Dritter Tag

Neun

Früh am darauf folgenden Tag trafen sich Erlendur, Sigurður Óli und Elínborg zu einer Besprechung im Hotel. Sie bedienten sich am Frühstücksbüfett und nahmen etwas abseits an einem kleinen runden Tisch Platz. In der Nacht hatte es zwar geschneit, es war dann aber wieder wärmer geworden, und auf den Straßen war inzwischen kein Schnee mehr zu sehen. Das Wetteramt prophezeite grüne Weihnachten. Der Weihnachtsrummel hatte seinen Höhepunkt erreicht. Lange Autoschlangen bildeten sich an allen Kreuzungen Reykjaviks, und in der Stadt wimmelte es von Menschen.

»Dieser Wapshott«, sagte Sigurður Óli. »Wer ist das?«

Viel Lärm um nichts, dachte Erlendur, nahm einen Schluck Kaffee und blickte aus dem Fenster. Merkwürdiger Ort, so ein Hotel. Es war eine Abwechslung, in einem Hotel zu übernachten, aber es war ein merkwürdiges Gefühl, dass jemand in seiner Abwesenheit sein Zimmer betrat und alles in Ordnung brachte. Er verließ sein Zimmer morgens, und wenn er das nächste Mal wieder hereinkam, war jemand drinnen gewesen und hatte alles aufgeräumt; das Bett gemacht, die Handtücher ausgewechselt, ein neues Stück Seife auf das Waschbecken gelegt. Er spürte die Nähe dieser Person, die sein Zimmer in Ordnung brachte, aber er bekam sie nie zu Gesicht und wusste nicht, wer in seinem Leben aufräumte.

Er war an diesem Morgen zur Rezeption gegangen und hatte darum gebeten, dass sein Zimmer nicht angerührt wurde.

Wapshott würde sich im Verlauf des Vormittags noch einmal mit ihm treffen und ihm mehr über seine Plattensammlung und die Karriere von Guðlaugur Egilsson erzählen. Sie hatten sich mit Handschlag verabschiedet, nachdem sie gestern Abend von Valgerður unterbrochen worden waren. Wapshott hatte kerzengerade dagestanden und darauf gewartet, dass Erlendur ihn dieser Frau vorstellen würde, aber als nichts dergleichen geschah, streckte er selber die Hand aus, sagte seinen Namen und verbeugte sich. Dann zog er sich mit der Entschuldigung zurück, er sei müde und hungrig und wolle noch mal kurz auf sein Zimmer, bevor er etwas zu sich nähme und anschließend zu Bett ginge.

Sie hatten ihn nicht in den Speisesaal kommen sehen, während sie dort aßen und miteinander redeten. Vielleicht hatte er sich das Essen aufs Zimmer bestellt. Valgerður hatte bemerkt, wie müde er aussah.

Erlendur hatte sie zur Garderobe begleitet und ihr in die schöne Lederjacke geholfen. Er war mit ihr zur Drehtür gegangen, wo sie einen Augenblick innehielten, bevor sie in das Schneetreiben hinausging. Beim Einschlafen, nachdem Eva Lind ihn verlassen hatte, begleitete ihn Valgerðurs Lächeln in den Schlaf und ein schwacher Hauch von ihrem Parfüm, der an seiner Hand haften geblieben war, nachdem sie sich verabschiedet hatten.

»Erlendur?«, sagte Sigurður Óli. »Hallo? Was für ein Mann ist Wapshott?«

»Ich weiß nur, dass er Engländer ist und Platten sammelt«, erklärte Erlendur, der ihnen über das Gespräch mit Wapshott berichtet hatte. »Und er wird morgen das Hotel verlassen. Du solltest dich telefonisch mit den Kollegen in England in Verbindung setzen und Erkundigungen über ihn einziehen. Ich treffe ihn am späten Vormittag noch einmal, und dann kriege ich mehr aus ihm heraus.«

»Ein Chorknabe?«, fragte Elinborg. »Wer würde einen Chorknaben umbringen?«

»Er war natürlich kein Chorknabe mehr«, warf Sigurður Óli ein.

»Er war früher einmal berühmt«, sagte Erlendur. »Die Platten, die mit ihm herausgegeben wurden, sind offensichtlich auch heute noch gefragt und gelten als Rarität. Ihretwegen kommt Henry Wapshott extra aus England angereist, und auch seinetwegen. Sein Spezialgebiet sind Knabenchöre beziehungsweise Chorknaben.«

»Ich kenne bloß die Wiener Sängerknaben«, sagte Sigurður Óli.

»Spezialgebiet Knaben«, sagte Elinborg. »Was für ein Mensch ist das, der Chorknaben auf Schallplatten sammelt? Sollte man nicht ein bisschen darüber nachdenken? Stimmt da womöglich was nicht mit diesem Mann?«

Erlendur und Sigurður Óli schauten sich an.

»Was meinst du damit?«, fragte Erlendur.

»Was?«, sagte Elinborg und machte große Augen.

»Findest du es merkwürdig, Schallplatten zu sammeln?«

»Nicht Platten, sondern Chorknaben«, sagte Elinborg.

»Chorknaben auf Schallplatten. Da ist schon ein gewisser Unterschied, finde ich. Seht ihr wirklich nicht, dass das nicht ganz normal ist?« Sie blickte von einem zum anderen.

»Ich habe einfach nicht deine schmutzige Phantasie«, sagte Sigurður Óli und blickte auf Erlendur.

»Schmutzige Phantasie! Habe ich mir etwa den Weihnachtsmann in seinem Kabuff mit runtergelassenen Hosen und einem Kondom am Pimmel eingebildet? Brauchte es dazu irgendwelche Phantasie? Und dann stellt sich heraus, dass hier ein Mann im Hotel ist, der den Weihnachtsmann verehrt, aber nur als er zwölf Jahre alt war oder so, und er kommt extra von England hierher, um sich mit ihm zu treffen. Tickt ihr eigentlich noch richtig?«

»Deiner Meinung nach hat das also etwas mit seinem Sexualverhalten zu tun?«, fragte Erlendur.

Elinborg verdrehte die Augen.

»Tut doch nicht so, als ob ihr Mönche wärt!«

»Er ist doch bloß Schallplattensammler«, sagte Sigurður Óli.

»Wie Erlendur gesagt hat, es gibt sogar Leute, die Kotztüten sammeln. Was mögen die wohl für sexuelle Gepflogenheiten haben, gemessen an deinen Theorien?«

»Ich begreife nicht, wir ihr so blind sein könnt! Oder so verklemmt. Warum sind Männer immer so blockiert und verklemmt?«

»Mensch, fang jetzt bloß nicht mit so was an«, sagte Sigurður Óli. »Warum reden Frauen ewig darüber, dass Männer so blockiert sind. Als ob Frauen das nicht wären, mit ihrem ewigen ›Oh, ich finde meinen Lippenstift nicht‹, und ›oh …‹.«

»Blinde und verklemmte alte Mönche«, sagte Elinborg.

»Was beinhaltet das, ein Sammler zu sein?«, fragte Erlendur. »Warum häufen die Leute bestimmte Dinge um sich herum an, und warum finden sie das eine Objekt wertvoller als alles andere?«

»Einige Dinge sind wertvoller als andere«, sagte Sigurður Óli.

»Sie suchen doch wohl nach irgendwas, das besonders und einmalig ist. Etwas, das niemand anderer besitzt. Ist das nicht letztlich das Ziel? Eine Kostbarkeit zu besitzen, die niemand anderes auf der Welt besitzt.«

»Sind das nicht eher komische Zeitgenossen?«, fragte Elinborg.

»Komische?«

»Eigenbrötler. Stimmt das nicht? Sonderlinge?«

»Du hast da im Schrank bei Guðlaugur Platten gefunden«, sagte Erlendur zu ihr. »Was hast du damit gemacht? Hast du sie dir angeschaut?«

»Ich habe sie da nur im Schrank stehen sehen«, erwiderte Elinborg. »Ich habe sie nicht angerührt, und die sind da immer noch, falls du sie dir anschauen willst.«

»Wie kommt ein Mann wie Wapshott in Kontakt mit Guðlaugur?«, fuhr Elinborg fort. »Wieso hat er von ihm gewusst? Gibt’s da vielleicht Kontaktpersonen? Wie kommt er auf isländische Schallplatten mit Choraufnahmen aus den siebziger Jahren? Wieso weiß er von einem Jungen, der vor mehr als dreißig Jahren in Island Platten besungen hat?«

»Zeitschriften?«, sagte Sigurður Óli. »Internet? Telefon? Andere Sammler?«

»Wissen wir inzwischen etwas mehr über Guðlaugur?«, fragte Erlendur.

»Er hat eine Schwester«, sagte Elinborg. »Und außerdem einen Vater, der noch lebt. Sie wurden selbstverständlich von seinem Tod benachrichtigt. Die Schwester hat ihn identifiziert.«

»Müssen wir nicht auch bei Wapshott eine Speichelprobe vornehmen lassen?«, fragte Sigurður Óli.

»Doch, natürlich, ich werde mich darum kümmern«, stimmte Erlendur zu.

Sigurður Óli machte sich daran, Informationen über Henry Wapshott einzuholen, Elinborg wollte ein Treffen mit Guðlaugurs Vater und Schwester arrangieren, und Erlendur machte sich auf den Weg zu dem Kabuff im Keller. Als er an der Rezeption vorbeikam und sah, dass der Empfangschef wieder im Dienst war, nahm er sich vor, später mit ihm zu reden.

In Guðlaugurs Schrank fand er die Schallplatten. Zwei kleine Platten. Auf der Vorderseite der einen stand: Guðlaugur singt das Ave Maria von Schubert. Das war die gleiche Platte, die Henry Wapshott Erlendur gezeigt hatte. Auf der anderen stand der Chorknabe vor einem kleinen Kinderchor. Der Dirigent, ein junger Mann, stand etwas seitlich.

Guðlaugur Egilsson als Solist, stand in großen Buchstaben quer über das Cover geschrieben.

Auf der Rückseite der Plattenhülle wurde kurz dargestellt, wer dieser viel versprechende junge Solist war.


Guðlaugur Egilsson hat verdientermaßen großes Aufsehen mit dem Kinderchor von Hafnarfjörður erregt, und man kann davon ausgehen, dass dieser Zwölfjährige eine glänzende Zukunft vor sich hat. Auf dieser seiner zweiten Schallplatte singt er mit seiner wunderschönen hellen Stimme unter der Leitung von Gabríel Hermannsson, dem Dirigenten des Kinderchors von Hafnarfjörður. Diese Aufnahme gehört in die Plattensammlung all derjenigen, die schöne Musik lieben. Hier stellt Guðlaugur Egilsson als Solist unumstößlich unter Beweis, dass er über herausragende Fähigkeiten verfügt. Er wird demnächst auf einer Konzertreise in ganz Skandinavien zu hören sein.


Ein Kinderstar, dachte Erlendur und schaute auf das Plakat mit der »kleinen Prinzessin« Shirley Temple. Was machst du hier?, fragte er das Plakat. Warum hat er dich aufbewahrt? Warum bist du das Einzige, was er hinterlässt? Er kramte sein Handy hervor.

»Marian«, sagte er, als abgehoben wurde.

»Ja«, sagte die Stimme am Telefon. »Bist du das?«

»Irgendwas Neues?«

»Hast du gewusst, dass dieser Guðlaugur als Kind Schallplatteneinspielungen gemacht hat?«

»Ich komme dem Ganzen gerade auf die Spur.«

»Die Firma, die sie herausgegeben hat, machte vor ungefähr zwanzig Jahren Pleite, und von ihr existiert eigentlich gar nichts mehr. Ein Mann namens Gunnar Hansson war der Besitzer und Geschäftsführer, GH-Schallplattenproduktion nannte sie sich. Er gab während der Hippie- und Beatleszeit allen möglichen Mist heraus, aber wie gesagt, das ging alles in die Hose.«

»Weißt du, was aus den Beständen geworden ist?«

»Den Beständen?«, sagte Marian Briem.

»Den Platten.«

»Sind wahrscheinlich in die Konkursmasse eingegangen.

Ist das nicht immer so bei Konkursverfahren? Ich habe mit Verwandten von diesem Gunnar gesprochen, er hat zwei Söhne. Die Firma hat nie sehr viel herausgegeben, und sie waren bass erstaunt, als ich danach gefragt habe. Niemand hat sich in den letzten Jahren nach der Firma erkundigt.

Gunnar starb in der Mitte der neunziger Jahre, und sie sagen, dass er außer Schulden nichts hinterlassen hätte.«

»Hier im Hotel ist ein Mann, der Platten mit Choraufnahmen sammelt, mit Knabenchören und Chorknaben.

Er hatte vor, sich mit Guðlaugur zu treffen, aber daraus wurde dann nichts. Ich überlege, ob diese alten Platten irgendeinen Wert haben. Wie kann ich das in Erfahrung bringen?«

»Unterhalte dich mit Sammlern«, sagte Marian. »Oder möchtest du, dass ich mich darum kümmere?«

»Ja ja, aber vielleicht noch etwas. Kannst du einen Mann namens Gabríel Hermannsson ausfindig machen, der in den siebziger Jahren den Kinderchor von Hamarfjörður geleitet hat? Wenn er noch lebt, steht er bestimmt im Telefonbuch. Ich habe hier eine Plattenhülle, da ist er auch drauf, und er scheint mir so Mitte dreißig zu sein. Falls er tot ist, ist es natürlich hoffnungslos.«

»Das ist in der Regel so.«

»Was?«

»Wenn man tot ist, ist es hoffnungslos.«

»Eben.« Erlendur zögerte. »Wieso redest du vom Tod?«

»Nichts.«

»Stimmt was nicht?«

»Dank dir, dass du mir ein paar Brocken zuwirfst.«

»War es nicht das, was du wolltest? In diesem trostlosen Ruhestandsdasein ein bisschen was zum Rumschnüffeln zu haben?«

»Auf jeden Fall ist dieser Tag gerettet«, sagte Marian. »Hast du dich bereits mit dem Kortisol im Speichel befasst?«

»Ich habe es vor«, sagte Erlendur, und sie beendeten das Gespräch.


Der Empfangschef hatte ein kleines separates Büro hinter der Rezeption. Dort saß er und ging Papiere durch, als Erlendur zu ihm hereinkam und die Tür hinter sich zumachte. Der Mann stand auf und wollte protestieren. Er erklärte, keine Zeit zu haben, mit Erlendur zu reden, er sei auf dem Weg zu einer Besprechung, aber Erlendur setzte sich und verschränkte die Arme.

»Vor was fliehst du eigentlich?«, fragte er.

»Was meinst du damit?«

»Gestern war hier im Hotel die Hölle los, und du hast dich nicht blicken lassen. Du warst wie auf der Flucht, als ich an dem Abend mit dir sprach, als der Portier ermordet wurde. Und jetzt sitzt du auch wie auf glühenden Kohlen.

Mir wurde gesagt, dass du Guðlaugur am besten gekannt hast. Du streitest das ab. Du behauptest, nichts über ihn zu wissen. Ich glaube, du lügst. Du warst sein direkter Vorgesetzter. Du solltest etwas mehr Kooperationsbereitschaft an den Tag legen. Es ist bestimmt kein Spaß, Weihnachten im Untersuchungsgefängnis zu verbringen.«

Der Empfangschef starrte Erlendur an und wusste augenscheinlich nicht, wie er reagieren sollte. Dann setzte er sich langsam auf seinen Stuhl.

»Gegen mich liegt nichts vor«, erklärte er. »Es ist völlig absurd zu glauben, dass ich das getan hätte. Dass ich in Guðlaugurs Kammer gewesen wäre und … ich meine, das mit dem Kondom und all das.«

Erlendur war alles andere als erfreut darüber, dass allem Anschein nach einige Details im Hotel durchgesickert waren und natürlich ein gefundenes Fressen für das Personal waren. Der Koch wusste ganz genau, warum die Speichelproben entnommen wurden. Der Empfangschef schien ebenfalls eine ziemlich klare Vorstellung davon zu haben, wie Guðlaugur aufgefunden worden war. Vielleicht hatte der Hotelmanager alles ausgeplaudert, oder vielleicht das Mädchen, das die Leiche entdeckt hatte, vielleicht auch die Polizisten.

»Wo warst du gestern?«, fragte Erlendur.

»Ich war krank«, sagte der Empfangschef. »Ich war den ganzen Vormittag zu Hause.«

»Du hast niemandem Bescheid gesagt. Bist du zum Arzt gegangen? Hat er dir ein Attest ausgestellt? Kann ich mich mit ihm unterhalten? Wie heißt er?«

»Ich bin nicht zum Arzt gegangen, ich habe nur im Bett gelegen. Mir geht es inzwischen besser.« Er versuchte krampfhaft zu husten. Erlendur lächelte. Der Empfangschef war der armseligste Lügner, der ihm jemals untergekommen war.

»Warum lügst du mir was vor?«

»Gegen mich liegt nichts vor«, wiederholte der Empfangschef. »Dir fällt nichts Besseres ein, als mir zu drohen. Ich will, dass du mich in Ruhe lässt.«

»Ich kann natürlich auch mit deiner Frau sprechen«, sagte Erlendur. »Sie fragen, ob sie dir gestern Tee ans Bett gebracht hat.«

»Lass sie bloß da raus«, sagte der Empfangschef, und plötzlich schwang ein härterer und ernster Ton in der Stimme mit. Er wurde rot.

»Ich lass sie da nicht raus«, sagte Erlendur. Der Empfangschef schien Erlendur mit seinen Blicken töten zu wollen.

»Du wirst nicht mit ihr reden.«

»Warum denn nicht? Was versuchst du eigentlich zu verbergen? Du verhältst dich inzwischen in meinen Augen schon so verdächtig, dass du mich so schnell nicht loswerden wirst.«

Der Empfangschef starrte vor sich hin und stöhnte.

»Lass mich in Ruhe. Es hat nichts mit Guðlaugur zu tun. Ich habe einige private Probleme und versuche, das auf die Reihe zu kriegen.«

»Worum dreht es sich?«

»Darüber muss ich mich mit dir nicht unterhalten.«

»Überlass es doch mir, das zu beurteilen.«

»Du kannst mich nicht dazu zwingen.«

»Wie gesagt: Ich kann Untersuchungshaft für dich anordnen lassen. Oder ich kann ganz einfach mit deiner Frau sprechen.«

Der Empfangschef seufzte tief auf.

»Es bleibt aber unter uns?«

»Falls es nichts mit Guðlaugur zu tun hat.«

»Es hat nichts mit ihm zu tun.«

»In Ordnung.«

»Vorgestern hat jemand bei meiner Frau angerufen«, sagte der Empfangschef. »Am gleichen Tag, an dem ihr Guðlaugur gefunden habt.«

Am Telefon war eine weibliche Stimme gewesen, die seine Frau nicht kannte, und hatte nach ihm gefragt. Mitten in einer normalen Arbeitswoche, aber es war nicht weiter ungewöhnlich, dass tagsüber nach ihm gefragt wurde.

Alle, die ihn kannten, wussten, dass seine Arbeitszeiten ziemlich unregelmäßig waren. Seine Frau war Ärztin, die schichtweise im Krankenhaus arbeitete. Der Anruf hatte sie geweckt; sie musste erst abends wieder zur Arbeit. Die Frau am Telefon tat, als würde sie den Empfangschef gut kennen, war aber sofort auf der Hut, als die Ehefrau wissen wollte, wer sie war.

