Zone

(Auftreten Gespenster)

Keiner in der Gruppe hätte verblüffter sein können als Nathan Brazil.

»Ich wußte, daß Sie irgendwann hier landen«, fuhr das Wesen fort. »Früher oder später geht es fast jedem Senior so.«

»Sie kennen mich?«fragte Brazil fassungslos.

Das Wesen lachte.

»Aber klar doch — und Sie mich auch, wenn Sie nicht schon eine Verjüngung zuviel hinter sich haben. Ich weiß Bescheid, hatte dasselbe Problem, als ich durch den Schacht fiel. Sagen wir nur, daß die Leute sich hier wirklich verwandeln, und belassen wir es dabei. Wenn ihr mitkommt, sorge ich für eure Bequemlichkeit und orientiere euch ein bißchen.«Damit entrollte sich das Wesen rückwärts und ringelte sich auf dem Band wieder zusammen. »Steigt auf«, sagte es.

Die anderen sahen Brazil an.

»Ich glaube nicht, daß uns etwas anderes übrigbleibt«, meinte er. Als er sah, daß Hain immer noch die Pistole zückte, sagte er:»Stecken Sie die Knallbüchse weg, bis wir uns besser auskennen. Hat keinen Sinn, sich selber abknallen zu lassen.«

Sie traten auf das Band, das nicht anfuhr, als sie aufstiegen, sondern erst in Bewegung geriet, als ihr fremder Gastgeber auf das Geländer schlug. Zum ersten Mal konnten sie Lärm hören — riesenhafte Gebläse, so schien es, die in dem Riesenbau hallten. Das Band selbst summte elektrisch.

»Ah — essen Sie, was wir essen?«rief Hain.

Das Wesen lachte.

»Nein, nicht mehr, aber keine Sorge, Kannibalen gibt es hier auch keine. Jedenfalls keine vom Typ Einundvierzig wie ihr. Aber ich glaube, wir können etwas zu essen beschaffen — und zwar richtiges Essen, vielleicht für jeden außer Nate zum erstenmal in seinem Leben.«

Sie fuhren mit drei Bändern, bis sie eine Plattform erreichten, die viel größer war als alle anderen. Hier wölbten und krümmten sich die Wände vom Schacht fort. Brazil konnte sehen, warum das von weitem nicht erkennbar gewesen war.

Sie folgten dem Schlangenmann durch einen langen Korridor. Sie sahen andere Gänge abzweigen, legten aber fast tausend Meter zurück, bevor sie abbogen.

Er führte sie in einen sehr großen Raum, der wie eine Empfangshalle aussah. Es gab eine Fülle von bequemen, für Menschen geeigneten Stühlen, und ein Wandbezug aus Kunststoff war mit Blumen geschmückt. Hier wirkten solche Beigaben so ungereimt, wie das fremde Wesen auf ihre Welten gewirkt hätte. Das Wesen hatte eine Art Schreibtisch, halbkreisförmig und offenbar seiner Form so angepaßt, daß es sich bequem dahinter zusammenrollen konnte. Auf dem Schreibtisch gab es nur einen ganz gewöhnlich aussehenden Federhalter, einen kleinen Block Papier und ein — natürlich sechseckiges — Siegel, dem Anschein nach in durchsichtigem Kunststoff aus reinem Gold gegossen.

Das Siegel zeigte eine Schlange, die sich um ein Kreuz ringelte, und war umrandet von einer Schrift, die keiner von ihnen kannte.

Der Schlangenmann klappte einen kleinen Teil seiner Schreibtischplatte hoch und gab den Blick auf eine Instrumententafel von fremdartiger Konstruktion und Zweckbestimmung frei. Ein großer, roter Knopf war das auffälligste Merkmal, und er drückte darauf.

»Mußte den Schacht umstellen«, erklärte er. »Sonst könnten welche kommen, die keinen Sauerstoff atmen, und aufbewahrt werden, bis jemandem einfällt, auf den Knopf zu drücken. Ich will gleich noch die Essensbestellung eingeben — Nate, Sie waren immer sehr für Steak und Folienkartoffel, und dabei bleiben wir.«Er drückte hintereinander einige Knöpfe an der Konsole, dann klappte er sie zu. »In zehn, fünfzehn Minuten wird das Essen da sein — und auch richtig zubereitet. Halb durch, nicht wahr, Nate?«

»Sie scheinen mich besser zu kennen als ich mich selbst«, erwiderte Brazil. »Es ist so lange her, seit ich zuletzt ein Steak gegessen habe — vielleicht fast ein Jahrhundert. Ich hatte beinahe schon vergessen, was das ist. Woher kennen Sie mich überhaupt?«

Ein breites, aber ein wenig wehmütiges Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Wesens.

»Erinnern Sie sich an einen alten Kerl namens Serge Ortega, Nate? Vor langer Zeit?«

Brazil überlegte, dann fiel es ihm plötzlich ein.

»Ja, sicher, an den erinnere ich mich — aber das muß wohl hundert Jahre her sein. Ein Freiberufler — höflicher Name für einen Piraten«, erklärte er den anderen. »Ein richtiger Halunke. Für Geld tat er alles, wurde fast überall gesucht — ein toller Bursche. Das können Sie jedoch nicht sein — er war ein kleiner Kerl, von Hispaniola, bevor man sich dort der Kom-Welt anschloß und den Planeten ›Frieden und Freiheit‹ nannte.«

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte das Wesen traurig. »Das heißt, daß meine Leute tot sind. Wer war die Grundform? Brassario?«

»Richtig«, sagte Brazil. »Aber das alles erklärt nichts.«

»O doch«, erwiderte der Schlangenmann. »Denn ich bin Serge Ortega, Nate. Diese Welt hat mich in das verwandelt, was Sie sehen.«

Brazil starrte das Wesen an. Die Stimme, die Augen — auf irgendeine Art kamen sie ihm wirklich bekannt vor und erinnerten ihn vage an Ortega. Dasselbe wilde Funkeln in den Augen, dieselbe rasche, scharfe Sprechweise, manchmal aufflackernde Arroganz, die Ortega in mehr Kneipenraufereien verwickelt hatte als jeden anderen.

Aber das war so lange her.

»Hören Sie mal«, sagte Hain. »Genug von dieser Wiedersehensfeier, Ortega hin, Ortega her. Sir, oder wie auch immer, ich möchte sehr gern wissen, wo wir sind, warum wir hier sind, und wann wir zu unserem Schiff zurückkehren können.«

Ortega zeigte sein hämisches Lächeln.

»Nun, was die Frage angeht, wo ihr seid — ihr seid auf der Schacht-Welt. Es gibt keinen anderen Namen dafür, denn genau das ist sie. Und wo sie sich befindet — tja, hol mich der Teufel, wenn ich das weiß. Niemand, der je hier war, hat sie wieder verlassen können. Ich weiß nur, daß der Nachthimmel mit nichts Ähnlichkeit besitzt, was ihr gesehen habt. Ich war fast zweihundert Jahre im Weltraum, und keines der ganz auffälligen Merkzeichen kommt einem bekannt vor. Das Allermindeste ist, daß wir uns auf der anderen Seite der Galaxis befinden, vielleicht sogar in einer ganz anderen. Und warum ihr hier seid — nun, ihr seid auf irgendeine Weise in ein Markovier-Portal gestolpert, genau wie ich und vielleicht Tausende anderer. Und hier sitzt ihr fest, genau wie alle anderen. Sie sind für immer hier. Gewöhnen Sie sich lieber dran.«

»Hören Sie«, fuhr Hain auf, »ich habe Macht und Einfluß —«

»Besagt hier gar nichts«, erwiderte Ortega kalt.

»Mein Auftrag!«wandte Vardia ein. »Ich muß meine Pflicht erfüllen!«

»Keine Pflichten, überhaupt nichts mehr, außer euch und der Welt hier«, sagte der Schlangenmann. »Seid euch im klaren darüber: Ihr befindet euch auf einer Welt, die von den Markoviern gebaut worden ist — ja, gebaut. Das ganze Ding mit allem Drum und Dran. Soviel wir wissen, ist das ganze verdammte Ding ein markovisches Gehirn, das bestens funktioniert und vorprogrammiert ist.«

»Ich dachte, wir sind im Inneren von Dalgonia«, sagte Brazil. »Man hatte das Gefühl, irgendwo hineinzustürzen.«

»Nein«, erwiderte Ortega, »das war kein Sturz. Die Markovier hatten wirklich gottähnliche Kräfte. Materieübermittlung war für sie eine Kleinigkeit. Fragt mich nicht, wie das funktioniert, aber es ist so, weil wir hier eine lokale Ausgabe davon haben. Ich würde es nicht einmal verstehen, wenn einer es mir erklären sollte.«

»Aber so etwas ist ausgeschlossen«, protestierte Hain. »Es verstößt gegen die Naturgesetze.«

Ortegas sechs Achseln zuckten.

