Vierter Tag

Siebzehn

Als er am frühen Morgen aufwachte, lag er angezogen auf dem Bett. Er brauchte lange, um richtig wach zu werden. Er hatte von seinem Vater geträumt, und dieser Traum folgte ihm in diesen dunklen Morgen. Er versuchte angestrengt, sich zu erinnern, was genau er geträumt hatte, konnte aber nur Bruchstücke zusammenfügen; sein Vater, irgendwie jünger und gesünder, lächelte ihm aus einem abgestorbenen Wald entgegen.

Das Hotelzimmer war dunkel und kalt. Bis zum Sonnenaufgang waren es noch einige Stunden. Er lag da und dachte über den Traum nach, über seinen Vater und den Verlust des Bruders. Wie der grausame Verlust eine Lücke in sein Leben gerissen hatte. Diese Lücke schien immer größer zu werden, er stand am Rand und schaute hinunter in den Abgrund, der nur darauf wartete, ihn zu verschlingen.

Er schüttelte diese morgendliche Unruhe von sich ab und überlegte, was heute alles anlag. Was hatte Henry Wapshott zu verbergen? Weswegen hatte er ihm diese Lügen aufgetischt und die Flucht ergriffen, betrunken und ohne Gepäck? Sein Verhalten war Erlendur ein Rätsel. Und dann kehrten seine Gedanken zu dem Jungen im Krankenbett und seinem Vater zurück; Elinborgs Fall, über den sie ihm ausführlich berichtet hatte.

Elinborg hatte den Verdacht, dass der Junge schon früher einmal misshandelt worden war, und es gab starke Indizien dafür, dass es bei ihm zu Hause geschehen war. Der Vater stand unter Verdacht. Sie hatte sofortige Untersuchungshaft für ihn beantragt. Trotz heftigen Protestes seitens des Vaters und seines Rechtsanwalts waren acht Tage Untersuchungshaft verhängt worden. Als der Haftbefehl vorlag, holte Elinborg ihn im Gefolge von vier uniformierten Polizisten ab und brachte ihn ins Untersuchungsgefängnis an der Hverfisgata. Sie selber begleitete ihn zur Zelle und verschloss höchstpersönlich die Zellentür. Sie öffnete die Klappe an der Tür und schaute zu dem Mann herein, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte und ihr den Rücken zukehrte, unglücklich und irgendwie hilflos, wie alle, die aus der menschlichen Gesellschaft herausgeholt und wie Tiere in einen Käfig gesperrt werden.

Er drehte sich langsam um und schaute ihr durch die Stahltür in die Augen, sie ließ die Klappe herunterfallen.

Am nächsten Morgen begannen sie sehr zeitig mit dem Verhör. Erlendur war ebenfalls anwesend, aber Elinborg hatte die Gesprächsführung. Sie saßen ihm zu zweit im Verhörraum gegenüber. Auf dem Tisch zwischen ihnen war ein Aschenbecher fest in die Tischplatte geschraubt.

Der Mann war unrasiert, und sein Anzug hatte Falten bekommen. Zu dem weißen zerknautschten Hemd trug er eine tadellos geknotete Krawatte, in der sich das zu konzentrieren schien, was von seiner Selbstachtung übrig geblieben war.

Elinborg schaltete das Tonbandgerät ein und nahm das Gespräch auf. Sie sprach die Namen der Anwesenden auf Band und die Nummer, die der Fall erhalten hatte. Sie war gut vorbereitet. Sie hatte einen Termin mit der Klassenlehrerin des Jungen gehabt, die Dyslexie, Konzentrationsschwäche und geringe Lernerfolge erwähnte, und sie hatte eine Psychologin befragt, mit der sie befreundet war, die ihr einiges über Enttäuschung, Belastung und Selbstverleugnung erzählte; sie hatte mit den Freunden des Jungen gesprochen, mit Nachbarn, Verwandten und allen möglichen Leuten, von denen sie Auskünfte über den Jungen und seinen Vater erhalten hatte.

Der Mann blieb unbeirrbar. Er behauptete, dass sie ein Kesseltreiben gegen ihn inszenierten, und gab zu Protokoll, dass er sie gerichtlich belangen werde. Er weigerte sich, ihre Fragen zu beantworten. Elinborg blickte Erlendur an. Ein Wärter erschien und führte den Mann in seine Zelle zurück.

Zwei Tage später wurde er wieder zu einem Verhör geholt.

Sein Rechtsanwalt hatte ihm bequemere Sachen gebracht, er trug jetzt Jeans und ein T-Shirt mit einem modischen Label auf der Brust, das er so präsentierte, als hätte er für diesen absurd teuren Kauf eine Medaille bekommen. Sein Auftreten hatte sich deutlich verändert. Drei Tage Untersuchungshaft hatten sein Imponiergehabe um einiges verringert — ein bekanntes Phänomen bei Gefängnisinsassen.

Er sah, dass es von ihm selber abhing, ob und wie lange er hinter schwedischen Gardinen sitzen würde.