»Wer bist du?«, hatte sie gefragt. »Warum rufst du hier an?«

Die Antwort, die daraufhin erfolgte, hatte noch mehr Verwunderung und Befremden ausgelöst.

»Er hat Schulden bei mir«, hatte die Stimme am Telefon gesagt.

»Sie hatte mir damit gedroht, dass sie zu Hause anrufen würde«, sagte der Empfangschef zu Erlendur.

»Und wer war das?«


Vor zehn Tagen hatte er abends einen draufgemacht. Die Ehefrau war auf einem Ärztekongress in Schweden, und er war mit drei Freunden essen gegangen. Sie hatten viel Spaß, alles alte Freunde, sie machten nach dem Essen einen Kneipenbummel und endeten in einem populären Vergnügungslokal in der Altstadt. Dort hatte er seine Freunde aus den Augen verloren, war zur Bar gegangen und hatte dort ein paar Leute getroffen, die er aus der Hotelbranche kannte. Er stand ganz in der Nähe einer kleinen Tanzfläche und schaute sich die tanzenden Leute an. Er war ein bisschen betrunken, aber doch nicht so, dass er nicht imstande gewesen wäre, vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Deswegen war das alles so unbegreiflich für ihn. So etwas hatte er noch nie gemacht.

Sie kam auf ihn zu, und genau wie in Spielfilmen hatte sie eine Zigarette zwischen den Fingern und bat um Feuer. Er rauchte zwar nicht, aber wegen seiner Tätigkeit hatte er sich angewöhnt, immer ein Feuerzeug bei sich zu tragen.

Die Angewohnheit stammte noch aus der Zeit, in der man überall rauchen durfte, wo man wollte. Sie redete mit ihm über etwas, was ihm schon längst wieder entfallen war, und fragte dann, ob er sie nicht zu einem Glas einladen wolle.

Er schaute sie an. Doch, natürlich. Sie standen an der Bar, und er bestellte die Getränke, und als ein kleiner Tisch frei wurde, setzten sie sich. Sie war sehr attraktiv und flirtete mit ihm. Er nahm zwar an dem Spiel teil, war aber unsicher, was sich da abspielte. Frauen benahmen sich ihm gegenüber normalerweise nicht so. Sie saß ganz dicht neben ihm und war zudringlich. Als er aufstand, um einen zweiten Drink zu holen, ließ sie ihre Hand über seinen Schenkel gleiten. Er schaute sie an und sie lächelte. Eine attraktive, schöne Frau, die wusste, was sie wollte. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als er.

Zu fortgeschrittener Stunde fragte sie, ob er sie nach Hause begleiten würde. Sie wohnte ganz in der Nähe, und sie machten sich auf den Weg. Er war immer noch verunsichert und zögerte, aber war auch gespannt, was noch kommen mochte. Das alles war ihm so fremd, er kam sich vor wie auf dem Mond. Dreiundzwanzig Jahre lang war er seiner Frau treu gewesen. Zwei- oder dreimal in all den Jahren hätte er eine andere Frau küssen können, aber so etwas wie das hier war ihm nie zuvor passiert.


»Ich war komplett durcheinander«, sagte der Empfangschef zu Erlendur. »Ein Teil von mir wollte nach Hause laufen und alles vergessen. Und ein Teil von mir wollte zu ihr in die Wohnung.«

»Ich weiß, welcher Teil das war«, sagte Erlendur.

Sie standen im Treppenhaus eines modernen Mehrfamilienhauses vor der Tür zu ihrer Wohnung, und sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Sogar diese Bewegung kam ihm sinnlich vor. Die Tür öffnete sich, und sie trat ganz dicht an ihn heran. »Komm mit herein«, sagte sie, und ihre Hand berührte ihn im Schritt.

Er ging mit ihr hinein. Sie mixte Drinks für sie. Er setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie legte Musik auf und trat zu ihm mit dem Glas in der Hand und lächelte, sodass sich die schönen weißen Zähne hinter dem Lippenstift entblößten. Sie setzte sich zu ihm, stellte das Glas ab, fasste ihm an den Hosenbund und zog langsam den Reißverschluss herunter.

»Mir war … Das war … Sie verstand sich auf die unglaublichsten Dinge«, sagte der Empfangschef.

Erlendur schaute ihn an, ohne etwas zu sagen.

»Am nächsten Morgen wollte ich mich hinausschleichen, aber sie war auf der Hut. Ich hatte Gewissensbisse, ich fühlte mich wie das Letzte, meine Frau und die Kinder betrogen zu haben. Diese Frau wollte ich nie wieder treffen. Sie lag hellwach da, als ich im Dunkeln durch das Zimmer tappte.«

Sie richtete sich halb im Bett auf und knipste die Nachttischlampe an. »Gehst du schon?«, fragte sie. Er sagte Ja, es sei schon viel zu spät. Eine wichtige Besprechung, etwas in der Art.

»Hat dir diese Nacht nicht gefallen?«, fragte sie.

Er hielt seine Hose in der Hand und schaute sie an.

»Phantastisch«, sagte er, »aber da kann nichts zwischen uns werden. Ich kann das einfach nicht. Entschuldige.«

»Ich kriege achtzigtausend Kronen von dir«, sagte sie so ruhig, als sei das vollkommen selbstverständlich und bräuchte eigentlich kaum extra erwähnt zu werden.

Er starrte sie an, als hätte er nicht richtig gehört.

»Achtzigtausend«, wiederholte sie.

»Was meinst du eigentlich?«

»Für die Nacht«, sagte sie.

»Für die Nacht?«, sagte er. »Willst du damit sagen, dass du dich verkaufst?«

»Was hast du denn gedacht?«, sagte sie.

Er begriff überhaupt nicht, was sie sagte.

»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass du Frauen wie mich umsonst kriegst?«, sagte sie.

Nach und nach dämmerte es ihm, was sie eigentlich meinte.

»Aber du hast überhaupt nichts gesagt!«

»Hätte ich etwas sagen müssen? Bezahl mir die achtzigtausend, und dann darfst du vielleicht irgendwann noch mal wieder zu mir kommen.«


»Ich habe mich geweigert zu zahlen«, sagte der Empfangschef zu Erlendur. »Bin einfach raus. Sie war stinkwütend.

Rief mich hier in der Arbeit an und drohte damit, zu Hause anzurufen, falls ich nicht bezahlen würde.«

»Wie heißen die noch?«, fragte Erlendur. »Irgendein englisches Wort. Date. Date-Nutten? War sie eine von denen? Meinst du das?«

»Ich habe keine Ahnung, was sie war, aber sie wusste genau, was sie tat, und zum Schluss rief sie bei meiner Frau an und sagte ihr, was passiert ist.«

»Warum hast du nicht einfach bezahlt? Dann wärst du sie losgewesen.«

»Ich bin mir nicht so sicher, ob ich sie losgewesen wäre, selbst wenn ich bezahlt hätte«, sagte der Empfangschef.

»Meine Frau und ich haben gestern alles durchgesprochen. Ich habe ihr alles gesagt, was passiert ist, genau wie dir. Wir sind seit dreiundzwanzig Jahren zusammen, und natürlich gibt es keine Entschuldigung für mein Verhalten, aber es war eine Falle, oder jedenfalls bin ich der Ansicht.

Falls diese Frau nicht hinter dem Geld her gewesen wäre, wäre nichts vorgefallen.«

»Dann war es also einzig und allein ihre Schuld?«

»Nein, natürlich nicht, aber trotzdem … das war eine Falle.«

Sie schwiegen.

»Gibt es so etwas auch hier im Hotel?«, fragte Erlendur.

»Date-Nutten?«

»Nein«, sagte der Empfangschef.

»Das würde dir nicht entgehen?«

»Ich habe gehört, dass du danach gefragt hast. So etwas gibt es hier nicht.«

»Genau«, sagte Erlendur.

»Du wirst das für dich behalten?«

»Ich brauchte den Namen dieser Frau, wenn du ihn weißt. Und die Adresse. Das bleibt unter uns.«

Der Empfangschef zögerte.

»Diese verfluchte Schlampe«, sagte er und fiel einen Augenblick aus der Rolle des zuvorkommenden Hoteliers.

»Hast du vor, das zu bezahlen?«

»Darin waren meine Frau und ich uns einig. Die kriegt keine müde Krone.«

»Glaubst du, dass jemand dir eins auswischen will?«

»Mir eins auswischen«, echote der Empfangschef. »Ich verstehe dich nicht. Was meinst du damit?«

»Ich meine, ob es sein kann, dass jemand dir so übel gesonnen ist, dass er so etwas arrangieren würde, um dich in Schwierigkeiten zu bringen? Jemand, mit dem du dich angelegt hast?«

»Das wäre mir nie im Traum eingefallen. Du meinst, dass ich irgendwelche Feinde habe, die mir so was antun würden?«

»Es brauchen gar keine Feinde zu sein. Irgendwelche Witzbolde, beispielsweise deine Freunde.«

»Nein, solche Freunde habe ich nicht. Und der Witz wäre wohl auch mehr als zu weit gegangen — da hört der Spaß doch wirklich auf.«

»Hast du dem Weihnachtsmann gekündigt?«

»Was meinst du damit?«

»Hast du ihm das mitgeteilt? Oder wurde ihm ein Brief geschickt, oder was?«

»Ich habe es ihm mündlich mitgeteilt.«

»Und wie hat er es aufgenommen?«

»Es war ziemlich hart für ihn. Verständlicherweise. Er hat lange hier gearbeitet, viel länger als ich beispielsweise.«

»Hätte er möglicherweise dahinter stecken können, falls jemand dahinter steckt?«

»Guðlaugur? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Guðlaugur? So was einfädeln? Das glaube ich nicht. Der war absolut nicht für Scherze irgendwelcher Art zu haben.«

»Hast du gewusst, dass er früher ein Kinderstar gewesen ist?«

»Ein Kinderstar? Inwiefern?«

»Er hat Platten besungen. Ein Chorknabe.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte der Empfangschef.

»Nur eins zum Schluss«, sagte Erlendur und stand auf.

»Ja«, sagte der Empfangschef.

»Kannst du dafür sorgen, dass ich einen Plattenspieler auf mein Zimmer bekomme?«, bat Erlendur und sah, dass der Empfangschef sich fragte, was das nun wieder sollte.


Als Erlendur ins Foyer kam, sah er den Leiter der Spurensicherung die Kellertreppe heraufkommen.

»Wie sieht es aus mit dem Speichel, den ihr an dem Kondom gefunden habt? Gibt’s was Neues? Habt ihr schon das Kortisol untersucht?«

»Wir sind dabei. Was verstehst du von Kortisol?«

»Zumindest weiß ich, dass es unter Umständen gefährlich sein kann, wenn zu viel davon im Speichel vorhanden ist.«

»Sigurður Óli hat nach der Mordwaffe gefragt«, sagte der Abteilungsleiter. »Der Gerichtsmediziner glaubt, dass es kein besonderes Messer gewesen ist. Nicht sehr lang, mit schmaler, geriffelter Klinge.«

»Also kein Jagdmesser oder Fleischmesser?«

»Nein, eher ein ziemlich gewöhnliches Messer, wenn ich es richtig verstanden habe«, sagte der Abteilungsleiter. »Ein ganz gewöhnliches Messer.«

Zehn

Erlendur nahm die beiden Platten aus Guðlaugurs Kammer mit auf sein Zimmer und rief von dort im Krankenhaus an, um nach Valgerður zu fragen. Er wurde zu ihrer Abteilung weiterverbunden. Eine andere Frau war am Apparat. Er fragte ein weiteres Mal nach Valgerður, und die Frau sagte »Augenblick, bitte«, und endlich kam Valgerður an den Apparat.

»Hast du noch eins von diesen Wattepinnchen übrig?«, fragte er.

»Geht es um tödliche Unfälle und Bergnot?«, fragte sie.

Erlendur grinste.

»Da ist ein Ausländer hier im Hotel, den wir überprüfen müssen.«

»Ist es sehr eilig?«

»Es muss noch heute über die Bühne gehen.«

»Bist du auch da?«

»Ja.«

»Dann bis später.«

Erlendur legte auf. Tödliche Unfälle und Bergnot, dachte er und lächelte. Er hatte eine Verabredung mit Henry Wapshott an der Bar im Erdgeschoss. Er ging nach unten, setzte sich an die Bar und wartete. Der Kellner fragte, ob er etwas bestellen wolle, aber er lehnte dankend ab. Überlegte es sich dann anders, rief hinter ihm her und ließ sich ein Glas Wasser bringen. Er blickte auf die Bar mit all den alkoholischen Getränken, Alkohol in allen Farben des Regenbogens, Regale voller Likör.


Sie hatten unsichtbaren Glasstaub auf dem Fußboden im Wohnzimmer gefunden. Reste von Drambuie am Barschrank, Drambuie in den Socken des Jungen und auf der Treppe. Sie fanden Glaspartikel im Besen und im Staubsauger. Alles deutete darauf hin, dass eine Likörflasche auf den Marmorboden geknallt war. Der Junge war höchstwahrscheinlich in die Lache getreten, die sich gebildet hatte, und war schnurstracks die Treppe hinauf und in sein Zimmer gelaufen. Die Flecken deuteten eher darauf hin, dass er gerannt war. Ängstliche kleine Füße. Deswegen gingen sie davon aus, der Kleine habe die Flasche zerbrochen, woraufhin der Vater die Beherrschung verloren hatte und über ihn hergefallen war. Und es endete damit, dass der Kleine ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.

Elínborg bestellte den Vater zur Vernehmung ins Polizeidezernat an der Hverfisgata, wo sie ihm die Resultate der Spurensicherung darlegte, ebenso die Reaktion des Jungen, als er gefragt wurde, ob es sein Vater gewesen war, der ihn so schlimm zugerichtet hatte. Sie erklärte ihm rundheraus, sie sei sich völlig sicher, dass er der Täter sei. Erlendur war bei der Vernehmung anwesend. Sie legte dem Vater seine Rechtslage dar, dass er unter Verdacht stand und dass er seinen Rechtsanwalt hinzuziehen dürfe. Dass er ihn hinzuziehen sollte. Der Vater erklärte, im Augenblick keines Beistands durch einen Rechtsanwalt zu bedürfen. Er sei unschuldig, und er betonte immer wieder, nicht begreifen zu können, weswegen er verdächtigt wurde, bloß weil eine Likörflasche zu Boden gegangen war.

Erlendur schaltete das Aufnahmegerät im Vernehmungszimmer ein.

»Wir sind der Meinung, dass es sich folgendermaßen zugetragen hat«, begann Elinborg und tat, als würde sie aus einem Bericht vorlesen. Sie versuchte, keine Gefühle einfließen zu lassen. »Der Junge ist aus der Schule nach Hause gekommen, es war schon fast vier. Kurze Zeit später kamst du. Soweit wir wissen, hast du an diesem Tag früh deinen Arbeitsplatz verlassen. Aus irgendwelchen Gründen fiel dem Jungen eine große Flasche Drambuie aus der Hand. Er bekam Angst und rannte auf sein Zimmer. Du hast einen Wutanfall bekommen, und mehr als das. Du hast völlig die Beherrschung verloren und bist zu dem Jungen hinauf, um ihn zu züchtigen. Das Ganze geriet völlig außer Kontrolle, und du hast ihn so furchtbar zugerichtet, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.«

Der Vater schaute Elinborg an, ohne ein Wort zu sagen.

»Wir wissen noch nicht, mit was du auf ihn eingeschlagen hast, es war ein Gegenstand, den wir noch nicht gefunden haben, wahrscheinlich länglich, oder zumindest ohne scharfe Kanten; es kann aber auch sein, dass du ihn gegen die Bettkante geschlagen hast. Du hast immer wieder auf ihn eingetreten. Bevor du den Krankenwagen gerufen hast, hast du im Wohnzimmer aufgeräumt. Du hast den Likör mit drei Handtüchern aufgetrocknet, die du in die Mülltonne hinter dem Haus geworfen hast. Den Marmorboden hast du gefegt und geschrubbt, und die kleinsten Glassplitter mit dem Staubsauger aufgesaugt.

Du hast den Schrank sorgfältig gesäubert und dem Jungen die Socken ausgezogen, die ebenfalls in die Mülltone wanderten. Bei der Treppe hast du ein Reinigungsmittel verwendet, aber es ist dir nicht gelungen, die Spuren voll und ganz zu beseitigen.«

»Nichts davon kannst du beweisen«, sagte der Vater, »denn das Ganze ist an den Haaren herbeigezogen. Der Junge hat nichts gesagt. Er hat keinen Ton über diejenigen gesagt, die ihn attackiert haben. Weswegen kümmerst du dich nicht darum, seine Schulkameraden ausfindig zu machen?«

»Warum hast du uns nichts von dem Likör erzählt?«

»Das hat überhaupt nichts mit der Sache zu tun.«

»Und die Socken in der Mülltonne? Die kleinen Fußspuren auf der Treppe?«

»Die Likörflasche ist zerbrochen, aber das geht auf mein Konto und geschah zwei Tage bevor mein Sohn überfallen worden ist. Ich wollte mir ein Glas einschenken, aber die Flasche fiel mir aus der Hand und ist in tausend Stücke zersprungen. Der Kleine sah das, und er hat sich sehr erschrocken. Ich habe ihm gesagt, er solle aufpassen, wo er hinträte, aber da war er schon in den Likör getreten und lief die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Das hat überhaupt nichts mit diesem Überfall auf ihn zu tun, und ich muss schon sagen, ich bin mehr als erstaunt über diese Anschuldigungen und Tatsachenverdrehungen. Ihr habt überhaupt nichts in der Hand! Hat er gesagt, dass ich über ihn hergefallen bin? Das bezweifle ich sehr. Und das kann er auch nie sagen, denn ich war es nicht. Ich könnte ihm niemals so etwas antun. Niemals.«

»Warum hast du uns das nicht gleich gesagt?«

»Gleich?«

»Als wir die Flecken gefunden haben. Du hast nichts gesagt.«

»Weil ich befürchtete, dass genau das passieren würde.

Dass ihr dieses Missgeschick mit dem Überfall auf den Jungen in Verbindung bringen würdet. Ich wollte die Sache nicht noch komplizierter machen. Es waren die Jungs in der Schule, die das getan haben.«

»Deine Firma steht vor dem Bankrott«, sagte Elinborg. »Du musstest mehr als zwanzig Leuten kündigen, und weitere Kündigungen stehen in Aussicht. Ich gehe davon aus, dass du unter starkem Druck stehst. Das Haus wirst du auch nicht behalten können …«

»So ist es halt im Geschäftsleben.«

»Wir gehen sogar davon aus, dass du bereits früher ihm gegenüber Gewalt angewendet hast.«

»Also, jetzt hör …«

»Wir haben die Krankenberichte durchgeschaut. Innerhalb von vier Jahren zweimal gebrochene Finger.«

»Hast du Kinder? Kinder verletzen sich doch dauernd. Das ist ja absurd.«

»Ein Kinderarzt hat beim letzten Vorfall auf einige Abnormalitäten hingewiesen und das Jugendamt verständigt.

