Fünfter Tag

Zweiundzwanzig

Das Geräusch weckte Erlendur spät am nächsten Morgen.

Er brauchte lange Zeit, um nach einer traumlosen Nacht wach zu werden, und er wusste überhaupt nicht, was für ein grässlicher Krach da in seinem kleinen Zimmer war.

Er hatte sich bis in die frühen Morgenstunden eine Kassette nach der anderen angeschaut, aber die Schwester von Guðlaugur war nur an diesem einen Tag aufgetaucht.

Erlendur zog überhaupt nicht in Betracht, dass sie aus purem Zufall in das Hotel gekommen war, dass sie aus einem anderen Grund ins Hotel gekommen war, als ihren Bruder zu treffen, von dem sie behauptete, dass sie ihn so lange nicht gesehen hätte.

Erlendur war auf eine Lüge gestoßen, und er wusste, dass für eine Ermittlung nichts wertvoller sein konnte als Lügen.

Der Lärm ließ nicht nach, und allmählich dämmerte es Erlendur, dass es das Telefon war. Er streckte die Hand nach dem Hörer aus, am anderen Ende war die Stimme des Hotelmanagers.

»Du musst in die Küche kommen«, sagte der Hotelmanager. »Da ist ein Mann, mit dem du reden solltest.«

»Wer ist das?«, fragte Erlendur.

»Ein junger Mann, der an dem Tag, als wir Guðlaugur gefunden haben, früher nach Hause ging, weil er sich krank fühlte«, sagte der Hotelmanager. »Du solltest herunterkommen.«

Erlendur stand auf. Er war vollständig angezogen. Er ging ins Bad, schaute in den Spiegel und sah einige Tage alte Bartstoppeln, die sich anhörten wie Sandpapier auf grobem Holz, als er drüberstrich. Sein Bart war dicht und grob wie der seines Vaters.

Bevor er nach unten ging, rief er Sigurður Óli an und beauftragte ihn, mit Elinborg nach Hafnarfjörður zu fahren und die Schwester von Guðlaugur zur Vernehmung in das Hauptdezernat an der Hverfisgata zu bringen. Dort würde er sich später am Tag mit ihnen treffen. Er gab keine Erklärungen darüber ab, warum sie vernommen werden sollte, denn er wollte nicht, dass sie aus irgendwelchen Andeutungen auf den Grund der Vorladung schließen konnte. Er wollte die Miene dieser Frau sehen, wenn sie erfuhr, dass er über ihren Versuch, ihn hinters Licht zu führen, Bescheid wusste.

Als Erlendur in die Küche kam, stand der Hotelmanager bei einem extrem mageren Mann. Er schien um die dreißig zu sein. Erlendur überlegte, ob es der Hotelmanager war, der diesen Eindruck bestärkte, denn neben diesem Mann musste jeder klapperdürr wirken.

»Da bist du ja«, sagte der Hotelmanager. »Es hat bald den Anschein, als ob ich diese Ermittlung hier führe. Ich mache Zeugen für dich ausfindig und was weiß ich noch alles.«

Er schaute seinen Angestellten an.

»Sag ihm, was du weißt.«

Der Mann begann zu erzählen. Und er tat dies ziemlich ausschweifend und detailreich. Gegen Mittag habe er sich unwohl gefühlt, also, an dem Tag, als Guðlaugur tot in seiner Kammer gefunden worden war. Es sei ihm so schlecht geworden, dass er sich übergeben musste, und er habe es gerade noch bis zum Abfalleimer in der Küche geschafft.

Der Mann schaute verlegen zum Hotelmanager hinüber. Danach hätte er die Erlaubnis erhalten, nach Hause zu gehen, wo er sich mit einer schlimmen Grippe, Fieber und Gliederschmerzen gleich ins Bett legte. Er lebte allein und hatte keine Nachrichten gehört und deswegen niemandem gegenüber erwähnt, was er wusste. Erst heute Morgen, als er wieder zur Arbeit erschienen war, hatte er von Guðlaugurs Tod erfahren. Und es hatte ihm in der Tat einen schweren Schock versetzt, als er hörte, was passiert war, obwohl er den Mann nicht sonderlich gut gekannt hatte — er arbeitete erst seit einem Jahr hier —, trotzdem hatte er manchmal mit ihm gesprochen und war sogar auch in seiner Kammer da unten gewesen …

»Ja, ja, ja«, sagte der Hotelmanager ungeduldig. »Das interessiert uns nicht, Denni. Los, weiter.«

»Bevor ich an dem Tag nach Hause ging, kam Gulli in die Küche und fragte, ob ich ihm ein Messer borgen könnte.«

»Wollte er sich ein Messer aus der Küche ausborgen?«, fragte Erlendur.

»Ja. Zuerst wollte er eine Schere, aber als ich keine finden konnte, habe ich ihm ein Messer gegeben.«

»Wozu brauchte er eine Schere oder ein Messer, hat er dir das gesagt?«

»Es hatte etwas mit dem Weihnachtsmannkostüm zu tun.«

»Mit dem Weihnachtsmannkostüm?«

»Er sagte nicht Genaueres, irgendwelche Nähte, die er auftrennen wollte.«

»Hat er das Messer zurückgebracht?«

»Nein, nicht solange ich noch da war, aber dann bin ich mittags weg und weiß nicht, was danach passiert ist.«

»Was für ein Messer war das?«

»Er sagte, dass es scharf sein müsste«, erklärte Denni.

»Es war so eins wie dieses hier«, sagte der Hotelmanager, langte in eine Schublade und zog ein Steakmesser mit Holzschaft und fein gezähnter Klinge hervor. »Das sind Messer, die wir für Gäste haben, die sich unsere großen Steaks bestellen. Hast du die schon probiert? Exzellent. Die Messer schneiden sie wie Kuchenteig.«

Erlendur nahm das Messer entgegen und sah es sich an.

Er überlegte, ob Guðlaugur wirklich selber seinem Mörder die Waffe, mit der er umgebracht worden war, besorgt haben könnte. Ob das mit der Naht am Kostüm womöglich nur ein Vorwand gewesen war. Vielleicht hatte Guðlaugur in Wirklichkeit jemanden in seiner Kammer erwartet und das Messer zur Hand haben wollen; oder hatte das Messer nur auf dem Tisch bei ihm gelegen, weil er es für das Kostüm brauchte, und war der Angriff urplötzlich und unvorbereitet gekommen, wegen irgendetwas, was in dem Raum vorgefallen war? Das hieße, der Angreifer wäre also nicht bewaffnet in die Kammer gekommen und hätte nicht vorgehabt, Guðlaugur umzubringen.

»Das Messer muss ich behalten«, sagte er. »Wir müssen herausfinden, ob die Klinge und die Größe zu den Wunden passen. Ist das in Ordnung?«

Der Hotelmanager nickte zustimmend.

»Ist es nicht dieser Engländer? Oder habt ihr irgendjemand anderen im Visier?«

»Ich möchte mich noch etwas mit Denni hier unterhalten«, sagte Erlendur, ohne auf seine Fragen einzugehen.

Der Hotelmanager nickte wieder, rührte sich aber nicht von der Stelle. Dann erst wurde ihm klar, was Erlendur meinte, und er schaute ihn beleidigt an. Er war es gewohnt, dass sich alles um seine Person drehte und hatte nicht sofort begriffen. Als der Groschen endlich gefallen war, gab er vor, etwas im Büro zu tun zu haben, und setzte sich geräuschvoll in Bewegung. Denni atmete sichtlich auf, als sein Vorgesetzter nicht mehr anwesend war. Seine Erleichterung währte nicht lange.

»Bist du in den Keller gegangen und hast ihn erstochen?«, fragte Erlendur.

Denni schaute drein wie jemand, der schon rechtskräftig verurteilt worden war.

»Nein«, sagte er zögernd, so als sei er sich seiner Sache nicht ganz sicher. Die nächsten Fragen verunsicherten ihn noch mehr.

»Verwendest du Kautabak?«, fragte Erlendur.

»Nein«, sagte er. »Kautabak? Was …?«

»Hat man eine Speichelprobe von dir genommen?«

»Was?«

»Verwendest du Kondome?«

»Kondome?« Denni stand völlig auf dem Schlauch.

»Hast du keine Freundin?«

»Freundin?«

»Bei der du aufpassen musst, dass du ihr kein Kind machst?«

Denni schwieg.

»Ich habe keine Freundin«, sagte er dann, und Erlendur hatte das Gefühl, dass er das bedauerte. »Warum fragst du mich nach all diesen Dingen?«

»Mach dir keine Gedanken deswegen«, sagte Erlendur. »Du hast Guðlaugur gekannt. Was für ein Mensch war er?«

Denni erzählte Erlendur, dass Guðlaugur sich im Hotel wohl gefühlt hatte und seinen Job nicht verlieren wollte und dass er sich davor fürchtete, weggehen zu müssen, nachdem er nun die Kündigung erhalten hatte. Er nutzte alle so genannten Dienstleistungsangebote aus, die das Hotel ihm bot, und er war der einzige Angestellte, der jahrelang damit durchgekommen war. Er aß im Hotel, was ihn fast nichts kostete, er ließ seine Sachen mit der Wäsche vom Hotel waschen, und dafür, dass er in der Kammer wohnte, bezahlte er keine einzige Krone. Die Kündigung war ein Schock für ihn gewesen, aber er hatte erklärt, dass er auch so durchkommen würde; vielleicht brauchte er überhaupt nicht mehr zu arbeiten.

»Was hat er wohl damit gemeint?«

Denni zuckte mit den Achseln.

»Ich weiß es nicht. Er tat manchmal ziemlich komisch und geheimnisvoll und gab das eine oder andere von sich, was niemand kapierte.«

»Wie zum Beispiel was?«

»Ich weiß nicht, irgendwas über Musik. Wenn er was getrunken hatte. Aber meistens war er ganz normal.«

»Hat er viel getrunken?«

»Nein, überhaupt nicht. Manchmal an Wochenenden. Arbeitsausfälle gab es bei ihm nicht. Nie. Er war stolz auf seine Arbeit, auch wenn es vielleicht nichts Spannendes war, Portier und so was.«

»Was hat er zu dir über Musik gesagt?«

»Er liebte schöne Musik. Ich kann mich nicht genau erinnern, was er gesagt hat.«

»Was glaubst du, warum er gesagt hat, er würde nicht mehr arbeiten müssen?«

»Er schien irgendwie Geld zu haben. Er hat ja auch nie für was bezahlen müssen und konnte immerzu sparen. Ich glaube, er hat das ernst gemeint. Dass er genug zusammengespart hatte.«

Erlendur erinnerte sich, dass er Sigurður Óli gebeten hatte, die Konten von Guðlaugur abzuchecken, und nahm sich vor, da nachzuhaken. Nachdem er den ziemlich verwirrten Denni, dem Kautabak, Kondome und Freundinnen durch den Kopf schwirrten, in der Küche zurückgelassen hatte, ging er ins Foyer; an der Rezeption stritt sich gerade eine junge Frau lautstark mit dem Empfangschef herum, weil der sie allem Anschein nach vor die Tür setzen wollte. Sie wollte sich das offensichtlich nicht gefallen lassen. Erlendur überlegte kurz, ob das die Frau war, die für die amouröse Nacht mit dem Empfangschef abzukassieren gedachte, und wollte weiter. Aber in diesem Augenblick bemerkte ihn die junge Frau und starrte ihn an.

»Bist du der Bulle?«, rief sie.

»Mach, dass du hier rauskommst!«, kommandierte der Empfangschef in ungewöhnlich rüdem Ton.

»Eva Lind hat mir genau gesagt, wie du aussiehst«, sagte sie und schaute Erlendur von oben bis unten an. »Ich heiße Stina. Sie hat gesagt, ich soll mit dir reden.«


Sie setzten sich in die Bar. Erlendur bezahlte den Kaffee für sie. Er versuchte, den Busen zu ignorieren, aber das war leichter gesagt als getan. Noch nie in seinem Leben hatte er solche enormen Brüste an einem so schlanken und zart gebauten Körper gesehen. Sie trug einen bodenlangen beigefarbenen Mantel mit Pelzkragen. Als sie den Mantel auf einen Stuhl am Tisch legte, kam ein roter, hautenger Pullover zum Vorschein, der gerade bis zum Bauch reichte, und eine schwarze Hose mit Schlag, die kaum die Poritze verdeckte. Sie war stark geschminkt und hatte den dunkelroten Lippenstift dick aufgetragen. Wenn sie lächelte, kamen schöne weiße Zähne zum Vorschein.

»Dreihunderttausend«, sagte sie und massierte sich vorsichtig unter der rechten Brust, als würde es sie dort jucken.

»Du hast doch bestimmt überlegt, was meine neuen Titten gekostet haben.«

»Stimmt was nicht?«

»Das sind die Fäden«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Ich darf nicht zu viel kratzen. Ich muss aufpassen.«

»Was …?«

»Neues Silikon«, unterbrach Stina ihn. »Ich hab mich vor drei Tagen operieren lassen.«

Erlendur vermied es, auf den neuen Busen zu starren.

»Woher kennst du Eva Lind?«

»Sie hat gewusst, dass du danach fragen würdest, und sie hat mir gesagt, ich soll dir sagen, dass du es lieber nicht wissen willst. Das stimmt. Verlass dich drauf. Sie hat mir auch gesagt, du würdest mir in einer kleinen Angelegenheit helfen, und ich könnte dir ebenfalls mit was behilflich sein, alles klar?«

»Nein«, sagte Erlendur. »Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

»Eva hat gesagt, du würdest das schon hinkriegen.«

»Eva lügt. Worüber redest du eigentlich? Was meinst du mit einer kleinen Angelegenheit?«

Stina stöhnte.

»Ein Freund von mir wurde in Keflavík mit Cannabis erwischt. Nicht viel, aber genug, dass sie ihn für drei Jahre in Litla-Hraun einbuchten können. Wenn man sieht, was für Urteile diese Saftärsche fällen, könnte man meinen, es ginge um Mord. Ein bisschen Hasch, und ein paar Pillen, Mensch. Er sagt, dass er drei Jahre kriegt. Drei Jahre! Kinderschänder kriegen ein paar Monate auf Bewährung. Vankers.«

Das Letzte verstand Erlendur nicht und erst recht nicht, wie er ihr helfen konnte. Sie war offenbar wie ein kleines Kind, das sich keine Vorstellung davon macht, wie groß und schwierig und kompliziert die Welt ist.

»Wurde er am Flughafen geschnappt?«

»Ja.«

»Ich kann da nichts machen«, sagte Erlendur. »Und ich habe auch gar keine Lust dazu. Du befindest dich da in keiner guten Gesellschaft. Drogenschmuggel und Prostitution.

Wie wär’s mit normaler Büroarbeit?«

»Kannst du nicht wenigstens versuchen, mit irgendjemandem zu sprechen«, sagte Stina. »Das darf doch nicht wahr sein, dass er drei Jahre kriegt!«

»Jetzt erst mal zur Sache«, sagte Erlendur und nickte. »Du gehst also auf den Strich?«

»Strich und nicht Strich«, sagte Stina und zog eine Zigarette aus der kleinen schwarzen Handtasche, die sie über die Schulter geschwungen hatte. »Ich tanze im Conte Rosso.«

Sie beugte sich vor und flüsterte Erlendur zu, als wäre es ein kleines Geheimnis zwischen ihnen: »Aber das andere bringt mehr Kohle.«

»Und du hast hier Kunden im Hotel gehabt?«

»Jede Menge, jede Größe«, erklärte Stina.

»Hast du dann hier im Hotel gearbeitet?«

»Ich habe nie hier gearbeitet.«

»Ich meine, ob du dir deine Kunden hier geangelt hast, oder bist du mit denen hierher gekommen?«

»So wie’s sich gerade ergeben hat. Ich durfte mich auch durchgängig hier aufhalten, bis Schwabbel mich rausgesetzt hat.«

»Warum?«

Stina juckte es wieder unter dem Busen, und sie kratzte sich vorsichtig. Sie zog eine Grimasse und versuchte, Erlendur anzulächeln, aber es ging ihr offensichtlich nicht besonders.

»Ein Mädchen, das ich kenne, hat auch so eine Operation mitgemacht, aber da ist was schief gelaufen«, sagte sie.

»Die hat jetzt Titten wie leere Plastiktüten.«

»Musst du wirklich so einen Atombusen haben?« Erlendur konnte es sich nicht verkneifen, zu fragen.

»Findest du das nicht schön?«, fragte sie und schob den Busen vor, wobei sich aber wieder ihr Gesicht verzog.

»Diese Fäden machen mich wahnsinnig.«

»Na ja, groß ist er schon …«, sagte Erlendur.

»Und ganz neu«, sagte Stina stolz.

Erlendur sah, dass der Hotelmanager im Gefolge des Empfangschefs in die Bar kam und auf sie zumarschierte. Er schaute einmal in die Runde, und als er sah, dass außer ihnen niemand in der Bar war, schnaubte er schon aus einigen Metern Entfernung in Richtung Stina:

»Raus! Raus mit dir, Mädchen! Auf der Stelle! Mach dich vom Acker.«

Stína drehte sich um, sah den Hotelmanager und blickte wieder zu Erlendur hinüber und verdrehte die Augen.

»Kraist.«

»Hier im Hotel haben Nutten wie du nichts zu suchen!«, schrie der Hoteldirektor.

Er packte sie, als würde er sie hinauswerfen wollen.

»Lass mich bloß in Ruhe«, sagte Stina und stand auf. »Ich unterhalte mich mit diesem Mann hier.«

»Pass auf deinen Busen auf!«, rief Erlendur, dem nichts Besseres einfiel. Der Hotelmanager schaute ihn entgeistert an. »Der ist neu«, sagte Erlendur wie zur Erklärung.

Er trat zwischen sie und versuchte, den Hotelmanager zurückzudrängen, was ihm aber nicht gelang. Stina verschränkte die Arme schützend vor dem Busen. Der Empfangschef hatte sich bisher im Hintergrund gehalten, kam aber nun Erlendur zu Hilfe, und gemeinsam gelang es ihnen, den stinkwütenden Manager von Stina wegzuschieben.

»Alles, was … sie … über mich … sagt, ist … eine verdammte Lüge!«, schnaufte der Hotelmanager. Die Anstrengung war beinahe zu viel für ihn, das Gesicht war schweißüberströmt, und er japste nach Luft.

»Sie hat keinen Ton über dich gesagt«, sagte Erlendur, um ihn zu beruhigen.

»Ich will … ich will, dass sie … abhaut.« Der Hotelmanager plumpste auf einen Stuhl, zog das Taschentuch hervor und begann, sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen.

»Reg dich ab, Schwabbel«, sagte Stina. »Er ist ein Pimp, wusstest du das?«

»Pimp?« Erlendur war sich nicht ganz sicher, was das bedeutete.

»Er nimmt Cuts von uns, die hier im Hotel arbeiten«, sagte Stina.

»Cuts?«, fragte Erlendur.