Elinborg hatte veranlasst, dass er barfuß zur Vernehmung erschien. Schuhe und Socken wurden ihm ohne Kommentar weggenommen. Als er vor ihnen Platz nahm, versuchte er, die Füße unter dem Stuhl zu verstecken.

Wie zuvor saßen Elinborg und Erlendur ihm unbeirrt gegenüber. Das Band summte leise.

»Ich habe mit der Lehrerin gesprochen, die deinen Sohn unterrichtet«, sagte Elinborg. »Selbst wenn das, was zwischen euch vorgefallen und gesagt worden ist, strengstens vertraulich ist und sie das auch besonders betont hat, wollte sie dem Jungen helfen, es handelt sich ja schließlich um eine Strafsache. Sie hat mir gesagt, dass du einmal in ihrer Anwesenheit über den Jungen hergefallen bist.«

»Über ihn hergefallen! Ich habe ihm eins hinter die Löffel gegeben. Das nennt man wohl kaum ›über einen herfallen‹. Er war ganz einfach bockig. Er ist so zapplig. Er ist ein schwieriger Junge. Ihr kennt das nicht. Es ist nicht einfach mit ihm.«

»Und dann ist es richtig, ihn zu schlagen?«

»Mein Junge und ich sind gute Freunde«, sagte der Vater.

»Ich liebe meinen Sohn. Ich trage ganz allein die Verantwortung für ihn. Seine Mutter …«

»Ich weiß«, sagte Elinborg. »Keine Frage, es kann sehr schwierig sein, ein Kind allein zu erziehen. Aber das, was du ihm angetan hast — und antust … das kann man gar nicht in Worte fassen.«

Der Vater schwieg sich aus.

»Ich habe nichts getan«, erklärte er schließlich.

Elinborg trug kantige Schuhe mit harten Sohlen. Sie streckte die Beine unter dem Tisch aus und stieß an die Füße des Mannes, der vor Schmerz aufschrie.

»Entschuldigung«, sagte Elinborg.

Er schaute sie mit schmerzverzerrtem Gesicht an, er war sich offenbar nicht sicher, ob sie ihn möglicherweise absichtlich getreten hatte.

»Die Lehrerin sagte mir, dass du unrealistische Anforderungen an den Jungen stellst«, sagte sie, so als sei nichts vorgefallen. »Stimmt das?«

»Was heißt hier unrealistisch? Ich will, dass er eine gute Ausbildung bekommt, damit etwas aus ihm wird.«

»Verständlich«, sagte Elinborg. »Aber er ist acht Jahre alt, leidet an Dyslexie und ist nur eine Stufe davon entfernt, als hyperaktiv diagnostiziert zu werden. Du selbst hast auch nicht das Abitur geschafft.«

»Ich besitze und leite ein Unternehmen.«

»Das vor dem Bankrott steht. Du bist im Begriff, deine Villa zu verlieren, den Jeep und all die Güter, die dir eine so genannte Position im Leben gegeben haben. Man schaut zu dir auf. Bei Klassentreffen stehst du ganz bestimmt im Mittelpunkt. Golfreisen ins Ausland mit Freunden. Das alles bist du im Begriff zu verlieren. Sehr unerfreulich, vor allem, wenn man bedenkt, dass sich deine Frau in der Psychiatrie befindet und dein Sohn Lernschwierigkeiten hat.

All das hat sich in dir angestaut, und du platzt dann plötzlich, als dein Junge, der bestimmt sein ganzes Leben lang Milch verschüttet und Teller kaputtgeschmissen hat, eine Drambuie-Flasche auf den Marmorboden im Wohnzimmer fallen lässt.«

Der Vater schaute sie an und zeigte keinerlei Reaktion.

»Meine Frau hat damit überhaupt nichts zu tun«, sagte er.

Elinborg hatte sie in der Anstalt besucht. Sie war schizophren und musste manchmal stationär behandelt werden, wenn sie Halluzinationen hatte und die Stimmen nicht mehr ertragen konnte. Als Elinborg mit ihr sprach, war sie so voll gepumpt mit Medikamenten, dass man kaum mit ihr sprechen konnte. Sie saß nur da, wiegte teilnahmslos den Oberkörper vor und zurück und bat Elinborg um eine Zigarette. Sie hatte keine Vorstellung, weshalb Elinborg gekommen war.

»Ich versuche, ihn so gut wie möglich zu erziehen«, sagte der Vater.

»Indem du ihm Nadeln in den Handrücken bohrst?«

»Halt die Klappe.«

Elinborg hatte mit der Schwester des Mannes gesprochen, die erklärt hatte, dass sie die Erziehungsmethoden etwas rigoros fand. Sie hatte ein Beispiel genannt, das während eines Besuchs passiert war. Damals war der Junge vier Jahre alt gewesen und hatte geklagt, dass er sich nicht wohl fühlte, hatte ein bisschen geweint, und sie war der Meinung gewesen, dass er möglicherweise eine Grippe bekam. Ihr Bruder hatte die Beherrschung verloren, als der Junge eine Weile herumgequengelt hatte, er nahm ihn hoch und hielt ihn in die Luft.