»Wer weiß? Einmal war auch das Fliegen unmöglich. Dann war es unmöglich, einen Planeten zu verlassen, dann ein Sonnensystem, dann, die Lichtgeschwindigkeit zu übertreffen. Das einzige, was etwas unmöglich macht, ist Unwissenheit. Hier auf der Schacht-Welt ist das Unmögliche an der Tagesordnung.«

In diesem Augenblick kam das Essen, gebracht von einem kleinen Wagen, der offenbar eine Art Roboter war. Er fuhr der Reihe nach zu jedem hin und bot ein Tablett mit heißem Essen an, unter dem, wenn es abgenommen wurde, sofort das nächste erschien. Brazil nahm den Deckel ab und starrte eine Minute lang auf den Inhalt. Dann sagte er fassungslos und ehrfürchtig:»Ein echtes Steak!«Er zögerte einen Augenblick, dann sah er zu Ortega hinüber. »Es ist doch echt, oder?«

»O ja«, versicherte der Schlangenmann. »Es ist wirklich echt. Die Kartoffel und die Bohnen auch. Natürlich nicht exakt ein Rind, nicht exakt eine Kartoffel, und so weiter, aber doch so nah, daß ihr den Unterschied nie merkt. Nur zu, versuchen Sie's.«

Hain machte sich bereits gierig über seine Portion her, während Vardia das Essen verwirrt anstarrte.

»Was ist los?«fragte Brazil zwischen zwei Bissen. »Probleme?«

»Es ist ganz ungefährlich«, versicherte ihr Ortega. »Es gibt keine Mikroorganismen, die Ihnen Schwierigkeiten machen können — jedenfalls nicht, bis Sie hinausgehen. Das Zeug ist biologisch verträglich.«

»Nein, nein — es ist —«, stammelte sie. »Nun, ich habe noch nie solche Nahrung gesehen. Wie macht man…?«

»Sehen Sie mir zu und machen Sie dasselbe«, sagte Brazil lachend. »Sehen Sie? Man schneidet das Fleisch mit Messer und Gabel so, dann —«

Sie machten sich über die Portionen her, und Vardia fand sich schnell zurecht, obwohl sie mehrmals behauptete, es schmecke gräßlich. Aber sie waren alle zu hungrig, um zu protestieren.

Ortegas Blick fiel auf Wu Julee, die das Essen anstarrte und es nicht berührte.

»Ist sie krank?«fragte er die anderen.

Brazil hörte plötzlich auf zu essen und starrte Hain an, der schon fertig war und laut rülpste.

»Sie ist schwammabhängig«, sagte Brazil leise.

Hain zog die Brauen hoch, sagte aber nichts.

Ortegas Miene wurde ernst.

»Wie weit fortgeschritten?«fragte er.

»Ziemlich weit, würde ich sagen«, erwiderte Brazil. »Rückentwicklung auf vielleicht fünf Jahre, bewußtes Handeln praktisch nur aus dem Gefühl.«Er fuhr plötzlich auf seinem Sessel herum und funkelte Hain mit eisigen Augen an. »Wie ist es, Hain?«fauchte er. »Würden Sie das bestätigen?«

Hains Schweinsgesicht blieb ausdruckslos, und seine Stimme klang beinahe erleichtert, als er sagte:»Sie sind also dahintergekommen. Habe mir beinahe gedacht, daß ich es bei dem Abendessen übertrieben habe.«

»Wenn wir nicht auf Dalgonia in die Falle geraten wären, hätte ich Sie und sie auf Arkadrian abgesetzt, bevor Sie zum Nachdenken gekommen wären«, erklärte Brazil.

Hains Gesicht verriet Erschrecken und Überraschung. Dann kam ihm ein Gedanke, und seine alte Selbstsicherheit kehrte zurück.

»Offenbar bin ich also durch diesen — äh — Zwischenfall nicht in eine schlimme, sondern in eine sehr günstige Lage geraten«, sagte er gelassen. »Schade um die junge Dame, versteht sich.«

»Sie Dreckskerl!«Brazil sprang auf und packte den dicken Mann am Hals. Hain war einen Kopf größer und doppelt so schwer wie er, aber die Wut verlieh Brazil Kräfte. Die beiden rollten am Boden umher, und der Kapitän würgte Hain, bis sein Gesicht blutrot wurde.

Vardia beobachtete sie mit offenem Mund. Sie hatte kaum etwas begriffen und fand Brazils Verhalten, jetzt und vorher, unverständlich. In ihrer Welt gab es keine Menschen, nur Zellen, die sich zu einer Gemeinschaft fügten. Eine kranke Zelle wurde einfach ausgemerzt.

Wu Julee sah teilnahmslos zu.

Plötzlich sprang Ortega über seinen Schreibtisch und packte Brazil mit kraftvollen Armen. Das Riesenwesen bewegte sich so schnell, daß man mit dem Auge kaum folgen konnte.

Brazil versuchte sich loszureißen, und Ortegas mittlerer Arm schoß plötzlich vor und traf den kleinen Mann hart am Kinn. Er erschlaffte.

Hain, von seinem Angreifer befreit, rang keuchend nach Luft, rollte sich auf den Rücken und blieb dort liegen. Er betastete seinen Hals.

Ortega untersuchte den Bewußtlosen. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß nichts gebrochen war, legte er Brazil auf den Boden.

»Ich danke Ihnen, Sir«, ächzte Hain und massierte seine Kehle. »Sie haben mir gewiß das Leben gerettet.«

»Das wollte ich nicht und hätte es in normalen Zeiten auch nicht getan«, fauchte Ortega ihn an. »Und wenn Nate Sie draußen jemals in die Hände bekommt, werde ich nicht da sein, um Sie zu retten — und wenn doch, dann helfe ich gerne mit, Sie in Stücke zu reißen. Aber hier lasse ich so etwas nicht zu.« Er widmete sich wieder Brazil, der langsam zu sich kam.

Hain schien entgeistert zu sein, sah aber, wo seine Pulspistole hingefallen war und griff unauffällig danach.

»Nein!«schrie Wu Julee plötzlich auf, aber Hain hatte die Waffe schon ergriffen und richtete sie auf den Schlangenmann und Brazil, der sich aufsetzte, sein Kinn rieb und den Kopf schüttelte. Ortega hatte Hain den Rücken zugedreht, aber Brazil hob plötzlich den Kopf und sah die Waffe. Ortega bemerkte, wie er die Augen aufriß, und drehte sich um.

»Ihr benehmt euch jetzt beide, dann tue ich nichts Überstürztes«, sagte Hain ruhig. »Aber ich verlasse diesen reizenden Ort auf der Stelle.«

»Wie denn?«fragte Serge Ortega.

Die Frage schien Hain zu beunruhigen.

»So — so, wie wir hereingekommen sind«, antwortete er.

»Die Tür führt zu einem Korridor. Der Korridor führt in einer Richtung zum Schacht — und das ist eine Sackgasse«, erklärte ihm Ortega. »In der anderen Richtung gibt es noch mehr Räume wie diesen — siebenhundertachtzig sind es, in einem Wabenlabyrinth. Dahinter kommen Unterkünfte und Erholungseinrichtungen für die Wesen, die dieses Büro benutzen — siebenhundertachtzig verschiedene Arten, Hain. Manche davon atmen nicht dasselbe wie Sie. Manche davon werden Sie überhaupt nicht mögen und Sie vielleicht umbringen.«

»Es gibt einen Weg nach draußen«, fauchte Hain, aber seine Stimme klang verzweifelt. »Es muß einen geben. Ich finde ihn.«

»Und dann?«sagte Ortega gelassen. »Dann sind Sie auf einer Welt, die relativ groß ist. Die Oberfläche läßt sich am ehesten mit Fünfkommaeins mal zehn hoch acht Kilometern im Quadrat angeben. Und Sie wissen nicht einmal, wie der Planet aussieht, kennen keine Sprachen, nichts. Sie sind ein kluger Mann, Hain. Wie stehen die Chancen

Hain wirkte verwirrt und zögerte. Dann warf er einen Blick auf seine Pistole, und sein Gesicht hellte sich auf.