Die sind zu dir nach Hause gekommen und haben die häuslichen Verhältnisse inspiziert, haben aber nichts feststellen können. Der Kinderarzt hingegen hat Nadelstiche auf dem Handrücken des Jungen gefunden.«

Der Vater schwieg.

Elinborg verlor die Beherrschung.

»Du Monster«, fauchte sie.

»Ich möchte mit meinem Rechtsanwalt sprechen«, sagte er und wich ihrem Blick aus.


»I said, good morning!«

Erlendur kam wieder zu sich. Henry Wapshott stand vor ihm und wünschte ihm einen guten Morgen. Er war in seinen Gedanken völlig versunken gewesen, hatte an den Jungen gedacht, der die Treppe hinaufgelaufen war, und weder bemerkt, dass Wapshott in die Bar gekommen war, noch gehört, als er ihm einen guten Morgen wünschte.

Er sprang auf und schüttelte ihm die Hand. Wapshott trug die gleichen Sachen wie am Tag zuvor. Nur das Haar war etwas unordentlicher, er wirkte müde. Er bestellte Kaffee, und Erlendur tat es ihm nach.

»Wir haben über Sammler gesprochen«, sagte Erlendur.

»Yes«, sagte Wapshott und lächelte gequält. »Bunch of loners, like myself.«

»Wie findet ein Sammler in England wie Sie heraus, dass es vor fast vierzig Jahren in Hafnarfjörður auf Island einen Chorknaben mit einer schönen Stimme gegeben hat?«

»Oh, viel mehr als nur eine schöne Stimme. Viel, viel mehr als das. Er hatte eine einzigartige Stimme, dieser Junge.«

»Wie haben Sie von Guðlaugur Egilsson erfahren?«

»Durch Menschen mit denselben Interessen wie ich. Schallplattensammler spezialisieren sich, aber das habe ich Ihnen, glaube ich, bereits gestern gesagt. Nehmen wir Chormusik, in dem Bereich können sich Sammler auf bestimmte Bereiche konzentrieren, beispielsweise bestimmte Lieder oder bestimmte Arrangements oder auch nur bestimmte Chöre. Oder andere, wie ich, auf Chorknaben. Einige sammeln nur Chorknaben auf den alten 78er Schellackplatten, andere sammeln Singles mit 45 Umdrehungen, aber nur von einer bestimmten Schallplattenfirma. Man kann sich endlos spezialisieren. Manche sammeln ausschließlich sämtliche Aufnahmen eines bestimmten Lieds, bespielsweise Stormy Weather, das kennen Sie bestimmt. Nur damit Sie verstehen, um was es geht. Von Egilsson habe ich durch eine Gruppe japanischer Sammler erfahren, die eine umfangreiche Informations- und Tauschbörse im Internet betreiben. Niemand sammelt so viel westliche Musik wie die Japaner. Die reisen um die ganze Welt und kaufen wie die Staubsauger alles auf, was auf Platten herausgegeben wurde und ihnen in die Finger kommt. Besonders aus der Beatles- und Hippiezeit. Sie sind auf allen Plattenbörsen bekannt wie die bunten Hunde, und das Beste ist, dass sie Geld haben.«

Erlendur überlegte, ob man an der Bar rauchen durfte und beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Als Wapshott sah, dass er sich eine Zigarette anzünden wollte, holte er selber eine zerknitterte Packung Chesterfield hervor, Erlendur gab ihm Feuer.

»Meinen Sie, dass man hier rauchen darf?«, fragte Wapshott.

»Das wird sich herausstellen«, sagte Erlendur.

»Die Japaner besaßen ein Exemplar von Egilssons kleiner Platte«, sagte Wapshott. »Die, die ich Ihnen gestern Abend gezeigt habe. Ich habe sie ihnen abgekauft. Unheimlich teuer, aber ich bereue es nicht. Als ich danach fragte, wo sie die Platte herhätten, bekam ich zu hören, dass dieses Exemplar von einem norwegischen Sammler aus Bergen auf einem Schallplattenmarkt in Liverpool gekauft worden war. Ich konnte mich mit dem norwegischen Sammler in Verbindung setzen, und es stellte sich heraus, dass er sie aus dem Nachlass eines Plattenproduzenten in Trondheim erstanden hatte. Dem war ein Exemplar aus Island zugeschickt worden, vielleicht von jemandem, der den Jungen international bekannt machen wollte.«

»Was für ein Aufwand wegen einer einzigen alten Schallplatte«, sagte Erlendur.

»Sammler sind Experten. Es gehört einfach zum Spaß dazu, die Ursprünge herauszufinden. Seitdem habe ich versucht, mehr von diesen Platten zu kaufen, aber das war leichter gesagt als getan. Es existieren nur zwei Platten, auf denen er zu hören ist.«

»Sie haben mir gesagt, dass Sie die Platte den Japanern für teures Geld abgekauft haben. Sind solche Platten etwas wert?«

»Nur für Sammler«, sagte Wapshott. »Und hier ist nicht die Rede von besonders hohen Summen.«

»Aber doch von solchen, dass es sich für Sie lohnt, nach Island zu kommen, um mehr davon zu erwerben. Deswegen wollten Sie Guðlaugur doch treffen. Um herauszufinden, ob er noch mehr Exemplare besitzt.«

»Ich stehe seit einiger Zeit mit ein paar isländischen Sammlern in Verbindung. Schon bevor ich Interesse an den Platten mit Egilsson bekam. Leider gibt es aber keine Schallplatten mehr mit ihm. Die isländischen Sammler haben nichts auftreiben können. Möglicherweise kann ich ein Exemplar über eine Internet-Verbindung aus Deutschland bekommen. Ich bin nach Island gekommen, um diese Sammler und Guðlaugur Egilsson zu treffen, weil ich seinen Gesang bewundere. Und um hier den Markt auszuloten und Sammlerläden zu besuchen.«

»Und davon können Sie leben?«

»Wohl kaum«, sagte Wapshott und sog den Rauch der Chesterfield ein. Vom jahrzehntelangen Rauchen hatte er gelbe Finger. »Ich habe geerbt. Hausbesitz in London. Ich kümmere mich um die Verwaltung, aber den größten Teil meiner Zeit verbringe ich mit Sammeln. Man könnte es eine Passion nennen.«

»Und Sie sammeln Chorknaben.«

»Ja.«

»Sind Sie bei dieser Reise auf irgendetwas gestoßen?«

»Nein, nichts. Hierzulande scheint niemand Interesse daran zu haben, etwas aufzubewahren. Hier muss alles neu sein. Alles Alte gilt offenbar als Plunder, nichts ist es wert, aufgehoben zu werden. Meines Erachtens wird hier mit Schallplatten schlecht umgegangen. Die werden einfach weggeworfen, Schallplatten aus Nachlässen beispielsweise. Da wird noch nicht einmal jemand hinzugezogen, um sich die anzuschauen. Bloß auf die Müllkippe damit. Lange Zeit war ich der Meinung, dass ein Unternehmen hier in Reykjavik, das Sorpa heißt, ein Verein für Sammler wäre. Der Name kam nämlich immer wieder in der Korrespondenz vor. Dann stellte es sich heraus, dass es eine Recycling-Firma ist, die einen Gebrauchtwarenhandel betreibt. Sammler finden hier alle möglichen Kostbarkeiten im Müll und verkaufen sie übers Internet zu guten Preisen.«

»Ist Island besonders interessant für Sammler?«, fragte Erlendur. »So ganz generell gesehen.«

»Der größte Vorteil an Island ist die Übersichtlichkeit des Marktes. Jede Platte wird nur in einer geringen Auflage herausgegeben, und sie verschwindet ziemlich bald wieder vom Markt. Danach ist sie mehr oder weniger verloren. Wie die Platten von Guðlaugur Egilsson.«

»Es muss spannend sein, Sammler in einer Welt zu sein, die alles hasst, was alt und unnütz ist. Das muss doch irgendwie eine Befriedigung sein, wenn man davon überzeugt ist, Kulturschätze zu retten.«

»Ja, wir sind gewissermaßen so ein paar unverbesserliche Käuze, die versuchen, der Vernichtung Einhalt zu gebieten«, erklärte Wapshott.

»Aber man kann auch Geschäfte damit machen.«

»Das kann vorkommen.«

»Was passierte mit Guðlaugur Egilsson? Was wurde aus dem Kinderstar?«

»Was aus allen Kinderstars wird«, sagte Wapshott. »Er wurde erwachsen. Ich weiß eigentlich nicht so genau, was aus ihm geworden ist, aber als Jugendlicher oder als Erwachsener hat er nie wieder gesungen. Seine Gesangskarriere war schön, aber kurz, und dann verschwand er wieder in der Menge und hörte auf, etwas Besonderes oder Einzigartiges zu sein. Niemand hat ihm mehr zugejubelt, und vermutlich hat ihm das gefehlt. Es gehört viel Charakterstärke dazu, in so zartem Alter schon Ruhm und Bewunderung zu verkraften, und noch viel mehr, wenn die Leute einem später den Rücken zukehren.«

Wapshott schaute auf die Uhr, die über der Bar hing, dann auf seine Armbanduhr und räusperte sich.

»Ich wollte die Abendmaschine nach London nehmen, und ich muss noch einiges erledigen, bevor ich aufbreche. Wollen Sie noch mehr von mir wissen?«

Erlendur blickte ihn an.

»Nein, ich glaube, das war’s. Ich dachte, Sie wollten erst morgen fliegen?«

»Falls ich Ihnen noch mit irgendetwas behilflich sein kann, hier ist meine Visitenkarte«, sagte Wapshott, zog eine kleine Karte aus der Brusttasche und reichte sie Erlendur.

»Sie haben den Flug geändert?«, fragte Erlendur.

»Nachdem ich ihn jetzt nicht mehr treffen kann«, sagte Wapshott, »habe ich das meiste, was ich vorhatte, erledigt, und damit spare ich mir eine Nacht im Hotel.«

»Nur eine Sache noch«, sagte Erlendur.

»Ja.«

»Nachher kommt eine Laborantin und entnimmt Ihnen eine Speichelprobe, falls Sie keine Einwände haben.«

»Eine Speichelprobe?«

»Ja, wegen der Ermittlung.«

»Wieso denn Speichelprobe?«

»Das kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen.«

»Stehe ich unter Verdacht?«

»Wir nehmen Speichelproben von allen, die Guðlaugur gekannt haben. Das steht im Zusammenhang mit der Ermittlung. Das hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun.«

»Ich verstehe«, sagte Wapshott. »Speichel! Wie komisch.«

Er lachte, und Erlendur sah die Zähne im Unterkiefer, die schwarz von Nikotin waren.

Elf

Sie kamen durch die Drehtür ins Hotel, er alt und gebrechlich im Rollstuhl, sie hinter ihm, zierlich und schlank, mit spitzer Adlernase und stechendem Blick, den sie über das Foyer des Hotels gleiten ließ. Die Frau war zwischen fünfzig und sechzig, sie trug einen dicken, braunen Wintermantel und hohe schwarze Lederstiefel. Sie schob den Rollstuhl geschickt vor sich her. Der Mann war um die achtzig, weißes Haar war unter dem Hut zu sehen, das hagere Antlitz leichenblass. Er saß gekrümmt, hatte einen schwarzen Schal um den Hals, und seine weißen, knochigen Hände schauten aus den Ärmeln des schwarzen Mantels hervor.


Eine dicke, schwarze Hornbrille vergrößerte seine Augen, die an Fischaugen erinnerten.

Die Frau schob den Rollstuhl zur Rezeption. Der Empfangschef kam aus seinem Büro und beobachtete, wie sie näher kamen.

»Kann ich behilflich sein?«

Der Mann im Rollstuhl würdigte ihn keines Blickes. Die Frau jedoch fragte nach einem Kriminalbeamten, der Erlendur heiße und der ihren Informationen zufolge hier im Hotel eine Ermittlung leite. Erlendur hatte kurz zuvor mit Wapshott die Bar verlassen und sie ins Hotel kommen sehen. Sie weckten sofort sein Interesse. Sie hatten irgendetwas an sich, das ihn an den Tod denken ließ. Er überlegte kurz, ob er Wapshott festsetzen und ihm verbieten sollte, nach London zurückzukehren, fand aber keinen triftigen Grund, den Mann festzuhalten. Er beobachtete weiterhin interessiert die Frau mit der Adlernase und den Mann mit den Fischaugen an der Rezeption und fragte sich gerade, was das für Leute wohl sein mochten, als der Empfangsschef ihn bemerkte und ihm zuwinkte. Erlendur wollte sich von Wapshott verabschieden, aber der war wie vom Erdboden verschluckt.

»Die beiden haben nach dir gefragt«, sagte der Empfangschef, als Erlendur auf sie zukam. Erlendur stellte sich zu ihnen an die Rezeption. Die Dorschaugen unter dem Hut fixierten ihn voller Skepsis.

»Bist du Erlendur?«, fragte der Mann im Rollstuhl mit alter, unsicherer Stimme.

»Ihr wollt mit mir sprechen?«, fragte Erlendur. Die Adlernase strebte in die Höhe.

»Leitest du hier im Hotel die Ermittlung im Mordfall Guðlaugur Egilsson?«, fragte die Frau.

»Ja«, entgegnete Erlendur.

»Ich bin seine Schwester. Und das ist unser Vater. Können wir irgendwo in Ruhe miteinander sprechen?«

»Kann ich dir mit dem Rollstuhl behilflich sein?«, fragte Erlendur, aber sie schaute ihn an, als hätte er etwas Anzügliches gesagt, und schob los. Sie folgten Erlendur in die Bar zu dem gleichen Tisch, an dem er eben noch mit Wapshott gesessen hatte. Außer ihnen war niemand dort, sogar der Barkeeper war verschwunden. Erlendur wusste nicht, ob die Bar überhaupt vormittags geöffnet war. Wahrscheinlich schon, denn immerhin war die Tür nicht verschlossen gewesen. Anscheinend wusste nur kaum jemand davon.

Die Frau schob den Rollstuhl zum Tisch und stellte ihn mit der Bremsvorrichtung fest. Dann nahm sie Erlendur gegenüber Platz.

»Ich war schon auf dem Weg zu euch«, schwindelte Erlendur, der es eigentlich Sigurður Óli und Elínborg zugedacht hatte, mit den Hinterbliebenen von Guðlaugur zu sprechen. Er konnte sich aber nicht erinnern, ob er ihnen diesbezügliche Anweisungen gegeben hatte.

»Wir sind nicht darauf erpicht, die Polizei bei uns im Haus zu haben«, sagte die Frau. »So was hat es noch nie gegeben. Eine Frau hat bei uns angerufen, wahrscheinlich eine Mitarbeiterin von dir, Elinborg hat sie, glaube ich, geheißen.

Ich habe gefragt, wer die Ermittlung leitet, und da wurde mir gesagt, dass du damit befasst bist. Ich mache mir Hoffnungen, dass wir die Sache jetzt erledigen können, damit wir wieder unsere Ruhe haben.«

Diesen Leuten war in keinerlei Form anzumerken, dass sie trauerten. Nichts, was auf den Schmerz hindeutete, den der Tod eines nahen Anverwandten üblicherweise auslöst. Bloß kalter Widerwille. Sie waren der Meinung, gewissen Pflichten nachkommen und der Polizei Bericht erstatten zu müssen, ihnen war aber ganz offensichtlich diese Prozedur mehr als zuwider, und sie hatten keine Scheu, das auch deutlich zu zeigen. Es sah so aus, als würde die Leiche, die im Keller des Hotels gefunden worden war, sie nicht das Geringste angehen. Als seien sie über so etwas erhaben.

»Ihr wisst, unter welchen Umständen Guðlaugur gefunden wurde«, sagte Erlendur.

»Wir wissen, dass er umgebracht wurde«, sagte der alte Mann. »Erstochen. Wir wissen, dass er erstochen wurde.«

»Wisst ihr auch, wer es getan hat?«

»Wir haben keine Ahnung«, erklärte die Frau. »Wir haben keinerlei Kontakt zu ihm gehabt. Wir wissen nicht, mit wem er Umgang hatte. Haben weder seine Freunde gekannt noch seine Feinde, falls er welche hatte.«

»Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?«

In diesem Augenblick betrat Elinborg die Bar. Sie kam zu ihnen herüber und setzte sich an die Seite von Erlendur. Er stellte sie den beiden vor, aber sie zeigten keinerlei Reaktion, beide fest entschlossen, sich durch nichts von alledem beeindrucken zu lassen.

»Wahrscheinlich, als er etwa zwanzig war«, sagte die Frau.

»Da haben wir ihn wohl zuletzt gesehen.«

»Zwanzig?« Erlendur glaubte sich verhört zu haben.

»Wie ich gesagt habe, wir hatten keinerlei Kontakt zu ihm.«

»Und warum nicht?«, fragte Elinborg.

Die Frau würdigte sie keines Blickes.

»Reicht es nicht, wenn wir mit dir sprechen?«, fragte sie Erlendur. »Muss diese Frau ebenfalls anwesend sein?«

Erlendur schaute zu Elinborg hinüber. Es hatte den Anschein, als würde sich seine Miene etwas aufhellen.

»Sein Schicksal geht euch offensichtlich keineswegs nahe«, sagte er, ohne die Frage zu beantworten. »Guðlaugurs Schicksal. Er war dein Bruder«, sagte er und schaute die Frau an. »Er war dein Sohn«, sagte er und blickte auf den alten Mann. »Warum? Wieso habt ihr ihn dreißig Jahre nicht gesehen? Und wie ich bereits gesagt habe, sie heißt Elinborg«, fügte er hinzu. »Falls ihr weitere Einwände habt, werden wir euch ins Dezernat bringen und dort weitermachen, da könnt ihr dann auch eine offizielle Beschwerde einlegen.

Hier draußen vor der Tür steht ein Polizeiauto bereit.«

Die Adlernase hob sich beleidigt. Die Dorschaugen zogen sich zusammen.

»Er hat sein Leben gelebt«, sagte sie, »und wir das unsere. Viel mehr ist dazu nicht zu sagen. Es gab keine Verbindung. So war es einfach. Uns war das recht. Ihm auch.«

»Das heißt also, dass ihr ihn seit der Mitte der siebziger Jahre nicht mehr gesehen habt?«

»Es gab keine Verbindung«, wiederholte sie.

»Nicht ein einziges Mal die ganze Zeit? Kein Telefongespräch? Nichts?«

»Nein«, sagte die Frau.

»Warum nicht?«

»Das ist eine Familienangelegenheit«, sagte der alte Mann.

»Hat nichts mit dieser Sache zu tun. Nicht das Geringste. Alles begraben und vergessen. Was wollt ihr sonst noch wissen?«

»Wusstet ihr, dass er hier im Hotel gearbeitet hat?«

»Wir haben ab und zu etwas über ihn gehört«, sagte die Frau. »Wir wussten, dass er hier Portier war. Hat so eine absurde Livree getragen und die Türen für die Hotelgäste geöffnet. Und wenn ich richtig verstanden habe, hat er auch auf Weihnachtsfeiern den Weihnachtsmann gespielt.«

Erlendur betrachtete sie unverwandt. Sie sprach so, als hätte Guðlaugur seiner Familie keine größere Demütigung zufügen können, als halbnackt ermordet im Keller eines Hotels aufgefunden zu werden.