»Cuts! Prozente! Er nimmt Prozente von uns.«

»Das ist eine Lüge!«, brüllte der Hotelmanager. »Verschwinde, du verdammte Nutte!«

»Er und der Oberkellner wollten zusammen mehr als die Hälfte«, sagte Stina und schob sich vorsichtig den Busen zurecht. »Als ich mich weigerte, sagte er mir, ich solle mich verpissen und nie wiederkommen.«

»Das ist gelogen«, sagte der Hotelmanager, der sich etwas beruhigt hatte. »Ich habe solche Flittchen immer vor die Tür gesetzt, und die hier auch. In diesem Hotel haben Nutten nichts zu suchen.«

»Der Oberkellner?«, fragte Erlendur und sah das Gesicht mit dem superschmalen Oberlippenbärtchen vor sich.

Rósant, glaubte er sich zu erinnern.

»Uns vor die Tür gesetzt?« Stina schnaubte verächtlich, als sie sich Erlendur zuwandte. »Er ist nämlich derjenige, der uns anruft. Wenn er weiß, dass Gäste da sind, die auf so was scharf sind oder die Kohle haben, dann ruft er uns an und sagt Bescheid und pflanzt uns hier in der Bar auf. Er sagt, dass das Hotel dadurch populärer wird. Ausländer. Einsame Männer. Wenn es große Konferenzen gibt, ruft er uns an.«

»Seid ihr viele?«

»Wir sind ein paar, die so einen Hostessenservice anbieten«, erklärte Stina. »Voll high class.«

»Von wegen Hostessenservice«, warf der Hotelmanager ein, der jetzt wieder normal atmete. »Die hängen hier im Hotel herum, hier in der Bar, und versuchen, sich die Gäste zu krallen und mit ihnen aufs Zimmer zu gehen. Das ist gelogen, dass ich euch anrufe, du verdammte Nutte.«

Erlendur hielt es nicht für ratsam, sein Gespräch mit Stina in der Bar fortzusetzen, und erklärte, er müsse entweder für einen Augenblick das Büro des Empfangschefs in Anspruch nehmen, oder sie müssten alle zusammen zum Dezernat und da weitermachen. Der Hotelmanager ächzte und warf Stína giftige Blicke zu. Erlendur verließ mit ihr die Bar, und sie gingen ins Büro. Der Hotelmanager blieb zurück. Die ganze Luft schien aus ihm heraus zu sein, aber er wies den Empfangschef von sich, als dieser ihm behilflich sein wollte.

»Sie lügt, Erlendur«, rief er hinter ihnen her. »Sie lügt wie gedruckt!«

Erlendur setzte sich an den Schreibtisch des Empfangschefs, Stina blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Es schien ihr völlig egal, dass Rauchen im ganzen Hotel abgesehen von der Bar verboten war.

»Hast du den Portier hier im Hotel gekannt?«, fragte Erlendur. »Guðlaugur?«

»Das war echt ein Netter. Er hat bei uns für Schwabbel abkassiert. Und dann ist er umgebracht worden.«

»Er war …«

»Glaubst du, dass Schwabbel ihn umgebracht hat?«, unterbrach ihn Stina. »Er ist das größte Arschloch, das ich kenne. Weißt du, warum er mich hier nicht mehr in seinem Scheißhotel haben will?«

»Nein.«

»Er wollte nicht nur Prozente von uns Mädchen, sondern er wollte auch … du weißt schon …«

»Was?«

»Dass wir so das ein oder andere für ihn machten. Persönlich, du weißt …«

»Und was dann?«

»Ich hab mich geweigert. O Mann, dieses schwitzende Ungetüm. Er ist ekelhaft. Der könnte Guðlaugur ganz gut umgebracht haben, das traue ich ihm echt zu. Er hat sich bestimmt einfach auf ihn draufgesetzt.«

»Was für ein Verhältnis hattest du zu Guðlaugur? Hast du ihm ab und zu einen Gefallen getan und bist ihm zu Diensten gewesen?«

»Überhaupt nicht. Der hatte kein Interesse an so was.«

»Doch«, sagte Erlendur und sah im Geiste die Leiche mit der heruntergelassenen Hose vor sich. »Ich fürchte, dass er keineswegs so desinteressiert war.«

»Für mich hat er sich überhaupt nicht interessiert«, stellte Stina fest und schob vorsichtig den Busen zurecht. »Auch für die anderen Mädchen nicht.«

»Steckt der Oberkellner mit dem Manager unter einer Decke?«

»Mit Rósant? Ja.«

»Und was ist mit dem Empfangschef?«

»Er will uns hier nicht haben. Er ist dagegen, dass hier so ein Service angeboten wird, aber die anderen beiden haben das Sagen. Der Empfangschef wollte Rósant schassen, aber Schwabbel verdient zu viel an ihm.«

»Sag mir noch eins. Nimmst du Kautabak? So in kleinen Tütchen wie Teebeutel. Die Leute schieben sich so was unter die Lippe oder unter den Gaumen.«

»Igittigitt, nein«, sagte Stina. »Du tickst wohl nicht frisch? Ich pass unheimlich auf meine Zähne auf.«

»Kennst du irgendjemanden, der so was nimmt?«

»Nein.«

Sie schwiegen eine Weile, aber dann konnte Erlendur es sich nicht mehr verkneifen, ihr moralisch zu kommen. Er dachte an Eva Lind. Wie sie in die Drogenszene abgerutscht und bestimmt auch auf den Strich gegangen war, um an Stoff heranzukommen; auch wenn das wahrscheinlich nicht in einem der besseren Hotels in der Stadt geschehen war. Er dachte daran, was für eine beschissene Situation das war, wenn Frauen gezwungen waren, für jeden beliebigen Kerl käuflich zu sein, wo auch immer, wann auch immer.

»Warum machst du das?«, fragte er und versuchte, keinerlei Vorwurf in der Stimme mitklingen zu lassen. »Lässt dir den Busen mit Silikon ausstopfen? Machst die Beine breit für irgendwelche Konferenzgäste? Warum?«

»Eva Lind hat mir auch gesagt, dass du danach fragen würdest. Versuch nicht, das zu kapieren«, sagte Stina und trat die Zigarette auf dem Boden aus. »Vergiss es.«

Sie warf einen Blick zur Tür hinaus ins Foyer. In diesem Augenblick ging Ösp vorbei.

»Arbeitet Ösp etwa immer noch hier?«, fragte sie.

»Ösp? Kennst du sie?« Erlendurs Handy begann zu klingeln.

»Ich dachte, sie hätte aufgehört. Ich hab mich manchmal mit ihr unterhalten, als ich hier noch was zu tun hatte.«

»Woher kennst du sie?«

»Einfach so, wir waren zusammen …«

»Sie ist doch nicht mit dir auf den Strich gegangen?« Erlendur hatte das Telefon gefunden und wollte antworten.

»Nein«, sagte Stina. »Sie ist nicht wie ihr kleiner Bruder.«

»Bruder? Hat sie einen Bruder?«

»Als Nutte bin ich harmlos gegen den.«

Dreiundzwanzig

Erlendur starrte Stina an, während er zu verstehen versuchte, was sie über den jüngeren Bruder von Ösp gesagt hatte.

Stina stand vor ihm und schien unschlüssig zu sein.

»Was ist los?«, fragte sie. »Stimmt was nicht? Willst du nicht ans Telefon gehen?«

»Warum hast du geglaubt, dass Ösp aufgehört hat?«

»Einfach so. Ist doch ein Scheißjob.«

Erlendur nahm geistesabwesend das Gespräch entgegen.

»Mensch, das dauert bei dir!« Elinborg war am Telefon.

Sie und Sigurður Óli waren nach Hafnarfjörður gefahren, um die Schwester von Guðlaugur zur Vernehmung ins Polizeidezernat in Reykjavik zu bringen, aber die hatte sich rundheraus geweigert mitzukommen. Sie hatte um eine Begründung gebeten, aber nicht bekommen. Schließlich hatte sie erklärt, dass sie den gelähmten Vater nicht allein lassen konnte. Ihr war angeboten worden, jemanden abzustellen, der sich um ihn kümmern und im Haus sein würde, und ihr gesagt, dass sie einen Rechtsbeistand dabeihaben könnte, aber es hatte den Anschein, als wäre sie sich nicht über den Ernst der Lage im Klaren. Sie konnte sich nicht vorstellen, aufs Polizeirevier gebracht zu werden. Elinborg schlug einen Kompromiss vor, obwohl Sigurður Óli völlig dagegen war, nämlich mit ihr zu Erlendur ins Hotel zu fahren und nach diesem Gespräch mit Erlendur zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Sie bat sich etwas Bedenkzeit aus. Sigurður Óli war kurz davor, die Geduld zu verlieren und sie mit Gewalt abzuführen, als sie sich endlich einverstanden erklärte. Sie telefonierte mit einer Nachbarin, die sofort kam, offensichtlich daran gewöhnt, einzuspringen. Aber dann wurde sie wieder störrisch, was Sigurður Óli erneut in Rage brachte.

»Er ist mit ihr auf dem Weg zu dir«, sagte Elinborg. »Er hätte sie viel lieber eingebuchtet. Sie hat andauernd gefragt, warum wir mit ihr reden wollten, und hat uns nicht geglaubt, als wir sagten, dass wir das nicht wüssten. Weswegen willst du eigentlich mit ihr reden?«

»Sie ist ein paar Tage bevor ihr Bruder ermordet wurde, ins Hotel gekommen, aber uns hat sie weismachen wollen, dass sie ihren Bruder jahrzehntelang nicht gesehen hat.

Ich möchte wissen, warum sie uns darüber nichts gesagt hat, warum sie gelogen hat. Ich möchte ihr Gesicht dabei beobachten.«

»Sie wird wahrscheinlich ziemlich sauer sein«, sagte Elinborg. »Sigurður Óli war nicht besonders begeistert darüber, wie sie sich aufgeführt hat.«

»Was ist passiert?«

»Er wird’s dir sagen.«

Erlendur schaltete das Handy aus.

»Was meinst du damit, dass du als Nutte harmlos bist im Vergleich zu diesem Jungen?«, sagte er zu Stina, die auf ihre Tasche starrte und überlegte, ob sie sich noch eine Zigarette anzünden sollte. »Im Vergleich zu Ösps Bruder? Wie hast du das gemeint?«

»Was?«

»Der Bruder von Ösp. Du hast gesagt, du wärst als Nutte harmlos im Vergleich zu ihm.«

»Frag doch Ösp«, sagte Stina.

»Das werde ich tun, aber ich meine, was … er ist ihr jüngerer Bruder?«

»Ja, und er ist bi.«

»Bi, meinst du …?«

»Bisexuell.«

»Und er geht also auf den Strich?«, fragte Erlendur. »So wie du?«

»Und wie. Außerdem Addict. Ihm sind immer welche auf den Hacken, die ihn zusammenschlagen, weil er ihnen was schuldet.«

»Und was ist mit Ösp? Woher kennst du sie?«

»Wir waren zusammen in der Schule. Und er auch. Er ist nur ein Jahr jünger als sie. Ösp und ich sind gleichaltrig, wir sind in dieselbe Klasse gegangen. Sie ist ganz schön unterbelichtet.« Stina zeigte sich an den Kopf. »Empty da oben«, sagte sie. »Sie hat nach der zentralen Mittelstufenprüfung das Handtuch geworfen, weil sie überall durchgerasselt ist. Ich hab alles geschafft, und das Abi habe ich auch.«

Stina lächelte breit.

Erlendur betrachtete sie.

»Ich weiß, dass du mit meiner Tochter befreundet bist, und du hast mir weitergeholfen«, sagte er, »aber du solltest dich nicht mit Ösp vergleichen. Bei ihr jucken zumindest keine Nähte.«

Stina schaute ihn an, lächelte schief, verließ stumm das Büro und durchquerte die Lobby. Im Gehen warf sie sich den Mantel mit dem Pelzkragen über, aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so sicher. Sie begegnete Sigurður Óli und Guðlaugurs Schwester, die gerade ins Hotel kamen, und Erlendur beobachtete, wie Sigurður Óli auf ihren Busen glotzte. Die Investition hat sich also gelohnt, dachte Erlendur.

Der Hotelmanager hielt sich in der Nähe auf und schien nur darauf gewartet zu haben, dass die Unterredung zwischen Erlendur und Stina zu Ende war. Ösp stand beim Aufzug und beobachtete, wie Stina das Hotel verließ. Man sah ihr an, dass sie sich kannten. Als Stina beim Empfangschef vorbeikam, der an der Rezeption stand, blickte er auf und schaute ihr nach. Seine Blicke wanderten weiter zum Hotelmanager, der seinerseits in Richtung Küche watschelte. Ösp betrat den Lift, und die Türen schlossen sich.

»Darf ich fragen, was dieses Theater hier soll«, hörte Erlendur Guðlaugurs Schwester fragen, die auf ihn zukam. »Was hat das zu bedeuten, mich dermaßen grob und unverschämt zu behandeln?«

»Grob und unverschämt?«, sagte Erlendur erstaunt. »Mir ist nichts dergleichen bekannt.«

»Dieser Mann hier«, sagte die Schwester, die augenscheinlich nicht wusste, wie Sigurður Óli hieß, »dieser Mann hat mich unverschämt behandelt, und ich bestehe darauf, dass er sich entschuldigt.«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Sigurður Óli.

»Er hat mich gestoßen und aus meinem Haus abgeführt, als wäre ich ein ordinärer Verbrecher.«

»Ich habe ihr Handschellen angelegt«, sagte Sigurður Óli. »Und ich denke nicht daran, sie um Entschuldigung zu bitten. Das kann sie vergessen. Sie hat mir ein Menge Beschimpfungen vor den Latz geknallt und Elinborg auch, und sie hat sich widersetzt. Am liebsten würde ich sie einbuchten lassen. Sie hat die Arbeit der Kriminalpolizei behindert.«

Die Schwester schaute Erlendur an, sagte aber nichts. Er wusste, dass sie Stefania hieß, und überlegte, wie sie wohl als kleines Mädchen genannt worden war.

»Ich bin es nicht gewohnt, dass man so mit mir umspringt«, erklärte sie schließlich.

»Bring sie auf die Wache«, sagte Erlendur zu Sigurður Óli. »Ab in die Zelle neben Henry Wapshott. Wir werden uns morgen mit ihr befassen.« Er sah Stefania ins Gesicht.

»Oder übermorgen.«

»Das kannst du doch nicht machen«, sagte Stefania, und Erlendur sah, dass sie jetzt wirklich erschrocken war. »Du hast überhaupt keine Berechtigung, mich so zu behandeln. Wieso bildest du dir ein, mich ins Gefängnis werfen zu können? Was habe ich denn getan?«

»Du hast gelogen«, sagte Erlendur. »Auf Wiedersehen. Wir sprechen uns später«, sagte er zu Sigurður Óli.

Er drehte sich um und ging in die Richtung, die der Hotelmanager genommen hatte. Sigurður Óli packte Stefanía beim Handgelenk und wollte sie zum Auto abführen. Sie blieb jedoch stocksteif stehen und blickte Erlendur nach.

»Also schön«, rief sie ihm nach. Sie versuchte, sich von Sigurður Óli loszureißen. »Das hier ist nicht nötig«, sagte sie. »Können wir uns nicht irgendwo hinsetzen und wie vernünftige Menschen darüber reden?«

Erlendur blieb stehen und drehte sich um.

»Worüber?«, fragte er.

»Über meinen Bruder«, sagte sie. »Reden wir über meinen Bruder, wenn du das unbedingt willst. Aber ich weiß wirklich nicht, was du dir davon versprichst.«


Sie gingen hinunter in Guðlaugurs Kammer, weil sie darauf bestand. Als Erlendur fragte, ob sie bereits früher einmal dort gewesen sei, verneinte sie. Als er nachfragte, ob sie wirklich all die Jahre ihren Bruder nie getroffen hätte, wiederholte sie das, was sie bereits vorher gesagt hatte, dass sie keinerlei Verbindung zu ihrem Bruder gehabt hätte. Erlendur war davon überzeugt, dass sie log und dass ihr Besuch im Hotel fünf Tage vor dem Mord in irgendeiner Weise mit Guðlaugur zu tun gehabt hatte, der konnte kein purer Zufall gewesen sein.

Sie betrachtete das Plakat mit Shirley Temple als Little Princess, verzog aber keine Miene und enthielt sich jeglichen Kommentars. Sie öffnete den Kleiderschrank und sah die Portierslivree. Schließlich setzte sie sich auf den einzigen Stuhl in der Kammer, während Erlendur sich an den Schrank lehnte. Sigurður Óli hatte weitere Termine mit Schulkameraden von Guðlaugur in Hafnarfjörður, und er machte sich auf den Weg, als sie sich in den Keller begaben.

»Hier ist er also gestorben«, sagte die Schwester ohne eine Spur von Bedauern in der Stimme, und Erlendur wunderte sich wieder genau wie beim ersten Zusammentreffen, warum diese Frau überhaupt keine Gefühle für ihren Bruder zu haben schien.

»Durch einen Stich ins Herz«, sagte Erlendur. »Wahrscheinlich mit einem Messer aus der Küche«, fügte er hinzu. Immer noch waren die Blutspuren im Bett.

»Wie erbärmlich das ist«, sagte sie und schaute sich um.

»Dass er hier die ganzen Jahre gehaust hat. Was hat er sich eigentlich dabei gedacht?«

»Ich habe gehofft, dass du mir da weiterhelfen könntest.«

Sie sah ihn an und schwieg.

»Ich weiß es nicht«, fuhr Erlendur fort. »Er war wohl der Meinung, dass ihm das genügte. Andere Leute brauchen Villen mit fünfhundert Quadratmetern. Soweit ich weiß, hat er einige Vorteile dadurch gehabt, hier im Hotel zu wohnen und zu arbeiten. Hier hatte er die eine oder andere Dienstleistung inklusive.«

»Habt ihr schon die Mordwaffe gefunden?«, fragte sie.

»Nein, aber vielleicht etwas Ähnliches«, antwortete Erlendur. Dann verstummte er und wartete darauf, dass sie etwas sagen würde, aber sie schwieg ebenfalls. Es verging eine ganze Weile, bis sie das Schweigen brach.

»Wieso behauptest du, dass ich lüge?«

»Ich weiß nicht, wie weit reichend die Lüge ist, aber ich bin mir völlig sicher, dass du mir nicht alles zu Protokoll gegeben hast, was du weißt. Du hast nicht die Wahrheit gesagt. Abgesehen davon sagst du sowieso fast nichts, und ich bin erstaunt über deine und deines Vaters Reaktion auf den Tod von Guðlaugur. Es hat den Anschein, als beträfe euch das überhaupt nicht.«

Sie blickte Erlendur eine ganze Weile an, schien sich dann jedoch zu einer Entscheidung durchgerungen zu haben.

»Er war drei Jahre jünger als ich«, sagte sie plötzlich, »und obwohl ich damals so klein war, kann ich mich erinnern, wie meine Eltern ihn als Baby nach Hause brachten. Wahrscheinlich eine meiner ersten Erinnerungen. Er war vom allerersten Tag an der Augenstern meines Vaters. Er stand immer im Mittelpunkt, und ich glaube, mein Vater hat ihm gleich von Anfang an eine große Rolle zugedacht. Das kam nicht später oder hat sich so ergeben, wie es wahrscheinlich normalerweise der Fall ist, sondern unser Vater hatte vom ersten Tag an Großes mit ihm im Sinn, mit Guðlaugur.«

»Und was war mit dir?«, fragte Erlendur. »Hat er keine Talente in dir gesehen?«

»Er war immer gut zu mir«, sagte sie, »aber Guðlaugur hat er vergöttert.«

»Und ihn vorangetrieben, bis er zusammengebrochen ist.«

»Du willst die Dinge anscheinend einfach haben«, sagte sie, »aber das sind sie im seltensten Fall. Ich hätte gedacht, dass ein Mensch wie du, ein Polizist, sich das klar machen würde.«

»Ich glaube, hier geht es nicht um mich«, sagte Erlendur.