»Fehlt dir was?«, fragte er barsch.

»Nein«, sagte der Junge leise und zögernd. Er schien sich nicht mehr zu trauen, etwas zu sagen.

»Dann hast du auch nicht zu weinen.«

»Nein«, sagte der Junge.

»Wenn dir nichts fehlt, hörst du gefälligst auf zu weinen.«

»Ja.«

»Also fehlt dir etwas?«

»Nein.«

»Alles in Ordnung also?«

»Ja.«

»Gut. Man heult doch nicht einfach so rum.«

Elínborg schilderte diese Geschichte, aber er zeigte keinerlei Reaktion.

»Meine Schwester und ich haben kein sonderlich gutes Verhältnis zueinander«, sagte er. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Hast du deinen Sohn körperlich so gezüchtigt, dass er infolgedessen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste?«

Der Vater schaute sie an.

Elinborg wiederholte die Frage.

»Nein«, sagte er. »Das habe ich nicht gemacht. Glaubst du, dass irgendein Vater sich so verhalten könnte? Er wurde in der Schule attackiert.«

Nachdem der Junge aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte das Jugendamt ihn bei einer Familie in Pflege gegeben, und nach dem Verhör fuhr Elinborg zu ihm. Sie setzte sich zu ihm und fragte, wie es ihm ginge. Er hatte seit ihrer ersten Begegnung noch kein einziges Wort zu ihr gesagt, aber jetzt schaute er sie so an, als wollte er etwas sagen.

Er hustete verhalten.

»Ich vermisse Papa«, sagte er unter Schluchzen.

Erlendur saß am Frühstückstisch, als Sigurður Óli mit Wapshott im Schlepptau auftauchte. Hinter ihnen nahmen zwei Kriminalbeamte an einem Tisch Platz. Der englische Plattensammler sah etwas ungepflegter aus als beim letzten Mal, die Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und seine Leidensmiene zeugte von unverdienter Erniedrigung und dem verlorenen Kampf gegen Kater und Knast.

»Was ist eigentlich hier los?«, fragte Erlendur und stand auf. »Warum bringst du ihn hierher? Und warum läuft er frei herum?«

»Frei herum?«

»Warum trägt er keine Handschellen?«

»Findest du das notwendig?«

Erlendur blickte auf Wapshott.

»Ich hatte keine Lust, auf dich zu warten«, sagte Sigurður Óli. »Wir können ihn höchstens bis zum Abend festhalten, also musst du so schnell wie möglich eine Entscheidung treffen, ob wir Anklage gegen ihn erheben. Außerdem wollte er unbedingt mit dir reden. Hat sich geweigert, mit mir zu sprechen — will nur mit dir reden. Als wärt ihr dick befreundet. Er hat nicht verlangt, aus der Haft entlassen zu werden, er hat weder einen Rechtsbeistand verlangt noch Unterstützung seitens seiner Botschaft. Wir haben ihm gesagt, dass er Verbindung zu seiner Botschaft aufnehmen kann, aber er hat nur den Kopf geschüttelt.«

»Hast du irgendwas über ihn in England ausfindig machen können?«, fragte Erlendur und schaute zu Wapshott hinüber, der hinter Sigurður Óli stand und den Kopf hängen ließ.

»Damit befasse ich mich, wenn du ihn übernommen hast«, sagte Sigurður Óli, der bislang offenbar noch nichts in der Richtung unternommen hatte. »Ich gebe dir Bescheid, wenn etwas über ihn vorliegt.«

Sigurður Óli verabschiedete sich von Wapshott und blieb kurz bei den zwei Kriminalbeamten stehen, bevor er verschwand. Erlendur forderte den Engländer auf, sich zu setzen. Wapshott nahm Platz und ließ den Kopf hängen.

»Ich habe ihn nicht umgebracht«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich hätte ihn nie umbringen können. Ich habe noch nie irgendwas umbringen können, nicht mal eine Fliege. Geschweige denn diesen wunderbaren Chorknaben.«

Erlendur blickte ihn an.

»Sie sprechen von Guðlaugur?«

»Ja«, sagte Wapshott. »Selbstverständlich.«

»Er hatte ja nun wirklich kaum noch etwas mit einem Chorknaben zu tun«, sagte Erlendur. »Guðlaugur ging auf die fünfzig zu und spielte auf Weihnachtsfeiern den Weihnachtsmann.«

»Sie verstehen das nicht«, sagte Wapshott.

»Nein«, sagte Erlendur. »Vielleicht können Sie es mir ja erklären.«

»Ich war gar nicht im Hotel, als er überfallen wurde«, sagte Wapshott.

»Und wo waren Sie?«

»Ich war auf der Suche nach Platten.« Wapshott blickte hoch, und sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.