»Wir wissen nicht viel über ihn«, sagte Erlendur. »Er scheint nicht viele Freunde gehabt zu haben. Er hat hier in einem kleinen Kellerzimmer im Hotel gewohnt. Er scheint gut gelitten gewesen zu sein. Weil er kinderlieb war, wurde er auf den Weihnachtsfeiern als Weihnachtsmann eingesetzt, wie du gesagt hast. Allerdings haben wir jetzt auch erfahren, dass er seinerzeit eine viel versprechende Gesangskarriere vor sich zu haben schien. Als Junge hat er auf Schallplatten gesungen, ich glaube, zwei waren es, aber das wisst ihr bestimmt besser. Auf der Plattenhülle, die ich gesehen habe, hieß es, er sei im Begriff, eine Tournee durch Skandinavien zu machen, um sich die Welt zu Füßen zu legen. Heutzutage kennt niemand mehr diesen Jungen, außer einigen spleenigen Schallplattensammlern.

Was ist damals passiert?«

Die Adlernase senkte sich, und die Dorschaugen verloren ihre Starre, während Erlendur redete. Der alte Mann schlug die Augen nieder und schaute auf den Tisch, und die Frau, die sich zwar immer noch an Wohlanständigkeit und Dünkel zu klammern versuchte, schien sich ihrer Sache nicht mehr ganz so sicher zu sein.

»Was ist passiert?«, wiederholte Erlendur und erinnerte sich mit einem Mal daran, dass er die Platten aus Guðlaugurs Kabuff oben bei sich auf dem Zimmer hatte.

»Nichts ist passiert«, sagte der alte Mann. »Er verlor seine Stimme. Er kam früh in die Pubertät und verlor mit zwölf Jahren seine Stimme, und damit hatte sich die Sache.«

»Konnte er danach nicht mehr singen?«, fragte Elinborg.

»Seine Stimme war hässlich«, sagte der alte Mann verärgert. »Es war gar nicht möglich, ihn auszubilden. Ihm konnte nicht geholfen werden. Er hatte einen Widerwillen gegen das Singen entwickelt. Er wurde aufsässig und neigte zu Wutanfällen, er war einfach gegen alles. Gegen mich. Gegen seine Schwester, die versuchte, alles für ihn zu tun, was in ihrer Macht stand. Er hat mich sogar angegriffen und mir die Schuld an allem gegeben.«

»Falls es keine weiteren Fragen gibt …«, sagte die Frau und schaute Erlendur an. »Haben wir nicht genug gesagt? Reicht euch das nicht?«

»Wir haben nicht viel in Guðlaugurs Kammer gefunden«, sagte Erlendur und tat, als hätte er sie nicht gehört. »Wir haben seine Schallplatten gefunden und zwei Schlüssel.«

Er hatte sich die Schlüssel wieder von der Spurensicherung zurückschicken lassen. Er zog sie aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sie hingen an einem Schlüsselbund mit einem kleinen Taschenmesser, das in einer rosa Plastikhülle steckte. Auf einer Seite war ein Pirat mit Holzbein und schwarzer Augenklappe abgebildet, unter dem Bild stand PIRAT.

Die Frau warf einen raschen Blick auf die Schlüssel und erklärte, sie nicht zu kennen. Der alte Mann setzte sich die Brille auf der Nase zurecht und schaute sich die Schlüssel an, schüttelte aber dann den Kopf.

»Hast du Platten von ihm gefunden?«, fragte die Frau.

»Zwei«, sagte Erlendur. »Wurden noch mehr Aufnahmen mit ihm gemacht?«

»Nein, es gibt keine weiteren Aufnahmen mit ihm«, sagte der alte Mann und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Erlendur hinüber, blickte dann aber schnell wieder weg.

»Können wir diese Platten bekommen?«, fragte die Frau.

»Ich gehe davon aus, dass ihr alles erbt, was er hinterlässt«, antwortete Erlendur. »Wenn die Ermittlung unserer Meinung nach beendet ist, wird euch alles zugestellt, was er hatte. Er hatte doch keine anderen Angehörigen, oder doch? Keine Kinder? Wir haben diesbezüglich noch keine gesicherten Ergebnisse.«

»Ich weiß nur, dass er allein stehend war«, sagte die Frau.

»Können wir euch mit sonst noch etwas behilflich sein?«, fragte sie dann in einem Ton, dass man glauben mochte, sie hätte einen großartigen Beitrag zu den Ermittlungen geleistet, weil sie sich der Mühe unterzogen hatten, ins Hotel zu kommen.

»Es war nicht seine Schuld, dass er in die Pubertät kam und die Stimme verlor«, sagte Erlendur. Er fand diese Gleichgültigkeit und dieses arrogante Benehmen unerträglich.

Ein Sohn war gestorben. Ein Bruder war ermordet worden.

Trotzdem schien es, als sei nichts vorgefallen. Als ginge sie das alles überhaupt nichts an. Als sei sein Leben schon lange nicht mehr Teil des ihrigen gewesen, aus einem Grund, den sie Erlendur nicht nennen wollten.

Die Frau blickte Erlendur an.

»Falls es also sonst nichts mehr gibt«, sagte sie ein weiteres Mal und löste die Bremsvorrichtung.

»Wir werden sehen«, sagte Erlendur.

»Du findest, dass wir nicht genügend Anteilnahme zeigen«, sagte sie plötzlich.

»Ich finde, ihr zeigt überhaupt keine Anteilnahme«, sagte Erlendur. »Aber das geht mich nichts an.«

»Nein«, sagte die Frau, »das geht dich nichts an.«

»Was ich nur zu gerne wissen möchte: Habt ihr überhaupt keine Gefühle für diesen Menschen gehabt? Er war dein Bruder.« Erlendur wandte sich zu dem alten Mann im Rollstuhl. »Dein Sohn.«

»Er war ein Unbekannter für uns«, sagte die Frau und stand auf. Das Gesicht des alten Manns verzerrte sich.

»Weil er eure Erwartungen nicht erfüllt hat?« Erlendur stand ebenfalls auf. »Weil er euch als Zwölfjähriger enttäuscht hat. Er war ein Kind. Was habt ihr gemacht? Habt ihr ihn rausgeworfen? Habt ihr ihn auf die Straße gesetzt?«

»Wie können Sie es wagen, so mit uns zu reden?«, sagte die Frau mit zusammengebissenen Zähnen und hatte auf einmal angefangen, Erlendur auf arrogante Weise zu siezen. »Wie können Sie es wagen! Wer hat Sie zum Gewissen der Welt bestellt?«

»Wer hat Ihnen das Gewissen genommen?«, stieß Erlendur hervor und legte spezielle Betonung auf das »Ihnen«.

Sie starrte Erlendur wütend an. Dann schien sie auf einmal genug zu haben. Sie wandte sich ruckartig dem Rollstuhl zu, drehte ihn vom Tisch weg und schob ihn aus der Bar hinaus. Schnell durchquerte sie die Lobby in Richtung Drehtür. Aus der Lautsprecheranlage drang die wehmütige Stimme einer isländischen Opernsängerin.

Rühr meine Harfe an, du himmlisch schöne Fee …

Erlendur und Elinborg gingen hinter den beiden her und beobachteten, wie sie das Hotel verließen, die Frau kerzengerade, aber der alte Mann noch mehr in sich zusammengesunken, man sah von ihm nur den zittrigen Kopf über der Rückenlehne.

und manche bleiben Kind ihr Leben lang …

Zwölf

Als Erlendur kurz nach Mittag auf sein Zimmer ging, hatte der Empfangschef einen Schallplattenspieler und zwei Lautsprecher installieren lassen. Das Hotel verfügte über einige alte Plattenspieler, die aber lange nicht benutzt worden waren. Erlendur hatte selber einen und fand ziemlich schnell heraus, wie dieser zu bedienen war. Er besaß keinen CD-Player und hatte sich deshalb seit Jahren keine neuen Platten mehr gekauft. Er hörte sich auch keine moderne Musik an. In der Arbeit hatte er etwas von Hip-Hop gehört und lange geglaubt, das wäre ein neuer Ausdruck für Seilchenspringen.

Elinborg war auf dem Weg nach Hafnarfjörður. Erlendur hatte sie damit beauftragt, Nachforschungen darüber anzustellen, in welche Volksschule Guðlaugur gegangen war. Er hatte den Vater oder die Schwester fragen wollen, aber dazu war es nicht gekommen, da die Begegnung ein so abruptes Ende genommen hatte. Er würde sich auch noch einmal mit Vater und Tochter unterhalten müssen. In der Zwischenzeit sollte Elinborg aber Leute ausfindig machen, die den Kinderstar gekannt hatten, und sich mit denen unterhalten, die mit ihm zur Schule gegangen waren.

Erlendur wollte in Erfahrung bringen, welchen Einfluss die vermeintliche Berühmtheit auf den Jungen in diesem Alter gehabt hatte und wie seine Schulkameraden darauf reagiert hatten. Ebenso interessierte ihn, was passiert war, als er seine Stimme verlor. Was in den darauf folgenden Jahren aus ihm geworden war. Vielleicht konnte sich jemand daran erinnern, ob der Kinderstar damals Feinde gehabt hatte.

Während sie in der Lobby standen, erläuterte er das so ausführlich für Elinborg, dass man ihr ansehen konnte, wie genervt sie war. Ihrer Meinung nach musste ihr nicht jeder Schritt in allen Einzelheiten auseinander gelegt werden. Sie wusste, um was es ging, und war durchaus imstande, sich selber eine Marschroute zurechtzulegen.

»Und anschließend darfst du dir unterwegs ein Eis kaufen«, sagte er, um sie noch etwas mehr zu necken. Sie gab ein paar verächtliche Kommentare über Machotum von sich und verschwand durch die Tür.

»Wie erkenne ich diesen Wapshott?«, sagte eine Stimme hinter ihm, und als er sich umdrehte, stand Valgerður vor ihm mit ihrem Köfferchen in der Hand.

»Ein ziemlich mitgenommener und glatzköpfiger Engländer mit total verschandelten Zähnen, der Chorknaben sammelt«, sagte Erlendur. »Den kannst du nicht verpassen.«

Sie lächelte.

»Verschandelte Zähne?«, sagte sie. »Und sammelt Chorknaben?«

»Das ist eine sehr, sehr lange Geschichte, die ich dir irgendwann einmal erzählen werde. Wie steht’s mit all den Speichelproben? Dauert das nicht unendlich lange?«

Er war auf eine ungewohnte Weise froh, sie wiederzusehen. Sein Herz schien einen Schlag auszusetzen, als er ihre Stimme hinter sich vernahm. Seine Melancholie wich für einen Augenblick, und in seine Stimme kam Leben. Er holte tief Luft.

»Ich weiß nicht, wie das gehen soll«, sagte sie. »Es sind so unwahrscheinlich viele.«

»Also ich …« Erlendur suchte einen Weg, um das zu entschuldigen, was gestern Abend passiert war. »Ich war gestern Abend auf einmal völlig blockiert. Katastrophen und Bergnot. Ich habe nicht ganz die Wahrheit gesagt, als ich dir von meinem Interesse an tödlichen Unfällen und Katastrophen in den Bergen erzählte.«

»Du musst es mir nicht erzählen«, sagte sie.

»Doch, ich möchte es dir aber erzählen«, sagte Erlendur. »Besteht eine Möglichkeit, dass wir uns noch einmal treffen?«

»Ich …«, sie verstummte. »Mach dir keine unnötigen Sorgen deswegen. Das war nicht weiter schlimm. Vergessen wir es. Ist das in Ordnung?«

»Ganz in Ordnung, wenn du es so willst«, sagte er völlig gegen seinen Willen.

»Wo ist dieser Wapshott?«

Erlendur ging mit ihr zur Rezeption, wo ihr die Zimmernummer gesagt wurde. Sie gaben sich die Hand, und er schaute ihr nach, während sie zum Aufzug ging. Dort wartete sie, ohne sich umzublicken. Er überlegte, ob er noch einen Versuch wagen sollte; bevor er dazu kam, öffnete sich die Tür, und sie verschwand im Aufzug. Bevor sich die Tür schloss, schaute sie zu ihm herüber und lächelte ein fast unsichtbares Lächeln.

Erlendur blieb stehen und sah, dass der Lift auf der Etage von Wapshott anhielt. Dann drückte er auf den Knopf und holte ihn nach unten. Er spürte den Duft von Valgerður, als er zu seinem Zimmer hochfuhr.

Er legte eine Platte mit dem Chorknaben Guðlaugur Egilsson auf und achtete darauf, den Plattenspieler auf 45 Umdrehungen einzustellen. Dann streckte er sich auf dem Bett aus. Die Platte war so gut wie neu. Keine Kratzer und kein Staub. Es knirschte nur ein wenig am Anfang, aber dann kam das Vorspiel und es begann eine reine und außerordentlich schöne Knabenstimme, das Ave Maria zu singen.


Er stand allein auf dem Gang und öffnete vorsichtig die Tür zum Zimmer seines Vaters. Er sah ihn auf der Bettkante sitzen und in stummer Verzweiflung vor sich hinstarren.

Sein Vater hatte nicht an der Suche teilgenommen. Er war unter größten Strapazen zum Hof zurückgekehrt, nachdem er bei einem Unwetter, das urplötzlich hereingebrochen war, seine beiden Söhne aus den Augen verloren hatte. Er war im Schneesturm umhergeirrt und hatte nach ihnen gerufen, aber er konnte nicht die Hand vor Augen sehen, und das Brüllen des Sturms erstickte seine Schreie.

Sein Entsetzen war unbeschreiblich. Er hatte die beiden Jungen mitgenommen, um Schafe zusammenzutreiben.

Ein paar von den Schafen, die ihm gehörten, waren in die Berge entwischt. Er wollte sie wieder zum Stall holen. Es war zwar Winter, die Wettervorhersage gab jedoch keinen Anlass zur Besorgnis, und als sie sich auf den Weg machten, waren die Wetteraussichten gut gewesen. Aber es war eben nur eine Vorhersage und nur die Aussichten. Das Unwetter brach ohne Vorwarnung herein.

Erlendur ging zu seinem Vater ins Zimmer und blieb neben ihm stehen. Er begriff nicht, warum er auf dem Bett saß und nicht mit den Suchmannschaften in die Berge ging.

Sein Bruder war immer noch nicht gefunden worden.

Er konnte noch am Leben sein, auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich war. Das konnte Erlendur an den Mienen der Leute ablesen, die völlig erschöpft in die bewohnten Gebiete hinunterkamen, um sich auszuruhen und zu stärken und dann wieder in die Berge zu gehen. Sie kamen von den Höfen ringsum und aus den kleinen Ortschaften an der Küste, alle, die zupacken konnten, waren dabei. Sie hatten Hunde bei sich und lange Stangen, mit denen sie im Schnee stocherten. So hatten sie Erlendur gefunden. So wollten sie seinen Bruder finden.

Sie verteilten sich in kleinen Suchtrupps über die Hochebene, jeweils acht bis zehn Männer. Sie stocherten mit den Stangen im Schnee und riefen den Namen seines Bruders. Zwei Tage waren vergangen, seit sie Erlendur gefunden hatten, und drei Tage, seit der Schneesturm sie auseinander gerissen hatte. Die Brüder waren noch eine ganze Weile beieinander geblieben. Erlendur war zwei Jahre älter und hielt seinen Bruder an der Hand, aber die Finger wurden kalt und klamm, und Erlendur merkte nicht, als der Griff sich lockerte. Er hatte immer noch das Gefühl, die Hand zu halten, als er sich umdrehte und seinen Bruder nicht mehr sah. Viel später glaubte er sich zu erinnern, wie die Hand des Bruders ihm entglitt, aber das war nur seine Einbildung. Er hatte nichts gespürt, als es passierte.

Er selber hatte geglaubt, dass er mit zehn Jahren umkommen würde in diesem Schneesturm, der nicht enden zu wollen schien und ihn von allen Seiten angriff, der an ihm zerrte und ihm die Sicht versperrte, kalt und hart und gnadenlos. Zum Schluss ließ er sich in den Schnee sinken und versuchte sich einzugraben. Da lag er und dachte an seinen Bruder, der auch hier oben in den Bergen sterben musste.

Er erwachte von einem derben Stoß an der Schulter, und auf einmal erblickte er ein Gesicht, das er nicht kannte.

Er hörte nicht, was der Mann sagte. Er wollte nur weiterschlafen. Er wurde aus dem Schnee hochgerissen, und die Männer wechselten sich darin ab, ihn hinunter ins Tal zu tragen, aber er konnte sich kaum an diesen Gang erinnern.

Er hörte Stimmen. Er hörte seine Mutter, die ihn zu wärmen versuchte. Der Arzt kam und untersuchte ihn. Einige Erfrierungen an Händen und Füßen, aber nichts Ernstes.

Er konnte in das Zimmer seines Vaters sehen. Sah ihn auf der Bettkante sitzen, als hätte nichts von dem, was geschehen war, irgendetwas mit ihm zu tun.

Zwei Tage später war Erlendur wieder auf den Beinen. Er stand hilflos und verängstigt an der Seite seines Vaters.

Seltsame Gewissensbisse fingen an, ihn zu quälen, als er sich zu erholen begann und wieder zu Kräften kam. Weswegen er? Weswegen er und nicht sein Bruder? Wenn sie ihn nicht gefunden hätten, hätten sie dann stattdessen seinen Bruder finden können? Er hätte gern seinen Vater danach gefragt, und er wollte ihn auch danach fragen, warum er nicht an der Suche teilnahm. Aber er stellte keine Fragen. Schaute ihn nur an, schaute auf die tiefen Linien im Gesicht, die Bartstoppeln und die Augen, dunkel vor Trauer.

So verging eine ganze Weile, während sein Vater ihn gar nicht beachtete. Erlendur legte seine Hand auf die des Vaters und fragte, ob es seine Schuld wäre. Weil er ihn nicht fest genug gehalten hatte und besser auf ihn hätte aufpassen sollen. Er hätte bei ihm sein sollen, als sie ihn fanden. Er fragte leise und stockend, aber es war zu viel für ihn, und er fing an zu schluchzen. Sein Vater senkte den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen, er umarmte Erlendur und begann auch zu weinen. Der große Mann bebte und zitterte in den Armen seines Sohns.


All das ging Erlendur durch den Kopf, bis er auf einmal die Platte kratzen hörte. Derartige Gedanken hatte er sich schon lange nicht mehr gestattet, aber auf einmal brachen die Erinnerungen über ihn herein, und er verspürte wieder diese tiefe Trauer, von der er wusste, dass sie niemals ganz in Vergessenheit geraten würde.

Eine solche Macht ging von dieser Knabenstimme aus.

Dreizehn

Das Zimmertelefon auf dem Nachttisch klingelte. Er stand auf, nahm die Nadel von der Platte und schaltete den Plattenspieler aus. Valgerður war am Telefon und sagte, dass Henry Wapshott nicht auf seinem Zimmer sei. Als sie ihn im Hotel ausrufen und überall nach ihm suchen ließ, war er nirgends aufzutreiben.

»Er hat gesagt, er würde warten«, sagte Erlendur. »Hat er etwa schon aus dem Hotel ausgecheckt? Er sagte mir, er hätte einen Flug für heute Abend gebucht.«

»Danach habe ich nicht gefragt«, sagte Valgerður. »Viel länger kann ich aber nicht warten, und …«

»Nein, natürlich, entschuldige«, sagte Erlendur. »Ich schicke ihn zu dir, wenn ich ihn finde. Entschuldige bitte.«

»In Ordnung. Dann gehe ich jetzt.«

Erlendur zögerte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, aber er wollte das Gespräch nicht gleich beenden. Das Schweigen zog sich hin, plötzlich wurde an die Tür geklopft. Er ging davon aus, dass es Eva Lind wäre.