»Damit bin ich im Vorteil«, sagte er.

»Darauf sollten Sie sich nicht verlassen, bis Sie die Spielregeln kennen«, sagte Ortega leise und ging langsam auf ihn zu.

»Ich drücke ab«, drohte Hain und seine Stimme war eine Oktave höher als sonst.

»Nur zu«, sagte Ortega, während sein riesiger Schlangenkörper auf den anderen zuglitt.

»Gut, verdammt noch mal!«schrie Hain und zog den Abzug durch.

Nichts geschah.

Hain drückte immer wieder ab. Die Waffe knackte, das war alles.

Ortega stieß plötzlich mit der unfaßbaren Geschwindigkeit zu, und die Waffe schien aus der Hand des erschrockenen Mannes zu verschwinden.

»In diesem Raum funktioniert keine Waffe«, sagte Ortega. »Alles in Ordnung, Nate?«fragte er.

»Ja, Sie Saukerl«, erwiderte Brazil dumpf. »Mann! Das war vielleicht ein Schlag!«

Ortega lachte leise.

»Ich war in einer Bar auf Siprianos einmal der einzige, der kleiner war als Sie. Ich war voll Schnaps und Drogen und wollte es mit dem ganzen Laden aufnehmen, in dem jeder einzelne mir mit Vergnügen die Kehle durchgeschnitten hätte. Ich fing gerade Streit mit dem Rausschmeißer an, als Sie mich packten und k.o. schlugen. Ich brauchte zehn Wochen, bevor mir klar wurde, daß Sie mir das Leben gerettet hatten.«

Brazils Unterkiefer klappte herunter.

»Sie sind wirklich Serge Ortega«, sagte er staunend. »Das hatte ich völlig vergessen…«

»Ich hab' es doch gesagt, Nate«, erklärte Ortega lächelnd.

»Aber wie haben Sie sich verändert«, meinte Brazil kopfschüttelnd.

»Ich sagte doch, daß diese Welt die Leute verwandelt, Nate. Sie wird auch Sie verändern. Euch alle.«

»Früher hätten Sie mich nicht daran gehindert, das Schwein kaltzumachen, Serge.«

»Das wohl nicht. Und jetzt eigentlich auch nicht — aber das ist Zone. Und wenn Sie sich da drüben hinsetzen, von Hain weit entfernt«, er wies auf eine Sitzbank ohne Rückenlehne, »und wenn Sie«, fuhr er fort, »Ihre kleinen Spielchen unterlassen und versprechen, ruhig zu sein, erkläre ich euch, wie es hier steht — die Regeln, wo sie gelten, und wo nicht, und ein paar andere Dinge, die eure Zukunft betreffen.«

Hain murmelte etwas Unverständliches und ging zu seinem Platz zurück. Brazil, der immer noch sein schmerzendes Kinn betastete, stand wortlos auf und ging zu der Sitzbank, sank nieder und ächzte.

»Bin immer noch schwindlig«, beklagte er sich. »Und ich bekomme wahnsinnige Kopfschmerzen.«

Ortega lächelte und zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück.

»Sie haben schon Schlimmeres mitgemacht«, sagte er. »Aber alles der Reihe nach. Wollen Sie noch etwas essen? Sie haben alles in die Gegend gestreut.«

»Sie wissen genau, daß ich die nächsten paar Tage überhaupt nichts hinunterbringe«, stöhnte Brazil. »Verdammt! Warum haben Sie sich überhaupt eingemischt?«

»Eigentlich aus zwei Gründen. Erstens ist das — nun, man könnte fast sagen, eine diplomatische Abordnung. Ein Mord durch einen Neuling an einem anderen wäre meiner Regierung auf keinen Fall plausibel zu machen. Aber wichtiger noch, sie ist nicht verloren, Nate, und damit wird Ihr Motiv noch dürftiger.«

Brazil vergaß seine Schmerzen.

»Was sagen Sie?«

»Ich sage, sie ist nicht verloren, Nate, und das entspricht der Wahrheit. Dieser Abstecher hat Hain nicht nur der Gerechtigkeit entzogen, sondern sie auch gerettet. Arkadrian war im Grunde keine Lösung. Sie waren offenbar der Ansicht, es lohne sich, sie zu retten, als Sie den Umweg machten — aber im Augenblick ist sie kaum mehr als ein dahinvegetierendes Wesen. Hain hat die Dosis offenbar stetig verringert, als sie sich an die Schmerzen immer mehr gewöhnte. Er ließ sie verfaulen — aber ganz langsam, damit es auf der Reise keine Schwierigkeiten gab. Darf ich nach dem Grund fragen, Hain?«

»Sie stammt von einer der Kom-Welten. Lebte im üblichen Bienenstock und arbeitete auf einer großen Volksfarm. Dreckarbeit — Latrinen leeren und so weiter. Der IQ genetisch beeinflußt niedrig gehalten — sie ist Arbeiterin, von Natur aus geistig zurückgeblieben und kann nur einfache Befehle ausführen. Nicht einmal auf dem Gebiet taugte sie etwas, und man setzte sie als Parteihure ein. Aber auch da versagte sie.«

»Das ist eine Verleumdung der Kom-Völker!«brauste Vardia auf. »Jeder Bürger ist dazu da, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, und dafür ist er geschaffen worden. Ohne Leute wie sie oder ich würde die ganze Gesellschaft zusammenbrechen.«

»Wollen Sie mit ihr tauschen?«fragte Brazil sarkastisch.

»Oh, natürlich nicht«, sagte Vardia. »Ich bin froh, daß ich bin, wozu man mich gemacht hat. Alles andere würde mich nicht glücklich machen. Aber auch solche Bürger sind nötig.«

»Und Sie sagen, daß meine Welt denselben Weg gegangen ist«, meinte Ortega traurig. »Aber ich hätte doch gedacht, daß derart primitive Arbeiten automatisiert sind. War ja zu meiner Zeit schon vielfach so.«

»O nein«, meinte Vardia. »Die Zukunft des Menschen ist mit dem Boden und der Natur verbunden. Die Automation führt zu gesellschaftlichem Verfall.«

»Aha«, sagte Ortega trocken. Er sah Hain an. »Aber wie sind Sie an das Mädchen geraten? Und warum haben Sie es süchtig gemacht?«

»Gelegentlich brauchen wir eine — sagen wir, Versuchsperson, ein Demonstrationsobjekt. Wir nehmen meistens solche wie sie — Kom-Leute, die niemand vermißt, die ohnehin nur dahinvegetieren. Es ist jedoch schwierig, das Zeug in ihr Essen zu schmuggeln oder auch nur bei einem Präsidiumsmitglied eine Audienz zu bekommen. Wenn man es aber einmal geschafft hat, beherrscht man die ganze Welt — eine Welt von Leuten, die darauf programmiert sind, bei allem, was sie tun, glücklich zu sein, die von Geburt an auf blinden Gehorsam gegenüber der Partei eingestellt sind. Wenn man die Königin beherrscht, folgen einem alle Bienen im Schwarm. Ich hatte eine Audienz bei einem Präsidiumsmitglied auf Coriolanus — hat drei Jahre harte Arbeit gekostet, sie zu erreichen. Es gibt Hunderte von Möglichkeiten, jemanden anzustecken, wenn man ihm einmal gegenübersitzt. Bis dahin wäre die arme Wu Julee schon im tierischen Stadium gewesen, weil ich die Dosis immer mehr verringert habe. Sie wäre die Drohung gewesen für den hochgeschätzten Herrn. Er hätte sehen können, was aus einem wird, wenn man ihm nicht hilft.«

»Auf meiner Welt wäre so etwas nicht möglich«, sagte Vardia stolz. »Ein Präsidiumsmitglied würde Sie, das Mädchen und sich selbst sofort einer Todesfabrik übergeben.«

Hain lachte.