»Ich habe mir das angeschaut, was ihr wegwerft. Auf dem Gebrauchtwarenmarkt. Ich habe mir angeschaut, was da aus diesen Containern bei der Recycling-Firma kommt. Mir war gesagt worden, dass dort wieder ein Nachlass eingetroffen war, darunter auch Schallplatten, die weggeworfen werden sollten.«

»Von wem?«

»Von wem?«

»Von wem haben Sie von diesem Nachlass erfahren?«

»Von den Angestellten. Ich bezahle ihnen eine Kleinigkeit dafür, wenn sie mir einen Tipp geben. Sie haben meine Visitenkarte. Das hatte ich Ihnen doch gesagt. Man geht in die einschlägigen Läden, trifft andere Sammler und durchforstet dann den Markt. Im Kolaport, heißt das nicht so? Ich mache das, was alle Sammler tun, ich versuche etwas zu finden, was sich zu besitzen lohnt.«

»Waren Sie mit irgendjemandem zusammen in der Zeit, als Guðlaugur überfallen wurde? Jemand, mit dem wir sprechen können?«

»Nein«, sagte Wapshott.

»Aber die werden sich an diesen Stellen wohl an Sie erinnern.«

»Bestimmt.«

»Und haben Sie etwas Lohnenswertes gefunden? Chorknaben?«

»Nichts. Auf dieser Reise habe ich nichts gefunden.«

»Warum sind Sie geflüchtet?«, fragte Erlendur.

»Ich wollte nach Hause.«

»Und haben Ihr ganzes Gepäck zurückgelassen?«

»Ja.«

»Außer einigen Platten mit Guðlaugur.«

»Ja.«

»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie früher schon mal in Island waren?«

»Ich weiß es nicht. Ich wollte kein unnötiges Aufsehen erregen. Mit dem Mord habe ich nichts zu tun.«

»Es ist ziemlich einfach, das Gegenteil zu beweisen. Als Sie mir diese Lügen auftischten, müssen Sie doch gewusst haben, dass ich früher oder später herausfinden würde, dass Sie schon öfter hier im Hotel gewesen sind.«

»Mit dem Mord habe ich nichts zu tun.«

»Aber jetzt haben Sie mich überzeugt, dass Sie etwas damit zu tun haben. Mehr Aufmerksamkeit hätten Sie gar nicht auf sich lenken können.«

»Ich habe ihn nicht umgebracht.«

»Wie war Ihre Beziehung zu Guðlaugur?«

»Das habe ich Ihnen erzählt, und das war die Wahrheit. Ich bekam Interesse an seiner Stimme und an den Platten mit ihm, und als ich erfuhr, dass er noch am Leben war, habe ich mich mit ihm in Verbindung gesetzt.«

»Warum haben Sie gelogen? Sie sind bereits früher nach Island gekommen, Sie haben mehrmals in diesem Hotel übernachtet, und Sie haben ganz bestimmt Guðlaugur schon die ganze Zeit gekannt.«

Wapshott überlegte einen Augenblick.

»Das hat überhaupt nichts mit mir zu tun. Der Mord, meine ich. Als ich davon erfuhr, befürchtete ich, dass ihr herausfinden würdet, dass ich ihn kannte. Meine Angst steigerte sich von Minute zu Minute, und ich musste mich enorm zusammenreißen, um nicht auf der Stelle zu fliehen und auf diese Weise die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich musste ein paar Tage verstreichen lassen, aber dann hielt ich es nicht länger aus und machte, dass ich wegkam. Meine Nerven hielten das nicht aus. Aber ich habe ihn nicht umgebracht.«

»Wie gut haben Sie die Lebensgeschichte von Guðlaugur gekannt?«

»Nicht genau.«

»Geht es bei dieser Plattensammlerei nicht darum, sich Informationen über die zu verschaffen, die man sammelt? Haben Sie das nicht gemacht?«

»Ich weiß nicht viel«, erklärte Wapshott. »Ich weiß bloß, dass er seine Stimme bei einem Konzert verloren hat, es sind nur zwei Platten mit ihm herausgekommen, er hat sich mit seinem Vater überworfen …«

»Einen Augenblick. Wie haben Sie von seinem Tod erfahren?«

»Was meinen Sie?«

»Den Hotelgästen wurde nichts von einem Mord gesagt, sondern nur von einem Unfall oder einer Herzattacke. Wie haben Sie herausgefunden, dass er ermordet worden war?«

»Wie ich das herausgefunden habe? Sie haben es mir erzählt.«

»Ja, ich habe es Ihnen gesagt, und Sie waren unerhört verwundert, daran kann ich mich erinnern, aber jetzt behaupten Sie. dass Sie. als Sie von dem Mord erfuhren, Angst bekamen, dass wir da eine Verbindung zu Ihnen sehen würden. Das war also, bevor Sie und ich miteinander gesprochen haben. Bevor wir Sie damit in Verbindung brachten.«

Wapshott starrte ihn an. Erlendur wusste genau, dass er nun Zeit zu gewinnen versuchte, ließ ihn aber gewähren.