»Ich würde dich sehr gerne wieder treffen«, sagte er, »aber ich kann verstehen, falls du keine Lust dazu hast.«

Wieder wurde an die Tür geklopft, diesmal fester.

»Ich würde dir gerne erzählen, was es mit der Bergnot und den tragischen Unfällen auf sich hat«, sagte Erlendur.

»Falls du Lust hast, mir zuzuhören.«

»Was meinst du eigentlich?«

»Hast du Lust dazu?«

Er wusste selber nicht ganz genau, was er meinte. Weswegen wollte er dieser Frau sagen, was er außer seiner Tochter nie zuvor jemandem gesagt hatte? Warum konnte er es nicht dabei belassen und weiter sein Leben leben und nichts von außen an sich herankommen lassen, weder jetzt noch später?

Valgerður antwortete nicht gleich, und jetzt wurde zum dritten Mal an die Tür geklopft. Erlendur legte den Hörer auf den Tisch und öffnete die Tür, ohne hinzusehen, wer da zu ihm wollte. Als er den Hörer wieder hochnahm, hatte Valgerður aufgelegt.

»Hallo«, sagte er. »Hallo.« Er erhielt keine Antwort.

Er legte den Hörer auf die Gabel und drehte sich um. Im Zimmer stand ein Mann, den er nie zuvor gesehen hatte. Er war klein, trug einen dunkelblauen Wintermantel mit Schal und eine blaue Schirmmütze auf dem Kopf. Wasserperlen glitzerten auf Mütze und Mantel, geschmolzener Schnee. Er hatte ein ziemlich fleischiges Gesicht, dicke Lippen und enorme rötliche Säcke unter seinen kleinen und müden Augen. Er erinnerte Erlendur an Fotos von W. H. Auden. Unter der Nase hing ein kleiner Tropfen.

»Bist du Erlendur?«, fragte er.

»Ja.«

»Mir wurde gesagt, ich solle hier ins Hotel kommen und mit dir sprechen«, sagte der Mann, nahm die Schirmmütze ab, schlug sie gegen den Mantel und wischte sich den Tropfen unter der Nase ab.

»Wer hat dir das gesagt?«, fragte Erlendur.

»Nannte sich Marian Briem. Ich weiß nicht, wer das ist. Angeblich mit dem Fall befasst, setzt sich mit Leuten in Verbindung, die Guðlaugur früher gekannt haben. Ich gehöre zu denen, die ihn in der Vergangenheit gekannt haben, und Marian Briem sagte mir, ich solle mit dir darüber sprechen.«

»Wer bist du?« Erlendur kamen die Gesichtszüge irgendwie bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen.

»Ich heiße Gabríel Hermannsson und habe früher den Kinderchor von Hafnarfjörður geleitet«, sagte der Mann.

»Darf ich mich hier auf das Bett setzen? Diese langen Korridore …«

»Gabríel? Selbstverständlich, bitte sehr, nimm Platz.«

Der Mann knöpfte den Mantel auf und lockerte den Schal. Erlendur nahm die eine Plattenhülle zur Hand und betrachtete das Bild des Kinderchors in Hafnarfjörður. Der Chordirigent schaute strahlend in die Kamera. »Das bist also du?«, fragte Erlendur und reichte dem Mann die Hülle.

Der Mann warf einen Blick darauf und nickte.

»Wo hast du die her?«, fragte er. »Diese Platten sind seit Jahren nicht mehr im Umlauf. Ich habe meine verloren, hab sie blödsinnigerweise irgendjemandem ausgeliehen. Man soll nie was verleihen.«

»Er besaß sie selber«, sagte Erlendur.

»Ich war nicht viel älter als achtundzwanzig«, sagte Gabríel, »als diese Aufnahme gemacht wurde. Unglaublich, wie die Zeit vergeht.«

»Was hat Marian Briem dir gesagt?«

»Nicht viel. Ich habe gesagt, was ich über Guðlaugur weiß, und dann wurde mir gesagt, dass ich mit dir sprechen solle.

Ich musste sowieso etwas in Reykjavik erledigen und dachte, es sei günstig, die Gelegenheit zu nutzen.«

Gabríel zögerte.

»Ich habe das nicht so richtig an der Stimme erkennen können«, sagte er, »und überlege hin und her, ob das ein Mann oder eine Frau war. Marian? Was für ein Name ist das eigentlich? Komisch nach so was fragen zu müssen, aber ich konnte es einfach nicht raushören. Meistens erkennt man das doch an der Stimme. Ist das ein Männer- oder ein Frauenname? Die Person schien in meinem Alter zu sein, oder vielleicht älter, obwohl ich nicht danach gefragt habe. Komischer Name, Marian Briem.«

Erlendur bemerkte, dass er sehr interessiert klang, so als wäre es ihm außerordentlich wichtig, das in Erfahrung zu bringen.

»Ich habe einfach noch nie darüber nachgedacht«, sagte Erlendur, »über diesen Namen, Marian Briem. Ich habe mir gerade diese Platte angehört«, sagte er und deutete auf die Plattenhülle. »Die Stimme ist beeindruckend, das kann man nicht anders sagen, gemessen am Alter des Jungen.«

»Guðlaugur war vielleicht der beste Chorknabe, den Island je besessen hat«, erwiderte Gabríel und betrachtete das Plattencover. »Im Nachhinein lässt sich das sagen. Ich glaube, wir haben uns gar nicht klar gemacht, was uns da anvertraut war, das ist einem erst sehr viel später aufgegangen, vielleicht sogar erst jetzt in den letzten Jahren.«

»Wann hast du ihn kennen gelernt?«

»Sein Vater kam mit ihm zu mir. Die Familie wohnte damals in Hafnarfjörður und tut es, soweit ich weiß, immer noch.

Die Mutter starb kurze Zeit später, und der Vater kümmerte sich ganz allein um die Erziehung von Guðlaugur und seiner Schwester, die etwas älter war. Der Mann wusste, dass ich ein Musikstudium im Ausland absolviert hatte. Ich habe Musikunterricht gegeben, sowohl Privatunterricht als auch in der Volksschule in Hafnarfjörður und andernorts. Ich wurde als Chorleiter engagiert, als man einen Kinderchor zusammen­getrommelt hatte. Es waren in der Mehrzahl Mädchen, das ist meistens so, und deswegen haben wir speziell nach Jungen gesucht. Guðlaugur kam eines Tages mit seinem Vater zu mir nach Hause, da war er zehn Jahre alt und hatte diese wunderbare Stimme. Diese wunderbare Stimme. Und er konnte singen. Ich habe sofort gesehen, dass der Vater extrem hohe Anforderungen an den Sohn stellte und streng zu ihm war. Er sagte, dass er ihm alles, was er über Gesang wusste, beigebracht hatte. Später habe ich herausgefunden, dass er ziemlich tyrannisch sein konnte, ihn beispielsweise bestrafte und drinnen im Haus einsperrte, wenn er draußen spielen wollte. Ich glaube, der Junge hat so gesehen keine gute Erziehung genossen, an ihn sind wahrscheinlich durchweg unrealistische Forderungen gestellt worden, und er durfte nur selten mit gleichaltrigen Kindern zusammen sein. Er war ein klassisches Beispiel dafür, wenn Eltern ihre Kinder entmündigen und nach ihren Vorstellungen zu modellieren versuchen. Ich glaube, dass Guðlaugurs Jugend alles andere als glücklich gewesen ist.«

Gabríel verstummte.

»Du hast wohl ziemlich viel darüber nachgedacht, nicht wahr?«, fragte Erlendur.

»Ich habe zusehen müssen, wie dies alles passierte.«

»Was?«

»Es gibt nichts Schrecklicheres, als Kinder mit allen verfügbaren Mitteln streng zu disziplinieren und unzumutbare Anforderungen an sie zu stellen. Und damit meine ich nicht die notwendige Strenge, die jedes Kind braucht, wenn es unartig ist, das ist eine ganz andere Sache. Natürlich müssen Kinder sich an Disziplin gewöhnen. Ich spreche darüber, dass Kinder keine Kinder sein dürfen. Wenn sie nicht die Chance bekommen, das zu sein, was sie sein wollen und was sie sind, sondern unterdrückt und sogar kaputtgemacht werden, um etwas anderes zu sein.

Guðlaugur hatte diese schöne Knabenstimme, einen Knabensopran, und sein Vater hatte Großes mit ihm vor. Ich will damit nicht sagen, dass er ihn auf bewusste, berechnende Weise schlecht behandelt hat, er hat ihm nur einfach sein eigenes Leben genommen. Hat ihn um seine Jugend betrogen.«

Erlendur dachte an seinen Vater, der nie etwas anderes gemacht hatte, als ihm gute Sitten beizubringen und ihm seine Zuneigung zu zeigen. Er stellte nur eine einzige Forderung an ihn, sich gut zu benehmen und zuvorkommend zu anderen Menschen zu sein. Sein Vater hatte nie versucht, etwas anderes aus ihm zu machen, als er war. Er dachte auch an den Vater, der wegen brutaler Misshandlung seines Sohns vor Gericht stand, und er sah Guðlaugur vor sich, wie er seine ganze Kindheit hindurch bemüht war, die Erwartungen seines Vaters zu erfüllen.

»Man sieht das am besten bei religiösen Fanatikern«, fuhr Gabríel fort. »Kinder von solchen Sektierern haben keine andere Wahl, als den Glauben der Eltern zu übernehmen, und leben auf diese Weise in Wirklichkeit eher das Leben ihrer Eltern als ihr eigenes. Sie haben nie die Möglichkeit, frei zu sein, aus der Welt auszusteigen, in die sie hineingeboren wurden, und selbstständige Entscheidungen in Bezug auf ihr Leben zu treffen. Die Kinder merken das natürlich erst viel später — wenn überhaupt. Aber als Jugendliche und Erwachsene sagen sie dann oft, ich will das nicht mehr, und dann kann es zu Auseinandersetzungen kommen. Auf einmal will das Kind nicht mehr das Leben seiner Eltern leben, und daraus können schlimme Konflikte entstehen. Es gibt genügend Beispiele: Der Arzt will, dass sein Kind Arzt wird. Der Jurist. Der Direktor. Der Flugkapitän. Überall gibt es Leute, die unzumutbare Anforderungen an ihre Kinder stellen.«

»War das bei Guðlaugur der Fall? Hat er gesagt, jetzt reicht’s mir? Hat er rebelliert?«

Gabríel schwieg eine Weile.

»Hast du seinen Vater kennen gelernt?«, fragte er.

»Ich habe mich heute Morgen mit ihnen unterhalten«, sagte Erlendur. »Mit ihm und seiner Tochter. Da ist Zorn im Spiel und ein tiefer Abscheu, und es liegt offen zutage, dass sie Guðlaugur keine warmen Gefühle entgegengebracht haben. Seinetwegen wurden keine Tränen geweint.«

»Der Vater war im Rollstuhl, nicht wahr?«

»Ja.«

»Das ist ein paar Jahre später passiert«, sagte Gabríel.

»Später als was?«

»Einige Jahre nach dem Konzert. Diesem entsetzlichen Konzert, bevor diese Skandinavienreise starten sollte. Das war nie zuvor passiert, dass ein isländischer Junge auf Konzerttournee ging, um in Skandinavien mit bedeutenden Chören aufzutreten. Sein Vater schickte die erste Platte nach Norwegen, und dort bekam ein Plattenproduzent Interesse und organisierte diese Tournee mit dem Ziel, Schallplatten mit ihm in Skandinavien herauszugeben.

Sein Vater hat mir einmal gesagt, dass es sein Traum wäre, wohlgemerkt seiner, nicht der seines Sohns, dass der Junge mit den Wiener Sängerknaben auftrete. Und das hätte er geschafft, das ist gar keine Frage.«

»Was geschah?«

»Was früher oder später immer geschieht mit Knabensopranen, die Natur greift ein«, sagte Gabríel. »Im wahrscheinlich allerschlimmsten Augenblick im Leben dieses Jungen. Es hätte ja auf einer Probe passieren können oder zu Hause bei ihm. Aber es geschah im Konzertsaal, und der arme Junge …«

Gabríel blickte Erlendur an.

»Ich war mit ihm hinter der Bühne. Der Kinderchor sollte ein paar Lieder mit ihm singen, und viele Kinder aus Hamarfjörður waren da, angesehene Leute aus dem Musikleben aus Reykjavik, ja sogar einige Kritiker der Zeitungen.

Es war viel Reklame für das Konzert gemacht worden. Sein Vater saß selbstverständlich in der ersten Reihe. Der Junge ist später, viel später, einmal zu mir gekommen, als er von zu Hause ausgezogen war, und hat mir gesagt, wie er diesen schicksalhaften Abend erlebt hat, und ich habe seitdem oft darüber nachgedacht, wie ein einzelnes Ereignis den Menschen für den Rest seines Lebens prägen kann.«


Jeder Platz im Stadtkino von Hafnarfjördur war besetzt, und der Saal summte. Er war zweimal zuvor hier in diesem schönen Kino gewesen, um sich Spielfilme anzugucken, und er war begeistert gewesen von allem, was er sah: von der schönen Beleuchtung im Zuschauerraum und der erhöhten Bühne, wo auch Theaterstücke aufgeführt wurden. Seine Mutter war mit ihm dort hingegangen, als »Vom Winde verweht« erneut gezeigt wurde, und er war mit seinem Vater und seiner Schwester hier gewesen, um sich einen neuen Zeichentrickfilm von Walt Disney anzusehen.

An diesem Tag waren die Leute aber nicht gekommen, um die Helden der Leinwand zu bewundern, sondern um ihn zu hören, sie kamen seinetwegen, um seine Stimme zu hören, die sie von seinen Platten her kannten. Er spürte keine Schüchternheit mehr, sondern es war eher ein Gefühl von Ungewissheit. Er war bereits in der Stadtkirche von Hafnarfjördur öffentlich aufgetreten, und in der Schule, und er hatte viele Zuhörer gehabt. Oft war er sehr schüchtern gewesen und hatte sogar richtig Angst gehabt. Später begriff er, dass er in den Augen anderer bewundernswert war, und das half ihm, über die Schüchternheit hinwegzukommen.

Es gab einen Grund dafür, warum die Leute kamen und ihn singen hören wollten, und es gab nichts, weswegen er Angst zu haben brauchte. Der Grund waren seine Stimme und sein Gesang. Nichts anderes. Er war ein Star.

Sein Vater hatte ihm die Anzeige in der Zeitung gezeigt: Der beste Knabensopran in Island tritt heute Abend auf Keiner war besser als er. Sein Vater war überglücklich und viel gespannter auf den Abend als er selbst. Er sprach seit Tagen von nichts anderem. Hätte doch bloß deine Mutter erleben können, dass du im Stadtkino auftrittst, sagte er. Darüber hätte sie sich so gefreut. Darüber hätte sie sich so unsäglich gefreut.

Auch in einem anderen Land war man von seiner Stimme begeistert und wollte ihn auf der Bühne erleben. Eine Platte mit ihm sollte herausgegeben werden. Ich habe es ja gewusst, hatte sein Vater immer wieder gesagt. Er hatte sich große Mühe mit der Vorbereitung der Reise gemacht. Das Konzert im Stadtkino sollte den krönenden Schlusspunkt unter diese Arbeit setzen.

Der Bühnenmeister zeigte ihm, von wo er in den Saal schauen konnte, um zu sehen, wie die Leute hereinströmten. Er lauschte auf das Stimmengewirr und sah viele Gesichter, die er überhaupt nicht kannte und von denen er wusste, dass er sie nie kennen lernen würde. Er sah, wie sich die Frau des Chorleiters mit ihren drei Kindern ans Ende der dritten Reihe setzte. Er sah einige seiner Schulkameraden mit ihren Eltern, sogar einige von denen, die ihn gehänselt hatten. Er sah, dass sein Vater in der Mitte der ersten Reihe Platz nahm und die große Schwester an seiner Seite, die in die Luft starrte. Die Verwandten mütterlicherseits waren auch da, Tanten, die er kaum kannte, Onkel, die ihre Hüte in den Händen hielten und darauf warteten, dass der Vorhang hochging.

Er wollte, dass sein Vater stolz auf ihn sein konnte. Er wusste, dass sein Vater kein Opfer gescheut hatte, nur damit er es als Sänger zu etwas bringen würde, und jetzt sollten sich die Früchte der Arbeit zeigen. Es hatte schier endlose Proben gekostet. Es wäre zwecklos gewesen, sich dagegen aufzulehnen. Er hatte es versucht und damit den Zorn seines Vaters hervorgerufen.

Er vertraute seinem Vater vollkommen, und so war es immer gewesen. Auch als er öffentlich auftreten musste, obwohl er es nicht mochte. Sein Vater hatte ihm zugesetzt und ihn angespornt und zum Schluss seinen Willen durchgesetzt.

Ihm war es anfangs eine Qual gewesen, vor Unbekannten zu singen; das Lampenfieber, die Schüchternheit. Sein Vater war aber nicht von seinem Kurs abzubringen gewesen, auch nicht, als der Junge wegen seines Gesangs gehänselt wurde, je öfter er öffentlich auftrat, in der Kirche und auch in der Schule, desto mehr reizte das die anderen Jungen und auch einige Mädchen, sie gaben ihm Spitznamen und äfften seinen Gesang nach, und er begriff nicht, was dahinter steckte. Er wollte seinen Vater nicht wütend machen. Er hatte sich nach dem Tod der Mutter so verändert. Sie war an akuter Leukämie erkrankt und starb innerhalb von wenigen Monaten. Sein Vater hatte Tag und Nacht am Krankenbett verbracht, hatte sie ins Krankenhaus begleitet und sogar dort geschlafen, als es mit ihr zu Ende ging. Bevor sie an diesem Abend das Haus verließen, hatte sein Vater ihm noch zugeraunt: Denk an deine Mutter, wie stolz sie heute Abend auf dich gewesen wäre.

Der Chor hatte sich bereits auf der Bühne eingefunden. Die Mädchen hatten alle die gleichen Kleider an, die der Stadtrat von Hafnarfjörður bezahlt hatte. Die Jungen trugen weiße Hemden und schwarze Hosen, genau wie er selbst. Sie tuschelten zusammen und waren aufgeregt wegen der Aufmerksamkeit, die dem Chor zuteil wurde, und sie waren bereit, ihr Bestes zu geben. Der Chorleiter sprach mit dem Ansager, der durch das Programm führen sollte. Er trat eine Zigarette auf dem Boden aus. Alles war bereit. Bald würde der Vorgang hochgehen. Gabríel rief ihn zu sich.

»Ist alles in Ordnung?«,fragte er.

»Nein. Der ganze Saal ist voll.«

»Ja. Alle sind gekommen, um dich zu hören. Denk daran. Die Leute sind gekommen, um dich zu, sehen und zu hören, und keinen anderen. Du kannst stolz und glücklich sein, und es besteht kein Grund zur Schüchternheit. Du bist vielleicht jetzt etwas nervös, aber das geht vorbei in dem Moment, wo du anfängst zu singen. Das weißt du.«

»Ja.«

»Sollen wir dann anfangen?«

Er nickte zustimmend.