»Nein«, sagte sie, »natürlich nicht.«

»Wie ist es dazu gekommen, dass Guðlaugur hier in diesem Kellerloch endete, allein und verlassen? Warum habt ihr ihn so gehasst? Ich kann vielleicht die Reaktion deines Vaters verstehen, wenn er durch ihn in den Rollstuhl gekommen ist, aber ich begreife nicht, warum du so unerbittlich und nachtragend gegen ihn warst.«

»In den Rollstuhl gekommen ist?«, fragte sie und blickte Erlendur erstaunt an.

»Weil Guðlaugur ihn die Treppe hinuntergestoßen hat«, sagte Erlendur. »Die Geschichte habe ich gehört.«

»Von wem?«

»Das spielt keine Rolle. Stimmt sie? Hat er seinen Vater in den Rollstuhl gebracht?«

»Ich glaube, das geht dich nichts an.«

»Gewiss nicht«, sagte Erlendur. »Aber es hat mit meiner Ermittlung zu tun, und da fürchte ich, dass es außer euch auch noch andere angeht.«

Stefania schwieg und starrte auf das Blut im Bett. Erlendur überlegte, warum sie unbedingt in dieser Kammer mit ihm sprechen wollte, in der ihr Bruder ermordet worden war. Er spielte mit dem Gedanken, sie zu fragen, unterließ es aber dann.

»Das kann doch nicht immer so gewesen sein«, sagte er stattdessen. »Du bist deinem Bruder auf der Bühne im Stadtkino zu Hilfe gekommen, als er seine Stimme verlor. Irgendwann wart ihr Freunde. Irgendwann ist er dein Bruder gewesen.«

»Wieso weißt du, was im Stadtkino geschehen ist? Wie hast du das ausgegraben? Mit wem hast du gesprochen?«

»Wir stellen selbstverständlich Nachforschungen an. Einige Leute aus Hafnarfjörður können sich noch ganz gut daran erinnern. Er war dir nicht gleichgültig, als ihr Kinder wart.«

Stefania schwieg.

»Das Ganze war ein Albtraum«, sagte sie. »Ein grauenvoller Albtraum.«


Vorfreude und Spannung herrschten in ihrem Haus in Hafnarfjörður an dem Tag, als er im Stadtkino auftreten sollte.

Sie wachte früh auf und machte das Frühstück. Sie musste an ihre Mutter denken, ihr kam es so vor, als hätte sie deren Rolle im Haushalt übernommen, und sie war stolz darauf.

Ihr Vater hatte sie gelobt und gesagt, wie tüchtig sie für ihre beiden Männer sorgte, nachdem die Mutter gestorben war.

Wie erwachsen sie schon sei und wie verantwortungsvoll in allem, was sie tat. Sonst äußerte er sich nie über ihre Person.

Kümmerte sich nicht um sie, hatte es nie getan.

Sie vermisste ihre Mutter. Auf dem Sterbebett hatte sie ihr gesagt, dass sie von jetzt an für ihren Vater und ihren Bruder sorgen müsse. Sie dürfe die beiden nicht im Stich lassen. »Versprich mir das«,hatte ihre Mutter gesagt. »Es wird nicht immer einfach sein. Es ist nicht immer einfach gewesen. Dein Vater ist so streng und so unnachgiebig, ich weiß nicht, ob Guðlaugur das durchhält. Falls nicht, musst du zu ihm stehen, zu Guðlaugur, versprich mir das auch«,sagte ihre Mutter. Sie hatte darauf genickt und es ihr versprochen. Und sie hielten sich die Hände, bis ihre Mutter einschlief, sie strich ihr über die Haare und küsste sie auf die Stirn.

Zwei Tage später war sie tot.

»Lassen wir Guðlaugur noch ein bisschen länger schlafen«,sagte ihr Vater, als er in die Küche herunterkam. »Dies ist ein wichtiger Tag für ihn.«

Ein wichtiger Tag für ihn.

Sie konnte sich nicht erinnern, dass es jemals wichtige Tage in ihrem Leben gegeben hatte. Alles drehte sich um ihn. Seine Stimme, seinen Gesang. Die Schallplattenaufnahmen. Die beiden Platten, die herausgegeben worden waren. Die Einladung zu einer Tournee durch Skandinavien. Die Auftritte in Hafnarfjördur. Das Konzert im Stadtkino heute Abend.

Während seiner Gesangsübungen musste sie immer durchs Haus schleichen, um die beiden im Wohnzimmer nicht zu stören. Er stand am Klavier, und sein Vater begleitete ihn, instruierte und spornte ihn an. Er war sanft und verständnisvoll, wenn er fand, dass er sich Mühe gab, aber er konnte genauso unerbittlich und streng sein, wenn Guðlaugur sich seiner Meinung nach nicht genug konzentrierte. Dann verlor er die Geduld und überschüttete ihn mit Vorwürfen.

Manchmal umarmte er ihn und sagte, er sei wunderbar.

Sie sehnte sich nach einem Bruchteil dieser Aufmerksamkeit oder etwas, das im Ansatz der Förderung entsprach, die ihm jeden Tag zuteil wurde, weil er diese schöne Stimme hatte. Sie empfand sich selbst als völlig unbedeutend, denn sie verfügte über keinerlei Fähigkeiten, die das Interesse ihres Vaters wecken konnten. Manchmal sagte er, es sei schade, dass sie keine schöne Stimme habe. Seiner Meinung nach wäre es vergebliche Mühe gewesen, ihr Gesangsunterricht zu geben, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie wusste, dass er schlicht und einfach nur keine Lust hatte, seine Kräfte darauf zu verschwenden, denn ihre Stimme war nicht außergewöhnlich. Sie hatte nicht die Fähigkeiten ihres Bruders. Sie konnte im Chor singen und auf dem Klavier klimpern, aber sowohl ihr Vater als auch der Klavierlehrer, zu dem er sie geschickt hatte, weil er selbst dafür keine Zeit hatte, behaupteten, dass sie kein musikalisches Talent habe.

Ihr Bruder hingegen hatte diese wunderbare Stimme und war überdurchschnittlich musikalisch, aber trotzdem war er auch ein ganz normaler Junge, genau wie sie ein ganz normales Mädchen war. Sie wusste nicht, was sie von ihm unterschied. Er war nicht anders als sie. Sie sorgte bis zu einem gewissen Grade für seine Erziehung, vor allem, nachdem ihre Mutter erkrankt war. Er gehorchte ihr und tat das, was sie sagte, und er hielt große Stücke auf sie. Und auch sie hing an ihm, aber sie konnte die Eifersucht nicht unterdrücken, wenn sich alles immer nur um ihn drehte. Sie hatte Angst vor diesem Gefühl, erwähnte es aber niemandem gegenüber.

Sie hörte, wie Guðlaugur die Treppe herunterkam, er erschien in der Küche und setzte sich zu seinem Vater.

»Genau wie Mama«,sagte er, als er sah, wie seine Schwester dem Vater Kaffee einschenkte.

Er sprach oft über ihre Mutter, und sie wusste, dass er sie unsäglich vermisste. Sie war immer für ihn da gewesen, wenn er mit Enttäuschungen fertig werden musste oder gehänselt worden war — und wenn sein Vater die Geduld verlor. Oder einfach, wenn er jemanden brauchte, der ihn in die Arme nahm, ohne dass es eine besondere Belohnung für seine Leistungen war.

Erwartungsvolle Spannung und Vorfreude waren den ganzen Tag im Haus zu spüren und kaum noch auszuhalten, als der Abend näher rückte und sie sich fein machten, um ins Stadtkino zu gehen. Sie begleiteten Guðlaugur hinter die Bühne, ihr Vater begrüßte den Chorleiter, dann begaben sie sich in den Saal, der sich mit den Konzertgästen zu füllen begann. Der Saal wurde verdunkelt, der Vorhang ging auf.

Guðlaugur, der ziemlich groß für sein Alter war, sah gut aus und wirkte erstaunlich furchtlos da oben auf der Bühne, und endlich begann er mit seiner sehnsuchtsvollen Knabenstimme zu singen.

Sie hielt den Atem an und schloss die Augen.

Sie kam erst wieder zu sich, als ihr Vater sie bei der Hand packte und so fest zugriff, dass es wehtat. Sie hörte ihn stöhnen: »Gott im Himmel.«

Sie öffnete die Augen und sah das leichenblasse Antlitz ihres Vaters. Auf der Bühne versuchte Guðlaugur zu singen, aber da war etwas mit der Stimme passiert. Es hörte sich so an, als jodelte er. Sie stand auf, drehte sich um, schaute in den Saal hinter sich und sah, dass die Leute angefangen hatten, das Gesicht zu einem Grinsen zu verziehen. Einige lachten sogar. Sie rannte, ohne nachzudenken, auf die Bühne zu ihrem Bruder und versuchte, ihn wegzuführen. Der Chorleiter kam ihr zu Hilfe, und es gelang ihnen endlich, ihn hinter die Bühne zu bringen. Sie sah, dass ihr Vater immer noch wie vom Blitz getroffen in der ersten Reihe stand und zu ihnen hochstarrte.

Vor dem Einschlafen rief sie sich wieder diesen grauenvollen Moment in Erinnerung. Ihr Herz begann zu klopfen, nicht aus Furcht oder Schock über das, was geschehen war, oder weil sie daran dachte, wie ihrem Bruder zumute sein musste, sondern aus einer rätselhaften Freude heraus, die sie sich nicht erklären konnte und am liebsten verdrängen wollte, wie eine böse Tat.


»Hast du Gewissensbisse gehabt wegen dieser Gedanken?«, fragte Erlendur.

»Sie waren mir völlig fremd«, sagte Stefania. »Ich hatte noch nie solche Gefühle gehabt.«

»Ich glaube eigentlich nicht, dass es etwas Unnatürliches ist, sich über den Misserfolg anderer zu freuen«, sagte Erlendur, »auch wenn unsere nächsten Angehörigen betroffen sind. Das können nichtsteuerbare Reaktionen sein, irgendwelche Abwehrmaßnahmen, wenn man einen Schock erlitten hat.«

»Ich sollte dir vielleicht das nicht alles so detailliert erzählen«, sagte Stefania. »Kein sehr sympathisches Bild, das du da von mir bekommst. Vielleicht hast du Recht. Wir standen alle unter Schock. Unter einem unglaublichen Schock, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.«

»Wie war die Verbindung zwischen ihnen nach diesem Vorfall?«, fragte Erlendur. »Zwischen Guðlaugur und seinem Vater?«

Stefania beantwortete die Frage nicht.

»Weißt du, wie es ist, wenn man von niemandem beachtet und geliebt wird?«, fragte sie stattdessen. »Wie es ist, wenn man ganz einfach durchschnittlich ist und einem niemals besondere Aufmerksamkeit zukommt? Das ist, als ob du gar nicht existierst. Deine Person wird wie selbstverständlich hingenommen, nie wirst du in irgendeiner Form beachtet, nie kümmert sich jemand um dich. Und die ganze Zeit wird jemand anderes auf Händen getragen, jemand, mit dem du auf gleicher Stufe zu stehen glaubst. Er wird auf Händen getragen wie ein Auserwählter, der zur Freude seiner Eltern und aller anderen in die Welt geboren wurde. Das musst du Tag für Tag mit ansehen, Woche für Woche, Jahr für Jahr, und es ändert sich nichts mit den Jahren, außer dass sich die Bewunderung noch steigert und fast abgöttisch wird.«

Sie schaute zu Erlendur hoch.

»Da muss doch Eifersucht aufkommen«, sagte sie. »Alles andere wäre übermenschlich. Und statt dagegen anzukämpfen, fängt man auf einmal an, dieses Gefühl zu genießen, denn auf irgendeine merkwürdige Weise geht es einem besser damit.«

»Ist das die Erklärung dafür, dass du dich über den Misserfolg deines Bruders gefreut hast?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Stefania. »Ich war diesem Gefühl gegenüber machtlos. Es überfiel mich wie ein eiskalter Schauer, ich zitterte und bebte und versuchte, es von mir fern zu halten, aber das Gefühl wollte nicht weichen. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passieren könnte.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Du hast deinen Bruder beneidet«, sagte Erlendur.

»Vielleicht habe ich das zeitweilig getan. Später hatte ich Mitleid mit ihm.«

»Und zum Schluss hast du ihn gehasst.«

Sie schaute Erlendur an.

»Was weißt du über Hass?«

»Nicht viel«, sagte Erlendur. »Ich weiß aber, dass er gefährlich sein kann. Warum hast du uns gesagt, dass du fast drei Jahrzehnte lang keinerlei Verbindung zu deinem Bruder hattest?«

»Weil es wahr ist«, sagte Stefania.

»Es ist nicht wahr«, entgegnete Erlendur. »Du lügst. Weswegen lügst du?«

»Wollt ihr mich wegen einer Lüge ins Gefängnis bringen?«

»Wenn es sein muss, tu ich das«, sagte Erlendur. »Wir wissen, dass du fünf Tage vor dem Mord an deinem Bruder hier ins Hotel gekommen bist. Du hast uns gegenüber erklärt, du hättest deinen Bruder jahrzehntelang nicht gesehen beziehungsweise keinen Kontakt zu ihm gehabt. Dann finden wir heraus, dass du ein paar Tage vor seinem Tod hier im Hotel gewesen bist. Was hast du von ihm gewollt? Und warum hast du uns angelogen?«

»Ich hätte hier ins Hotel kommen können, ohne ihn treffen zu wollen. Das ist ein großes Hotel. Hast du das vielleicht bedacht?«

»Das bezweifle ich sehr. Meiner Meinung nach war es kein Zufall, dass du ein paar Tage vor seinem Tod in dieses Hotel gekommen bist.«

Er sah, dass sie unschlüssig war, dass sie sich den Kopf darüber zerbrach, ob sie den nächsten Schritt tun sollte. Sie hatte sich augenscheinlich darauf vorbereitet, eine detailliertere Darstellung zu geben als bei ihrem ersten Gespräch, aber jetzt hieß es, den Sprung zu wagen.

»Er hatte einen Schlüssel«, sagte sie dann so leise, dass Erlendur es kaum hören konnte. »Das war der, den du meinem Vater und mir gezeigt hast.«

Erlendur erinnerte sich an den Schlüsselbund, der im Zimmer gefunden worden war, und an das kleine rosa Messer mit dem Bild von einem Piraten, das an dem Schlüsselring hing. Zwei Schlüssel waren daran gewesen, einer wahrscheinlich ein Hausschlüssel, der andere vielleicht zu einer Schublade, einem Schrank oder einer Kiste.

»Was hat es mit diesen Schlüsseln auf sich?«, fragte Erlendur. »Kennst du sie? Weißt du, wo sie hineinpassen?«

Stefania lächelte kalt.

»Ich habe genau den gleichen Schlüssel«, erklärte sie.

»Was für ein Schlüssel ist das?«

»Zu unserem Haus in Hafnarfjörður.«

»Du meinst dein Zuhause?«

»Ja«, sagte Stefania. »Das Haus von mir und meinem Vater. Er gehört zur Kellertür hinter dem Haus. Aus dem Keller führt eine schmale Treppe in den Flur im Erdgeschoss, und von dort aus kommt man in die Küche und ins Wohnzimmer.«

»Meinst du damit, dass …?« Erlendur versuchte, sich über die Bedeutung ihrer Worte klar zu werden. »Meinst du, dass er Zugang zum Haus hatte?«

»Ja.«

»Und ist er ins Haus gekommen?«

»Ja.«

»Aber ich dachte, es hätte keinerlei Verbindung zwischen euch gegeben. Du hast gesagt, dass dein Vater und du euch jahrzehntelang nicht um ihn gekümmert habt. Dass da keinerlei Kontakt war. Weswegen hast du gelogen?«

»Weil Papa nichts davon wusste.«

»Nichts wovon wusste?«

»Dass er gekommen ist. Er muss uns vermisst haben. Ich habe ihn nicht danach gefragt, aber das muss ganz einfach so gewesen sein, sonst hätte er es nicht gemacht.«

»Was genau hat dein Vater nicht gewusst?«

»Dass Guðlaugur manchmal nachts zu uns nach Hause kam, ohne dass wir seiner gewahr wurden, er hat einfach nur im Wohnzimmer gesessen und keinen Mucks von sich gegeben und war dann immer verschwunden, bevor wir aufwachten. Er hat das jahrelang gemacht, ohne dass wir davon wussten.«

Sie schaute auf die Blutflecken im Bett.

»Bis ich einmal nachts aufwachte und ihn sah.«

Vierundzwanzig

Erlendur beobachtete Stefania und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Sie war nicht so arrogant wie bei ihrem ersten Treffen, als Erlendur ihr die Gefühlskälte übel genommen hatte, die sie ihrem Bruder gegenüber an den Tag legte, und er war sich nicht mehr sicher, ob er sie vielleicht allzu voreilig beurteilt hatte. Er kannte weder sie noch ihre Geschichte gut genug, um sich aufs hohe Ross zu setzen, und bereute es jetzt, ihr Gefühlskälte vorgeworfen zu haben. Es war nicht seine Aufgabe, über andere zu urteilen, obwohl er ständig wieder in diese Falle tappte. Er wusste im Grunde genommen nichts über diese Frau, die urplötzlich so zerknirscht vor ihm saß und grauenvoll einsam wirkte. Ihm war klar geworden, dass ihr Leben nicht gerade ein Tanz auf Rosen gewesen war: erst als Kind im Schatten ihres Bruders, dann als mutterloser Teenager und zuletzt als Frau, die ihrem Vater nicht von der Seite wich und höchstwahrscheinlich ihr Leben für ihn geopfert hatte.

Schweigend standen sie sich geraume Zeit gegenüber, beide dachten nach. Die Tür zur Kammer hatten sie offen gelassen. Plötzlich trat Erlendur auf den Gang hinaus. Er hatte das Gefühl, dass sich dort jemand herumtrieb und lauschte. Er blickte den schlecht beleuchteten Gang entlang, sah aber niemanden. Er drehte sich um und schaute in die hintere Ecke, wo völlige Finsternis herrschte. Er sagte sich, dass jemand, um dorthin zu gelangen, an der offenen Zimmertür vorbeigemusst hätte, und das wäre ihm nicht entgangen. Da war niemand auf dem Gang. Trotzdem hatte er, als er die Kammer wieder betrat, das unbestimmte Gefühl, dass sie sich nicht allein da unten befanden. Wieder war dieser Geruch auf dem Gang, ein schwacher Rauchgeruch, den er nicht zuordnen konnte. Er fühlte sich unwohl an diesem Ort. Der Gedanke daran, wie sie die Leiche vorgefunden hatten, ließ ihn nicht los, und je mehr er mit der Geschichte des Weihnachtsmanns vertraut wurde, desto armseliger und trauriger schien alles in seinen Augen zu sein, da war etwas, von dem er wusste, dass es ihn nie mehr loslassen würde.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Stefania, die reglos auf ihrem Stuhl saß.