Von ihm aus sollte Wapshott so viel Zeit gewinnen, wie er mochte. Das änderte nichts an der Situation. Die beiden Polizisten warteten ruhig in angemessener Entfernung ab. Erlendur war spät zum Frühstück erschienen, und im Speisesaal befanden sich nur wenige Menschen. Er sah auf einmal die große Küchenchefmütze auftauchen, deren Besitzer wegen der Speichelprobe explodiert war. Erlendur dachte an die Laborantin. Valgerður. Was machte sie? Piekste sie im Krankenhaus Kinder mit Nadeln, die mit dem Weinen kämpften oder sie zu treten versuchten?

»Gibt es vielleicht noch etwas anderes als das Interesse an Schallplatten, was euch verbunden hat?«

»Ich wollte da nicht hineingezogen werden«, sagte Wapshott.

»Was haben Sie zu verbergen? Warum wollen Sie nicht Verbindung zur britischen Botschaft aufnehmen? Warum wollen Sie keinen Rechtsbeistand?«

»Ich habe die Leute hier unten darüber reden gehört. Die Hotelgäste. Sie haben darüber gesprochen, dass er ermordet worden ist. Irgendwelche Amerikaner. So habe ich davon erfahren. Und ich war äußerst besorgt, dass ihr diese Verbindungslinien ziehen würdet und ich genau in diese Lage geraten würde, in der ich mich jetzt befinde.

Deswegen bin ich geflohen. Komplizierter ist es nicht.«

Erlendur erinnerte sich an das amerikanische Paar Henry Bartlett und seine Frau, die Sigurður Óli angelächelt und »Cindy« gesagt hatte.

»Was für einen Wert haben die Platten mit Guðlaugur?«

»Was meinen Sie?«

»Sie müssen einen ganz schönen Wert haben, wenn Sie deswegen mitten im Winter nach Island reisen, um an sie heranzukommen. Wie viel sind die Platten wert? Eine Platte. Was kostet sie?«

»Wenn man verkaufen will, geschieht das mittels einer Auktion im Internet, und bei so etwas ist es unmöglich zu sagen, was am Ende dabei herauskommt.«

»Aber was würden Sie schätzungsweise dafür bekommen?«

Wapshott überlegte.

»Da kann ich nichts zu sagen.«

»Haben Sie Guðlaugur getroffen, bevor er starb?«

Henry Wapshott zögerte.

»Ja«, sagte er schließlich.

»Der Zettel, den wir gefunden haben, 18.30, waren Sie zu diesem Termin mit ihm verabredet?«

»Das war am Tag, bevor er tot aufgefunden wurde. Wir haben in seinem Zimmer ein kurzes Zusammentreffen gehabt.«

»Worum ging es?«

»Um seine Platten.«

»Was war mit seinen Platten?«

»Ich wollte wissen, und zwar schon seit langem, ob er noch mehr davon besitzt. Oder ob diese wenigen Platten, die ich und ein paar andere Sammler besitzen, die einzigen Exemplare auf der Welt sind. Aus irgendwelchen Gründen hat er darauf nicht antworten wollen. Ich habe schon in dem Brief, den ich ihm vor einigen Jahren schickte, danach gefragt, und es war eine der ersten Fragen, die ich ihm stellte, als ich ihn vor drei Jahren zum ersten Mal getroffen habe.«

»Und was dann, hatte er noch mehr Platten für Sie?«

»Er wollte sich nicht dazu äußern.«

»Wusste er, was seine Platten wert waren?«

»Ich habe ihm eine ziemlich klare Vorstellung davon gegeben.«

»Und was sind denn diese Platten wirklich wert?«

Wapshott antwortete nicht sofort.

»Als ich ihn jetzt vor, ich weiß nicht mehr genau, vor zwei oder drei Tagen getroffen habe, lenkte er ein«, fuhr er fort.

»Er wollte über seine Platten reden. Ich …«

Wapshott zögerte wieder. Er blickte sich um und sah die zwei Polizisten, die ihn bewachten.

»Ich habe ihm eine halbe Million gegeben.«

»Eine halbe Million?«

»Kronen. Als Anzahlung oder …«

»Sie haben mir gesagt, von großen Summen könne keine Rede sein.«

Wapshott zuckte mit den Achseln, und Erlendur kam es so vor, als lächelte er.

»Das war dann also eine Lüge«, sagte Erlendur.

»Ja.«

»Anzahlung auf was?«

»Die Platten, die er noch besaß. Falls er denn welche besessen hat.«

»Und Sie haben ihm das Geld bei Ihrem letzten Treffen ausgehändigt, obwohl Sie nicht wussten, ob er welche besäße?«

»Ja.«

»Und was dann?«

»Dann wurde er umgebracht.«

»Wir haben kein Geld bei ihm gefunden.«

»Darüber weiß ich nichts. Ich habe ihm am Tag, bevor er starb, in seinem Zimmer eine halbe Million gegeben.«

Erlendur fiel ein, dass er Sigurður Óli damit beauftragt hatte, festzustellen, was für Bankguthaben Guðlaugur besaß. Er musste beim nächsten Mal daran denken, ihn danach zu fragen.

