen konnte. Mit acht oder zehn Jahren erst würde es ganz erwachsen sein und sich selbst helfen können.

Das friedliche, idyllische Dasein wurde jedoch durch das Auftauchen ihrer Alpträume beeinträchtigt. Sie hatte oft mit furchtbaren Schmerzen, mit Folterungen und einem bösartigen, gemeinen Gesicht zu tun, das entsetzliche Dinge von ihr verlangte. Oft wachte sie schreiend auf, und es erforderte Stunden, sie zu beruhigen.

Sie ging zur Heilkundigen des Ortes — sie war kein Arzt, weil die Dillianer keinen dazu hatten bewegen können, in diese abgeschiedene Gegend zu kommen, aber sie konnte kleinere Krankheiten behandeln, gebrochene Knochen einrichten und dergleichen mehr. Alle ernsthaften Fälle mußten mit dem Dampffloß seeabwärts gebracht werden. Das war nicht so schwierig, wie es sich anhörte, weil es eine ziemlich starke Strömung gab, die zu den Wasserfällen bei der Stadt dort führte.

Die Unterhaltung mit der Heilkundigen half, aber die Schlafpulver nützten nichts. Als der Herbst das Laub färbte und von den Bergen der Schnee herunterkroch, wirkte Wuju eingefallen und erschöpft. Das warme, starke Ale-Bier zu trinken, half, aber sie war immer häufiger berauscht, und man konnte nur schwer mit ihr auskommen.

An einem besonders kalten Tag trat sie angetrunken aus der kleinen Bar und wanderte zum Steg hinunter, als das Dampfboot kam. Sie starrte auf eine Gestalt in dicken Pelzen, die auf dem Oberdeck saß, vor dem kleinen Pilotenhaus, das beim Wechsel der Jahreszeit errichtet worden war.

Sie war fremdartig. Sie sah menschlich aus, besaß aber nur zwei Beine und kein Hinterviertel. Die Züge waren unter einer dicken Pelzmütze verborgen, aber die Person schien Pfeife zu rauchen, was hier nur ganz wenige taten. Wuju glotzte das Wesen an.

Das Boot wurde vertäut, und die Gestalt stieg mit dem Kapitän hinunter auf das Unterdeck und den Steg. Klamath entdeckte sie und zeigte mit dem Finger in ihre Richtung. Das seltsame zweibeinige Wesen nickte und kam auf sie zu.

Sie wich angstvoll zurück, wäre am liebsten geflüchtet.

Das Wesen näherte sich vorsichtig und rief:»Wu Julee? Bist du das, Wu Julee?«Die Stimme erschien ihr irgendwie bekannt. Er blieb zwei Meter vor ihr stehen, nahm die große, gebogene Pfeife aus dem Mund und die große Mütze vom Kopf.

Wu Julee schrie und schrie, dann brach sie plötzlich ohnmächtig zusammen.

Klamath und eine Reihe von Dorfbewohnern liefen besorgt auf sie zu.

»Verdammt!«sagte das Wesen. »Warum habe ich auf Frauen immer diese Wirkung?«

Denn der Schock, sein Gesicht zu sehen, hatte ihr plötzlich alles mit voller Wucht wieder ins Gedächtnis gerufen. Die einzige Veränderung, die die Schacht-Welt bei Nathan Brazil hervorgerufen hatte, betraf seine Kleidung.

Загрузка...