»Doch, alles in Ordnung«, sagte Erlendur. »Irgendein komisches Gefühl von mir. Ich hab mir plötzlich eingebildet, da wäre jemand auf dem Gang. Sollten wir nicht einen Ortswechsel vornehmen? Vielleicht einen Kaffee trinken?«

Sie schaute sich noch einmal in der Kammer um, nickte dann und stand auf. Sie gingen schweigend den Gang entlang und die Treppe hinauf, durchquerten das Foyer und begaben sich in den Speisesaal, wo Erlendur zwei Tassen Kaffee bestellte. Sie setzten sich etwas abseits und versuchten, sich nicht durch die Ausländer stören zu lassen.

»Mein Vater wäre nicht einverstanden mit dem, was ich jetzt tue«, erklärte Stefania. »Er hat mir immer verboten, über die Familie zu reden. Er erträgt solches Eindringen in sein Privatleben nicht.«

»Wie steht es um seine Gesundheit?«

»Er ist für sein Alter einigermaßen gut dran. Aber ich weiß nicht …«

Ihre Worte verebbten.

»Es gibt kein Privatleben bei einer polizeilichen Ermittlung«, sagte Erlendur. »Schon gar nicht, wenn ein Mord verübt worden ist.«

»Das wird mir so langsam auch immer klarer. Wir hatten vor, das alles von uns fern zu halten, so als ginge es uns überhaupt nichts an, aber ich denke, unter diesen grässlichen Umständen kann sich da niemand raushalten.«

»Wenn ich dich richtig verstehe«, sagte Erlendur, »hatten dein Vater und du sämtliche Verbindungen zu Guðlaugur abgebrochen, aber er hat sich nachts heimlich ins Haus geschlichen, ohne dass ihr ihn bemerkt habt. Was bezweckte er damit? Was hat er gemacht? Und weswegen?«

»Ich habe nie eine erschöpfende Antwort von ihm bekommen. Er saß einfach nur im Wohnzimmer, ein oder zwei Stunden, hat sich nicht gerührt und keinen Ton von sich gegeben. Sonst wäre ich bestimmt sehr viel eher dahinter gekommen. Er hat das ein paar Mal im Jahr gemacht, und zwar über viele Jahre hin. Also nicht so, dass er jede Nacht gekommen wäre. Vor ungefähr zwei Jahren konnte ich einmal nachts wegen irgendetwas nicht schlafen. Ich lag da im Halbdunkel, und so gegen vier Uhr glaubte ich unten ein Knarren zu hören. Ich erschrak natürlich. Das Zimmer meines Vaters ist unten, es steht nachts immer offen, und ich dachte, er würde vielleicht auf sich aufmerksam machen wollen. Dann hörte ich dieses Geräusch noch einmal und überlegte, ob da womöglich ein Einbrecher unterwegs war.

Ich schlich die Treppe hinunter und sah, dass die Tür zum Zimmer meines Vaters noch genauso angelehnt stand, wie ich sie hinterlassen hatte. Als ich in den Flur kam, sah ich jemanden die Kellertreppe hinunterhuschen und ich habe ihm etwas nachgerufen. Zu meinem Entsetzen hielt er inne und kam wieder nach oben.«

Stefania verstummte und starrte vor sich hin, sie schien keine Verbindung zu Zeit und Raum zu haben.

»Ich dachte, dass er auf mich losgehen würde«, sagte sie schließlich. »Ich stand in der Küchentür und machte Licht, und da stand er vor mir. Ich hatte ihn viele Jahre lang nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen, und ich habe geraume Zeit gebraucht, bis mir klar wurde, dass ich meinem Bruder gegenüberstand.«

»Was hast du dann gemacht?«, fragte Erlendur.

»Ich war unfähig, überhaupt zu reagieren, als mir bewusst wurde, wer er war. Ich hatte solche Angst. Wenn es ein Einbrecher gewesen wäre, hätte ich mich nicht so verhalten, dann hätte ich sofort die Polizei anrufen müssen. Ich zitterte am ganzen Leib und stieß einen Schrei aus, als ich das Licht angeknipst hatte und ihn vor mir sah. Es muss irgendwie komisch gewesen sein, mich so hysterisch zu sehen, denn er fing an zu lachen.«


»Nicht Papa wecken!«,sagte er, legte den Finger vor den Mund und sagte leise Psst.

Sie traute ihren Augen nicht.

»Bist du das?«,stöhnte sie.

Er war so völlig anders als das Bild, das sie aus der Jugendzeit von ihm bewahrt hatte, und sie sah, dass das Alter ihm übel mitgespielt hatte; davon zeugten die Säcke unter den Augen und die dünnen, blutleeren Lippen. Seine Haare standen unordentlich in alle Richtungen. Er schaute sie mit unendlich traurigen Augen an. Unwillkürlich überlegte sie, wie alt er war.

Er sah so viel älter aus, als er war …

»Was machst du hier?«,flüsterte sie.

»Nichts«,sagte er. »Ich mache gar nichts. Ich möchte bloß manchmal nach Hause.«


»Das war die einzige Erklärung, die er mir gab, weswegen er manchmal nachts kam und sich ins Wohnzimmer setzte, ohne sich bemerkbar zu machen«, sagte Stefania. »Er wollte manchmal nach Hause. Ich weiß nicht, was er damit meinte. Ob das mit seiner Kindheit zusammenhing, als Mama noch lebte, oder ob er an die Jahre dachte, bevor er meinen Vater die Treppe hinunterstieß. Ich weiß es nicht.

Vielleicht hatte das Haus selbst irgendeine Bedeutung für ihn, denn er hat nie ein anderes Heim besessen, nur dieses schmutzige Kabuff in diesem Hotel.«


»Du solltest jetzt gehen«,sagte sie. »Er könnte aufwachen.«

»Ja, ich weiß«,sagte er. »Wie geht es ihm gesundheitlich? Fehlt ihm was?«

»Er hält sich gut. Er braucht aber ständig Pflege. Er muss gefüttert und angezogen werden, ich muss ihn spazieren fahren und vor dem Fernseher zurechtsetzen. Er mag Zeichentrickfilme.«

»Du hast keine Vorstellung, wie ich darunter gelitten habe«,sagte er. »Die ganzen Jahre. Ich habe nicht gewollt, dass es so kam. Das Ganze war von Anfang bis Ende ein Missverständnis.«

»Ja, genau«,sagte sie.

»Ich wollte nie berühmt werden«,sagte er. »Das war sein Traum. Ich sollte seinen Traum erfüllen.«

Sie schwiegen.

»Fragt er manchmal nach mir?«

»Nein, nie«,sagte sie. »Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, über dich zu sprechen, aber er erträgt es nicht, deinen Namen zu hören.«

»Er hasst mich immer noch.«

»Ich glaube, das wird sich nie ändern.«

»Weil ich so bin, wie ich bin. Er erträgt es nicht, dass ich so bin.«

»Das ist eure Angelegenheit, und ich …«

»Ich würde alles für ihn tun, das weißt du.«

»Ja.«

»Immer.«

»Ja.«

»All diese Anforderungen, die er an mich gestellt hat. Gesangsstunden. Üben. Konzerte. Studioaufnahmen. Davon hat er geträumt, nicht ich. Alles war in Ordnung, wenn er zufrieden war.«

»Ich weiß.«

»Weshalb kann er mir dann nicht vergeben? Weswegen können wir uns nicht versöhnen? Ich vermisse ihn. Willst du ihm das sagen? Ich vermisse die Zeit, als wir zusammen waren. Als ich für ihn gesungen habe. Ich habe keine andere Familie.«

»Ich will versuchen, mit ihm zu reden.«

»Würdest du das tun? Willst du ihm sagen, dass ich ihn vermisse?«

»Ich werde es tun.«

»Er kann mich nicht ertragen, weil ich so bin, wie ich bin.«

Stefania schwieg.

»Vielleicht habe ich gegen ihn rebelliert. Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, es zu verstecken, aber ich kann nicht anders sein, als ich bin.«

»Du solltest jetzt gehen«,sagte sie.

»Ja.«

Er zögerte.

»Und was ist mit dir?«,sagte er.

»Was mit mir ist?«

»Hasst du mich auch?«

»Du solltest gehen. Er könnte aufwachen.«

»Weil alles meine Schuld ist. Die Situation, in der du bist, ständig für ihn sorgen zu müssen. Du musst doch …«

»Geh jetzt«,sagte sie.

»Verzeih mir.«


»Als er nach dem Unfall ausgezogen ist, was geschah dann?«, fragte Erlendur. »Habt ihr ihn ganz einfach aus eurem Leben getilgt, so als hätte er nie existiert?«

»Mehr oder weniger. Ich weiß, dass mein Vater sich hin und wieder seine Platten angehört hat, denn er vergaß manchmal, sie wegzuräumen oder die Platte vom Teller zu nehmen. Manchmal kam uns etwas über ihn zu Ohren, und vor vielen Jahren lasen wir einmal ein Interview mit ihm in irgendeiner Zeitschrift. Da ging es um ehemalige Kinderstars. ›Was ist aus ihnen geworden?‹, war die Überschrift, oder irgendwas Furchtbares in der Art. Die Zeitschrift hatte ihn ausfindig gemacht, und er war anscheinend bereit, über seine frühere Berühmtheit zu sprechen.

Ich habe keine Ahnung, warum er sich so exponiert hat. Er sagte eigentlich nichts von Bedeutung in diesem Interview, außer, dass es eine schöne Zeit gewesen war, als er im Mittelpunkt des Interesses stand.«

»Irgendjemand hat sich also an ihn erinnert. Er ist nicht ganz vergessen worden.«

»Es gibt immer welche, die sich erinnern.«

»Hat er in diesem Interview nicht darüber gesprochen, wie er in der Schule gehänselt wurde, oder über den Leistungsdruck seitens seines Vaters, den Verlust der Mutter und darüber, wie seine Hoffnungen, die euer Vater wahrscheinlich geschürt hat, zunichte gemacht wurden und er aus seinem eigenen Heim vertrieben wurde?«

»Was weißt du über die Hänseleien in der Schule?«

»Wir wissen, dass er aufgezogen wurde, weil er allen irgendwie merkwürdig vorkam. Stimmt das nicht?«

»Ich glaube nicht, dass mein Vater irgendwelche Erwartungen geschürt hat. Er ist ein sehr bodenständiger und realistischer Mensch. Ich weiß nicht, weshalb du in diesem Ton mit mir redest. Es sah eine Zeit lang so aus, als hätte mein Bruder eine bedeutende Karriere vor sich, als würde er im Ausland auftreten und viel mehr Aufsehen erregen, als es hier in unserem kleinen Land überhaupt denkbar war.

Mein Vater hat ihm das gesagt, aber ich glaube, er hat ihm auch klar gemacht, dass es dazu intensiver Arbeit, großer Ausdauer und bedeutender Fähigkeiten bedarf, und dass er sich keine unrealistischen Hoffnungen machen dürfe.

Mein Vater hat keine Macke gehabt. Glaub das ja nicht.«

»Ich glaube gar nichts«, erwiderte Erlendur.

»Gut.«

»Hat Guðlaugur nie versucht, Verbindung mit euch aufzunehmen? Oder ihr mit ihm? Die ganze Zeit?«

»Nein. Ich glaube, diese Frage habe ich bereits beantwortet. Da war nichts, außer der Tatsache, dass er sich manchmal zu uns ins Haus schlich, ohne dass wir davon wussten. Er hat mir gesagt, dass er das jahrelang gemacht hat.«

»Ihr beide habt also nicht nach ihm gesucht?«

»Nein, das haben wir nicht getan.«

»Zwischen ihm und eurer Mutter bestand ein inniges Verhältnis?«, fragte Erlendur.

»Sie war sein Ein und Alles.«

»Ihr Tod muss furchtbar für ihn gewesen sein.«

»Er war furchtbar für uns alle.«

Stefania seufzte schwer.

»Es kommt mir so vor, als sei damals irgendetwas in uns allen gestorben, als sie uns verließ. Das, was uns zu einer Familie machte. Ich glaube, mir ist erst sehr viel später klar geworden, dass sie es war, die uns zusammenhielt und uns die Balance gab. Unsere Eltern waren sich nicht einig darüber, wie man mit Guðlaugurs Talent umgehen sollte, sie stritten sich wegen seiner Erziehung, wenn man das Streit nennen konnte. Sie wollte, dass er so sein durfte, wie er sein wollte. Selbst wenn er schön singen konnte, musste nicht unbedingt so viel Aufhebens davon gemacht werden.«

Sie blickte Erlendur an.

»Ich glaube, mein Vater hat ihn nie so richtig als Kind betrachtet, sondern als Projekt — und als Objekt, das er ganz allein prägen und formen würde.«

»Aber du? Wie standest du dazu?«

»Ich? Danach wurde ich nie gefragt.«

Sie schwiegen, während sie dem Stimmengewirr im Speisesaal lauschten und die Ausländer beobachteten, die sich lebhaft unterhielten und lachten. Erlendur betrachtete Stefania, die in sich selbst und ihre Erinnerungen an ein fragiles Familienleben versunken zu sein schien.

»Hast du irgendetwas mit dem Mord an ihm zu tun?«, fragte Erlendur behutsam.

Es war, als hörte sie nicht, was er sagte, und er wiederholte die Frage. Sie blickte hoch.

»Nicht im Geringsten«, sagte sie. »Ich wollte, er wäre noch am Leben, und ich könnte …«

Stefania verstummte.

»Du könntest was?«, fragte Erlendur.

»Ich weiß nicht, vielleicht etwas gutmachen …«

Wieder schwieg sie eine Weile.

»Das war alles so entsetzlich. Alles, von Anfang bis Ende. Es beginnt mit irgendwelchen Kleinigkeiten, und dann eskaliert es und wird immer komplizierter, bis man auf einmal nicht mehr damit fertig wird. Ich will es nicht als harmlose Tat hinstellen, dass er ihn die Treppe hinuntergestoßen hat. Aber man hat danach nur die Konfrontation gesucht und nichts unternommen, um das zu ändern. Weil man es nicht wollte, vermute ich. Und die Zeit vergeht, die Jahre vergehen, bis man im Grunde genommen die Empfindungen vergessen hat, den Grund, wodurch alles ausgelöst wurde, und man hat, willentlich oder unwillentlich, die Möglichkeiten verdrängt, die man hatte, um etwas wieder gutzumachen, was schief gelaufen ist, und dann ist es auf einmal zu spät, die Dinge in Ordnung zu bringen. All diese Jahre sind vergangen …«

Sie seufzte tief.

»Was geschah, nachdem du ihn da in der Küche überrascht hast?«

»Ich sprach mit Papa. Er wollte nichts von Gulli wissen, und damit war die Sache für ihn erledigt. Diese nächtlichen Besuche habe ich nicht erwähnt. Ich habe aber einige Male versucht, mit ihm über eine Versöhnung zu sprechen, indem ich behauptete, Gulli zufällig auf der Straße getroffen zu haben, und dass er gerne seinen Vater wiedersehen würde, aber Papa war ganz und gar unerbittlich.«

»Ist dein Bruder danach noch einmal ins Haus gekommen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Sie schaute Erlendur an.

»Das war vor zwei Jahren, und seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen.«

Fünfundzwanzig

Stefanía stand auf und schickte sich an zu gehen. Es war, als hätte sie alles gesagt, was sie sagen wollte. Erlendur konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie gerade nur so viel erzählt hatte, wie notwendig war, und nur das, was ihres Erachtens bekannt werden durfte. Sicherlich hatte sie einiges verschwiegen. Er stand ebenfalls auf und überlegte, ob er es fürs Erste dabei bewenden lassen oder ihr doch noch mehr zusetzen sollte. Er beschloss, auf den von ihr vorgegebenen Kurs und ihr Tempo einzugehen. Sie hatte sich kooperationsbereiter als zuvor gezeigt, und was er gehört hatte, genügte ihm im Augenblick. Er konnte aber nicht umhin, wenigstens bei einer Sache nachzuhaken, die er überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Sie hatte sich dazu nicht geäußert.

»Ich kann verstehen, warum euer Vater ihm zeit seines Lebens wegen dieses Unfalls nicht verzeihen konnte«, sagte Erlendur, »wenn er ihm die Schuld daran gegeben hat, dass er für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt war. Aber ich weiß nicht, wo ich mit dir dran bin, warum du ebenfalls so reagiert hast. Weshalb du dich ganz und gar auf die Seite deines Vaters gestellt hast.

Weshalb du dich in dieser Form von deinem Bruder abgewandt und all die Jahre keine Verbindung zu ihm gehabt hast.«

»Ich glaube, ich habe dir hinreichend geholfen«, sagte Stefania. »Sein Tod geht meinen Vater und mich nichts an. Der war mit dem anderen Leben verbunden, das mein Bruder lebte, und über das weder mein Vater noch ich irgendetwas wussten. Ich hoffe, du weißt es zu schätzen, dass ich versucht habe, aufrichtig zu sein und dich in der Ermittlung zu unterstützen, und ich gehe davon aus, dass du uns nicht mehr belästigen wirst. Dass du mir nicht in meinem eigenen Haus Handschellen anlegen lässt.«

Sie streckte die Hand aus, als wollte sie irgendeinen Pakt zwischen ihnen besiegeln, dem zufolge ihr Vater und sie von jetzt an in Ruhe gelassen würden. Erlendur ergriff ihre Hand und versuchte zu lächeln. Er wusste, dass dieser Pakt früher oder später gebrochen werden würde. Viel zu viele Fragen, dachte er. Zu wenig wirkliche Antworten. Er war nicht bereit, sie gleich gehen zu lassen, und glaubte zu wissen, dass sie immer noch log oder zumindest einen Bogen um die Wahrheit machte.

»Du bist dann einige Tage vor dem Tod deines Bruders nicht ins Hotel gekommen, um deinen Bruder zu treffen?«, fragte er.

»Nein, ich war hier im Speisesaal mit einer Freundin verabredet. Wir haben einen Kaffee zusammen getrunken. Du kannst dich mit ihr in Verbindung setzen und sie fragen, ob ich dir etwas vorlüge. Ich hatte wieder vergessen, dass er hier arbeitete, und ich habe ihn nicht gesehen, während ich hier war.«

»Ich werde das vielleicht überprüfen«, entgegnete Erlendur und schrieb sich den Namen der Frau auf. »Dann noch etwas: Hast du einen Mann mit Namen Henry Wapshott gekannt? Er ist Engländer und hatte Verbindung zu deinem Bruder.«

»Wapshott?«

»Er sammelt Schallplatten und war an den Platten deines Bruders interessiert. Zufälligerweise sammelte er Chorgesang, und er ist auf Chorknaben spezialisiert.«

»Ich habe nie von diesem Mann gehört«, erklärte Stefania.