»Ihr erstaunt mich immer wieder«, sagte er. »Glaubt ihr denn wirklich, eure Oberen wären so? Sie sind Nachkommen der ursprünglichen Partei, die sich in der fernen, größtenteils verlorengegangenen Geschichte ausgebreitet hat. Sie verkündeten Gleichheit und behaupteten, von einem künftigen Utopia zu träumen, wo es keinen Staat mehr geben werde, nichts. Sie wollten aber nicht einmal vor sich selber zugeben, daß sie in Wahrheit nur die Macht liebten — sie haben nie auf den Feldern gearbeitet, sie haben überhaupt nicht gearbeitet, nur Befehle erteilt und Pläne entworfen. Und die Kinder ihrer Kindeskinder tun das immer noch. Ein Planet voll glücklicher, zufriedener, gehorsamer Sklaven, die alles tun, was man von ihnen verlangt. Und wenn der Schmerz anfängt, kaum eine Stunde nach der Infektion, tun sie alles, um am Leben zu bleiben. Alles

»Aber doch recht riskant für Sie, nicht?«sagte Ortega. »Wenn Sie nun trotz allem von einem Fanatiker umgebracht werden?«

»Risiken gibt es überall«, meinte Hain achselzuckend. »Wir verlieren die meisten Leute, wenn sie sich hocharbeiten. Aber wir sind alle Außenseiter, Verlierer, oder Leute, die auf den schlimmsten aller Welten ganz unten angefangen haben. Wir sind nicht zur Macht geboren — wir strengen uns dafür an, gehen Risiken dafür ein, verdienen sie uns. Und — der Sieger kassiert die Beute.«

Ortega nickte grimmig.

»Wie viele — ruhig, Nate, oder ich geb' Ihnen wieder eins drauf —, wie viele Welten beherrschen Sie jetzt?«

»Wer weiß das?«sagte Hain. »Ich sitze nicht im Rat. Über zehn Prozent — dreißig, fünfunddreißig vielleicht — und es werden mehr. Und für jede Kolonie, die wir übernehmen, entstehen zwei neue, so daß das Reich sich ständig ausdehnt. Und das wird es eines Tages sein — ein Reich. Ein großes Reich. Vielleicht einmal die ganze Galaxis.«

»Beherrscht vom Abschaum«, sagte Brazil dumpf.

»Von den Stärksten«, gab Hain zurück. »Den Klügsten, den Überlebensfähigen. Von den Leuten, die es verdienen.«

»Ich zögere, soviel Böses in diese Welt hereinzulassen«, sagte Ortega, »aber wir haben hier schon genauso Schlimmes und Schlimmeres gehabt. Diese Welt wird Sie voll und ganz auf die Probe stellen, Hain. Ich glaube, sie wird Sie zuletzt das Leben kosten, aber das ist Ihre Sache. Hier gibt es keinen Schwamm und keine anderen Suchtmittel. Selbst wenn es sie gäbe, müßten Sie sie an fünfzehnhundertsechzig verschiedenen Arten ausprobieren, und manche davon sind so fremdartig, daß Sie nicht einmal begreifen können, was sie sind, warum sie tun, was sie tun, oder ob sie überhaupt etwas tun. Manche dagegen werden fast so sein wie die zu Hause. Diese Welt ist ein Irrenhaus, Hain. Eine Welt, die vom Wahnsinn geschaffen wurde, glaube ich, und sie wird Sie töten. Wir werden sehen.«

Sie schwiegen eine Zeit. Schließlich brach Brazil das Schweigen. »Sie haben gesagt, sie ist nicht verloren, Serge. Warum nicht?«

»Es hängt mit dieser Welt und dem zusammen, was sie mit den Leuten tut«, erwiderte der Schlangenmann. »Ich sage Ihnen später alles. Aber — hier verwandelt man sich nicht nur, man bekommt auch wieder, was man verloren hat. Man bekommt seine volle Gesundheit wieder, Nate, und selbst Ihr Gedächtnis wird sich wieder einstellen. Sie werden sich sogar an Dinge erinnern, von denen Sie nichts mehr wissen wollen. Und Sie werden auf das, was und wo Sie sind, vorbereitet — programmiert, wenn Sie so wollen. Nicht in dem Sinn, wie auf den Kom-Welten — was Sie brauchen. Das verschafft Ihnen einen neuen Anfang, Nate — doch hier gibt es keine Verjüngung. Das ist eine einmalige Angelegenheit, Leute — ein frischer Anfang. Aber ihr werdet hier früher oder später sterben, und die Spanne hängt davon ab, was ihr seid.«


* * *

Sie schliefen auf Liegen, die Ortega zur Verfügung stellte. Alle waren todmüde, und Brazil hatte auch den k.o.-Schlag des Riesenwesens, das die Reinkarnation seines früheren Freundes zu sein schien, noch nicht verdaut. Hain schlief getrennt von den anderen, eingeschlossen in ein Büro, dessen Örtlichkeit der jähzornige kleine Kapitän nicht erfuhr.

Am nächsten Morgen wurden sie von Ortega geweckt. Sie nahmen an, daß es Morgen war, obwohl sie nicht im Freien gewesen waren und auch gar nicht wußten, wie es draußen auf diesem sonderbaren und doch auf irgendeine Weise vertrauten Planeten aussah. Ein Frühstück alten Stils aus, wie es aussah, normalen Hühnereiern, gerührt, Wurst, Toast und Kaffee erwartete sie, serviert von demselben kleinen Wagen, der am Abend vorher schon das Essen gebracht hatte. Als sie gegessen hatten und der Wagen auf kleinen Reifen davongesummt war, drückte Ortega auf einen anderen Knopf seiner kleinen Konsole, worauf an seiner rechten Seite ein Bildschirm heruntersank.

»Die Zeit ist hier leider begrenzt — sowohl für euch, als auch, weil ich viele andere Pflichten habe, für mich. Als ich vor langer Zeit in Zone abgesetzt wurde, hatte ich nur eine kurze Orientierung, bevor man mich hinausfeuerte. Ich wollte Ihnen ein bißchen mehr vermitteln, damit Sie es leichter haben als ich.«

»Wie lange ist das eigentlich her, daß Sie hier abgestürzt sind, Bürger Ortega?«fragte Vardia.

»Hm, schwer zu sagen. Weit über siebzig Standardjahre — es werden doch immer noch dieselben Jahre verwendet, Nate, oder?«

Brazil nickte, und Ortega fuhr fort:»Es war während einer unruhigen Zeit, und ich schmuggelte Waffen für streikende Arbeiter auf Astroiden hinter dem Sirius. Ich brachte sie auch hin, entkam allen Polizisten, geriet aber in irgendeine verdammte Röhre mitten im Weltraum, bevor ich ÜLG erreichen konnte oder sonst was. Ich habe erfahren, daß die meisten — vielleicht eine übergroße Mehrheit — der Portale auf Planeten sind, und vielleicht war das auch einmal bei diesem der Fall. Vielleicht sind alle diese Asteroiden früher ein markovischer Planet gewesen, der aus irgendeinem Grund auseinanderbrach.«

»Wie lange gibt es das hier — diesen Planeten — schon, Serge?«fragte Brazil.

»Das weiß niemand. Länger als die Menschheit, Nate. Ein paar Millionen Jahre, dem Anschein nach. Da die ältesten Angehörigen der ältesten Rasse auf dem Planeten nur vierhundert Jahre alt sind — und sie befinden sich schon an der Schwelle des Todes —, ist die alte Geschichte der Welt hier so in Rätsel und Mythologie gehüllt wie unsere eigene. Es geht bei allem um die Markovier — weiß einer von euch etwas über sie?«

»Niemand weiß sehr viel«, erwiderte Brazil. »Eine Art Superrasse, die ihre Planeten mit Gehirnen unter der Oberfläche betrieb und plötzlich ausstarb.«

»Das wäre es so ungefähr«, bestätigte Ortega. »Die Wissenschaftler hier glauben, daß sie vor zwei bis fünf Millionen Jahren ihre Blütezeit hatten. Und sie waren über die ganze Galaxis ausgebreitet, Nate. Vielleicht noch weiter. Schwer zu sagen, aber hier stürzen viele herein, deren Wissen vom Universum nicht mit dem übereinstimmt, was wir Menschen wissen. Und das ist das Allerseltsamste — verdammt viele davon sind nahezu menschlich.«

»In welcher Beziehung meinen Sie das, Serge?«fragte Brazil. »Menschlich wie wir oder wie Sie?«

Ortega lachte.

»Beides. Humanoid wäre vielleicht ein besserer Ausdruck. Also, laßt euch zuerst einmal zeigen, was euch bevorsteht, und den Rest erkläre ich nebenbei.«Der Schlangenmann verdunkelte die Beleuchtung, und eine Karte, die zwei Halbkugeln zeigte, erschien auf dem Bildschirm. Sie sah aus wie eine normale Planetenkarte, aber die beiden Kreise waren von Pol zu Pol mit Sechsecken ausgefüllt.