Gabríel legte ihm einen Arm um die Schultern.

»Es ist bestimmt schwierig für dich, allen diesen Leuten in die Augen zu schauen, aber du brauchst bloß zu singen, und dann ist alles in Ordnung.«

»Ja.«

»Erst nach dem ersten Lied gibt es eine Ansage. Wir haben das alles sorgfältig geübt. Du beginnst zu singen, und dann ist alles in Ordnung.«

Gabríel gab dem Ansager ein Zeichen. Er winkte dem Chor, der auf der Stelle verstummte und sich aufstellte. Es war so weit. Alle waren bereit.

Die Lichter im Saal gingen aus. Das Stimmengewirr verstummte. Der Vorhang ging auf.

Denk an deine Mutter.

Das Letzte, woran er dachte, bevor sich der Saal vor ihm öffnete, war seine Mutter auf dem Sterbebett, als er sie das letzte Mal sah, und für einen Augenblick verlor er die Konzentration. Er war mit seinem Vater hingegangen, und sie saßen an einer Seite des Betts. Sie war so geschwächt, dass sie kaum die Augen offen halten konnte. Sie lag mit geschlossenen Augen da und schien eingeschlafen zu sein, aber dann öffnete sie sie wieder, schaute ihn an und versuchte zu lächeln.

Sie war nicht mehr imstande, sich zu unterhalten. Als es Zeit war, sich zu verabschieden, standen sie auf, und er hatte es immer bereut, sie nicht zum Abschied geküsst zu haben, denn das war das letzte Mal, dass sie zusammen waren. Er stand bloß auf, verließ mit seinem Vater das Krankenzimmer, und die Tür schloss sich hinter ihnen.

Der Vorhang ging auf und er schaute seinem Vater in die Augen. Der Saal verschwamm vor ihm, und das Einzige, was er sah, waren die stechenden Augen seines Vaters.

Irgendjemand im Saal begann zu lachen.

Er kam wieder zu sich. Der Chor hatte angefangen zu singen, und der Chorleiter hatte ihm das Zeichen zum Einsatz gegeben, aber er hatte es verpasst. Der Chorleiter versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, dirigierte den Chor durch eine geschickte Schleife, und jetzt fiel er an der richtigen Stelle ein und hatte gerade angefangen zu singen, als etwas geschah.

Als etwas mit der Stimme passierte.


»Sie ist gekippt«, sagte Gabríel, der bei Erlendur im kalten Hotelzimmer saß. »Die Stimme ist gekippt. Gleich bei der ersten Nummer. Und damit war es aus.«

Vierzehn

Gabríel saß regungslos auf dem Bett und starrte vor sich hin, er war augenscheinlich wieder auf der Bühne im Stadtkino, wo der Chor nach und nach verstummte. Guðlaugur, der nicht verstand, was mit seiner Stimme los war, räusperte sich ein ums andere Mal und versuchte weiterzusingen.

Sein Vater war aufgestanden, und seine Schwester lief zur Bühne, um ihren Bruder dazu zu bringen, damit aufzuhören. Zuerst tuschelten die Leute untereinander wegen der Schwierigkeiten, die der Junge zu haben schien, aber bald hörte man hie und da unterdrücktes Lachen im Saal, das immer lauter wurde, und ein paar Leute pfiffen. Gabríel ging zu Guðlaugur und wollte ihn wegführen, aber der stand wie angewurzelt da. Der Bühnenmeister versuchte, den Vorhang heruntergehen zu lassen. Der Ansager war mit einer Zigarette in der Hand auf die Bühne gekommen und wusste nicht, was er machen sollte. Endlich gelang es Gabríel, Guðlaugur von der Stelle zu bewegen und ihn vor sich herzuschieben. Dann war auch seine Schwester auf der Bühne erschienen, nahm ihn bei der Hand und schrie in den Saal, dass die Leute nicht lachen sollten. Sein Vater stand immer noch wie versteinert an demselben Platz in der ersten Reihe.

Gabríel kam wieder zu sich und schaute Erlendur an.

»Mich schaudert es immer noch, wenn ich an diese Szene denke«, sagte er.

»Die Stimme ist gekippt?«, fragte Erlendur. »In Musik kenne ich mich nicht so …«

»Man sagt auch, dass die Stimme bricht. Mit der Pubertät werden die Stimmbänder länger. Du verwendest die Stimme wie zuvor, aber sie senkt sich um eine ganze Oktave. Das Ergebnis ist alles andere als schön, es klingt wie Jodeln nach unten. Das ist das, womit alle Knabenchöre zu kämpfen haben. Er hätte möglicherweise auch noch zwei oder drei Jahre weitermachen können, aber Guðlaugur war frühreif. Die Hormonproduktion kam in Gang, und das Ergebnis war der furchtbarste Abend seines Lebens.«

»Du musst dich sehr gut mit ihm verstanden haben, wenn er später zu dir gekommen ist und mit dir darüber gesprochen hat.«

»Das kann man schon sagen. Er betrachtete mich als seinen Vertrauten. Ich versuchte, so gut ich es vermochte, ihm zu helfen, und er nahm weiterhin Gesangsstunden bei mir.

Sein Vater wollte nicht aufgeben. Aus seinem Sohn sollte ein Sänger werden. Er sprach davon, ihn nach Deutschland oder Italien zu schicken, oder sogar nach England. Dort hat man den Knabensopran am meisten kultiviert, und dort gibt es Myriaden von Chorknaben, deren Karriere ein solches Ende gefunden hat. Nichts ist so kurzlebig wie ein Knabensopran.«

»Aber es wurde nie ein Sänger aus ihm?«

»Nein. Das war vorbei. Er hatte eine passable Erwachsenenstimme, aber nicht mehr. Vor allem aber war sein Interesse vorbei. Die ganze Arbeit, die in der Gesangsausbildung steckte, und im Grunde genommen seine ganze Kindheit, wurden an diesem einen Abend zunichte gemacht. Sein Vater ging mit ihm zu anderen Gesangslehrern, aber auch dabei kam nichts heraus, der Funke war erloschen. Er ließ sich wegen seines Vaters zunächst noch eine Zeit lang darauf ein, aber dann warf er alles hin. Er sagte mir, dass es in Wirklichkeit auch nie sein Wunsch gewesen war, Chorknabe und Sänger zu werden, zu singen und aufzutreten. Das alles kam von seinem Vater.«

»Du hast vorhin gesagt, dass einige Jahre später etwas passiert ist«, sagte Erlendur. »Einige Jahre nach dem Konzert im Stadtkino. Ich hatte den Eindruck, dass das mit dem Vater und dem Rollstuhl zusammenhing. Ist das richtig?«

»Mit der Zeit entstand eine tiefe Kluft zwischen ihnen. Zwischen Guðlaugur und seinem Vater. Du hast ihr Verhalten gesehen, als er und seine Tochter kamen, um mit dir zu sprechen. Ich kenne andererseits nicht die ganze Geschichte, nur einen Teil davon.«

»Aber wenn ich dich richtig verstehe, haben Guðlaugur und seine Schwester sich gut verstanden.«

»Ganz ohne Zweifel. Sie begleitete ihn oft zu den Chorproben und war immer dabei, wenn er auf Feiern in der Schule oder in der Kirche gesungen hat. Sie war gut zu ihm, aber sie hing auch an ihrem Vater. Er war eine unerhört starke Persönlichkeit, unbeugsam und unerbittlich, wenn er seinen Willen durchsetzen wollte, er konnte aber zwischendurch auch mildere Saiten aufziehen. Sie stellte sich zum Schluss ganz hinter ihn. Der Junge rebellierte gegen seinen Vater. Ich weiß nicht ganz genau, was es war, aber zum Schluss hasste er seinen Vater und gab ihm die Schuld daran, wie es gelaufen war. Nicht nur damals, auf der Bühne, sondern im Hinblick auf alles.«

Gabríel schwieg eine Weile.

»Bei einem der letzten Male, als ich mit ihm sprach, sagte er, dass sein Vater ihm seine Jugend geraubt hätte. Dass er ihn zum Gespött der Leute gemacht hätte.«

»Zum Gespött der Leute?«

»So hat er sich ausgedrückt, aber ich wusste genauso wenig wie du, was er damit meinte. Das war kurz nach dem Unfall.«

»Unfall?«

»Ja.«

»Was ist passiert?«

»Guðlaugur wird wohl so um die zwanzig gewesen sein. Er hatte mit der Schule aufgehört. Nach dem Unfall zog er aus Hafnarfjörður weg, und danach hatten wir so gut wie gar keine Verbindung mehr. Ich könnte mir vorstellen, dass der Unfall durch diese seine Rebellion verursacht wurde.

Aus dieser Wut heraus, die sich in ihm angestaut hatte.«

»Und nach dem Unfall ist er von zu Hause ausgezogen?«

»Ja, soviel ich weiß.«

»Was ist damals geschehen?«

»In ihrem Haus gab es eine hohe, steile Treppe. Ich bin einmal bei ihnen gewesen. Sie führte von der Diele aus in die obere Etage. Es hatte wohl wieder einmal ein Streit zwischen Guðlaugur und seinem Vater gegeben, der in der oberen Etage ein Büro hatte. Sie standen direkt vor der Treppe, und soviel ich weiß, hat Guðlaugur ihn dann diese Treppe hinuntergestoßen. Er ist nie wieder auf die Beine gekommen, denn die Wirbelsäule war gebrochen, und er war querschnittsgelähmt.«

»War es ein Unfall? Weißt du das?«

»Das wussten nur Guðlaugur und sein Vater. Vater und Tochter haben ihn danach verstoßen und jegliche Verbindung zu ihm abgebrochen. Sie wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das deutet vielleicht darauf hin, dass er seinen Vater angegriffen hat. Dass es kein Unfall gewesen ist.«

»Wieso weißt du davon, wenn du gar keine Verbindung mehr zu den Leuten hattest?«

»Die ganze Stadt redete darüber, dass er seinen Vater die Treppe hinuntergestoßen hätte. Es gab sogar eine polizeiliche Untersuchung.«

»Wann hast du Guðlaugur zuletzt gesehen?«

»Das war hier im Hotel, ein purer Zufall. Ich hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war. Ich war hier mit Bekannten zum Abendessen verabredet, als ich ihn auf einmal in seiner Livree auftauchen sah. Ich erkannte ihn nicht gleich, es war ja so viel Zeit verstrichen. Das war vor fünf oder sechs Jahren. Ich ging zu ihm hin und fragte, ob er sich nicht an mich erinnerte, und dann haben wir uns unterhalten.«

»Über was?«

»Über alles und nichts. Ich fragte ihn, wie es ihm ginge und dergleichen. Er schwieg sich über seine persönlichen Verhältnisse aus. Ihm schien es unangenehm zu sein, mit mir zu sprechen. Es war, als würde ich ihn an die Vergangenheit erinnern, die er verdrängen wollte. Ich hatte das Gefühl, er schämte sich für die Portiersuniform. Vielleicht war es auch etwas anderes, ich weiß es nicht. Ich fragte ihn nach seiner Familie, er sagte, er habe überhaupt keine Verbindung mehr zu ihnen. Und damit hatte es sich, und wir verabschiedeten uns.«

»Hast du irgendeine Idee, wer ein Interesse daran gehabt haben könnte, Guðlaugur umzubringen?«

»Nicht die geringste«, sagte Gabríel. »Wie wurde er angegriffen? Wie wurde er umgebracht?«

Er fragte vorsichtig, und aus seinen Augen sprach Trauer.

Es ging nicht darum, etwas in Erfahrung zu bringen, um es brühwarm zu Hause oder im Freundeskreis weiterzuerzählen, er wollte nur wissen, wie das Leben des viel versprechenden Talents, das er einmal unterrichtet hatte, geendet hatte.

»Es ist mir leider nicht möglich, in die Details zu gehen, wegen der Ermittlung«, sagte Erlendur. »Das sind Informationen, die wir geheim zu halten versuchen.«

»Ja, natürlich«, sagte Gabríel. »Das verstehe ich gut. Polizeiliche Ermittlung … Habt ihr schon etwas herausgefunden?

Aber darüber darfst du bestimmt auch nicht sprechen, was rede ich hier eigentlich. Ich kann mir nicht vorstellen, wer ihn hätte umbringen wollen, aber ich habe natürlich auch seit langem keine Verbindung mehr zu ihm gehabt. Wusste nur, dass er hier im Hotel war.«

»Er hat hier viele Jahre als Portier und Hausfaktotum gearbeitet. Beispielsweise auch den Weihnachtsmann gespielt.«

Gabríel stöhnte.

»Was für ein Schicksal.«

»Das Einzige, was wir außer den Schallplatten in seiner Kammer vorgefunden haben, war ein Filmplakat, das an der Wand hing. Stammt von einem Film mit Shirley Temple aus dem Jahre 1939, der Die kleine Prinzessin oder The Little Princess heißt. Hast du irgendeine Vorstellung, warum er so was bei sich aufgehängt hat, oder vielleicht sogar, warum er sie besonders geschätzt hat? Ansonsten ist überhaupt nichts in dem Zimmer.«

»Shirley Temple?«

»Der Kinderstar.«

»Die Verbindung wird sicher ganz direkt sein«, erklärte Gabríel. »Guðlaugur hat sich selbst als Kinderstar angesehen, und das taten alle um ihn herum. Ansonsten sehe ich da keinen Zusammenhang.«

Gabríel stand auf, setzte sich die Schirmmütze auf, knöpfte den Mantel zu und band sich den Schal um den Hals. Währenddessen schwiegen sie beide. Erlendur öffnete ihm die Tür und begleitete ihn auf den Gang hinaus.

»Danke, dass du gekommen bist und mit mir gesprochen hast«, sagte er und streckte seine Hand aus.

»Keine Ursache«, erwiderte Gabríel. »Das war das Mindeste, was ich tun konnte.«

Er zögerte, als wollte er noch etwas sagen, aber wusste nicht, wie.

»Er war voller Unschuld«, sagte er schließlich. »Ein Junge, der nie Streiche machte oder Widerworte gab. Man hatte ihm eingeredet, er sei eine besonderer und einmaliger Junge und dass er berühmt werden und die Welt erobern würde. Die Wiener Sängerknaben. Hierzulande werden die Dinge so aufgebauscht, heute vielleicht noch schlimmer als früher, das ist typisch für diese Nation, die sonst nichts vorzuweisen hat. In der Schule machten sie sich über ihn lustig, weil er anders war, und er musste deswegen einiges einstecken. Und dann stellte sich am Ende heraus, dass er ein ganz normaler Junge war, dessen gesamte Welt an einem einzigen Abend zusammenstürzte. Es hätte unglaublicher Charakterstärke bedurft, um das heil durchzustehen.«

Sie verabschiedeten sich, Gabríel drehte sich um und ging den Gang entlang in Richtung Aufzug. Erlendur blickte ihm nach, und es kam ihm fast so vor, als hätte das Schicksal von Guðlaugur Egilsson den ehemaligen Chorleiter seiner gesamten Kraft beraubt.

Erlendur schloss die Tür. Er setzte sich auf die Bettkante und dachte über den Chorknaben nach, wie er ihn als Weihnachts­mann mit runtergelassenen Hosen vorgefunden hatte. Er grübelte, wie das Schicksal diesen Jungen in dieses Kabuff im Keller geführt und ihm so viele Jahre nach der bittersten Enttäuschung seines Lebens den Tod gebracht hatte. Er dachte an Guðlaugurs Vater mit der dicken Hornbrille, der an den Rollstuhl gefesselt war, und an seine Schwester mit dem stechenden Blick und der Aversion gegen den Bruder. Er dachte an den feisten Hotelmanager, der ihn entlassen hatte, und an den Empfangschef, der vorgab, ihn nicht gekannt zu haben. Er dachte an das Hotelpersonal, das keine Ahnung hatte, wer Guðlaugur Egilsson war. An Henry Wapshott, der von weither gekommen war, weil der junge Guðlaugur mit seiner zarten und schönen Stimme immer noch existierte und es auch weiterhin tun würde.

Unwillkürlich gingen seine Gedanken wieder zurück zu seinem Bruder.

Erlendur legte wieder dieselbe Platte auf, streckte sich auf dem Bett aus und ließ sich erneut in die Vergangenheit zurückversetzen, nach Hause. Dachte an seinen Bruder.

Vielleicht war es auch sein Gesang.

Fünfzehn

Elínborg kam gegen Abend wieder aus Hafnarfjörður zurück und fuhr direkt ins Hotel, um sich mit Erlendur zu treffen.

Sie nahm den Aufzug hoch zu seiner Etage und klopfte an die Tür, zweimal, und als keine Reaktion erfolgte, klopfte sie ein drittes Mal. Sie wollte gerade wieder kehrtmachen, als sich die Tür endlich öffnete und Erlendur sie hereinließ.

Er war über seinen Gedanken eingenickt und war immer noch völlig abwesend, als Elinborg anfing zu berichten, was sie in Hafnarfjörður herausgefunden hatte. Sie hatte mit dem ehemaligen Rektor der Volksschule in Hafnarfjörður gesprochen, der steinalt war, sich aber noch gut an Guðlaugur erinnern konnte. Hinzu kam, dass seine Frau, die vor rund zehn Jahren gestorben war, mit der Mutter des Jungen befreundet gewesen war. Mithilfe des Rektors hatte sie drei ehemalige Schulkameraden von Guðlaugur ausfindig gemacht, die immer noch in Hafnarfjörður wohnten. Eine von ihnen war bei dem Konzert im Stadtkino dabei gewesen. Elinborg hatte auch mit alten Nachbarn der Familie gesprochen und mit Leuten, die früher mit der Familie zu tun gehabt hatten.

»Hier in diesem Zwergstaat darf sich niemand hervortun«, sagte Elinborg und setzte sich auf das Bett. »Niemand darf anders sein.«

Alle wussten, dass aus Guðlaugur etwas Besonderes werden sollte. Er sprach zwar selber nie darüber, er sprach eigentlich niemals über sich selbst, aber alle wussten es. Er musste Klavierunterricht nehmen, erst bei seinem Vater und dann beim Leiter des Kinderchors, dessen Stelle um diese Zeit eingerichtet wurde, und dann bei einem bekannten Sänger, der in Deutschland gelebt und gearbeitet hatte, aber jetzt nach Island zurückgekehrt war. Die Leute überschütteten den Jungen mit Lob. Er bekam Applaus, und er verneigte sich in seinem weißen Hemd und den schwarzen Hosen, wohlerzogen und kultiviert wie ein kleiner Erwachsener. Was für ein hübscher Junge, dieser Guðlaugur, sagten die Leute. Schallplatten wurden mit ihm herausgegeben. Demnächst würde er auch in anderen Ländern berühmt sein.

Er war nicht in Hafnarfjörður geboren. Die Familie war aus dem Norden gekommen und hatte zunächst in Reykjavik gelebt. Es hieß, dass Guðlaugurs Vater der Sohn eines Organisten war und selber in jüngeren Jahren im Ausland Gesang studiert hatte. Das Haus in Hafnarfjörður hatte er den Gerüchten zufolge von dem Geld gekauft, das er von seinem Vater erbte, der sich durch Geschäfte mit der amerikanischen Besatzungsmacht eine goldene Nase verdient hatte.