»Auf Chorknaben spezialisiert?«

»Es gibt wohl noch spleenigere Sammler als ihn«, sagte Erlendur, hielt es aber nicht für ratsam, auf die Kotztüten von Fluggesellschaften einzugehen. »Er ist der Meinung, dass die Platten deines Bruders heutzutage sehr wertvoll sind, weißt du etwas darüber?«

»Nein, keine Ahnung«, erklärte Stefania. »Was meinte er damit? Was bedeutet das?«

»Ich bin mir da nicht ganz sicher«, sagte Erlendur. »Auf jeden Fall sind sie wertvoll genug, dass Wapshott extra nach Island kommt, um ihn zu treffen. Hat Guðlaugur Platten von sich besessen?«

»Das glaube ich nicht.«

»Weißt du, was aus den Exemplaren geworden ist, die damals produziert wurden?«

»Ich glaube, die sind einfach verkauft worden«, sagte Stefania. »Wären sie wertvoll, wenn es noch welche gäbe?«

Erlendur hörte den Eifer aus ihrer Stimme heraus. Er überlegte, ob sie ihm da nicht womöglich wieder etwas vormachte und in Wirklichkeit viel besser Bescheid wusste als er selber und nur herauszufinden versuchte, wie viel er wusste.

»Könnte schon sein«, sagte Erlendur.

»Ist dieser Engländer im Lande?«, fragte sie.

»Er sitzt derzeit bei uns ein«, erwiderte Erlendur. »Es könnte sein, dass er mehr über deinen Bruder und dessen Tod weiß, als er uns sagen will.«

»Glaubt ihr, dass er ihn umgebracht hat?«

»Hast du keine Nachrichten gehört?«

»Nein.«

»Er kommt infrage, weiter nichts.«

»Was für ein Mann ist das?«

Erlendur erwog kurz, ihr zu sagen, was sie von den Kollegen in England erfahren hatten, von den Kinderpornos auf Wapshotts Zimmer, ließ es aber dann bleiben. Er wiederholte nur, was er ihr schon über ihn als Plattensammler mit Chorknaben als Spezialgebiet gesagte hatte, und dass er im Hotel übernachtet und mit Guðlaugur in Verbindung gestanden hatte. Es lägen genügend Verdachtsmomente vor, um ihn festzuhalten.

Sie verabschiedeten sich in aller Freundlichkeit, und Erlendur schaute ihr nach, während sie den Speisesaal durchquerte und in das Foyer ging. Gleichzeitig begann sein Handy zu klingeln. Er zog es aus der Tasche und nahm das Gespräch entgegen. Zu seinem großen Erstaunen war Valgerður am Telefon.

»Können wir uns heute Abend treffen?«, sagte sie ohne Umschweife. »Bist du dann im Hotel?«

»Das kann ich einrichten«, sagte Erlendur und konnte seine Verwunderung nicht verhehlen. »Ich habe geglaubt, dass …«

»Sagen wir gegen acht? In der Bar?«

»In Ordnung«, sagte Erlendur. »Abgemacht. Was …?«

Er wollte Valgerður fragen, was ihr auf dem Herzen läge, aber sie hatte schon aufgelegt und an sein Ohr drang nur noch Schweigen. Er stellte das Telefon ab und überlegte, was wohl der Grund für ihre Verabredung sein konnte. Er hatte die Möglichkeit abgeschrieben, diese Frau näher kennen zu lernen, und war zu dem Schluss gekommen, dass er wahrscheinlich in Sachen Frauen ein hoffnungsloser Fall wäre. Und jetzt auf einmal dieser Anruf, von dem er nicht so recht wusste, wie er ihn interpretieren sollte.

Die Mittagszeit war schon längst vorbei, und Erlendur war völlig ausgehungert, aber anstatt sich im Speisesaal etwas zu bestellen, nahm er den Aufzug hoch zu seinem Zimmer und ließ sich vom Zimmerservice einen verspäteten Lunch bringen. Er musste sich noch einige Videoaufzeichnungen ansehen. Er legte eine Kassette ein und ließ sie durchlaufen, während er auf das Essen wartete.

Er verlor bald die Konzentration. Im Geiste war er nicht bei dem Geschehen auf dem Bildschirm, sondern dachte über Stefanias Worte nach. Warum hatte Guðlaugur sich heimlich nachts in ihr Haus geschlichen? Er hatte seiner Schwester gesagt, dass er nach Hause wollte. Ich möchte bloß manchmal nach Hause. Was steckte hinter diesen Worten? Wusste seine Schwester das? Was bedeutete nach Hause für Guðlaugur? Was vermisste er? Er war kein Teil der Familie mehr, und diejenige, die ihm am nächsten gestanden hatte, seine Mutter, war schon lange tot. Er belästigte seinen Vater und seine Schwester nicht mit seinen Besuchen. Er kam nicht tagsüber wie normale Leute, falls es denn etwas wie normale Leute gab, um die Dinge ins Reine zu bringen, um das Zerwürfnis, den Zorn und den Hass in Angriff zu nehmen, die zwischen ihm und seiner Familie herrschten. Er kam mitten in der Nacht und achtete darauf, niemanden zu wecken, und schlich sich wieder hinaus, ohne dass jemand seiner gewahr wurde. Er schien nicht an Versöhnung und Vergebung interessiert zu sein, sondern an irgendetwas, was eine wichtigere Rolle für ihn zu spielen schien, etwas, wovon nur er wusste, was es war, was nie geklärt werden könnte und sich hinter diesen Worten verbarg. Nach Hause.

Was war das?

Vielleicht der Gedanke an seine Jugend im Haus seiner Eltern, bevor das Leben mit unbegreiflichen Verwicklungen und Schicksalsschlägen hereinbrach, die Zerstörung und Unglück hinterließen. Als er in diesem Haus herumlief in dem sicheren Bewusstsein, einen Vater, eine Mutter und eine Schwester zu haben, die bei ihm waren und ihn liebten. Er musste wohl in das Haus gekommen sein, um Erinnerungen nachzuhängen, die er nicht missen wollte, um sich an sie zu klammern, wenn das Leben ihm eine schwere Bürde war.

Vielleicht war er in das Haus gekommen, um es mit dem Schicksal aufzunehmen, das ihm dort zuteil geworden war.

Mit den unerbittlichen Anforderungen, die sein Vater an ihn stellte, mit den Hänseleien, die er über sich ergehen lassen musste, weil er als anders galt, mit der Liebe seiner Mutter, die ihm mehr bedeutete als alles andere, und mit der großen Schwester, die auch auf ihn aufpasste; mit dem Schock, als er nach dem Konzert aus dem Stadtkino nach Hause kam, nachdem seine Welt zusammengebrochen war und mit ihr die Hoffnungen seines Vaters. Was kann schlimmer für einen Jungen sein, als die Erwartungen seines Vaters nicht zu erfüllen? Nach all dem, was er auf sich genommen hatte, was sein Vater auf sich genommen hatte, was die Familie auf sich genommen hatte. Er hatte seine Jugend geopfert, um etwas zu werden, was er weder verstehen noch beeinflussen konnte — und sich dann als Nichts herausstellte. Sein Vater hatte mit seiner Jugend gespielt und ihn im Grunde genommen um sie betrogen.

Erlendur seufzte. Wer möchte nicht manchmal nach Hause?


Er hatte sich auf dem Bett ausgestreckt, als er auf einmal ein leises Geräusch im Zimmer hörte. Erst war er sich nicht sicher, woher das kam, und glaubte, dass sich der Plattenspieler wieder in Gang gesetzt hätte, aber die Nadel nicht bis zur Platte gekommen war.

Er richtete sich auf, aber als er einen Blick auf den Plattenspieler warf, sah er, dass er abgeschaltet war. Wieder vernahm er den gleichen Laut, er schaute sich um. Es war dunkel im Zimmer, und er konnte nicht viel erkennen. Ein schwacher Lichtschein drang von der Straßenlaterne auf der anderen Seite herüber. Als er die Lampe auf dem kleinen Nachttisch anknipsen wollte, hörte er das Geräusch wieder, diesmal lauter. Er wagte nicht, sich zu rühren. Er erinnerte sich plötzlich, wo er das Geräusch schon einmal gehört hatte.

Er setzte sich im Bett auf und schaute zur Tür. In der schwachen Helligkeit sah er eine kleine Gestalt in einer Nische bei der Tür kauern. Sie schaute ihn an, bläulich und bleich vor Kälte, sie zitterte so heftig, dass der Kopf sich heftig hin und her bewegte, sie zog die Nase hoch.

Erlendur kannte das Geräusch.

Er starrte auf die Gestalt, die ihm in die Augen sah und zu lächeln versuchte, es aber wegen der Kälteschauer nicht schaffte.

»Bist du das?«, stöhnte Erlendur.

Im gleichen Augenblick verschwand die Gestalt aus der Nische, Erlendur fuhr aus dem Schlaf hoch, war schon halb aus dem Bett und starrte auf die Tür.

»Warst du das?«, stöhnte er wieder und sah flüchtige Fetzen aus dem Traum vor sich, Fäustlinge, Wollmütze, Winterjacke und Schal. So waren sie gekleidet gewesen, als sie von zu Hause weggingen.

Die Kleidung seines Bruders. Der in einem kalten Zimmer zitterte.

Sechsundzwanzig

Er stand lange stumm am Fenster und sah den Schneeflocken zu, die zur Erde fielen.

Endlich wandte er sich wieder den Videoaufzeichnungen zu. Guðlaugurs Schwester erschien nicht mehr wieder auf dem Schirm, und auch sonst erkannte er niemanden außer die Hotelangestellten, die entweder zur Arbeit oder nach Hause eilten.

Das Zimmertelefon klingelte, Erlendur hob ab.

»Ich glaube, dass Wapshott die Wahrheit sagt«, erklärte Elinborg. »Sie können sich in diesen Sammlershops an ihn erinnern, und er war auch auf dem Trödelmarkt.«

»War er dort zu den Zeiten, die er angegeben hat?«

»Ich habe Fotos von ihm gezeigt und nach der Uhrzeit gefragt, und die konnten sich gut an ihn erinnern. Jedenfalls gut genug, dass wir ihn zu der Zeit, als Guðlaugur ermordet wurde, nicht unbedingt im Hotel platzieren können.«

»Er wirkt auch nicht wie ein Mörder auf mich.«

»Er ist ein Kinderschänder, aber womöglich kein Mörder. Was willst du mit ihm machen?«

»Ich denke, wir schicken ihn nach England zurück.«

Als sie das Gespräch beendet hatten, setzte Erlendur sich hin und grübelte über das, was sie bisher über den Mord an Guðlaugur in Erfahrung gebracht hatten, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Seine Gedanken schweiften zu Elinborg ab, zu ihrem Fall und dem Jungen, der von seinem Vater misshandelt worden war. Elinborg hasste diesen Mann.

»Du bist gewiss nicht der Einzige«, hatte Elinborg zu dem Vater gesagt. Da war keine Spur von Mitleid in ihrer Stimme. Der Ton war anklagend, als wollte sie ihn wissen lassen, dass er nur einer von vielen Sadisten war, die sich an ihren Kindern vergingen. Sie wollte versuchen, ihm klar zu machen, in was für einer Gesellschaft er sich befand.

Wie er sich statistisch gesehen ausnahm.

Sie hatte sich die Statistiken angeschaut. Über dreihundert Kinder waren in den Jahren 1980 bis 1999 in der Kinderstation des Krankenhauses untersucht worden, weil der Verdacht auf körperliche Misshandlungen vorlag, davon 232 Fälle wegen sexuellen Missbrauchs und 43 wegen Körperverletzungen und Gewaltanwendung. Arzneimittelvergiftungen, Elinborg wiederholte das Wort, Arzneimittelvergiftungen fielen ebenfalls darunter. Sie las das kalt und unbeteiligt vom Blatt ab: Kopfverletzungen, Knochenbrüche, Brandwunden, Schürfwunden, Bisse. Sie wiederholte die Liste und starrte dem Vater in die Augen.

»Es besteht der Verdacht, dass in diesen zwanzig Jahren zwei Kinder an den Folgen von körperlichen Misshandlungen gestorben sind«, sagte sie. »Vors Gericht sind die Fälle aber nicht gekommen.«

Sie sagte ihm, dass es den Experten zufolge eine hohe Dunkelziffer gab, mit anderen Worten, dass es wahrscheinlich sehr viel mehr solche Fälle gäbe.

»In England sterben jede Woche vier Kinder wegen Misshandlungen. Vier Kinder«, wiederholte sie. »Jede Woche.«

»Willst du wissen, was für Gründe aufgelistet werden?«, fuhr sie fort. Erlendur war bei diesem Verhör dabei, hielt sich aber im Hintergrund. Er hatte nicht vor einzugreifen, es sei denn, Elinborg brauchte ihn. Es kam ihm aber nicht so vor, als sei das der Fall.

Der Vater hatte den Blick gesenkt. Er schaute auf das Tonbandgerät. Sie hatten es nicht in Gang gesetzt. Das war kein eigentliches Verhör. Sein Rechtsanwalt war nicht hinzugezogen worden, aber der Vater hatte nicht protestiert und sich noch nicht beschwert.

»Ich werde jetzt einige nennen«, sagte Elinborg und begann, die Gründe aufzuzählen, warum Eltern ihren Kindern gegenüber Gewalt anwenden. »Stress«, sagte sie. »Finanzielle Schwierigkeiten, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Isolierung, Probleme mit dem Partner, Tobsuchtsanfälle.«

Elinborg schaute auf den Vater.

»Glaubst du, dass etwas von dem auf dich zutrifft? Tobsuchtsanfälle beispielsweise?«

Er antwortete ihr nicht.

»Einige haben keine Kontrolle über sich selbst. Es gibt Fälle, wo die Eltern wegen dem, was sie getan haben, so sehr von Schuldgefühlen verfolgt werden, dass sie letztendlich möchten, dass alles bekannt wird.«

Er schwieg.

»Sie gehen mit dem Kind zum Arzt, vielleicht zum Hausarzt, weil das Kind beispielsweise ständig unter Schnupfen leidet. Aber sie kommen eigentlich nicht wegen des Schnupfens, sondern sie wollen, dass der Arzt die Wunden sieht, die blauen Flecken. Sie wollen, dass es herauskommt. Weißt du, warum?«

Er saß weiterhin stumm da.

»Weil sie wollen, dass es ein Ende damit hat. Dass irgendjemand eingreift. In einen Prozess eingreift, den sie selber nicht im Griff haben. Sie sind unfähig dazu, wollen aber, dass der Arzt bemerkt, dass etwas aus der Bahn gelaufen ist.«

Sie blickte den Vater an. Erlendur verfolgte alles schweigend mit. Er bekam aber jetzt Bedenken, dass Elínborg zu weit gehen könnte. Sie schien äußerst bemüht, professionell vorzugehen und nicht zu zeigen, dass sie persönlich involviert war. Es schien ein hoffnungsloser Kampf zu sein, und sie war sich offenbar selbst darüber im Klaren. Sie war viel zu emotional.

»Ich habe mit deinem Hausarzt gesprochen«, sagte Elinborg. »Er sagt, dass er zweimal wegen der Verletzungen, die der Junge aufwies, einen Bericht an das Jugendamt weitergeleitet hat. In beiden Fällen wurde der Junge untersucht, aber es brachte kein eindeutiges Resultat. Die Sache wurde auch dadurch nicht einfacher, dass der Junge nichts gesagt hat und du nichts zugegeben hast. Es ist eine Sache, das Bedürfnis zu haben, seine Gewalttätigkeit zuzugeben, eine andere, zu seiner Aussage zu stehen, wenn es darauf ankommt. Ich habe die Berichte gelesen. In dem zweiten wurde dein Sohn gefragt, wie eure Beziehung ist, aber er schien die Frage nicht zu verstehen. Dann wurde er gefragt: Zu wem hast du das meiste Vertrauen? Und seine Antwort war: Zu meinem Vater. Ich habe das meiste Vertrauen zu meinem Vater.«

Elinborg schwieg eine Weile.

»Findest du das nicht furchtbar?«, fragte sie.

Sie schaute zu Erlendur herüber, dann wieder zu dem Vater.

»Findest du das nicht furchtbar?«


Erlendur überlegte, dass er irgendwann einmal genau wie der Junge geantwortet hätte. Er hätte seinen Vater genannt.

Als es Frühling wurde und der Schnee geschmolzen war, ging er in die Berge, um nach seinem Sohn zu suchen. Er versuchte zu berechnen, in welche Richtung er gegangen sein könnte, ausgehend von dem Punkt, wo Erlendur gefunden worden war. Er schien sich in gewisser Hinsicht wieder gefangen zu haben, wurde aber von Schuldgefühlen gequält.

Er wanderte kreuz und quer über das Hochplateau und bis ins Gebirge hinauf, viel weiter, als der kleine Junge es jemals geschafft haben könnte, alles ohne Erfolg. Er schlug sein Zelt in den Bergen auf, Erlendur begleitete ihn, auch seine Mutter nahm an der Suche teil. Manchmal kamen die Nachbarn, um mitzusuchen, aber der Junge wurde nie gefunden. Es bedeutete aber so viel, die sterblichen Überreste zu finden, denn erst dann konnte sein Tod akzeptiert werden, bis dahin war er nur verschollen, die Wunde blieb offen und aus ihr sickerte unermessliche Trauer.

Erlendur kämpfte auf seine eigene Weise damit. Es ging ihm schlecht, und zwar nicht nur, weil er seinen Bruder verloren hatte. Er war zwar froh darüber, dass er selber gerettet worden war, aber mit der Zeit wurde er von furchtbaren Schuldgefühlen heimgesucht, weil er und nicht sein kleiner Bruder gefunden worden war. Nicht genug damit, dass er seinen Bruder nicht in dem Schneesturm hatte festhalten können, sondern er quälte sich auch mit dem Gedanken, dass er es war, der hätte umkommen sollen.

Er war älter und trug die Verantwortung für seinen Bruder. So war es immer gewesen. Er hatte auf ihn aufgepasst, bei allen Spielen, wenn sie allein zu Hause waren, wenn sie mit kleinen Aufträgen in die Nachbarschaft geschickt wurden. Er hatte die Verantwortung gehabt und sich ihr gestellt. Doch dieses Mal hatte er versagt. Und wenn sein Bruder sterben musste, hatte er es nicht verdient, gerettet zu werden. Er wusste nicht, wozu er lebte. Und er dachte manchmal daran, dass es besser gewesen wäre, wenn er verschollen geblieben wäre.

Seinen Eltern erzählte er nie von diesen Gedanken, denn in seiner Verzweiflung war er sich manchmal sicher, dass auch sie so über ihn denken mussten. Sein Vater war versunken in seinen eigenen Schuldgefühlen und ließ sich durch nichts davon abbringen. Seine Mutter brach unter der Trauer fast zusammen. Jeder Einzelne von ihnen war davon überzeugt, die Schuld daran zu tragen, was passiert war. Zwischen ihnen herrschte ein seltsames Schweigen, das lauter hallte als Schreie. Erlendur kämpfte seinen Kampf allein und quälte sich mit seinen Gedanken über Verantwortung, Schuld und Glück.

Wenn er nicht gefunden worden wäre, hätten sie dann vielleicht seinen Bruder finden können?