»Die Markovier, die ganz verrückt nach der Zahl Sechs waren, haben diese Welt erbaut«, begann Ortega. »Wir wissen nicht, wie oder warum, aber wir wissen, was. Jede ihrer Welten hatte mindestens ein Portal von der Art, das einen hierher befördert. Ihr befindet euch jetzt an der Südpol-Zone, was aus naheliegenden Gründen hier nicht exakt dargestellt werden kann. Alles auf Kohlenstoff beruhende Leben kommt hierher, und alle Hexagons nördlich von uns bis zu dieser dicken Äquatorlinie sind auf Kohlenstoff aufgebaut oder könnten in einer auf Kohlenstoff beruhenden Umwelt leben. Die Mechs von Hex Drei-Siebenundsechzig sind beispielsweise nicht auf Kohlenstoff aufgebaut, aber ihr könntet in ihrem Hex leben.«

»Die Nordpol-Zone ist also für die biologischen Exoten gedacht?«fragte Hain.

Ortega nickte.

»Ja, dort sind die wahren Fremdwesen, mit denen wir buchstäblich nichts gemein haben. Ihre Hexe reichen auf der nördlichen Halbkugel bis zum Äquator herunter.«

»Ist das schwarze Band am Äquator nur eine Karten-Trennlinie oder etwas anderes?«fragte Vardia.

»Nein, das ist nicht nur auf der Karte, und es war scharfsinnig von Ihnen, das zu bemerken. Es ist — nun, am besten kann ich es beschreiben als eine glatte Mauer, undurchsichtig und mehrere Kilometer hoch. Man kann sie eigentlich nicht sehen, bis man vor ihr steht, unmittelbar vor der Grenze des letzten Hex. Man kann nicht hindurch und sie nicht überfliegen oder sonst irgend etwas. Sie ist, nun, einfach da. Wir haben natürlich einige Theorien darüber, und die beste ist, daß es sich um den bloßliegenden Teil des markovischen Gehirns handelt, das, wie es scheint, den ganzen Kern dieses Planeten ausmacht. Der alte Name dafür scheint zu sein ›Der Schacht der Seelen‹ — und es gibt einen alten Spruch hier: ›Bis Mitternacht am Schacht der Seelen‹, den ihr vermutlich hören werdet. Das ist jetzt nur ein alter Ritualspruch, aber er könnte früher, in der fernen Vorgeschichte, einen echten Sinn gehabt haben. Wenn das der Schacht der Seelen ist, dann muß immer irgendwo Mitternacht sein!«

»Was stellen die Sechsecke dar?«fragte Hain.

»Nun, es gibt auf dem Planeten fünfzehnhundertsechzig davon«, erwiderte Ortega. »Niemand weiß auch hier, was der Grund ist, aber die Zahl enthält wenigstens nur eine Sechs. Jedes Hexagon ist von gleicher Größe — jede der sechs Seiten ist knapp unter dreihundertfünfundfünfzig Kilometer lang, mit einem Durchmesser von etwas unter sechshundertfünfzehn Kilometern. Man braucht nicht zu betonen, daß sie nicht unsere Maße verwendet haben, als sie die Welt bauten, und wir wissen nicht, welches System sie hatten, aber das verschafft euch eine Vorstellung nach unseren Maßstäben.«

»Aber was ist in den Sechsecken?«fragte Brazil.

»Nun, man könnte sie Nationen mit Grenzen nennen«, antwortete Ortega, »aber das wäre eine Untertreibung. Jedes Hex ist eine abgeschlossene Biosphäre für eine bestimmte Lebensform — und für verwandte niedrigere Lebensformen. Sie werden alle vom markovischen Gehirn aufrechterhalten, und jede einzelne wird auch auf einer bestimmten technologischen Ebene gehalten. Die soziale Höhe wird dem überlassen, was die Bewohner entwickeln können oder haben wollen, so daß es von Monarchien über Diktaturen bis zur Anarchie alles gibt.«

»Was meinen Sie mit technologischer Ebene?«fragte Brazil. »Soll das heißen, daß es Stellen gibt, wo Maschinen vorhanden sind, und andere, wo das nicht der Fall ist?«

»Hm, ja, das natürlich«, bestätigte Ortega. »Aber, nun, man kann nur die technologische Höhe erreichen, die durch die Hilfsmittel im Hex selbst möglich wird. Alles, was darüber hinausgeht, funktioniert einfach nicht, wie gestern Hains Pistole.«

»Ich habe den Eindruck, daß ihr hier eigentlich völlig übervölkert sein müßtet«, sagte Brazil. »Schließlich gehe ich davon aus, daß alle Wesen sich hier fortpflanzen — und dann befördert das markovische Gehirn noch zusätzlich Leute hierher.«

»Dazu kommt es einfach nicht«, erwiderte Ortega. »Zum einen kann man hier, wie gesagt, sterben und tut es auch. Manche Hexe haben sehr billiges Leben, manche Arten leben vergleichsweise kurze Zeit. Die Fortpflanzungsraten sind der Todesrate angeglichen. Wenn Übervölkerung droht und natürliche Faktoren wie Katastrophen, die es hier geben kann, oder Kriege, die auch vorkommen, wenngleich sie nicht übermäßig häufig und in der Regel lokal begrenzt sind, die Zahlen nicht vermindern, nun, dann wird der Großteil der folgenden Nachkommenschaft in jeder Beziehung normal, aber unfruchtbar geboren, mit nur einer ganz kleinen Zahl, die für den Fortbestand der Art sorgen kann. Wenn die Bevölkerung zurückgeht, werden wieder fruchtbare Nachkommen geboren. In jedem Hex ist die Bevölkerung tatsächlich ziemlich stabil — von einer Untergrenze bei ungefähr zwanzigtausend bis zu einer Obergrenze von über einer Million. Was Neuzugänge wie euch angeht — nun, die Markovier hatten sich, wie gesagt, weit ausgedehnt, aber viele ihrer alten Gehirne sind tot und manche der Portale aus dem einen oder anderen Grund für immer geschlossen. Andere sind so gut getarnt, daß es ein so absurdes Danebentappen wie das meine braucht, damit man den Eingang findet. Wir haben insgesamt im Jahr nicht mehr als um die hundert Neuzugänge. Wenn der Schacht aktiviert wird, haben wir ein Auslösesignal, und einige von uns wechseln sich täglich ab, um auf die Alarmsignale zu reagieren. War reines Glück, daß ich auf euch gestoßen bin, aber ich mache auch oft Dienst. Manche von den Leuten hier schätzen Neulinge gar nicht und behandeln sie schlecht, also übernehme ich ihren Dienst, und sie sind mir verpflichtet.«

»Es gibt hier also Vertreter aller Rassen der südlichen Halbkugel?«fragte Vardia.

Der Schlangenmann nickte.

»Von den meisten. Zone ist eigentlich eine Art Botschafterstation. Die Entfernungen sind hier riesig, die Reisen dauern lange, so daß hier in Zone Vertreter aller Arten sich treffen und gemeinsame Probleme besprechen können. Das Portal — zu dem wir bald kommen — bringt mich schlagartig nach Hause, obwohl es, hol's der Teufel, niemanden hin- und herbefördert außer von hier zu seinem eigenen Hex. Ah, ja, es gibt eine besondere Kammer für die aus dem Norden, und in der Nord-Zone eine für uns, nur für den Fall, daß wir etwas zu besprechen haben — was selten vorkommt. Sie haben gelegentlich etwas, das bei uns knapp ist, oder unsere Wissenschaftler und die ihren wollen Vergleiche anstellen oder irgend etwas in dieser Art. Aber sie sind von uns so verschieden, daß das ganz selten vorkommt.«

Brazil starrte den anderen an und sagte:»Serge, Sie erklären uns die Welt, so gut Sie können, aber eines haben Sie nicht erwähnt — wie ist aus einem kleinen romanischen Burschen wie Ihnen eine sechsarmige Walroß-Schlange geworden?«

Ortegas Miene wirkte resigniert.

»Ich dachte, das ergibt sich von selbst. Wenn man das erstemal zum Portal hinauskommt, entscheidet das Gehirn, welches Hex eine Person oder auch vier aufnehmen kann, und das wird man dann. Ihr werdet natürlich auch im richtigen Hex landen.«

»Und was dann?«fragte Hain nervös.