»Haben Sie die Platten bei ihm gesehen?«

»Nein.«

»Warum soll ich das hier jetzt glauben? Sie haben mir bislang eine Lüge nach der anderen aufgetischt. Warum sollte ich jetzt irgendetwas von dem glauben, was Sie sagen?«

Wapshott zuckte die Achseln.

»Also hat er eine halbe Million bei sich gehabt, als er überfallen wurde?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich ihm das Geld gegeben habe, und dann wurde er umgebracht.«

»Warum haben Sie mir nicht sofort von diesem Geld erzählt?«

»Ich wollte in Ruhe gelassen werden«, sagte Wapshott. »Ich wollte nicht, dass Sie glauben, ich hätte ihn um des Geldes willen umgebracht.«

»Haben Sie das gemacht?«

»Nein.«

Sie schwiegen.

»Werde ich angeklagt?«, fragte Wapshott.

»Ich bin überzeugt, dass Sie immer noch etwas geheim halten«, sagte Erlendur. »Ich werde Sie auf jeden Fall bis zum Abend festhalten. Dann sehen wir weiter.«

»Ich hätte niemals diesen Chorknaben umbringen können. Ich habe ihn verehrt und tue es immer noch. Ich habe noch nie einen Jungen mit einer so wunderschönen Stimme gehört.«

Erlendur schaute Henry Wapshott an.

»Komisch, wie allein Sie dastehen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Sie sind irgendwie so allein auf der Welt.«

»Ich habe ihn nicht umgebracht«, sagte Wapshott. »Ich habe ihn nicht umgebracht.«

Achtzehn

Als Wapshott das Hotel im Gefolge der beiden Polizisten verlassen hatte, wurde Erlendur gesagt, dass Ösp im dritten Stock arbeitete. Er nahm den Aufzug nach oben. Auf der dritten Etage angekommen, sah er, wie sie aus einem Zimmer kam und ein Gestell mit schmutziger Wäsche vor sich herschob. Sie war ganz in ihre Arbeit vertieft. Sie nahm ihn erst wahr, als er zu ihr hinging und sie anredete.

Sie erkannte ihn sofort.

»Du schon wieder?«, sagte sie desinteressiert.

Sie wirkte fast noch müder und bedrückter als seinerzeit in der Kantine. Erlendur dachte bei sich, dass auch in ihrem Leben Weihnachten offensichtlich keine Zeit des Frohsinns zu sein schien. Bevor er sich versah, hatte er sie danach gefragt.

»Geht dir Weihnachten auf die Nerven?«

Sie antwortete ihm nicht, sondern schob das Putzgestell zur nächsten Tür, klopfte dort an und wartete eine Weile, bevor sie den Schlüssel nahm und aufschloss. Bevor sie hineinging, rief sie etwas ins Zimmer, falls jemand ihr Klopfen überhört haben sollte, und begann dann mit dem Aufräumen. Sie machte das Bett, sammelte die Handtücher im Badezimmer vom Boden auf und besprühte den Spiegel mit Glasreiniger. Erlendur folgte ihr ins Zimmer und beobachtete sie bei der Arbeit. Erst nach einer ganzen Weile schien ihr bewusst zu werden, dass er immer noch da war.

»Du darfst nicht mit ins Zimmer kommen«, sagte sie. »Das ist privat.«

»Zimmer 212 eine Etage tiefer gehört zu deinem Arbeitsbereich«, sagte Erlendur. »Das gehört einem spleenigen Engländer, Henry Wapshott. Hast du etwas Ungewöhnliches in seinem Zimmer bemerkt?«

Sie schaute ihn an, als verstünde sie nicht so richtig, was er meinte.

»Wie beispielsweise ein blutiges Messer?«, fragte er und versuchte zu lächeln.

»Nein«, sagte Ösp. »Nichts.« Sie überlegte. »Was für ein Messer? Hat er den Weihnachtsmann umgebracht?«

»Ich kann mich nicht erinnern, wie du das neulich ausgedrückt hast, als wir miteinander geredet haben, aber du hast irgendwie gesagt, dass einige der Gäste versuchen, euch zu betatschen. Ich hatte den Eindruck, dass du über sexuelle Belästigungen geredet hast. War er einer von denen?«

»Nein. Ich habe ihn nur einmal gesehen.«

»Und war da nichts …«

»Er ist total ausgerastet«, sagte sie. »Als ich ins Zimmer kam.«

»Ausgerastet?«

»Ich habe ihn gestört, und er hat mich rausgeschmissen. Ich hab mich dann unten erkundigt, was hier eigentlich abging, und es stellte sich heraus, dass er bei der Rezeption speziell darum gebeten hatte, dass in seinem Zimmer unter gar keinen Umständen sauber gemacht werden sollte. Mir hat aber niemand was gesagt. Es redet sowieso nie einer von diesem bescheuerten Pack hier mit einem. Deswegen bin ich zu ihm hinein, und als er mich sah, rastete er komplett aus, ging auf mich los, der Idiot, schrie mich an. Als hätte ich hier im Hotel irgendwas zu sagen. Er hätte lieber den Hotelmanager anscheißen sollen.«