Er stand am Fenster und hing den Gedanken nach, welche Auswirkungen der Verlust des Bruders auf sein Leben gehabt hatte, und ob sie vielleicht weitreichender gewesen waren, als ihm bewusst war. Er hatte oft diese Ereignisse wieder heraufbeschworen, seit Eva Lind angefangen hatte, ihn auszufragen. Er hatte keine simplen Antworten auf ihre Fragen, wusste aber im Innersten, wo die Antworten zu finden waren. Er hatte sich selber nur allzu oft genau diese Fragen gestellt, die Eva Lind nun auf dem Herzen lagen. Wenn sie darauf bestand, dass er sich rechtfertigte.


Erlendur hörte ein Klopfen an der Tür und wandte sich vom Fenster ab.

»Herein!«, rief er. »Es ist offen.«

Sigurður Óli öffnete die Tür und kam ins Zimmer. Er war den ganzen Tag in Hafnarfjörður gewesen und hatte mit Leuten geredet, die Guðlaugur kannten.

»Gibt’s was Neues bei dir?«, fragte Erlendur.

»Ich habe rausgekriegt, was für einen Spitznamen er hatte. Du erinnerst dich, er bekam einen neuen Spitznamen, nachdem die Katastrophe eingetreten war.«

»Ja. Von wem hast du das erfahren?«

Sigurður Óli setzte sich seufzend aufs Bett. Bergþóra hatte sich beklagt, dass er viel zu wenig zu Hause war, ausgerechnet jetzt, wo Weihnachten vor der Tür stand; sie musste ganz allein den ganzen Weihnachtskram erledigen. Er war auf dem Weg nach Hause, um mit ihr den Weihnachtsbaum zu kaufen, aber zuvor musste er sich mit Erlendur besprechen. Er hatte mit ihr auf dem Weg zum Hotel telefoniert und gesagt, dass er sich beeilen würde, aber das hatte sie viel zu oft zu hören bekommen, um dem noch Glauben zu schenken, und sie war ziemlich sauer, als sie auflegte.

»Willst du wirklich Weihnachten hier in diesem Zimmer verbringen?«, fragte Sigurður Óli.

»Nein«, sagte Erlendur. »Was hast du also in Hafnarfjörður herausgefunden?«

»Warum ist es hier drinnen so kalt?«

»Der Heizkörper. Der wird nicht warm. Willst du nicht zur Sache kommen?«

Sigurður Óli grinste.

»Kaufst du dir einen Weihnachtsbaum? Zu Weihnachten?«

»Wenn ich mir einen Weihnachtsbaum kaufen würde, würde ich das in der Tat zu Weihnachten tun.«

»Zuerst habe ich auf einigen Umwegen einen Mann ausfindig gemacht, der Guðlaugur früher gekannt hat«, sagte Sigurður Óli. Er wusste, dass er etwas in Erfahrung gebracht hatte, was Einfluss auf den Gang der Ermittlung haben könnte, und er genoss es in vollen Zügen, Erlendur etwas auf die Folter zu spannen.

Sigurður Óli und Elínborg hatten sich vorgenommen, mit allen zu reden, die zusammen mit Guðlaugur zur Schule gegangen waren und ihn von früher kannten. Die meisten erinnerten sich an ihn und an seine viel versprechende Karriere. Und an die Hänseleien, die mit seiner Berühmtheit verbunden gewesen waren. Einige erinnerten sich sehr genau an ihn und wussten, was passiert war, als er seinen Vater zum Krüppel gemacht hatte. Einer war enger mit ihm bekannt gewesen, als Sigurður Óli sich vorstellen konnte.

Eine Schulkameradin von Guðlaugur verwies ihn auf diesen Mann. Sie wohnte in einem Einfamilienhaus in einem der neuen Stadtteile von Hafnarfjörður. Er hatte sie frühmorgens angerufen, und sie erwartete ihn nun, als er kurze Zeit später eintraf. Sie begrüßten sich mit Händedruck, und sie führte ihn ins Wohnzimmer. Sie war mit einem Piloten verheiratet und arbeitete halbtags in einem Buchladen. Ihre Kinder waren erwachsen.

In allen Einzelheiten berichtete sie ihm von ihrer Bekanntschaft mit Guðlaugur, die aber keineswegs eng gewesen war; von der Schwester wusste sie kaum mehr, als dass sie älter als Guðlaugur war. Sie konnte sich dunkel erinnern, dass er seine Stimme genau zu dem Zeitpunkt verloren hatte, als alles genau nach Wunsch zu laufen schien, wusste aber nicht, was später aus ihm geworden war, nachdem sie die Schule verlassen hatten. Es hatte sie ziemlich geschockt, als sie der Zeitung entnahm, dass er der Mann war, der in einem Kellerloch in einem Hotel ermordet aufgefunden worden war.

Sigurður Óli hörte zu, war aber mit seinen Gedanken ganz woanders. Das Meiste hatte er bereits von anderen Schulkameraden von Guðlaugur gehört. Als sie geendet hatte, fragte er, ob sie von einem Spitznamen wüsste, mit dem Guðlaugur als Kind gehänselt wurde. Sie konnte sich nicht daran erinnern, fügte aber hinzu, dass sie vor langer Zeit etwas über Guðlaugur gehört hätte, was für die Polizei interessant sein könnte, falls sie es nicht bereits wüssten.

»Und was ist das?«, fragte Sigurður Óli, der bereits aufgestanden war, um zu gehen.

Sie erzählte es ihm und war sehr erfreut, als sie merkte, dass es ihr gelungen war, das Interesse des Kriminalbeamten zu wecken.

»Lebt dieser Mann noch?«, fragte Sigurður Óli die Frau. Sie nannte den Namen, stand auf und holte das Telefonbuch.

Sigurður Óli fand den Namen und die Adresse. Er wohnte in Reykjavik und hieß Baldur.

»Ist das ganz bestimmt dieser Mann?«, fragte Sigurður Óli.

»Soweit ich weiß, ja«, sagte die Frau und lächelte zufrieden, weil sie der Polizei einen Dienst erwiesen hatte. »Das war damals in aller Munde«, fügte sie hinzu.

Sigurður beschloss, sofort zu der Adresse zu fahren, in der Hoffnung, dass der Mann zu Hause war. Es war später Nachmittag. Der Verkehr war zäh, und auf dem Weg nach Reykjavik telefonierte Sigurður Óli mit Bergþóra, die …

»Würdest du vielleicht endlich zur Sache kommen«, unterbrach Erlendur ungeduldig Sigurður Ólis Ausführungen.

»Nein, denn das betrifft dich«, sagte Sigurður Óli und setzte ein süffisantes Lächeln auf. »Bergþóra wollte wissen, ob ich dich für Heiligabend zu uns eingeladen hätte. Ich habe ihr gesagt, dass ich es getan habe, aber von dir immer noch keine Antwort hätte.«

»Ich werde Heiligabend mit Eva Lind bei mir zu Hause verbringen«, sagte Erlendur. »Das ist die Antwort, und würdest du jetzt endlich zur Sache kommen?«

»Okay«, sagte Sigurður Óli.

»Und hör auf, okay zu sagen.«

»Okay.«


Baldur wohnte in einem gepflegten Holzhaus im Þingholt-Viertel und war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen; er war Architekt. Sigurður Óli klingelte bei ihm und stellte sich als Mitarbeiter der Kriminalpolizei vor, der mit dem Mordfall Guðlaugur Egilsson befasst war. Der Mann war keineswegs erstaunt. Er taxierte Sigurður von oben bis unten, lächelte dann und bat ihn hinein.

»Ich habe ehrlich gesagt mit einem Besuch gerechnet«, sagte er, »ich meine, von der Polizei. Ich hatte überlegt, ob ich Verbindung mit euch aufnehmen sollte, habe es dann aber immer wieder vor mir hergeschoben. Es ist kein Vergnügen, mit der Polizei zu tun zu haben.« Er lächelte wieder und nahm Sigurður Óli den Mantel ab.

In der Wohnung war alles sehr ordentlich und aufgeräumt, wo man auch hinschaute, schien alles an seinem Platz zu sein. Im Wohnzimmer brannten Kerzen, und der Weihnachtsbaum war bereits geschmückt. Der Mann bot einen Likör an, den Sigurður Óli dankend ablehnte. Baldur war mittelgroß, schlank und machte einen entspannten Eindruck. Das Haar war schon etwas lichter geworden, und der roten Farbe war eindeutig nachgeholfen worden. Aus der Stereoanlage im Wohnzimmer glaubte Sigurður Óli die Stimme von Frank Sinatra zu hören.

»Weshalb hast du mich oder einen von uns erwartet?«, fragte Sigurður Óli und setzte sich auf ein großes rotes Sofa.

»Wegen Gulli«, sagte der Mann und setzte sich ihm gegenüber. »Ich wusste, dass ihr das ausgraben würdet.«

»Dass wir was ausgraben würden?«, fragte Sigurður Óli.

»Dass Gulli und ich früher zusammen waren«, sagte der Mann.

»Was meinst du damit, dass er mit Guðlaugur früher zusammen war?«, warf Erlendur dazwischen.

»Er hat es so ausgedrückt«, sagte Sigurður Óli.

»Dass er mit Guðlaugur zusammen war?«

»Ja.«

»Was bedeutet das?«

»Dass sie zusammen waren.«

»Meinst du, dass Guðlaugur …« Eine ganze Reihe von Aussagen und Bildern im Zusammenhang mit dem Mordfall gingen Erlendur durch den Kopf, er sah vor allem die verkniffenen Mienen von Guðlaugurs Schwester und dem gelähmten Vater vor sich.

»Das sagt auf jeden Fall dieser Baldur«, wiederholte Sigurður Óli. »Aber Guðlaugur wollte nicht, dass es bekannt würde.«

»Dass seine Beziehung zu Baldur bekannt wurde?«

»Er wollte geheim halten, dass er schwul war.«

Siebenundzwanzig

Der Mann im Thingholt-Viertel informierte Sigurður Óli darüber, dass die Beziehung zwischen ihm und Guðlaugur angefangen hatte, als sie etwa fünfundzwanzig waren.

Das war die Disko-Zeit gewesen, und Baldur hatte sich eine Kellerwohnung im Vogar-Viertel gemietet. Weder er noch Baldur hatten es gewagt, sich zu outen. »Damals war die Einstellung zur Homosexualität eine andere als heute«, sagte er und lächelte. »Aber da war schon einiges im Umbruch.«

»Wir haben auch nicht richtig zusammengelebt«, fügte Baldur hinzu. »Damals lebten Männer nicht zusammen, was ja heute möglich ist, ohne dass sich jemand darüber aufregt. In den Jahren hatten Schwule keine Chance. Die meisten gingen ins Ausland, wie du weißt. Er kam mich oft besuchen, drücken wir das mal so aus. Hat auch ab und zu mal bei mir übernachtet. Er selber hatte ein Zimmer im Westend gemietet, und ich bin ein paar Mal da gewesen, aber für meinen Geschmack war er zu schlampig.

Deswegen habe ich ihn zuletzt auch nicht mehr in seinem Zimmer besucht. Meistens waren wir hier bei mir zusammen.«

»Wie habt ihr euch kennen gelernt?«, fragte Sigurður Óli.

»Es gab damals Orte, wo Schwule sich getroffen haben. Einer davon war nicht weit vom Zentrum, gar nicht weit von hier. Das war kein Lokal, sondern ein Treffpunkt in einem Privathaus. In den Discos musste man immer auf alles gefasst sein, und man wurde sogar manchmal rausgesetzt, wenn man mit anderen Männern tanzte. Dieses Haus war so ein Mischmasch aus allem, Café, Pension, Nachtklub, Beratungsstelle und Treffpunkt. Er kam eines Abends mit einem Bekannten dorthin. Da habe ich ihn zuerst gesehen. Entschuldige bitte, wie konnte ich nur so unhöflich sein und dir keinen Kaffee anbieten! Möchtest du vielleicht einen?«

Sigurður Óli schaute auf die Uhr.

»Du bist wahrscheinlich in Eile«, sagte der Mann und strich sich sorgsam das dünne, gefärbte Haar zurecht.

»Nein, das ist es nicht, ich würde einen Tee nehmen, wenn du einen hast«, sagte Sigurður Óli und dachte an Bergþóra.

Sie konnte ganz schön grantig werden, wenn ihre Zeitplanung durcheinander geriet und ihm stundenlang die Hölle heiß machen, wenn er spät nach Hause kam.

Der Mann ging in die Küche und machte einen Tee.

»Er war fürchterlich schüchtern und verklemmt«, sagte Baldur aus der Küche und sprach etwas lauter, damit Sigurður Óli ihn verstehen konnte. »Ich hatte manchmal das Gefühl, dass er seine Homosexualität hasste, so als hätte er sie nie akzeptiert. Ich glaube, er hat die Beziehung zu mir unter anderem dazu benutzt, um sich vorzutasten.

Er war immer noch auf der Suche, obwohl er schon so alt war. Aber das ist ja auch nichts Ungewöhnliches. Die Leute outen sich heutzutage mit vierzig, sind vielleicht bis dahin die ganze Zeit verheiratet gewesen und haben vier Kinder.«

»Ja, das wird unterschiedlich gehandhabt«, sagte Sigurður Óli, der keine Ahnung hatte, worüber er redete.

»Oh ja, mein Lieber. Trinkst du ihn lieber stark oder schwach?«

»Seid ihr lange zusammen gewesen?«, fragte Sigurður Óli und fügte hinzu, dass er den Tee gerne stark hätte.

»Etwa drei Jahre, aber zuletzt haben wir uns nur sehr sporadisch gesehen.«

»Und seitdem hast du keine Verbindung zu ihm gehabt?«

»Nein. Ich wusste von ihm, so gesehen«, sagte der Mann und kam wieder ins Wohnzimmer. »Die Homosexuellenszene hierzulande ist nicht so groß.«

»Inwiefern war er verklemmt?«, fragte Sigurður Óli, während der Mann Tassen auf den Tisch stellte. Er hatte auch eine Schale mit Plätzchen mitgebracht, die Sigurður Óli gut kannte, denn Bergþóra backte jedes Jahr dieselbe Sorte zu Weihnachten. Er versuchte sich zu erinnern, wie sie hießen, aber es fiel ihm nicht ein.

»Er war sehr verschlossen und hat sich nur selten geöffnet, höchstens, wenn wir einen zusammen getrunken haben. Das hatte etwas mit seinem Vater zu tun. Er hatte keinerlei Verbindung zu ihm, vermisste ihn aber sehr und genauso seine ältere Schwester, die sich gegen ihn gestellt hatte.

Seine Mutter war schon viele Jahre tot, als ich ihn kennen lernte, aber er sprach fast immer nur von ihr. Er konnte endlos über seine Mutter erzählen, das war äußerst ermüdend, kann ich dir sagen.«

»Inwiefern hat sie sich gegen ihn gestellt? Die Schwester?«

»Das ist sehr lange her, und er ist nie genau darauf eingegangen. Ich weiß nur, dass er gegen seine Veranlagung angekämpft hat. Weißt du, was ich meine? Als ob er etwas anderes hätte sein sollen.«

Sigurður Óli schüttelte den Kopf.

»Er fand es irgendwie schmutzig und unnatürlich, schwul zu sein.«

»Und hat dagegen angekämpft?«

»Ja und nein. Er war in dieser Hinsicht sehr zwiespältig. Ich glaube, er wusste einfach nicht, was er wirklich wollte. Er hatte wenig Selbstvertrauen. Manchmal glaube ich, dass er sich selbst gehasst hat.«

»Kanntest du seine Vergangenheit als Kinderstar?«

»Ja«, sagte der Mann und stand auf, ging in die Küche und kam mit der dampfenden Teekanne zurück und goss die Tassen ein. Er brachte die Kanne wieder zurück in die Küche, und sie tranken einen Schluck Tee.


»Meinst du, dass du das alles etwas schneller aus dir rauziehen könntest?«, sagte Erlendur zu Sigurður Óli. Er saß an seinem Schreibtisch und konnte seine Ungeduld kaum verbergen.

»Ich versuche nur, das so präzise wie möglich zu referieren«, sagte Sigurður Óli und schaute wieder auf seine Uhr.

Jetzt war er schon eine Dreiviertelstunde zu spät dran.

»Also schön, weiter im Text …«


»Hat er jemals darüber gesprochen?«, fragte Sigurður Óli, der die Tasse abstellte und sich ein Plätzchen nahm. »Über seine Vergangenheit als Kinderstar?«

»Er sagte, dass er die Stimme verloren hatte«, sagte Baldur.

»War er verbittert deswegen?«

»Und wie. Es ist wohl auch zu einem ganz fürchterlichen Zeitpunkt geschehen, aber er wollte nicht darüber reden. Er hat gesagt, dass er in der Schule gehänselt worden sei, weil er so berühmt war, und er hat darunter gelitten. Er hat aber nicht das Wort berühmt verwendet. Aus seiner Sicht war er nicht berühmt, doch sein Vater wollte, dass er berühmt würde, und da hat wohl auch nicht viel gefehlt. Aber er fühlte sich unwohl. Und dann machte sich irgendwann noch dieses Interesse für das gleiche Geschlecht bei ihm bemerkbar, die Homosexualität in ihm brach durch. Aber er sprach nicht gern darüber. Wollte so wenig wie möglich über seine Familie reden. Nimm dir doch noch ein Plätzchen.«

»Nein, danke«, sagte Sigurður Óli. »Kannst du dir vorstellen, wer ihn hätte umbringen wollen? Weißt du von jemandem, der ihm übel wollte?«

»Du lieber Himmel, nein! Er war ein verklemmter, schüchterner Mensch und hat nie auch nur einer Fliege was zuleide getan. Ich weiß nicht, wer das getan haben könnte. Der arme Kerl, was für ein Ende. Seid ihr in der Ermittlung schon weitergekommen?«

»Nein«, sagte Sigurður Óli. »Hast du seine Platten gehört, oder besitzt du sie vielleicht?«

»Aber gewiss«, sagte der Mann. »Er war wirklich großartig. Er singt phantastisch. Ich glaube, dass ich noch nie eine so schöne Stimme bei einem Kind gehört habe.«

»War er selber stolz auf seine Stimme, als er älter wurde? Als du ihn gekannt hast?«

»Er hat sich nie selbst gehört. Wollte nicht, dass man seine Platten auflegte, egal, was ich versucht habe.«

»Warum nicht?«

»Es war völlig unmöglich, ihn dazu zu bewegen. Er hat keine Erklärung dafür abgegeben, er hat es einfach kategorisch abgelehnt, seine eigenen Platten anzuhören.«

Baldur stand auf, ging zu einem Schrank im Wohnzimmer, nahm die beiden Schallplatten mit Guðlaugur heraus und legte sie vor Sigurður Óli auf den Tisch.

»Er hat sie mir geschenkt, nachdem ich ihm beim Umzug geholfen habe.«

»Umzug?«

»Das Zimmer im Westend wurde ihm gekündigt, und er hatte mich gebeten, ihm beim Umzug zu helfen. Er hatte irgendeine andere Bleibe gefunden, wo er seinen ganzen Kram unter­bringen konnte. Er besaß eigentlich nichts außer den Platten.«

»Besaß er viele Platten?«

»Ja, jede Menge.«

»Gab es da irgendwas Spezielles, was er sich angehört hat?«

»Nein«, sagte Baldur. »Verstehst du, das waren alles die gleichen Platten. Diese hier«, sagte er und deutete auf die zwei Platten mit Guðlaugur. »Er hatte jede Menge davon. Er sagte, er hätte von beiden Platten die gesamten Restbestände der Auflage bekommen.«

»Besaß er ganze Kartons voll mit diesen Platten?«, fragte Sigurður Óli und versuchte erst gar nicht, sein Interesse zu verhehlen.