»Nun, dann kommt natürlich eine Zeit der Anpassung. Ich bin durch das Portal so gekommen, wie Nate mich in Erinnerung hat, und tauchte im Land der Uliks so auf, wie ich jetzt aussehe. Ich brauchte eine Weile, um mich an alles zu gewöhnen, und noch länger, um in meinem Kopf mit den Dingen fertigzuwerden, aber, na ja, die Verwandlung führt auch zu einer Anpassung. Ich stellte fest, daß ich die Sprache beherrschte, jedenfalls alle Entsprechungen zu meiner alten, und begann, mich in meiner neuen körperlichen Rolle immer behaglicher zu fühlen. Ich bin zu einem Ulik geworden, Nate, während ich geblieben bin, der ich war. Jetzt kann ich mich kaum noch erinnern, wie es gewesen ist, anders zu sein. Theoretisch, ja, gewiß — mein Verstand ist nie klarer gewesen. Aber die fremden Wesen seid jetzt ihr

Es blieb lange still, als sie die Informationen verdauten. Dann sagte Brazil:»Aber wenn es siebenhundertachtzig Lebensformen mit entsprechenden Biosphären gibt, Serge, warum hat es dann hier im Süden kein Weltbürgertum gegeben? Ich meine, warum sitzt jeder in seinem kleinen Bereich fest?«

»Es gibt natürlich eine gewisse Vermischung«, erwiderte Ortega. »Manche Hexagons sind vereinigt worden, andere nicht. Die Leute bleiben aber meist in ihren Gebieten, weil jedes anders ist. Außerdem haben die Leute Andersartige nie gut leiden können. Die Menschheit — die unsere und offenbar auch die aller anderen — hat stets selbst nach kleinen Vorwänden gesucht, andere Gruppen zu hassen. Hautfarbe, Sprache, sonderbar geformte Nasen, Religion oder irgend etwas anderes. Zu verschiedenen Zeiten sind hier viele Kriege geführt worden, und es hat große Gemetzel gegeben. Das ist jetzt selten — verlieren tun alle dabei. Also hält sich in der Regel jeder an sein eigenes Hex und kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten. Außerdem kommt der Faktor der Vereinbarkeit dazu. Könnten Sie sich wirklich mit einer drei Meter großen Haarspinne gut verstehen, die Lebendfleisch frißt, selbst wenn sie nebenbei Schach spielt und Orchestermusik liebt? Und — könnte eine Gesellschaft mit hoher Technologie ein Hex erobern, wo ihre Technologie nicht funktioniert? Auf diese Weise wird eine Art Gleichgewicht gewahrt — technologische Hexe erwerben notwendige Güter wie Lebensmittel von nicht-technologischen Farm-Hexagons, wo Anarchie herrscht und nur Schwerter wirksam sind. Und in manchen Hexagons gibt es natürlich recht tüchtige Zauberer — und ihre Sprüche wirken.«

»Ach, hören Sie«, sagte Hain angewidert. »Ich glaube ja viel — aber Magie? Unsinn!«

»Alles, was Magie bedeutet, ist eine Grenzlinie zwischen Wissen und Unwissenheit«, gab Ortega zurück. »Ein Magier ist jemand, der etwas kann, das man selbst nicht kann. Für einen Primitiven ist etwa alle Technologie Zauberei. Vergessen Sie nicht, das ist eine sehr alte Welt, und ihre Bewohner unterscheiden sich von allem, was Sie kennen. Wenn Sie — irgend jemand von Ihnen — den Fehler machen, Ihre eigenen Maßstäbe, eigene Regeln, eigene Vorurteile auf irgend etwas davon anzuwenden, haben Sie keine Chance.«

»Können Sie mich über die allgemeine politische Lage informieren, Serge?«fragte Brazil. »Ich möchte weit mehr wissen, bevor ich da hinausgehe.«

»Nate, das schaffe ich in einer Million Jahren nicht. Wie bei jedem Planeten mit einer hohen Zahl von Ländern und gesellschaftlichen Systemen ist alles ständig im Fluß. Die Bedingungen ändern sich, ebenso die Machthaber. Sie werden im Lauf der Zeit alles lernen müssen. Ich kann nur sagen, daß es eine Menge kleiner Auseinandersetzungen gibt und große Konflikte ausbrechen würden, wenn irgendeine Seite einen Weg finden würde, sich durchzusetzen. Vor ungefähr tausend Jahren hat ein General mehr als sechzig Hexagons erobert. Aber am Ende scheiterte er an der Notwendigkeit langer Nachschublinien und an seiner Unfähigkeit, einige nicht vereinbare Hexagons in seinem Rücken zu unterdrücken, die ihn schließlich von hinten aufrollten. Hier wird jetzt alles eher mit Biegen als mit Brechen gemacht.«

»Meine Linie«, sagte Hain leise.

»Und jetzt müßt ihr gehen«, schloß Ortega. »Ich kann euch nicht länger als einen Tag hierbehalten und das vor meiner Regierung rechtfertigen. Ihr könnt ohnehin nicht auf unbestimmte Zeit aufschieben hinauszugehen.«

»Aber es müssen doch noch viel mehr Fragen beantwortet werden«, sagte Vardia. »Klima, Jahreszeiten, Tausende von entscheidenden Einzelheiten.«

»Was das Klima angeht, so unterscheidet es sich von einem Hex zum anderen, hat aber keinen Zusammenhang mit der geographischen Lage«, erklärte Ortega. »Das Klima wird in jedem Fall vom Gehirn bestimmt. Überall auf dem Globus herrscht genau fünfzig Prozent jedes vollen Tages Tageslicht. Die Tage liegen innerhalb weniger Stunden im Standard, so daß es vierzehnundeinachtel Standard-Tagesstunden und ebensoviele Nachtstunden gibt. Die Achse ist genau senkrecht gestellt — keinerlei Achsenneigung. Aber das verändert sich auf künstliche Weise. Und — sehen Sie! Ich könnte ewig weitermachen, und Sie würden nie genug wissen.«

»Wenn ich mich nun weigere?«fragte Vardia und hob ihren Degen.

Mit derselben blitzschnellen Bewegung, die schon bei dem Kampf am Vortag zu bemerken gewesen war, schnellte Ortegas Schlangenkörper wie eine zusammengedrückte Feder hinaus, riß den Degen an sich und war in weniger als einer halben Sekunde wieder hinter dem Schreibtisch. Er sah sie traurig an.

»Sie haben überhaupt keine Wahl«, sagte er leise. »Kommt ihr jetzt alle mit?«

Sie folgten dem Ulik-Botschafter widerwillig, aber resigniert. Er führte sie wieder den langen, gewundenen Korridor hinunter, durch den sie am Vortag hereingekommen waren, und allen kam es vor, als wollte der Weg nie enden.

Nach etwa einer halben Stunde stellten sie fest, daß der Korridor sich in einen großen Raum öffnete. Drei Seiten waren nackte, kunststoffartige Wände, ähnlich denen in Ortegas Büro, aber ohne Verzierungen. Die vierte war völlig schwarz.

»Das ist das Portal«, erklärte Ortega. »Wir benutzen es, um zwischen unseren eigenen Hexagons und Zone hin- und herzugelangen, und ihr benutzt es für eure Zuweisung. Bitte, habt keine Angst. Das Portal wird eure Persönlichkeit nicht verändern, und nach der Anpassungszeit werdet ihr feststellen, daß ihr geistig besser in Form seid als vorher. Für das kleine Mädchen hier wird der Durchgang bedeuten, daß die Normalität wiederkehrt, daß die Sucht geheilt ist, daß die Einschränkungen ihres Intelligenzquotienten und ihrer Fähigkeiten aufgehoben werden. Sie mag natürlich immer noch eine eher dumpfe Arbeiterin sein, wird aber auf keinen Fall schlechter dastehen als vor ihrer Sucht.«

Keiner von ihnen stürzte durch das Portal.

Schließlich wurden sie von Ortega gedrängt.

»Die Tür hinter euch ist geschlossen. Niemand, nicht einmal ich, kann in Zone zurück, bevor er zuerst in einem Hexagon gewesen ist. So funktioniert das System.«

»Ich gehe als erster«, sagte Brazil plötzlich und trat einen Schritt auf das Portal zu. Er spürte eine große Hand auf seiner Schulter, die ihn zurückhielt.