»Er ist ziemlich merkwürdig.«

»Ein richtiges Arschloch.«

»Ich meine diesen Wapshott.«

»Ja, beide.«

»Dir ist also nichts Ungewöhnliches bei ihm aufgefallen?«

»In dem Zimmer herrschte Chaos, aber das ist nichts Ungewöhnliches.«

Ösp legte eine Pause ein, blieb einen Augenblick vor Erlendur stehen und schaute ihn an.

»Hast du irgendwas herausgefunden? In Bezug auf den Weihnachtsmann, meine ich?«

»Wenig«, sagte Erlendur. »Warum?«

»Das ist ein komisches Hotel«, erklärte Ösp, senkte die Stimme und spähte auf den Flur hinaus.

»Komisch?« Erlendur hatte das Gefühl, als hätte sie ein wenig von ihrer Selbstsicherheit verloren. »Hast du Angst vor etwas? Etwas hier im Hotel?«

Ösp antwortete ihm nicht.

»Hast du Angst, den Job zu verlieren?«

Sie blickte Erlendur an.

»Ha, genau, das hier ist echt so ein Job, den man auf gar keinen Fall verlieren möchte.«

»Was meinst du denn sonst?«

Ösp zögerte, schien aber auf einmal eine Entscheidung getroffen zu haben. Als wäre das, was sie zu sagen hatte, eigentlich nicht wert, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

»Die lassen eine Menge mitgehen in der Küche«, sagte sie.

»Und zwar so richtig. Ich glaube, die haben schon seit Jahren nicht mehr was für sich privat eingekauft.«

»Klauen?«

»Alles, was nicht niet- und nagelfest ist.«

»Wer sind die?«

»Erzähl keinem, dass du das von mir hast. Der Chefkoch. Der auf jeden Fall.«

»Wieso weißt du das?«

»Gulli hat’s mir gesagt. Der wusste genau Bescheid, was hier im Hotel ablief.«

Erlendur erinnerte sich daran, wie er die Rinderzunge unerlaubterweise vom Büfett stibitzt und der Chefkoch ihn dabei beobachtet und zusammengestaucht hatte.

»Wann hat er dir davon erzählt?«

»Irgendwann vor zwei Monaten oder so.«

»Und was dann? War er deswegen besorgt? Wollte er das melden? Warum hat er dir das erzählt? Ich dachte, du hättest ihn überhaupt nicht gekannt?«

»Ich habe ihn nicht gekannt.« Ösp schwieg eine Weile. »Die wollten mich da in der Küche provozieren und sind mir auf die ordinäre Tour gekommen. ›Wie schaut’s denn da drinnen bei dir aus?‹, und so was. Echt das Ätzendste, was sich solche Schwachköpfe einfallen lassen können. Gulli hat das mitgekriegt und mit mir geredet. Er hat mir gesagt, ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, das wären alles Diebe, und er könnte die ganze Sache jederzeit auffliegen lassen, wenn er wollte.«

»Hat er gedroht, dass er sie hochgehen lassen würde?«

»Er hat nicht gedroht«, sagte Ösp. »Er hat das bloß so gesagt, um mir irgendwie den Rücken zu stärken.«

»Was klauen die denn?«, fragte Erlendur. »Hat er das gesagt?«

»Er hat gesagt, der Hotelmanager wüsste davon, würde aber nichts unternehmen, weil er selber auch klaut. Er kauft geschmuggelten Alkohol für die Bar. Das hat Gulli auch gesagt. Auch der Oberkellner steckt da mit drin.«

»Hat Guðlaugur das wirklich gesagt?«

»Und den Differenzbetrag stecken sie in die eigene Tasche.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt, als ich das erste Mal mit dir gesprochen habe?«

»Meinst du, dass es wichtig ist?«

»Könnte schon sein.«

Ösp zuckte mit den Achseln.

»Woher soll ich das wissen? Ich war irgendwie so komplett daneben, nachdem ich ihn gefunden hatte. Guðlaugur, meine ich. Mit dem Kondom, und mit den Messerstichen.«

»Hast du da unten bei ihm Geld gesehen?«

»Geld?«

»Ihm war kurz zuvor eine ganz anständige Summe überreicht worden, aber ich weiß nicht, ob das Geld noch bei ihm war, als er angegriffen wurde.«

»Ich habe keine einzige Krone gesehen.«

»Nein«, sagte Erlendur. »Du hast nicht zufällig das Geld genommen, als du ihn gefunden hast?«

Ösp unterbrach ihre Arbeit und stemmte die Hände in die Hüften.