»Ja, mindestens zwei.«

»Weißt du, wo die sein könnten?«

»Ich? Nein, keine Ahnung. Sind diese Platten heutzutage interessant?«

»Ich kenne einen Engländer, der unter Umständen bereit wäre, dafür zu töten«, sagte Sigurður Óli, und Baldur sah ihn verwundert an.

»Was meinst du damit?«

»Nichts«, sagte Sigurður Óli und schaute auf seine Uhr.

»Jetzt muss ich aber sehen, dass ich weiterkomme«, erklärte er. »Ich werde mich eventuell noch einmal mit dir in Verbindung setzen, falls mir noch ein paar Details fehlen. Es wäre auch nicht schlecht, wenn du mich anrufen würdest, falls dir noch etwas einfällt, egal wie unbedeutend oder belanglos es dir erscheinen mag.«

»Damals hatte man ehrlich gesagt keine große Auswahl«, sagte Baldur. »Das ist was ganz anderes heutzutage, wo jeder Zweite schwul ist oder es gern sein möchte.«

Er lächelte Sigurður Óli an, der sich am Tee verschluckte.

»Entschuldigung«, sagte Sigurður Óli.

»Er ist vielleicht etwas stark.«

Sigurður Óli stand auf, und Baldur tat es ihm nach, um ihm zur Tür zu folgen.

»Wir wissen, dass Guðlaugur in der Schule gehänselt worden ist«, sagte Sigurður Óli, als er sich verabschiedete, »und er kriegte einen Spitznamen. Kannst du dich erinnern, ob er jemals mit dir darüber gesprochen hat?«

»Keine Frage, dass er damals gemobbt wurde, weil er im Chor sang, eine schöne Stimme hatte und nie Fußball spielte — und in vieler Hinsicht wie ein Mädchen war. Ich hatte das Gefühl, dass er sehr unsicher im Umgang mit anderen Menschen war. Wenn er mit mir darüber redete, klang er so, als hätte er Verständnis dafür gehabt, warum er von anderen gehänselt wurde. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass er einen speziellen Spitznamen erwähnt hätte …«

Baldur zögerte.

»Ja«, sagte Sigurður Óli.

»Wenn wir zusammen waren, du weißt schon …«

Sigurður Óli schüttelte verständnislos den Kopf.

»Im Bett …«

»Ja?«

»Dann wollte er manchmal, dass ich ihn ›meine kleine Prinzessin‹ nannte«, sagte Baldur, und ein Lächeln spielte um seine Lippen.


Erlendur starrte Sigurður Óli an.

»Kleine Prinzessin?«

»Das hat er gesagt.« Sigurður Óli stand vom Bett auf. »Und jetzt muss ich weiter. Bergþóra ist bestimmt schon auf hundert­achtzig. — Du bist dann also Weihnachten bei dir zu Hause?«

»Und was ist mit den Platten in den Kartons?«, fragte Erlendur. »Wo können die hingekommen sein?«

»Dieser Baldur hat gesagt, er hätte keine Ahnung.«

»Die kleine Prinzessin? Der Film mit Shirley Temple? Wie passt das zusammen? Hat dieser Kerl das irgendwie erklärt?«

»Nein, er wusste auch nicht, was das zu bedeuten hatte.«

»Es muss ja nichts Besonderes bedeuten«, sagte Erlendur wie zu sich selbst. »Irgend so ein Schwulenjargon, den man nicht kennt, vielleicht nicht komischer als manches andere. Also er hat sich selbst gehasst?«

»Wenig Selbstvertrauen, so hat sein Freund es formuliert. Zwiespältigkeit.«

»Wegen seiner schwulen Veranlagung oder wegen was?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du hast nicht danach gefragt?«

»Wir können jederzeit wieder mit ihm sprechen, aber er schien nicht sonderlich viel über Guðlaugur zu wissen.«

»Und wir auch nicht«, sagte Erlendur dumpf. »Falls er vor zwanzig, dreißig Jahren nicht wollte, dass seine homosexuelle Veranlagung bekannt wurde, wird er wohl dieses Versteckspiel auch später beibehalten haben, oder?«

»Das ist die Frage.«

»Bis jetzt bin ich niemandem begegnet, der erwähnt hat, dass er schwul wäre.«

»Tja, also, dann mach’s gut«, sagte Sigurður Óli und stand auf. »Oder gibt’s sonst noch was für heute?«

»Nein«, sagte Erlendur. »Es reicht fürs Erste. Danke für die Einladung, grüß Bergþóra von mir und versuch mal, nett zu ihr zu sein.«

»Das bin ich immer«, sagte Sigurður Óli und machte, dass er wegkam. Erlendur schaute auf seine Uhr und sah, dass es Zeit für die Verabredung mit Valgerður war. Er nahm die letzte Videoaufzeichnung der Bank aus dem Apparat und legte sie oben auf den Stapel. Gleichzeitig begann das Handy zu klingeln.

Es war Elinborg. Sie hatte mit der Staatsanwaltschaft gesprochen wegen des Vaters, der seinen Sohn misshandelte.

»Was glauben die, was er bekommt?«, fragte Erlendur.

»Sie glauben, dass er ungeschoren davonkommen kann«, sagte Elinborg. »Er wird nicht verurteilt, wenn er bei seiner Aussage bleibt. Wenn er einfach alles abstreitet. Dann braucht er auch nicht eine Sekunde in den Bau.«

»Aber die Beweismittel? Die Spuren auf der Treppe? Die Drambuie-Flasche? Das deutet doch alles darauf …«

»Ich weiß nicht, warum man sich überhaupt Mühe mit so etwas macht. Gestern erging ein ebenso tolles Urteil in einem anderen Fall. Ein Mann war mit zahlreichen Messerstichen angegriffen worden. Der Täter bekam gerade mal acht Monate, davon vier auf Bewährung, was bedeutet, dass er nur noch zwei Monate abzusitzen hat. Das kapiert man doch einfach nicht.«

»Und der Junge muss zurück zu seinem Vater?«

»Ganz bestimmt. Das einzig Positive, wenn man das positiv nennen will, ist, dass der Junge tatsächlich seinen Vater zu vermissen scheint. Das ist das, was ich nicht verstehe.

Wie kann er so an seinem Vater hängen, wenn der Kerl immer wieder über ihn herfällt? Ich begreife das Ganze einfach nicht. Da muss es irgendwo ein Missing Link geben, etwas, das wir übersehen haben. So macht es einfach keinen Sinn.«

»Ich spreche später mit dir«, sagte Erlendur und schaute wieder auf die Uhr. Er war schon zu spät dran für Valgerður. »Kannst du noch eine Sache für mich erledigen? Stefania hat behauptet, sie hätte sich neulich hier im Hotel mit einer Freundin getroffen. Kannst du mit dieser Frau sprechen, damit sie das bestätigt?«

Erlendur gab ihr den Namen der Frau.

»Willst du nicht endlich machen, dass du aus diesem Hotel rauskommst?«, fragte Elinborg.

»Hör auf, mir damit in den Ohren zu liegen«, sagte Erlendur und beendete das Gespräch.

Achtundzwanzig

Als Erlendur ins Foyer kam, fiel sein Blick auf Oberkellner Rósant. Er zögerte, weil er sich nicht sicher war, ob er ihn jetzt ansprechen sollte. Valgerður war bestimmt schon im Hotel. Erlendur schaute auf die Uhr, zog eine Grimasse und begab sich zu dem Oberkellner. Es würde nicht lange dauern.

»Erzähl mir doch mal was über die Nutten«, sprach er, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, Rósant an, der gerade servil und zuvorkommend mit zwei Hotelgästen redete.

Es waren offensichtlich Isländer, denn ihre entgeisterten Blicke wanderten in gespannter Erwartung zwischen ihm und Rósant hin und her.

Rósant lächelte, und der kleine Oberlippenbart hob sich.

Er entschuldigte sich höflich gegenüber den Gästen, verbeugte sich und trat mit Erlendur zur Seite.

»In einem Hotel geht es um Menschen, und wir sorgen dafür, dass sie sich wohl fühlen, war das nicht der Quatsch, den du von dir gegeben hast?«

»Das ist kein Gesülze. Das wird einem in der Hotelfachschule beigebracht.«

»Bringen sie einem auch bei, wie man als Oberkellner nebenbei als Zuhälter arbeiten kann?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Nein, aber ich sag’s dir gerne. Du hast dir hier einen netten kleinen Puff im Hotel eingerichtet.«

Rósant lächelte.

»Puff?«, fragte er.

»Hat das vielleicht etwas mit dem Mord an Guðlaugur zu tun, dein Nuttenbetrieb?«

Rósant schüttelte den Kopf.

»Wer war bei Guðlaugur, als er ermordet wurde?«

Sie schauten einander in die Augen, bis Rósant den Blick senkte und auf den Boden starrte.

»Niemand, den ich kenne«, sagte er schließlich.

»Auch nicht du selber?«

»Irgendeiner von deinen Leuten hat meine Aussage protokolliert. Ich habe ein Alibi.«

»Hat Guðlaugur sich mit den Nutten abgegeben?«

»Nein. Und ich habe nicht das Geringste mit irgendwelchen Nutten zu tun. Ich weiß nicht, woher du solche Informationen hast, erst Diebstahl in der Küche und jetzt Nutten. Das ist totaler Schwachsinn. Ich bin kein Zuhälter.«

»Aber …«

»Wir halten ganz bestimmte Informationen für unsere Gäste bereit. Für Ausländer auf Konferenzen, Isländer ebenfalls. Sie fragen nach Begleitung, und da versuchen wir zu helfen. Wenn sie in der Bar schöne Frauen treffen und sich wohl fühlen …«

»Dann sind alle zufrieden. Sind wohl dankbare Kunden?«

»Sehr.«

»Also du bist für die Versorgung mit Nutten zuständig?«

»Ich …«

»Toll, wie romantisch du das darstellen kannst. Der Hotelmanager steckt mit dir unter einer Decke. Was ist mit dem Empfangschef?«

Rósant zögerte.

»Er hat nicht die gleiche Auffassung wie wir, wenn es darum geht, den unterschiedlichen Bedürfnissen unserer Gäste nachzukommen.«

»Den unterschiedlichen Bedürfnissen unserer Gäste nachzukommen«, wiederholte Erlendur. »Wo lernt man es, sich so auszudrücken?«

»Auf der Hotelfachschule.«

Erlendur schaute auf seine Uhr.

»Und wie passen deine Auffassung und die des Empfangschefs zusammen?«

»Manchmal gibt es Konflikte.«

Erlendur erinnerte sich, dass der Empfangschef abgestritten hatte, dass es Nutten im Hotel gäbe, und dachte bei sich, dass er wahrscheinlich als Einziger der leitenden Angestellten auf den Ruf des Hotels bedacht war.

»Aber du bist dabei, sie zu reduzieren, oder?«

»Ich verstehe nicht, wovon du redest.«

»Kommt er euch häufig in die Quere?«

Rósant antwortete nicht.

»Du hast ihm neulich die Nutte auf den Hals gehetzt, nicht wahr? Eine kleine Warnung, nicht die Klappe aufzureißen. Du bist an dem Abend auch ausgegangen, hast ihn in diesem Lokal gesehen und eine von deinen Nutten auf ihn angesetzt.«

Rósant zögerte.

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, wiederholte er.

»Nein, selbstverständlich nicht.«

»Er ist so fürchterlich bieder«, sagte Rósant, und das Bärtchen lüftete sich zu einem fast unsichtbaren ironischen Grinsen. »Er will einfach nicht kapieren, dass es besser ist, wenn wir bei so etwas selber die Regie führen.«

Valgerður wartete in der Bar auf Erlendur. Sie war wie bei ihrem letzten Treffen dezent geschminkt, was ihre Gesichtszüge vorteilhaft unterstrich. Unter der schwarzen Lederjacke trug sie eine weiße Seidenbluse. Sie gaben sich die Hand und lächelten zögernd. Er überlegte, ob dieses Treffen ein neuer Beginn für beide sein könnte. Es war ihm nicht klar, was sie von ihm wollte, ihm kam es so vor, als hätte sie das letzte Wort im Hinblick auf ihre Bekanntschaft gesagt, als sie sich in der Lobby begegnet waren. Sie lächelte und fragte, ob sie ihm einen Drink anbieten könne, oder ob er womöglich im Dienst sei?

»In Spielfilmen dürfen Bullen nie trinken, wenn sie im Dienst sind«, sagte sie.

»Ich schau mir keine Spielfilme an«, sagte Erlendur lächelnd.

»Nein«, sagte sie, »du ziehst deine Katastrophenlektüre vor.«

Sie nahmen in einer Ecke der Bar Platz, saßen schweigend da und beobachteten das lebhafte Hin und Her. Je näher Weihnachten rückte, desto lauter wurden die Gäste, fand Erlendur. Unablässig dudelten Weihnachtslieder aus der Lautsprecheranlage, die Ausländer schleppten sich mit extravaganten Paketen ab und tranken Bier, ohne groß darüber nachzudenken, dass es nirgendwo in Europa so teuer war wie in Island.

»Ihr habt es also geschafft, eine Speichelprobe von Wapshott zu kriegen«, bemerkte Erlendur.

»Was ist das eigentlich für ein Typ? Die mussten ihn überwältigen und zu Fall bringen und ihm den Mund gewaltsam öffnen. Es war richtig peinlich, wie er sich aufgeführt hat, er wehrte sich mit Händen und Füßen.«

»Ich weiß nicht genau, woran ich mit ihm bin«, erwiderte Erlendur. »Ich weiß nicht genau, was er eigentlich hier in Island will, und ich bin mir nicht sicher, was er zu verbergen hat.«

Er wollte nicht näher auf Wapshott und auf die Informationen aus England eingehen, nicht auf die Kinderpornos und die Verurteilungen wegen Sexualvergehen. Er fand es unpassend, mit Valgerður darüber zu reden, und außerdem hatte Wapshott trotz allem ein Recht darauf, dass sein Privatleben nicht von ihm breitgetreten wurde.

»Wahrscheinlich bist du eher an so etwas gewohnt als ich«, sagte Valgerður.

»Ich habe noch nie jemandem eine Speichelprobe entnehmen müssen, der zu Fall gebracht werden musste und brüllend und tobend auf dem Boden lag.«

Valgerður lachte.

»Das habe ich nicht gemeint«, sagte sie. »Ich habe nie mit jemand anderem so zu zweit dagesessen als mit meinem Ehemann — ich glaube, dreißig Jahre lang. Du musst mir verzeihen, wenn ich etwas … linkisch wirke.«

»Dann sind wir beide gleich unbeholfen«, sagte Erlendur.

»Ich habe mit so etwas auch kaum Erfahrung. Es ist bald fünfundzwanzig Jahre her, seit ich mich von meiner Frau scheiden ließ. Die Frauen in meinem Leben kann man so ungefähr an drei Fingern abzählen.«

»Ich glaube, ich werde mich von ihm trennen«, sagte Valgerður dumpf. Erlendur schaute sie verblüfft an.

»Was meinst du?«, fragte er. »Willst du dich von deinem Mann scheiden lassen?«

»Ich glaube, zwischen uns ist alles zu Ende, und ich wollte dich um Verzeihung bitten.«

»Mich?«

»Ja, dich«, sagte Valgerður. »Ich benehme mich wie ein Idiot«, seufzte sie dann. »Ich wollte dich benutzen, um mich zu rächen.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Erlendur.

»Ich eigentlich auch nicht. Es war einfach alles so scheußlich, seitdem ich es herausgefunden habe.«

»Was herausgefunden?«

»Dass er mich betrügt.«

Sie sagte das so, als sei es eine Tatsache wie viele andere, mit denen man leben musste. Erlendur konnte ihr nicht anmerken, wie ihr zumute war, er spürte nur die Leere in ihren Worten.

»Ich weiß nicht, wann es begonnen hat, oder warum«, sagte sie.

Sie verstummte und Erlendur, der nicht wusste, was er sagen sollte, schwieg ebenfalls.

»Bist du fremdgegangen?«, fragte sie plötzlich.

»Nein«, sagte Erlendur. »Das hatte nichts mit so etwas zu tun. Wir waren einfach jung, und es gab keinen gemeinsamen Weg für uns.«

»Ein gemeinsamer Weg, was ist das?«

»Und du willst dich von ihm scheiden lassen?«

»Ich versuche, irgendwelche klare Linien zu finden«, sagte sie. »Es hängt natürlich auch davon ab, was er macht.«

»Was bedeutet in diesem Fall fremdgehen?«

»Gibt’s da irgendwelche Optionen?«

»Hat er das seit Jahren gemacht, oder hat es gerade erst angefangen? Hat er vielleicht mehr als eine gehabt?«

»Er sagt, dass er seit zwei Jahren mit derselben Frau zusammen ist. Ich habe es nicht über mich gebracht, ihn nach der Vergangenheit zu fragen, ob es da auch schon andere gegeben hat, von denen ich nie gewusst habe. Im Grunde genommen weiß man nichts. Man vertraut seinen Nächsten, besonders seinem Ehemann, aber dann fängt er eines Tages an, von der Ehe zu reden, und eröffnet einem, dass er diese Frau kennen gelernt und seit zwei Jahren ein Verhältnis mit ihr hat. Und man kommt sich vor wie ein Vollidiot. Begreift überhaupt nicht, worüber er redet. Dann stellt sich heraus, dass sie sich in Hotels wie diesem getroffen haben …«

Valgerður verstummte.

»Diese Frau, ist sie verheiratet?«, fragte Erlendur.

»Geschieden. Sie ist fünf Jahre jünger als er.«

»Hat er irgendeine Erklärung für das Fremdgehen abgegeben? Weswegen er …«

»Meinst du damit, dass es meine Schuld gewesen ist?«, unterbrach Valgerður ihn.

»Nein, das habe ich ni…«

»Vielleicht ist es meine Schuld«, sagte sie. »Ich weiß es nicht. Es hat keinerlei Erklärungen gegeben, nur Wut und Verständnislosigkeit.«

»Und eure beiden Söhne?«

»Denen haben wir noch nichts gesagt. Sie sind beide schon von zu Hause ausgezogen. Vielleicht ist das die Erklärung.

Zu wenig Zeit für uns selbst, während sie noch daheim waren, zu viel Zeit, als sie aus dem Haus waren. Vielleicht haben wir uns beide nicht mehr gekannt. Zwei Fremde, und das nach all den Jahren.«

Sie schwiegen.