»Nein, Nate, nicht jetzt«, flüsterte Ortega. »Als letzter.«

Brazil war verwirrt, begriff aber die Absicht. Der Botschafter wollte ihm etwas sagen, das die anderen nicht hören sollten. Brazil nickte und wandte sich an Hain.

»Wie wäre es mit Ihnen, Hain? Oder soll ich wieder auf Sie losgehen? Wir sind nicht mehr in der Botschaft.«

»Beim erstenmal haben Sie mich überrascht, Captain«, erwiderte Hain höhnisch. »Aber wenn Sie in Ruhe nachdenken, wissen Sie, daß ich Sie fertigmachen kann. Botschafter Ortega hat Ihnen das Leben gerettet, nicht mir. Ich werde trotzdem gehen. Dort draußen liegt meine Zukunft.«Damit schritt Hain zuversichtlich in die Schwärze hinein.

Die Dunkelheit schien ihn augenblicklich zu verschlucken. Sonst war nichts zu sehen.

Vardia und Wu Julee blieben regungslos stehen.

Ortega ergriff Wu Julees linken Arm und drängte sie zu der schwarzen Wand. Sie schien nicht protestieren zu wollen, bis sie ganz nah an die Dunkelheit herangekommen war, dann blieb sie plötzlich stehen und schrie:»Nein! Nein!«Sie drehte den Kopf und starrte Brazil flehend an.

»Nur zu«, sagte er leise, aber sie riß sich los und lief zu ihm zurück.

»Sie müssen gehen«, sagte Brazil. »Sie müssen. Ich werde Sie finden.«

Sie klammerte sich an ihm fest. Plötzlich wurde sie mit solcher Heftigkeit von ihm fortgerissen, daß Brazil zu Boden stürzte. Ortega schleuderte sie im nächsten Augenblick in die Schwärze.

Sie schrie auf, aber der Schrei riß ab, als die Dunkelheit sie aufnahm, so plötzlich, als hätte man eine Schallaufzeichnung schlagartig abgeschaltet.

»Das ist manchmal wirklich unerfreulich«, sagte Ortega bedrückt. Er drehte sich um und sah Brazil an, der sich aufraffte. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte Brazil und sah dem Wesen in die traurigen Augen. »Ich verstehe, Serge.«

Ortega streckte den rechten oberen Arm aus und drückte Brazil an sich. In seinen Augen standen Tränen.

»Mein Gott!«rief der Schlangenmann. »Wie kann die Größe in Menschen so ungeliebt sein?«Er ließ Brazil los und drehte sich nach Vardia um, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte. In ihrem geordneten, geplanten Leben war sie solche Umwälzungen einfach nicht gewohnt.

Brazil überlegte kurz und glaubte, die Lösung gefunden zu haben.

»Vardia«, sagte er im Befehlston, »wir haben uns eine Aufgabe gestellt, als wir auf Dalgonia landeten. Die Fährte hat uns hierhergeführt. Jetzt führt sie dort hinein. Auf Dalgonia liegen sieben Leichen, Vardia. Sieben, darunter mindestens eine Person von Ihrer Welt. Sie haben eine Pflicht zu erfüllen.«

Sie atmete schwer, drehte sich plötzlich um, sah die beiden an, lief auf die Schwärze des Portals zu.

Und war verschwunden.

Brazil und Ortega standen allein im Saal.

»Was war das von sieben Leichen, Nate?«fragte der Schlangenmann.

Brazil berichtete von dem sonderbaren Notruf, dem Massenmord auf Dalgonia und den Spuren der beiden Leute, die ebenso verschwunden waren wie sie selbst.

»Hätte ich davon nur vor zehn Wochen gewußt, als die beiden hier durchkamen«, sagte Ortega ernst. »Das hätte im Rat vieles geändert.«

»Sie kennen Sie also?«

»Ja. Ich habe sie nicht selbst durchlaufen lassen, mir aber die Aufzeichnung ihrer Ankunft immer wieder angesehen. Es gab große Debatten ihretwegen, bevor sie durch das Portal gingen.«

»Wer waren sie? Was haben sie erklärt?«

»Sie kamen gemeinsam an, und einer versuchte, den anderen noch immer umzubringen, als Gre'aton — er ist vom Typ Sechs, Zweiundzwanzig, sieht so ähnlich aus wie eine Riesenheuschrecke — dem ein Ende machte. Ein paar von den mehr menschlich aussehenden Leuten griffen ein und trennten die beiden, damit sie einander nicht mehr zu Gesicht bekamen. Jeder erzählte eine phantastische Geschichte, wonach er und er allein eine Art mathematischer Beziehung entdeckt hätte, die von den markovischen Gehirnen verwendet würde. Jeder behauptete, alles im Universum sei eine Reihe von gegebener mathematischer Beziehungen, bestimmt durch ein Hauptgehirn der Markovier. Als sie die übliche Grundeinweisung erhielten, gerieten sie beide in enorme Aufregung, beide waren davon überzeugt, daß die Schacht-Welt das Hauptgehirn sei und sie auf irgendeine Weise damit in Verbindung treten und es sogar kontrollieren könnten. Jeder behauptete, der andere hätte seine Entdeckung gestohlen, hätte den anderen zu töten versucht und sei hier angekommen, um sich als Gott einzusetzen. Natürlich behauptete jeder auch, er versuche, den anderen daran zu hindern.«

»Habt ihr ihnen geglaubt?«

»Sie waren recht überzeugend. Wir haben die üblichen Lügendetektoren angewandt und es mit einem aus dem Norden mit Telepathie versucht, und die Ergebnisse waren stets dieselben.«

»Nämlich?«

»So weit wir das feststellen konnten — über die Methoden für eine wirkliche wissenschaftliche Untersuchung verfügen wir nicht — sagten sie beide die Wahrheit

»Sie meinen, sie waren durch und durch Psychopathen?«

»Nein, jeder glaubt wirklich, er hätte entdeckt, was der Code bedeutet, und jeder glaubt, der andere hätte ihn gestohlen, und jeder glaubt, er wäre geeignet als Gott und der andere grauenhaft:«

»Glauben Sie wirklich an diese göttliche Sache?«

»Wer weiß? Eine Reihe von Leuten hier haben ähnliche Ideen, aber noch keiner hat etwas damit anfangen können. Wir haben einen Rat einberufen — eine Vollsitzung mit über zwölfhundert Botschaftern. Allen wurden die Tatsachen vorgelegt, und man debattierte über alles. Die Idee erklärt natürlich vieles. Die ganze Magie etwa. Aber sie ist überaus esoterisch. Und selbst wenn es wahr wäre, würde es nicht viel bedeuten, wie einige unserer mathematisch gesinnten Freunde betonten, weil niemand das Gehirn verändern könnte. Am Ende stimmte die Mehrheit dafür ab, sie durchzulassen, obwohl auch viele Stimmen sich dafür aussprachen, sie zu töten.«

»Für was haben Sie gestimmt?«

»Für ihren Tod, Nate. Sie sind beide Wahnsinnige und beide genial. Jeder glaubte, er könnte tun, was er sich vorgenommen hat, und beide schienen zu glauben, es sei Schicksal, daß sie so bald nach der Entdeckung hierhergebracht worden seien.«

»Glauben Sie das auch?«

»Ja. Im Augenblick halte ich die beiden für die gefährlichsten Wesen im ganzen Universum. Und, was noch wichtiger ist, ich glaube, daß einer von ihnen, welcher, weiß ich nicht, Aussicht auf Erfolg hat.«

»Wie heißen sie und wo kommen sie her, Serge?«

Ortegas Augen funkelten.

»Gott in seiner unendlichen Weisheit übt also doch Gnade. Sie wollen ihnen das Handwerk legen, und dazu hat Gott sie uns geschickt.«

Brazil überlegte.

»Serge, haben Sie je davon gehört, daß ein markovisches Gehirn Leute in die Falle lockt, indem es falsche Signale aussendet?«

»Nein, soviel ich weiß, war es immer nur Zufall. Deshalb kommen so wenige. Verstehen Sie jetzt, was ich meine, wenn ich sage, Gott hat Sie geschickt?«

»Irgend jemand war es ganz bestimmt«, sagte Brazil trocken. »Ich würde zu gern die Filme sehen und möglichst viel über sie erfahren, bevor ich versuche, zwei unsichtbare Nadeln in einem planetengroßen Heuhaufen zu suchen.«

»Das können Sie«, versicherte Ortega. »Ich habe das ganze Material in meinem Büro.«

Brazil starrte ihn an.