Angeblich hatte er so viel geerbt, dass er sich keine Gedanken mehr über seinen Lebensunterhalt zu machen brauchte.

Dieser Reichtum wurde aber nie zur Schau gestellt. Es lag ihm nichts daran, im öffentlichen Leben irgendeine Rolle zu übernehmen, sondern sie lebten zurückgezogen. Wenn er mit seiner Frau spazieren ging, zog er den Hut und grüßte die anderen höflich. Es hieß, seine Frau sei die Tochter eines Reeders, aber niemand wusste, woher sie stammte.

Sie knüpften kaum neue Bekanntschaften in Hafnarfjörður.

Ihre Freunde, falls sie welche hatten, lebten wohl in Reykjavik. Gäste wurden kaum in dem Haus empfangen.

Wenn die anderen Jungen in seinem Viertel oder seine Schulkameraden nach Guðlaugur fragten, wurde ihnen meistens gesagt, dass er zu Hause bleiben und lernen müsse, entweder für die Schule oder für die Gesangs- und Klavierstunden. Manchmal durfte er aber hinaus zu ihnen, und sie merkten schnell, dass er nicht so ungehobelt war wie sie selber, sondern auf merkwürdige Weise empfindlich. Er machte sich nie dreckig, er sprang nie in Pfützen herum, beim Fußball war er zimperlich, und er sprach so unglaublich gewählt. Und dann redete er manchmal über Leute mit ausländischen Namen. Irgendeinen Schubert. Und wenn sie ihm von den neuesten Abenteuerbüchern erzählten, die sie lasen, oder den Filmen, die sie im Kino gesehen hatten, sagte er ihnen, dass er Gedichte lesen würde. Vielleicht nicht unbedingt, weil er das wollte, sondern weil sein Vater ihm sagte, es wäre gut für ihn, Gedichte zu lesen. Sie merkten, dass es der Vater war, der ihm seine Aufgaben zuwies. Zu Hause bei ihm ging es sehr streng und geregelt zu. Ein Gedicht pro Abend.

Die Schwester war anders als er. Sie war härter im Nehmen und ähnelte ihrem Vater. Der Vater schien nicht die gleichen Anforderungen an sie zu stellen wie an den Jungen. Sie nahm Klavierunterricht und begann genau wie ihr Bruder im Kinderchor zu singen, nachdem der gegründet worden war. Ihr Freundinnen sagten, dass sie manchmal auf ihren Bruder neidisch war, wenn der Vater ihn immer bevorzugte, und auch die Mutter schien ihren Sohn mehr zu lieben als ihre Tochter. Die Leute fanden, dass Guðlaugur und seine Mutter viel mehr gemeinsam hatten. Es war, als würde sie eine schützende Hand über ihn halten.

Einmal war ein Schulkamerad bis ins Vorzimmer vorgelassen worden, weil die Eltern sich nicht einigen konnten, ob Guðlaugur spielen gehen dürfe. Der Vater mit der dicken Brille stand oben, Guðlaugur unten, am Fuß der Treppe, und seine Mutter in der Tür zur Diele. Sie meinte, dass es doch vollkommen in Ordnung wäre, wenn Guðlaugur einmal draußen spielen würde. Er hätte nicht so viele Freunde, und sie kämen auch nicht so oft, um nach ihm zu fragen. Er könnte doch später weiterüben.

»Jetzt wird weitergeübt!«, donnerte der Vater. »Glaubst du vielleicht, dass das etwas ist, was man ganz nach Lust und Laune tun und bleiben lassen kann, wie es einem gerade passt? Du begreifst nicht, worauf wir hinarbeiten. Du willst es einfach nicht begreifen!«

»Er ist doch nur ein Kind«, sagte die Mutter, »und hat nicht viele Freunde. Du kannst ihn doch nicht den ganzen Tag im Haus halten. Er muss doch auch Kind sein dürfen.«

»Es ist schon in Ordnung«, sagte Guðlaugur und ging zu dem Jungen. »Ich komme vielleicht später. Geh jetzt, ich komme vielleicht später nach draußen.«

Auf dem Weg nach draußen hörte der Junge noch, kurz bevor die Haustür zuging, wie Guðlaugurs Vater die Treppe herunterschrie: »Untersteh dich, mir noch einmal im Beisein eines Fremden zu widersprechen.«

Guðlaugur isolierte sich in der Schule mit der Zeit immer mehr, und die Jungen in den Klassen über ihm begannen ihn zu hänseln. Anfangs war alles noch harmlos. Jeder zog jeden auf, auf dem Schulhof prügelte man sich, und es wurden Streiche gespielt wie in allen Schulen, aber nach zwei Schuljahren, als Guðlaugur elf Jahre alt war, richteten sich die Hänseleien und Streiche fast ausschließlich gegen ihn. Es war nach heutigen Maßstäben keine große Schule.

Alle wussten, dass Guðlaugur anders war. Er hatte Musikunterricht und sang mit dem neuen Kinderchor und durfte nie mit den anderen draußen spielen. Er war immer bleich und kränklich. Ein Stubenhocker. Die Jungen in der Klasse und im Viertel hörten allmählich auf, nach ihm zu fragen, fingen stattdessen an, ihm Streiche zu spielen, wenn er in die Schule kam. Sein Tornister verschwand oder war leer, wenn er ihn aufmachte. Er wurde auf der Straße geschubst, bis er hinfiel, seine Sachen wurden zerrissen, er wurde verprügelt. Er bekam Spitznamen verpasst. Er wurde nie zu Kindergeburtstagen eingeladen.

Guðlaugur wusste nicht, wie er sich dagegen wehren sollte.

Er begriff nicht, was um ihn herum vor sich ging. Sein Vater beschwerte sich beim Rektor, der versprach, einzugreifen, aber das stand nicht in seiner Macht, und Guðlaugur kam weiterhin mit zerrissenen Sachen und leerem Tornister nach Hause. Sein Vater überlegte, ihn von der Schule zu nehmen oder sogar aus der Stadt zu ziehen, aber weil er so starrköpfig war, wollte er nicht klein beigeben, denn er hatte den Kinderchor mit aufgebaut und er war zufrieden mit dem jungen Mann, der den Chor leitete. Der Chor war wichtig für Guðlaugur, er war hervorragend dazu geeignet, um sich zu üben und mit der Zeit das gebührende Aufsehen zu erregen. »Der Junge war dem Mobbing, ein Wort, das es damals gar nicht gab«, erklärte Elinborg, »schutzlos ausgesetzt.«

Seine Reaktion war die totale Kapitulation, er wurde verschlossen und eigenbrötlerisch, konzentrierte sich auf den Gesang und auf das Klavier und schien auf diese Weise eine gewisse Seelenruhe zu finden. Da wenigstens verlief alles nach Wunsch, dort sah er, wessen er fähig war. Aber die meiste Zeit ging es ihm nicht gut. Als schließlich seine Mutter starb, begann er seelisch zu verkümmern.

Man sah ihn immer nur alleine durch die Straßen gehen, und er versuchte zu lächeln, wenn er Kindern aus der Schule begegnete. Er sang auf einer Schallplatte, die in den Zeitungen besprochen wurde. Sein Vater schien also Recht behalten zu haben. Aus Guðlaugur würde etwas ganz Besonderes werden.

Eine Schulkameradin, die mit ihren Eltern im Stadtkino gewesen war, hatte angefangen zu weinen, während viele andere lachten, als der Chorleiter und Guðlaugurs Schwester ihn von der Bühne führten.

Und kurze Zeit danach, kaum jemand wusste, warum, hatte er einen neuen Spitznamen im Viertel bekommen.

»Wie wurde er genannt?«, fragte Erlendur.

»Der Rektor wusste es nicht«, entgegnete Elinborg, »und seine ehemaligen Schulkameraden konnten sich entweder nicht daran erinnern oder wollten nicht mit der Sprache heraus. Aber es hatte fatalen Einfluss auf den Jungen. Darüber waren sich alle einig.«

»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Erlendur, der auf einmal zu sich zu kommen schien.

»Es ist wahrscheinlich schon nach sieben«, sagte Elinborg.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Verdammt, ich habe den ganzen Tag verschlafen«, sagte Erlendur und sprang auf. »Ich muss Henry finden. Ihm sollte mittags die Speichelprobe entnommen werden, da war er aber nirgendwo im Hotel aufzutreiben.«

Elinborg blickte auf den Schallplattenspieler, die Lautsprecher und die Platten.

»Ist er tatsächlich gut?«

»Er ist großartig«, sagte Erlendur. »Du solltest ihn dir anhören.«

»Ich muss sehen, dass ich nach Hause komme«, sagte Elinborg, die ebenfalls aufgestanden war. »Willst du etwa zu Weihnachten hier im Hotel bleiben? Willst du wirklich nicht nach Hause gehen?«

»Ich weiß noch nicht«, sagte Erlendur. »Ich schau mal.«

»Du bist bei mir zu Hause willkommen, das weißt du. Bei mir gibt’s Weihnachtsschinken. Und außerdem Rinderzunge.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Erlendur und öffnete die Tür.

»Geh jetzt nach Hause, ich kümmere mich um Henry.«

»Was hat Sigurður Óli den ganzen Tag gemacht?«, fragte Elinborg.

»Er wollte bei der britischen Polizei etwas über Wapshott in Erfahrung bringen. Wahrscheinlich ist er aber inzwischen schon zu Hause.«

»Warum ist es hier drinnen bei dir so kalt?«

»Der Heizkörper ist kaputt«, sagte Erlendur und machte die Tür hinter sich zu.

Als sie nach unten in die Rezeption kamen, verabschiedete er sich von Elinborg und suchte den Empfangschef in seinem Büro auf. Er erfuhr, dass sich Henry Wapshott den ganzen Tag nicht im Hotel hatte blicken lassen. Sein Zimmerschlüssel war nicht im Fach, und ausgecheckt hatte er bisher nicht. Die Rechnung war noch nicht beglichen.

Erlendur wusste, dass Wapshott mit der Abendmaschine nach London wollte, und hatte nichts in der Hand, um ihn daran zu hindern. Von Sigurður Óli hatte er nichts gehört.

Er ging unschlüssig im Foyer auf und ab.

»Kannst du mich in sein Zimmer lassen?«, fragte er den Empfangschef.

Der Empfangschef schüttelte den Kopf.

»Es besteht Fluchtgefahr«, sagte Erlendur. »Weißt du, wann die Maschine nach London geht? Um wie viel Uhr genau?«

»Die Abendmaschine hat heute wesentliche Verspätung«, sagte der Empfangschef. Er musste wegen seines Jobs immer über die aktuellen Flugverbindungen informiert sein. »Sie startet vermutlich gegen neun, heißt es.«

Erlendur tätigte einige Anrufe. Er fand heraus, dass Henry Wapshott für die Abendmaschine nach London gebucht war, aber noch nicht eingecheckt hatte. Erlendur veranlasste, dass er bei der Passkontrolle am Flughafen aufgehalten und wieder nach Reykjavik gebracht würde. Er musste sich einen Grund für die Polizei in Keflavík ausdenken, um den Mann an der Ausreise zu hindern, und zögerte einen Augenblick, während er überlegte, ob er etwas erfinden sollte. Er wusste, dass es ein gefundenes Fressen für die Medien wäre, wenn sie der Wahrheit auf die Spur kämen, aber auf die Schnelle fiel ihm keine Lüge ein, und er sagte schließlich einfach, was Sache war, dass Wapshott unter Verdacht stand.

»Kannst du mich in sein Zimmer lassen?«, fragte Erlendur den Empfangschef wieder. »Ich rühre nichts an. Ich muss bloß wissen, ob er abgehauen ist. Es braucht eine Ewigkeit, bis ich einen Durchsuchungsbefehl kriege. Ich brauche bloß meine Nase ins Zimmer zu stecken.«

»Es kann durchaus sein, dass er noch auscheckt«, sagte der Empfangschef, der sich auf das Recht seiner Gäste auf Privatsphäre berief. »Es ist noch eine ganze Weile bis zum Abflug, und er hat so gesehen genügend Zeit, zum Hotel zurückzukommen, seine Sachen zu packen, die Rechnung zu bezahlen und den Bus nach Keflavík zu nehmen. Kannst du damit nicht noch etwas warten?«

Erlendur überlegte.

»Könntest du nicht jemanden zum Saubermachen hochschicken, und ich gehe dann ganz zufällig an der offenen Tür vorbei?«

»Du musst meine Position verstehen«, sagte der Empfangschef. »Wir sind in erster Linie darauf bedacht, die Interessen unserer Gäste wahren. Sie haben nun mal das Recht auf Privatsphäre wie bei sich zu Hause. Wenn ich gegen diese Regeln verstoße und sich das herumspricht oder bei einem Prozess zutage kommt, verlieren unsere Gäste das Vertrauen in uns. So einfach ist die Sache. Das musst du verstehen.«

»Wir untersuchen einen Mord, der hier im Hotel passiert ist«, sagte Erlendur. »Ist euer Ruf nicht sowieso schon zum Teufel?«

»Bring mir einen Durchsuchungsbefehl, dann ist es kein Problem.«

Erlendur stöhnte und drehte sich um. Er holte sein Handy aus der Tasche und rief Sigurður Óli an. Es klingelte eine ganze Weile, bis abgehoben wurde. Erlendur hörte Stimmen im Hintergrund.

»Wo treibst du dich denn herum?«, fragte Erlendur.

»Wir backen Laufabrauð{Laufabrauð wird traditionellerweise zu Weihnachten gebacken, ein Teig aus Mehl, Salz und Wasser wird in hauchdünne runde Platten ausgerollt. Mit dem Messer werden kunstvolle Muster eingeschnitten, bevor das »Laubbrot« in heißem Fett gebacken wird}«,sagte Sigurður Óli.

»Was macht ihr?«

»Wir verzieren gerade den Teig. Mit Bergþóras Familie. Tradition jedes Jahr zu Weihnachten. Bist du jetzt wieder zu Hause?«

»Hast du was in Bezug auf Henry Wapshott herausgekriegt?«

»Ich warte noch darauf. Ich kriege morgen früh Bescheid. Tut sich da was mit ihm?«

»Ich glaube, der versucht, sich um die Speichelprobe herumzudrücken«, sagte Erlendur und sah, wie der Empfangschef mit einem Blatt in der Hand auf ihn zukam. »Ich glaube, der will sich aus dem Staub machen, ohne sich von uns zu verabschieden. Wir sprechen morgen früh miteinander. Schneid dir nicht in die Finger.«

Erlendur steckte das Handy in die Tasche. Der Empfangschef stand vor ihm.

»Mit ist eingefallen, Henry Wapshott zu überprüfen«, sagte er und reichte Erlendur das Blatt. »Um dir irgendwie behilflich zu sein. Ich darf das eigentlich nicht, aber …«

»Was ist das?«, fragte Erlendur und schaute auf das Blatt. Er sah den Namen Henry Wapshotts und einige Daten.

»In den letzten drei Jahren hat er hier jedes Jahr zu Weihnachten im Hotel übernachtet«, sagte der Empfangschef.

»Falls dir das etwas weiterhilft.«

Erlendur starrte auf die Daten.

»Und er hat behauptet, er sei nie zuvor in Island gewesen.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte der Empfangschef. »Aber in diesem Hotel ist er auf jeden Fall schon früher gewesen.«

»Kannst du dich denn gar nicht an ihn erinnern? Wenn er sozusagen ein Stammgast ist?«

»Ich kann mich nicht erinnern, ihn registriert zu haben. Das Hotel hat über zweihundert Zimmer. Zu Weihnachten ist hier immer Hochbetrieb, und da kann jeder in der Masse verschwinden. Außerdem bleibt er immer nur ein paar Tage. Ich habe ihn dieses Mal überhaupt nicht bemerkt, aber ich konnte mich an ihn erinnern, als ich den Computerausdruck sah. Er ist in gewisser Hinsicht genau wie du. Hat die gleichen Sonderwünsche.«

»Was meinst du damit, genau wie ich? Sonderwünsche?«

Erlendur konnte sich nicht vorstellen, was er mit Henry Wapshott gemeinsam haben sollte.

»Er hat Interesse an Musik.«

»Wie meinst du das?«

»Das kannst du hier sehen«, sagte der Empfangschef und zeigte auf das Blatt. »Wir tragen die Sonderwünsche unserer Gäste ein. In den meisten Fällen.«

Erlendur überflog das Blatt.

»Er wollte eine Stereoanlage aufs Zimmer haben. Keinen CD-Player, sondern dieses alte Zeug. Genau wie du.«

»Dieser verdammte Lügner«, fauchte Erlendur und griff nach seinem Handy.

Sechzehn

Der Haftbefehl für Henry Wapshott wurde im späteren Verlauf des Abends ausgestellt. Er wurde geschnappt, als er sich für die Abendmaschine nach London einchecken wollte. Wapshott landete im Untersuchungsgefängnis an der Hverfisgata, und Erlendur wurde gestattet, sein Zimmer zu durchsuchen. Die Leute von der Spurensicherung trafen um Mitternacht im Hotel ein. Sie durchkämmten das Zimmer auf der Suche nach der Mordwaffe, aber ohne Ergebnis. Das Einzige, was sie fanden, war ein Koffer, den Wapshott offensichtlich zurücklassen wollte, im Bad seine Rasierutensilien, dann einen alten Plattenspieler, ähnlich dem, den Erlendur sich ausgeliehen hatte, einen Fernseher und einen Videorekorder, einige englische Zeitungen und Zeitschriften, darunter Record Collector.

Der Experte für Fingerabdrücke suchte nach Anzeichen, dass Guðlaugur das Zimmer betreten hatte. Er untersuchte Tischkanten und Türrahmen. Erlendur stand auf dem Gang und verfolgte die Prozedur. Er sehnte sich nach einer Zigarette und sogar nach einem Glas Chartreuse, nach seinem Sessel und seinen Büchern — Weihnachten stand vor der Tür. Er wollte wieder nach Hause, denn er wusste nicht mehr so recht, weswegen er eigentlich in diesem tödlichen Hotel übernachtete. Wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte.

Das weiße Fingerabdruckpulver der Spurensicherung rieselte zu Boden.

Erlendur sah den Hotelmanager den Gang entlanggewatschelt kommen. Das Taschentuch war gezückt, und er blies und schnaufte. Er schaute in das Zimmer, in dem die Spurensicherung bei der Arbeit war, und strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

»Ich habe gehört, dass du ihn geschnappt hast«, sagte er und wischte sich über den Nacken. »Und dass es ein Ausländer war.«

»Wo hast du das gehört?«, fragte Erlendur.

»Na, im Radio doch«, sagte der Hotelmanager und konnte seine Freude nicht verhehlen, schließlich hatte er ja auch mehrfach Grund zur Freude. Der Mann war gefunden. Es war kein Isländer gewesen, der das Verbrechen begangen hatte, und es hatte nichts mit dem Hotelpersonal zu tun.

Der Hotelmanager schnaufte: »In den Nachrichten wurde gesagt, dass er auf dem Weg nach London war und in Keflavík geschnappt wurde. Ein Engländer also?«

Erlendurs Handy klingelte.

»Wir wissen überhaupt noch nicht, ob es der Mann ist, nach dem wir suchen«, erklärte er und nahm den Anruf entgegen.