»Du brauchst mich nicht um Entschuldigung zu bitten«, sagte Erlendur schließlich und schaute sie an. »Ganz im Gegenteil. Ich sollte dich um Entschuldigung bitten, dir gegenüber nicht aufrichtig gewesen zu sein. Dich angelogen zu haben.«

»Mich angelogen?«

»Du hast gefragt, warum ich mich so für diese tödlichen Unfälle in den Bergen interessiere, für Gefahren, Bergnot und Strapazen in Eis und Schnee, und ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt. Das ist, weil ich fast noch nie darüber gesprochen und vermutlich Probleme damit habe. Ich finde, dass das niemanden etwas angeht. Auch meine Kinder nicht. Erst als meine Tochter in Lebensgefahr schwebte und ich Angst hatte, dass sie stirbt, erst dann habe ich ein Bedürfnis verspürt, darüber zu sprechen. Um ihr das zu sagen.«

»Um ihr was zu sagen?«, fragte Valgerður behutsam.

»Mein Bruder ist auf diese Weise ums Leben gekommen«, sagte Erlendur. »Als er acht Jahre alt war. Er wurde nie gefunden.«

Er hatte laut zu einer völlig unbekannten Person an einer Hotelbar das gesagt, was, solange er zurückdenken konnte, wie ein Albtraum auf ihm gelastet hatte. Vielleicht hatte er sich die ganze Zeit danach gesehnt. Vielleicht war es jetzt so weit, dass er nicht mehr allein in diesem Schneesturm stehen wollte.

»In einem dieser Bücher über solche Unglücksfälle ist ein Bericht, den ich immer wieder lese«, sagte er. »Ein Bericht darüber, wie mein Bruder umgekommen ist, über die Suchaktion und die schwere Trauer, die sich über unser Zuhause legte. Eine erstaunlich genaue Beschreibung, die von einem der einflussreichen Männer in der Gemeinde stammt und von einem Freund meines Vaters aufgezeichnet wurde. Unsere Namen werden erwähnt und wie wir gelebt haben. Und die Reaktion meines Vaters, die die Leute seltsam fanden. Mein Vater brach vor Verzweiflung und Selbstanklagen fast zusammen, er saß nur in seinem Zimmer und starrte regungslos vor sich hin, während andere unter Aufbietung all ihrer Kräfte weiter auf die Suche gingen. Wir wurden nicht gefragt, als dieser Bericht herausgegeben wurde, und meine Eltern litten furchtbar darunter. Ich kann ihn dir irgendwann einmal zeigen, wenn du willst.«

Valgerður nickte.

Erlendur begann zu erzählen, während sie aufmerksam zuhörte, und als er damit fertig war, lehnte sie sich zurück und seufzte tief.

»Ihr habt ihn also nie gefunden?«, fragte sie.

Erlendur schüttelte den Kopf.

»Noch lange Zeit, nachdem es passierte, und manchmal sogar heute noch, bilde ich mir ein, dass er gar nicht tot ist. Dass er völlig erschöpft sich in die bewohnten Täler durchgeschlagen hat; dass er deswegen nicht zu uns zurückkam, weil er das Gedächtnis verloren hat, und dass ich ihm noch einmal begegnen werde. Manchmal suche ich in Menschenan­sammlungen nach ihm und versuche mir vorzustellen, wie er aussehen könnte. Das ist eine verbreitete Reaktion, wenn die sterblichen Überreste eines Menschen nicht gefunden werden. Ich kenne das aus meiner Arbeit bei der Polizei. Wenn nichts anderes mehr bleibt, klammert man sich an die Hoffnung.«

»Du und dein Bruder, ihr hattet ein gutes Verhältnis zueinander?«, fragte Valgerður.

»Wir waren gute Freunde«, erwiderte Erlendur.

Sie saßen schweigend und beobachteten den Betrieb im Hotel, jeder in seine Gedankenwelt versunken. Die Gläser waren leer, aber weder er noch sie hatten die Energie, eine neue Bestellung aufzugeben. Es verging eine geraume Zeit, bis Erlendur sich zu ihr hinüberbeugte, räusperte und zögernd die Frage vorbrachte, die ihm auf den Lippen lag, seit sie ihm vom Fremdgehen ihres Mannes erzählt hatte.

»Möchtest du dich immer noch an ihm rächen?«

Valgerður schaute ihn an und nickte.

»Aber nicht gleich. Ich kann nicht …«

»Nein«, sagte Erlendur. »Das ist richtig. Natürlich.«

»Erzähl mir lieber von einem von diesen vielen Verschollenen, für die du dich so interessierst. Über die du immer liest.«

Erlendur lächelte und dachte einen Augenblick nach. Dann begann er, ihr von dem Verschwinden eines Menschen zu erzählen, das vor aller Augen passiert war: die Geschichte des Diebes Jón Bergþórsson aus dem Skagafjörður.

»Er wagte sich von einer Landspitze aus hinaus auf den zugefrorenen Fjord, um einen Hai zu holen, der tags zuvor in einer Wake gefangen worden war. Urplötzlich schlug das Wetter um, Sturm und Regen aus dem Süden ließen das Eis aufbrechen und nach Norden wegtreiben. Wegen des Orkans war es nicht möglich, Jón mit einem Boot zurückzuholen, und das Eis trieb aus dem Fjord hinaus.

Jón war nur noch durchs Fernglas zu erkennen, wie er auf einer Eisscholle am Meereshorizont hin und her lief, und das war das Letzte, was man von ihm sah.«

Neunundzwanzig

Die ruhige Barmusik hatte einschläfernde Wirkung auf sie, und sie saßen schweigend da, bis Valgerður sich vorbeugte und seine Hand ergriff.

»Am besten gehe ich jetzt«, sagte sie.

Erlendur nickte, und sie standen auf. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und stand einen Augenblick dicht bei ihm.

Keiner von ihnen hatte bemerkt, dass Eva Lind in die Bar gekommen war und zu ihnen herüberstarrte. Sie sah, wie sie aufstanden, sah, wie sie ihn küsste und sich an ihn zu schmiegen schien. Eva Lind gab sich einen Ruck und ging rasch zu ihnen hin.

»Was ist denn das für eine verdammte Tussi?«, fragte Eva Lind und musterte Valgerður abschätzig.

»Eva«, sagte Erlendur barsch. Evas plötzlicher Auftritt in der Bar hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht. »Benimm dich gefälligst anständig.«

Valgerður streckte ihre Hand aus. Eva Lind starrte darauf, und dann schaute sie Valgerður ins Gesicht und wieder auf die Hand. Erlendur sah von Valgerður zu Eva Lind und schien sie mit seinen Blicken durchbohren zu wollen.

»Das ist Valgerður, sie ist eine gute Freundin von mir«, sagte er.

Eva Lind schaute auf ihren Vater und dann auf Valgerður, aber sie nahm die ausgestreckte Hand nicht. Valgerður lächelte verlegen und drehte sich auf dem Absatz um.

Erlendur ging hinter ihr her und schaute ihr nach, wie sie das Foyer durchquerte. Eva Lind kam zu ihm.

»Was geht hier eigentlich ab?«, fragte sie. »Hast du angefangen, hier in der Bar Weiber aufzureißen?«

»Jetzt reicht’s aber mit deinen Unverschämtheiten«, schnauzte Erlendur sie an. »Was fällt dir ein, dich so zu benehmen? Das geht dich überhaupt nichts an. Lass mich zum Kuckuck noch mal in Ruhe!«

»Ach so! Du kannst dich von morgens früh bis abends spät in meinen Kram einmischen, aber ich darf nicht mal wissen, mit wem du hier im Hotel herumvögelst?«

»Jetzt ist Schluss. Was fällt dir eigentlich ein, in dieser ordinären Sprache mit mir zu reden!«

Eva Lind verstummte und schaute ihren Vater wütend an.

Er starrte bitterböse zurück.

»Was zum Teufel willst du von mir?«, schrie er sie an und lief dann hinter Valgerður her. Sie war schon aus dem Hotel heraus, und durch die Drehtür sah er, wie sie in ein Taxi stieg. Als er nach draußen kam, sah er nur noch, wie sich die roten Rücklichter des Autos entfernten und schließlich um die Ecke bogen.

Erlendur fluchte innerlich, als er hinter dem Taxi herschaute. Er hatte keine Lust, wieder in die Bar zu gehen, wo Eva Lind auf ihn wartete. In Gedanken versunken stieg er die Treppe in den Keller hinunter und stand auf einmal wieder auf dem dunklen Gang. Er fand einen Schalter und machte Licht, und die wenigen Birnen, die noch intakt waren, gaben dem Gang eine gespenstische Beleuchtung.

Er ging zu Guðlaugurs Kammer, öffnete die Tür und knipste das Licht an. Das Plakat mit Shirley Temple starrte ihm entgegen.

The Little Princess.

Er hörte leichte Schritte auf dem Gang und wusste, wer da kam, noch bevor Eva Lind in der Tür auftauchte.

»Die da oben hat mir gesagt, sie hätte gesehen, wie du in den Keller gegangen bist«, sagte Eva und schaute in das Zimmer. Ihre Augen blieben an den Blutflecken auf dem Bett hängen. »Ist es hier passiert?«, fragte sie.

»Ja,« sagte Erlendur.

»Was für ein Plakat ist das?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Ich begreife nicht, wie du dich so aufführen kannst. Was fällt dir ein, sie eine Tussi zu nennen und ihr nicht die Hand zu geben? Sie hat dir nichts getan.«

Eva Lind schwieg.

»Du solltest dich was schämen.«

»Verzeih mir«, sagte Eva.

Erlendur antwortete nicht. Er stand da und starrte auf das Plakat. Shirley Temple in einem hübschen Sommerkleidchen und einer Schleife im Haar, sie lächelte in Technicolor.

The Little Princess. Produktionsjahr 1939, nach einer Erzählung von Frances Hodgson Burnett. Shirley Temple spielte ein munteres kleines Mädchen, dessen Vater ins Ausland ging und sie in den Händen einer unbarmherzigen Schulleiterin zurückließ. Sigurður Óli hatte den Film im Internet gefunden. Die Informationen über den Film sagten aber nichts darüber aus, weswegen Guðlaugur das Plakat bei sich aufgehängt hatte.

Die kleine Prinzessin, dachte Erlendur.

»Ich habe sofort an Mama gedacht«, sagte Eva Lind hinter ihm. »Als ich dich mit ihr in der Bar sah. Und an Sindri und mich, an denen du kein Interesse hattest. Habe an uns alle gedacht, an uns als Familie, denn egal, wie man die Sache auch angeht, wir sind trotz allem irgendwie eine Familie. Jedenfalls finde ich das.«

Sie verstummte.

Erlendur drehte sich zu ihr um.

»Ich kapiere diese Gleichgültigkeit nicht«, fuhr sie fort.

»Vor allem, was Sindri und mich betrifft. Ich raff es einfach nicht. Und du hilfst mir auch nicht gerade weiter. Willst nie über was reden, was dich betrifft. Redest nie über was. Sagst nie was. Man könnte genauso gut mit einer Wand reden.«

»Weswegen brauchst du für alles eine Erklärung?«, sagte Erlendur. »Für einige Dinge gibt es einfach keine Erklärung. Einiges braucht man nicht zu erklären.«

»Das sagt ausgerechnet der Cop!«

»Die Leute reden zu viel«, sagte Erlendur. »Man sollte mehr schweigen, dann würde man sich auch keine Blöße geben.«

»Du redest von Verbrechern. Du denkst immer bloß an Kriminelle. Wir sind deine Familie!«

Sie schwiegen.

»Wahrscheinlich habe ich einen Fehler gemacht«, sagte Erlendur schließlich. »Nicht, was deine Mutter betrifft, glaube ich. Oder doch, es kann auch etwas sein, was deine Mutter betrifft. Ich weiß es nicht. Die Leute lassen sich doch andauernd scheiden, und für mich war es unerträglich, mit ihr zusammenzuleben. Aber was dich und Sindri betrifft, das war falsch. Mir ist das wahrscheinlich erst klar geworden, als du mich aufgespürt und angefangen hast, mich zu besuchen, und manchmal hast du sogar deinen Bruder mitgebracht. Ich habe mir einfach nicht klar gemacht, dass ich zwei Kinder besaß, zu denen ich die ganze Zeit keinerlei Verbindung hatte, und die es dann schon so jung aus der Bahn geworfen hat. Dann erst habe ich angefangen, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die Tatsache, dass ich keinen Finger gerührt habe, etwas dazu beigetragen hat. Ich hatte eigentlich so gut wie nie darüber nachgedacht, warum das so war. Genau wie du.

Warum ich nicht vor Gericht gegangen bin, um für mein Umgangsrecht zu kämpfen. Um euch bei mir haben zu können. Oder versucht habe, mit eurer Mutter zu reden, um zu einem Kompromiss zu kommen. Oder euch nicht vor der Schule aufgelauert und mir einfach geschnappt habe.«

»Du hattest ganz einfach kein Interesse an uns«, sagte Eva Lind. »Geht es nicht darum?«

Erlendur schwieg.

»Geht es nicht darum?«, wiederholte Eva Lind.

Erlendur schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Ich wollte, es wäre so einfach.«

»Einfach? Was meinst du damit?«

»Ich glaube …«

»Was?«

»Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Ich glaube …«

»Ja.«

»Ich glaube, ich bin damals auch in den Bergen geblieben.«

»Als dein Bruder umgekommen ist?«

»Es ist schwierig, das zu erklären, und vielleicht ist es gar nicht möglich. Vielleicht ist es überhaupt nicht möglich, alles zu erklären, und vielleicht gibt es einige Dinge, die am besten unerklärt bleiben.«

»Was meinst du damit, dass du auch in den Bergen geblieben bist?«

»Ich bin nicht … irgendetwas in mir ist abgestorben.«

»Willst du …«

»Ich wurde zwar gefunden und gerettet, aber ich bin damals auch gestorben. Irgendetwas in mir ist gestorben, etwas, was ich früher hatte. Ich weiß nicht, was das genau war. Mein Bruder starb, und in mir ist auch etwas gestorben. Ich habe die ganze Zeit Verantwortung für ihn gehabt, und ich habe ihn im Stich gelassen. Deswegen habe ich Schuldgefühle gehabt, weil ich derjenige war, der mit dem Leben davonkam, und nicht er. Seitdem habe ich es vermieden, Verantwortung für irgendetwas zu übernehmen. Und wenn ich auch nicht direkt vernachlässigt worden bin, jedenfalls nicht so, wie ich dich und Sindri vernachlässigt habe, so war es, als ob ich keine Rolle mehr spielte. Ich weiß nicht, ob das richtig ist, und das werde ich auch nie herausbekommen, aber dieses Gefühl überfiel mich gleich, als mich die Suchtrupps nach Hause gebracht hatten, und so ist es seitdem geblieben.«

»All die ganzen Jahre?«

»Gefühle werden nicht nach Zeit gemessen.«

»Weil du es warst, der überlebt hat, und nicht er?«

»Statt nach dieser Katastrophe etwas aufzubauen, was ich irgendwie versucht habe, als ich eurer Mutter begegnet bin, habe ich mich danach immer tiefer hineinvergraben, weil das bequemer ist und man glaubt, dass man dort eine Zuflucht hat. Genau wie bei dir mit dem Dope. Es ist einfacher so. Dope ist deine Zuflucht. Und das weißt du auch, man kann sich noch so sehr im Klaren darüber sein, dass man anderen wehtut, trotzdem dreht sich alles immer nur um einen selbst. Deswegen machst du mit dem Zeug weiter. Deswegen vergrabe ich mich wieder und wieder in diese Schneewehen.«

Eva Lind starrte auf ihren Vater, und obwohl sie nicht ganz begriff, was er sagte, verstand sie, dass er vollkommen aufrichtig war und versuchte, ihr zu erklären, was für sie die ganze Zeit ein Rätsel gewesen war und dazu geführt hatte, dass sie ihn unbedingt aufspüren wollte. Ihr war aber klar, dass sie weiter vorgedrungen war, als es irgendjemandem anderem jemals gelungen war, nicht einmal ihm selber, es sei denn, bei einem Versuch, die Mauer um ihn noch undurchdringlicher zu machen.

»Und diese Frau? Wie passt sie in dieses Bild hinein?«

Erlendur zuckte die Achseln. Der Spalt, der sich geöffnet hatte, schloss sich bereits wieder.

»Ich weiß es nicht«, sagte er.

Sie schwiegen lange, bis Eva Lind sagte, sie müsse weiter, und auf den Gang hinaustrat. Sie war sich nicht sicher, in welche Richtung sie gehen musste, und starrte in die Dunkelheit am Ende des Korridors. Plötzlich bemerkte Erlendur, dass sie angefangen hatte, wie ein Hund zu schnuppern.

»Riechst du das?«, fragte sie und streckte die Nase in die Luft.

»Was?«, sagte Erlendur und wusste nicht, wovon sie redete.

»Hier riecht’s nach Hasch«, sagte Eva.

»Hasch?«, fragte Erlendur. »Was meinst du damit?«

»Hasch«, sagte Eva Lind. »Ich meine Hasch. Willst du mir etwa sagen, dass du das noch nie gerochen hast?«

»Hasch?«

»Riechst du das denn nicht?«

Erlendur trat hinaus auf den Flur und begann ebenfalls zu schnuppern.

»Ist das Hasch?«, fragte er.

»Ich sollte mich da schon auskennen«, sagte Eva Lind.

Sie schnüffelte immer noch.

»Hier hat jemand gekifft, und das ist nicht sehr lange her«, sagte sie.

Erlendur wusste, dass das Ende des Korridors ausgeleuchtet worden war, als der Tatort untersucht wurde, aber er war sich nicht sicher, wie gründlich das gemacht worden war.

Er schaute Eva Lind an.

»Hier hat jemand gekifft?«

»Genau, das ist der Geruch«, sagte sie.

Er ging wieder in das Zimmer, holte den Stuhl und stellte ihn unter eine der intakten Birnen, um sie herauszuschrauben. Die Birne war glühend heiß, sodass er den Ärmel seines Jacketts verwenden musste. Er suchte und tastete so lange, bis er die kaputte Birne am Ende des Gangs gefunden hatte, und tauschte sie aus. Mit einem Mal wurde es hell, und Erlendur sprang vom Stuhl herunter.

Zuerst sahen sie nichts, was irgendwie ungewöhnlich war, aber dann wies Eva Lind ihren Vater darauf hin, wie sorgsam hier in dieser finsteren Ecke geputzt worden war, verglichen mit dem sonstigen Zustand des Gangs. Erlendur nickte. Es hatte den Anschein, als hätte hier jemand Fußboden und Wände gründlichst geschrubbt.

Erlendur ging in die Knie und suchte den Fußboden ab.

Die Leitungsrohre für heißes Wasser lagen an den Wänden, und er kroch auf allen vieren an ihnen entlang.

Eva Lind sah, wie er innehielt und unter ein Rohr griff, um etwas hervorzuholen, was sein Interesse geweckt hatte. Er stand auf und zeigte ihr, was er gefunden hatte.

»Ich habe zuerst gedacht, das ist zu groß geratener Rattendreck.« Er hielt einen kleinen braunen Gegenstand zwischen den Fingern.

»Was ist das?«, fragte Eva Lind.

»Ein Gazetütchen.«

»Gazetütchen?«

»Ja, mit Kautabak, den man sich unter die Lippe schiebt. Irgendjemand hat den Kautabak hier weggeworfen oder ausgespuckt.«

»Wer? Wer ist hier auf dem Gang gewesen?«

Erlendur schaute Eva Lind an.

»Jemand, der sich mehr prostituiert als ich«, sagte er.

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