»Aber Sie haben gesagt, es führt kein Weg zurück.«

Ortega zuckte alle sechs Achseln.

»War gelogen«, antwortete er.


* * *

Einige Stunden danach hatte Brazil alles erfahren, was die Aufzeichnungen ihm mitteilen konnten.

»Können Sie mir irgendeinen Hinweis auf Skander und Varnett geben?«fragte er schließlich. »Wo sind sie jetzt? Und was?«

»Neuankömmlinge fallen hier ziemlich stark auf, weil es so wenige sind und sie einfach herausragen. Aber ich kann Ihnen gar nichts sagen. Der Planet scheint sie verschluckt zu haben.«

»Ist das nicht ungewöhnlich? Oder sogar verdächtig?«

»Verstehe, was Sie meinen. Der ganze Planet hat gesehen und gehört, was ich Ihnen vorgeführt habe. Sie könnten natürliche Verbündete besitzen.«

»Ja, das macht mir die meisten Sorgen. Alles spricht dafür, daß hier ein gigantisches Wettrennen stattfindet, und daß alles hier, die Vernunft selber gegen das ist, was passieren würde, wenn die falsche Seite den Sieg davontragen würde.«

»Sie könnten beide tot sein«, meinte Ortega hoffnungsvoll.

Brazil schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, die nicht. Mindestens einer von ihnen schafft es, und er wird einen Weg finden, seine Verbündeten danach abzuhängen.«

»Sie haben die Hilfe von allen Sechsecken, die für ihren Tod gestimmt haben«, versprach Ortega.

»Gewiß, Serge, und ich werde das nutzen, wenn es sein muß. Aber im Grunde ist das etwas für einen Einzelgänger, das wissen Sie selbst am besten. Ich habe keine andere Wahl, als beide zu töten, und zwar so schnell wie möglich. Hilfe brauche ich vielleicht, um hinzukommen.«

»Wohin?«

»Zum Schacht der Seelen, natürlich. Und das vor Mitternacht.«

Ortega glotzte ihn an.

»Aber das ist doch nur ein alter Spruch —«

»Es ist die Lösung, Serge«, gab Brazil zurück. »Nur konnte niemand den Code entziffern und ihn anwenden.«

»Darauf gibt es im Grunde keine Antwort. Es ergibt einfach keinen Sinn.«

»Doch. Es ist die Antwort auf eine ungeheuerliche Frage, und der Schlüssel zur unfaßbarsten Bedrohung. Ich habe Skanders und Varnetts Augen aufleuchten sehen, als sie den Satz das erstemal hörten, Serge.«

»Aber wie lautet die Frage?«sagte Ortega verwirrt.

»Das weiß ich noch nicht. Doch sie hielten den Satz für die Antwort, und sie glauben beide, der Sache auf den Grund gehen zu können. Wenn sie es können, kann ich es auch. Hören Sie, Serge, warum ist diese Welt gebaut worden? Nein, nicht das Gehirn; wir gehen davon aus, daß es dem Universum eine gewisse Stabilität verschafft hat. Wenn sie recht haben, sind wir alle nur Vorstellungen einer toten markovischen Einbildungskraft. Nein, warum das alles? Der Schacht, die Hexagons, die Zivilisationen? Wenn ich das beantworten kann, dann auch die größere Frage. Und ich werde dahinterkommen.«

»Woher nehmen Sie die Gewißheit?«

»Weil jemand — oder etwas — das will. Deshalb bin ich hierhergelockt worden. Deshalb bin ich überhaupt hier, Serge«, sagte Brazil erregt. »Das gleicht das Zeitliche aus. Sie haben schon einen Vorsprung von zehn Wochen, das haben Sie selbst gesagt.«

Ortega schüttelte düster den Kopf.

»Das war nur wieder meine alte Lateinerseele, Nate. Ich habe mich wieder mit Jesuiten abgegeben — ja, wir haben einige hier, aus der alten Missionszeit, sie kamen in einem einzigen Schiff und versuchten, draußen die Heiden zu bekehren. Aber überlegen Sie doch. Ohne den Umweg hätten Sie Dalgonia nie gefunden. Ohne Wu Julee hätten Sie nie den Umweg gemacht, und daß sie auf Ihrem Schiff war, kann kaum geplant gewesen sein, so wenig wie Ihre Anwandlung, sie zu retten.«

»Ich glaube, es war geplant, Serge«, sagte Brazil ruhig. »Ich glaube, ich bin von Anfang an übertölpelt worden. Ich weiß nicht, von wem oder zu welchem Zweck, aber man hat mich hereingelegt.«

»Ich wüßte nicht, wie«, sagte Ortega. »Aber selbst wenn es so wäre, wie wollten Sie je dahinterkommen?«

»Ich werde es erfahren«, erklärte Brazil. »Ich werde es wissen, um Mitternacht am Schacht der Seelen.«

Sie standen wieder, zum letztenmal, am Portal.

»Also, wir sind uns einig«, sagte Ortega. »Sobald Sie durch sind und sich orientiert haben, melden Sie sich beim örtlichen Machthaber. Alle werden von Ihrem Erscheinen unterrichtet sein, mit der Anweisung, jede Hilfe zu gewähren. Aber mindestens einer davon wird mit Ihren Gegnern unter einer Decke stecken, Nate. Seien Sie Vorsichtig. Wenn Sie umkommen, räche ich Ihren Tod.«

Brazil lächelte und blickte auf das Portal.

»Gehen Sie mit Gott, Sie alter Heide«, sagte Ortega.

Brazil trat durch das Portal.

Und in der Dunkelheit träumte er.


* * *

Er stand auf einem riesigen Schachbrett, das sich in alle Richtungen erstreckte. Sieben Bauern standen auf seiner Seite — der weißen. Sie sahen aus wie verbrannte und erstarrte Leichen auf verkohlten Betten.

Durch das zumeist gesichtslose Feld der schwarzen Figuren konnte er Skander und Varnett sehen, König und Dame.

Skander war eine Dame in wallenden Gewändern, mit einem Zepter in der Hand. Die Dame schaute sich um, konnte den König aber nicht finden. Wu Julee, ein Bauer, war vorgerückt, ebenso Vardia, ein Springer, das blitzende Schwert schwingend.

Ortega, ein Läufer, glitt rasch vorbei und wurde von einem schwarzen Turm mit dem Gesicht Datham Hains geschlagen.

Die Dame huschte vorbei, auf Hain zu, um ihm mit dem Zepter in das dicke, häßliche Gesicht zu schlagen, als Ortega plötzlich wieder auftauchte und ihn wegstieß.

»Die ganze schwarze Königsfamilie ist entkommen, Eure Hoheit!«rief Ortegas Stimme. »Sie sind unterwegs zum Schacht der Seelen!«Die Dame schaute sich um, aber von den gegnerischen Figuren war nichts zu sehen.

»Aber wo ist der Schacht der Seelen?«kreischte die Dame. »Ich kann nicht zum König, ohne es zu wissen.«

Von jenseits des Schachbretts kam überwältigendes kosmisches Gelächter. Es war gewaltig, hohl, allumfassend. Eine Riesenhand packte die Dame und schob sie ganz auf die andere Seite des Brettes. »Da sind sie«, sagte die ungeheure Stimme höhnisch.

Die Dame schaute sich um und kreischte vor Entsetzen. Der König mit Skanders Gesicht war nur auf einem Feld rechts, die Dame mit Varnetts Gesicht auf einem Feld davor aufgestellt. »Unser Zug«, sagten sie beide und lachten irr.


* * *

Brazil erwachte.

Er stand hastig auf. Seltsam, dachte er, ich bin wacher, fühle mich besser, mein Kopf ist klarer, als ich mich je erinnern kann.

Schnell betrachtete er seinen Körper, um zu sehen, was er war. Entsetzt schaute er sich um, zu den Ufern eines nahen Sees. Dort waren Tiere, und andere von seiner Art.

»Hol mich der Teufel!«sagte er laut. »Natürlich! Das mußte die Antwort auf die erste Frage sein. Ich hätte mir das in Serges Büro schon denken können.«

Manchmal mußte das Naheliegende auch noch betont werden.

Brazil bedachte, wie primitiv es hier war, und machte sich sorgenvoll auf den Weg, um festzustellen, ob er das Zone-Portal finden konnte.

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