»Du brauchst nicht ins Dezernat zu kommen«, sagte Sigurður Óli, als Erlendur antwortete. »Jedenfalls nicht im Augenblick.«

»Bist du nicht dabei, Laufabrauð zu verzieren?«, fragte Erlendur und wandte dem Hotelmanager den Rücken zu.

»Henry Wapshott ist betrunken«, sagte Sigurður Óli. »Es hat keinen Sinn, mit ihm zu sprechen. Ist es nicht am besten, ihn heute Nacht den Rausch ausschlafen zu lassen und morgen früh mit ihm zu reden?«

»Hat er Theater gemacht?«

»Nein, überhaupt nicht. Mir wurde gesagt, dass er stumm und ohne Proteste mitgekommen ist. Sie haben ihn bei der Passkontrolle rausgefischt und ihn bis zum Eintreffen der Polizei im Durchsuchungsraum festgehalten, und die haben ihn direkt nach Reykjavik gebracht. Kein Theater. Er war äußerst schweigsam und ist dann auf dem Weg in die Stadt einfach eingeschlafen. Pennt jetzt in seiner Zelle.«

»Das Ganze wurde schon in den Nachrichten gebracht, wenn ich richtig verstehe«, sagte Erlendur. »Das mit der Verhaftung.« Er blickte auf den Hotelmanager. »Man macht sich Hoffnungen, dass wir den Richtigen erwischt haben.«

»Er hatte nur Handgepäck bei sich. Eine große Aktentasche.«

»Was ist da drin?«

»Schallplatten. Alte. Dasselbe Vinylzeugs, das wir da unten im Keller gefunden haben.«

»Du meinst Platten mit Guðlaugur?«

»Ich glaube ja. Nicht viele. Aber auch noch ein paar andere Platten. Du kannst dir alles morgen anschauen.«

»Er ist hinter den Platten mit Guðlaugur her.«

»Vielleicht hat er seine Sammlung erweitern können«, sagte Sigurður Óli. »Sollen wir uns morgen früh hier im Dezernat treffen?«

»Wir brauchen eine Speichelprobe von ihm«, sagte Erlendur.

»Ich kümmere mich darum«, sagte Sigurður Óli.

Erlendur steckte das Handy wieder in die Tasche.

»Hat er gestanden?«, fragte der Hotelmanager. »Hat er schon gestanden?«

»Kannst du dich von früher an ihn hier im Hotel erinnern? Henry Wapshott. Aus England. Ein Mann um die sechzig. Er hat mir gesagt, es sei seine erste Reise nach Island, aber dann hat sich herausgestellt, dass er schon früher hier im Hotel übernachtet hat.«

»Ich kann mich an niemanden mit diesem Namen erinnern.

Hast du ein Foto von ihm?«

»Ich muss eins besorgen und feststellen, ob jemand vom Personal ihn kennt. Kann sein, dass sie sich an irgendwas im Zusammenhang mit dem Kerl erinnern. Es spielt keine Rolle, wie unbedeutend das scheinen mag.«

»Hoffentlich kannst du damit den Fall abschließen«, sagte der Hotelmanager ächzend. »Wir haben schon Stornierungen wegen des Mords bekommen, in der Mehrzahl von Isländern, bis ins Ausland ist wohl noch nichts durchgedrungen. Aber beim Weihnachtsbüfett ist viel weniger zu tun, die Tischbestellungen sind zurückgegangen. Ich hätte es nie zulassen sollen, dass er da im Keller gewohnt hat. Das hat man von seiner Nettigkeit.«

»Davon hast du ja reichlich«, bemerkte Erlendur. Der Hotelmanager warf ihm einen unsicheren Blick zu, fragte sich offenbar, wie das wohl zu verstehen war, aber Erlendur verzog keine Miene. Der Leiter der Spurensicherung trat auf den Gang hinaus, begrüßte den Hotelmanager und zog Erlendur zur Seite.

»Sieht alles aus wie bei einem ganz normalen Reisenden in einem normalen Hotelzimmer in Reykjavik«, sagte er.

»Die Mordwaffe liegt nicht auf seinem Nachttisch, falls du das erwartet hast, und in dem Koffer sind keine blutigen Sachen, eigentlich gar nichts, was ihn mit dem Mann im Keller verbindet. Aber es gibt massenweise Fingerabdrücke in dem Zimmer. Fest steht auf jeden Fall, dass der Mann seine Flucht geplant hat. Er hat das Zimmer zwar so zurückgelassen, dass es aussieht, als wolle er nur zur Bar. Der Akku seines Rasierapparats war zum Aufladen in die Steckdose gesteckt, ein paar Schuhe standen herum, auch die Pantoffeln, die er dabeihatte, waren noch nicht eingepackt. Das ist im Grunde genommen das Einzige, was wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen können. Der Mann war in Panik. Er wollte möglichst schnell weg.«

Der Leiter der Spurensicherung verschwand wieder im Zimmer, und Erlendur ging zum Hotelmanager zurück.

»Wer ist für die Reinigung hier auf dem Gang zuständig?«, fragte er. »Wer geht in die Zimmer? Die Reinigungskräfte, sind die auf bestimmte Flure verteilt?«

»Ich weiß genau, welches von den Mädels hier für diesen Flur zuständig ist«, sagte der Hotelmanager. Seinem abfälligen Ton nach zu urteilen, schienen Putzarbeiten selbstverständlich Frauensache zu sein.

»Und wer ist das?«, fragte Erlendur.

»Tja, beispielsweise das Mädchen, mit dem du gesprochen hast.«

»Das Mädchen, mit dem ich gesprochen habe?«

»Die aus dem Keller«, sagte der Hotelmanager. »Diejenige, die die Leiche gefunden hat. Das Mädchen, das den toten Weihnachtsmann gefunden hat. Das ist ihr Flur.«

Als Erlendur zwei Stockwerke höher auf sein Zimmer kam, saß Eva Lind auf dem Gang und wartete auf ihn. Sie hatte sich an die Wand gelehnt, die Knie unter dem Kinn, und Erlendur hatte den Eindruck, als schliefe sie. Sie schaute hoch, als er sich näherte, streckte die Beine aus und setzte sich.

»Mann, wie voll cool ich das finde, hier in das Hotel zu kommen«, sagte sie. »Willst du nicht bald den Abflug von hier machen?«

»Ich habe es vor«, sagte Erlendur. »So langsam habe ich diesen Kasten hier satt.«

Er steckte die Karte in das elektronische Türschloss, die Tür ging sofort auf. Eva Lind erhob sich und folgte ihm ins Zimmer, wo sie sich gleich der Länge nach aufs Bett warf.

Er selbst nahm an dem kleinen Schreibtisch Platz.

»Kommst du endlich voran mit deinem Case?«, fragte Eva bäuchlings auf dem Bett, die Augen geschlossen, so als würde sie versuchen, einzuschlafen.

»Langsam, aber sicher«, sagte Erlendur. »Warum musst du unbedingt solche Worte wie ›Case‹ verwenden? Was spricht dagegen zu sagen: Kommst du vorwärts mit deinem Fall?«

»Mannomann«, sagte Eva Lind immer noch mit geschlossenen Augen. Erlendur lächelte. Er betrachtete seine Tochter auf dem Bett und überlegte, wie er sich wohl als Erzieher verhalten hätte. Hätte er große Anforderungen an sie gestellt? Hätte er sie für Ballettstunden angemeldet? Sie dazu ermuntert, Klavierstunden zu nehmen? Gehofft, dass sie ein Genie werden würde? Hätte er sie zusammengeschlagen, wenn ihr eine Likörflasche aus der Hand gefallen wäre?

»Bist du noch da?«, fragte sie mit geschlossenen Augen.

»Ja, ich bin hier«, sagte Erlendur müde.

»Warum sagst du nichts?«

»Was soll ich sagen? Wozu muss man immer was sagen?«

»Na ja, beispielsweise, was du eigentlich hier in diesem Hotel machst. Im Ernst.«

»Ich weiß es nicht. Ich hatte keine Lust, in meine Wohnung zu gehen. Es ist irgendwie eine kleine Abwechslung.«

»Abwechslung? Was ist der Unterschied, allein in diesem Zimmer hier rumzuhängen oder allein bei sich zu Hause zu hocken?«

»Willst du ein bisschen Musik hören?«, fragte Erlendur und versuchte, vom Thema abzulenken. Er fing an, seiner Tochter den Fall Stück für Stück darzulegen und sich dabei gleichzeitig selber einen Überblick zu verschaffen. Er erzählte ihr von dem Mädchen, das den erstochenen Weihnachtsmann gefunden hatte, der seinerzeit ein Chorknabe mit einer ungewöhnlich schönen und viel versprechenden Stimme gewesen war. Zwei Platten von ihm waren unter Sammlern gesuchte Objekte. Seine Stimme war einmalig.

Er streckte die Hand nach der Platte aus, die er noch nicht gehört hatte. Es waren zwei Kirchenlieder darauf. Die Platte war ganz offensichtlich zu Weihnachten herausgegeben worden. Vorne auf der Hülle war Guðlaugur mit einer Weihnachtsmannmütze und lächelte breit mit etwas vorspringenden Zähnen. Erlendur dachte an die Ironie des Schicksals. Er legte die Platte auf, und die Stimme des Chorknaben erfüllte das Zimmer, ein wunderschönes, wehmütiges Lied. Eva Lind machte die Augen auf und richtete sich auf.

»Ist das dein Ernst?«, fragte sie.

»Findest du das nicht großartig?«

»Ich habe noch nie ein Kind so schön singen gehört«, sagte Eva. »Ich glaube, ich habe noch nie überhaupt jemanden so schön singen gehört.« Sie saßen schweigend da und hörten sich das Lied an. Erlendur streckte sich nach dem Plattenspieler aus, drehte die Platte um und spielte das Lied auf der anderen Seite. Sie hörten zu, und als es zu Ende war, bat Eva Lind darum, die erste Seite noch einmal aufzulegen.

Erlendur erzählte ihr von Guðlaugurs Familie, von dem Konzert im Stadtkino, und dass Vater und Schwester mehr als dreißig Jahre lang keinerlei Verbindung zu ihm gehabt hatten, und von dem englischen Sammler, der zu türmen versucht hatte und sich einzig und allein für Chorknaben interessierte. Er sagte ihr, dass die Platten von Guðlaugur heutzutage sehr wertvoll wären.

»Meinst du, dass er vielleicht deswegen abgemurkst worden ist?«, fragte Eva Lind. »Wegen der Platten? Weil sie heutzutage wertvoll sind?«

»Ich weiß es nicht.«

»Gibt es da überhaupt noch welche?«

»Ich glaube nicht«, sagte Erlendur, »und wahrscheinlich sind die paar, die es noch gibt, deswegen so wertvoll und gefragt. Elinborg sagt, dass Sammler nach Objekten suchen, die einmalig sind auf der Welt. Aber das muss nicht unbedingt eine Rolle spielen. Vielleicht war es jemand hier im Hotel, der ihn überfallen hat. Jemand, der überhaupt nichts von dem Chorknaben wusste.«

Erlendur beschloss, seiner Tochter zu sagen, wie Guðlaugur gefunden worden war. Er wusste, dass sie, wenn sie Drogen nahm, auch auf den Strich ging und deswegen gut Bescheid wusste, was in Reykjavik ablief. Trotzdem scheute er sich davor, ihr ins Gewissen zu reden. Sie lebte ihr Leben und tat genau das, was sie wollte, ohne dass er jemals Einfluss darauf nehmen konnte. Er hielt es aber für möglich, dass Guðlaugur hier im Hotel jemanden für gewisse Dienste bezahlt hatte, und er fragte, ob sie wüsste, was hier im Hotel in Sachen Prostitution ablief.

Eva Lind schaute ihren Vater an.

»Der arme Kerl«, sagte sie und antwortete nicht auf seine Frage. Sie war in Gedanken immer noch bei dem Chorknaben. »Da war so ein Mädchen bei mir in der Schule, in der Grundschule. Die hat ein paar Platten besungen, sie hieß Vala Dögg. Kannst du dich an sie erinnern? Damals wurde unheimlich viel Tamtam um sie gemacht. Sie hat Weihnachtslieder gesungen. Ein blondes, unheimlich süßes kleines Mädchen.«

Erlendur schüttelte den Kopf.

»Die war so ein Kinderstar. Ist auch in der Kinderstunde und in anderen Fernsehsendungen aufgetreten und hat richtig gut gesungen, das kleine Ding. Ihr Vater war irgendso ’ne kleine Nummer im Pop-Business, aber ihre Mutter, die war total durchgeknallt und wollte sie unbedingt zum Popstar machen. Das Mädchen wurde ständig damit aufgezogen. Sie war wirklich lieb und nett und überhaupt nicht eingebildet oder affektiert, aber sie wurde immer gemobbt.

Shit, dass die Leute hier immer gleich neidisch sind und keinem was gönnen. Ja, sie wurde richtiggehend gemobbt, und dann hat sie später einfach mit der Schule aufgehört und angefangen zu arbeiten. Ich habe sie oft in der Szene getroffen, sie war viel schlimmer dran als ich, total am Ende. Sie hat mir gesagt, das sei das Schlimmste gewesen, was ihr passieren konnte.«

»Ein Kinderstar zu werden?«

»Das hat sie vollkommen kaputtgemacht. Davon hat sie sich nie erholt. Sie durfte nie sie selbst sein. Ihre Mutter war diejenige, die immer alles bestimmt hat. Sie wurde nie gefragt, ob sie das auch wollte. Sie hat gern gesungen, und sie fand es schön, im Mittelpunkt zu stehen und all das, aber sie hat überhaupt nicht begriffen, was da abging.

Sie durfte nur das kleine Püppchen in den Kindersendungen sein. Sie durfte nur eine Dimension haben, sie war die kleine süße Vala Dögg. Und deswegen wurde sie aufgezogen, und erst als sie älter war, hat sie kapiert, warum, und dann hat sie gerafft, dass sie nie etwas anderes sein würde als das singende, süße, kleine Püppchen im süßen, kleinen Kleidchen. Und dass sie nie und nimmer eine weltberühmte Popsängerin werden würde, was ihre Mutter ihr immer eingeredet hatte.«

Eva Lind schwieg eine Weile und schaute ihren Vater an.

»Die ist völlig vor die Hunde gegangen. Sie sagte, das Mobben wäre das Schlimmste gewesen, das würde einen völlig kaputtmachen. Man übernimmt auf die Dauer genau das Bild von sich selbst, was diejenigen von einem haben, die einen mobben.«

»Guðlaugur hat wohl etwas Ähnliches erlebt«, sagte Erlendur. »Er ist ziemlich früh von zu Hause ausgezogen. Es muss eine wahnsinnige Belastung für die Kinder sein, wenn sie mit so etwas konfrontiert werden.«

Sie schwiegen beide.

»Klar gibt’s hier Nutten in dem Hotel«, sagte Eva Lind plötzlich und warf sich wieder aufs Bett. »Was hast du denn gedacht?«

»Was weißt du darüber? Kannst du mir da vielleicht weiterhelfen?«

»Nutten sind doch überall. Du rufst einfach eine Nummer an, und dann warten sie auf dich im Hotel. Die Edelnutten. Die wollen auch auf gar keinen Fall als Nutten bezeichnet werden, sondern sie nennen das ›Hostessenservice‹.«

»Kennst du irgendwelche, die mit diesem Hotel in Verbindung stehen, Mädchen oder Frauen, die hier auf den Strich gehen?«

»Das müssen nicht unbedingt Isländerinnen sein. Die können auch importiert sein. Die reisen einfach als Touristen ein und bleiben ein paar Wochen, da braucht man keine Arbeitserlaubnis, und dann kommen sie nach einem halben Jahr wieder.«

Eva Lind schaute ihren Vater an.

»Du solltest mal mit Stina sprechen, mit der bin ich befreundet. Die kennt sich da aus. Glaubst du, dass er von einer Nutte umgebracht worden ist?«

»Keine Ahnung.«

Sie schwiegen beide. Draußen in der Finsternis glitzerten die Schneeflocken, die zur Erde fielen. Erlendur erinnerte sich, dass in der Bibel irgendwo von Schnee die Rede war, von Sünden und Schnee, und versuchte, das zu rekapitulieren: Wären auch deine Sünden rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee.

»Ich glaube, ich bin dabei, mich auszuklinken«, sagte Eva Lind. Da war keine Spannung in der Stimme, keine Energie.

»Vielleicht kannst du das alles einfach nicht ganz alleine schaffen«, sagte Erlendur. Er hatte seiner Tochter schon oft zugeredet, Hilfe in Anspruch zu nehmen. »Vielleicht sollte jemand anderes als ich versuchen, dir zu helfen.«

»Komm mir bloß nicht mit dieser Psycho-Kacke«, sagte Eva Lind.

»Du hast dich noch immer nicht richtig erholt, und dir geht es augenscheinlich nicht gut. Es wird nicht mehr lange dauern, bis du die Schmerzen auf die altbekannte Weise zu betäuben versuchst, und dann steckst du wieder in derselben Scheiße wie vorher.«

»Ewig musst du predigen«, sagte Eva Lind aufbrausend. Sie sprang auf.

Er beschloss, nicht um die Dinge herumzureden.

»Du würdest das Kind im Stich lassen, das gestorben ist.«

Eva Lind starrte ihren Vater an, die Augen schwarz vor Wut.

»Die andere Möglichkeit, die du hast, ist, dieses Scheißleben, wie du dich ausdrückst, in Angriff zu nehmen und die Schmerzen zu ertragen, die damit verbunden sind.

Die Widerstände, mit denen wir alle zu kämpfen haben, immer, die ganze Zeit, um das alles durchzustehen. Aber doch auch, um das Glück und die Freuden zu genießen, die es trotz allem auch gibt, dadurch, dass wir existieren.«

»Und das sagst ausgerechnet du! Du traust dich ja nicht mal zu Weihnachten zu dir nach Hause, weil da nichts ist! Überhaupt gar nichts, total empty, und du weißt, dass es nur eine olle Bude ist, und du hast keinen Bock, dich da zu verkriechen.«

»Ich bin Weihnachten immer bei mir zu Hause«, sagte Erlendur.

Eva Lind zögerte. Sie verstand nicht, was er meinte.

»Wie meinst du das eigentlich?«

»Das ist das Schlimmste an Weihnachten«, sagte Erlendur.

»Ich gehe dann immer nach Hause.«

»Ich versteh dich nicht«, sagte Eva Lind und öffnete die Tür.

»Ich werde dich nie verstehen.«

Sie knallte die Tür hinter sich zu. Erlendur stand auf und wollte erst hinter ihr herlaufen, aber er ließ es bleiben. Er wusste, dass sie wiederkommen würde. Er ging zum Fenster und schaute auf sein Spiegelbild in der Scheibe, bis er hindurchsehen konnte, in die Finsternis hinaus auf die Schneeflocken, die glitzerten.

Er hatte vergessen, dass er wieder zurück in seine Wohnung wollte, die ›empty‹ war, wie Eva Lind sich ausdrückte. Er wandte sich vom Fenster ab, legte die Platte mit den Kirchenliedern wieder auf und lauschte dem Jungen, der viele, viele Jahre später von allen vergessen ermordet in einem Hotel aufgefunden wurde, von allen vergessen, und er dachte an Sünden, weiß wie Schnee.

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