»Willst du damit sagen, dass ich das Geld geklaut haben soll?«

»So was soll schon mal vorgekommen sein.«

»Glaubst du echt, dass …«

»Hast du es genommen?«

»Nein.«

»Du hättest die Möglichkeit gehabt.«

»Oder der, der ihn umgebracht hat.«

»Das ist richtig«, sagte Erlendur.

»Ich habe nicht eine müde Krone gesehen.«

»Na schön, ist schon in Ordnung.«

Ösp fuhr fort zu putzen. Spritzte Klosettreiniger in die Schüssel und hantierte mit der Klobürste herum, als wäre Erlendur überhaupt nicht anwesend. Er beobachtete sie noch eine Weile bei der Arbeit und bedankte sich dann bei ihr.

»Was hast du damit gemeint, als du gesagt hast, du hättest ihn gestört?«, fragte er und hielt in der Tür inne. »Henry Wapshott. Du bist ja wohl kaum bis ins Zimmer gekommen, wenn du dich so angemeldet hast wie eben.«

»Er hat mich nicht gehört.«

»Was hat er gemacht?«

»Ich weiß nicht, ob ich das …«

»Es bleibt unter uns.«

»Er hat ferngesehen«, sagte Ösp.

»Das wäre ihm wohl peinlich gewesen, wenn sich das herumgesprochen hätte«, flüsterte Erlendur im Verschwörerton.

»Also ich meine, das war ein Video. Ein Pornofilm, echt widerlich.«

»Zeigt ihr hier im Hotel Pornofilme?«

»Nicht solche Filme, die sind überall verboten.«

»Solche Filme?«

»Das war ein Porno mit Kindern. Ich habe es dem Hotelmanager erzählt.«

»Ein Kinderporno? Was?«

»Wie? Soll ich dir das etwa beschreiben?«

»An welchem Tag war das?«

»Total pervers!«

»Wann war das?«

»An dem Tag, als ich Gulli gefunden habe.«

»Was hat der Hotelmanager unternommen?«

»Gar nichts«, sagte Ösp. »Er hat gesagt, ich solle ja die Schnauze halten.«

»Weißt du, wer Guðlaugur war?«

»Was meinst du eigentlich? Er war Portier. War er sonst noch was?«

»Ja, als Kind. Er war Chorknabe und hatte eine wunderschöne Stimme. Ich habe eine Schallplatte von ihm gehört.«

»Chorknabe?«

»Eigentlich war er ein Kinderstar. Aber dann ging in seinem Leben so ziemlich alles schief. Er kam in die Pubertät, und da war alles mit einem Mal vorbei.«

»Das wusste ich nicht.«

»Nein, Guðlaugur war völlig in Vergessenheit geraten«, sagte Erlendur.

Sie schwiegen eine Weile. Geraume Zeit verstrich.

»Geht dir Weihnachten auf die Nerven?«, fragte Erlendur noch einmal. Es war, als hätte er einen Leidensgenossen gefunden.

Sie wandte sich ihm zu.

»Weihnachten ist nur was für glückliche Menschen.«

Erlendur schaute Ösp an, und ein kleines schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Du würdest dich gut mit meiner Tochter verstehen«, sagte er und fischte nach seinem Handy.


Sigurður Óli fiel aus allen Wolken, als Erlendur ihn darüber informierte, dass Guðlaugur wahrscheinlich in seinem Kabuff eine ordentliche Summe Geld liegen gehabt hatte. Sie überlegten, ob man Wapshotts Aussage, dass er zur Tatzeit angeblich in den Sammlerläden gewesen war, überprüfen müsste. Sigurður Óli stand gerade vor Wapshotts Zelle, als Erlendur anrief, und er schilderte anschaulich, wie dem Engländer die Speichelprobe entnommen wurde.

Die Zelle, in der er sich befand, hatte schon eine ganze Reihe von Straftätern beherbergt, angefangen bei harmlosen Pennern bis hin zu Gewalttätern und Mördern, die die Wände bemalt oder Kommentare über ihre erbärmliche Unterkunft in den Putz geritzt hatten. In der Zelle befanden sich eine Toilettenschüssel und eine Liege, die fest angeschraubt war. Auf der Liege lagen eine dünne Matratze und ein hartes Kopfkissen. Die Zelle war fensterlos, aber oben an der Decke war eine gleißende Neonröhre angebracht, die nie ausgeschaltet wurde, sodass die Gefangenen keine Orientierung hatten, ob es Tag oder Nacht war.

Henry Wapshott stand stocksteif vor der Wand, die sich gegenüber der schweren Stahltüre befand. Zwei Wärter hielten ihn fest. Elinborg und Sigurður Óli waren ebenfalls in der Zelle, mit der gerichtlichen Anordnung für die Speichelprobe in der Hand. Valgerður war mit ihren Baumwollstäbchen gekommen, um ihm die Probe zu entnehmen.

Wapshott starrte sie an, als sei der Leibhaftige höchstpersönlich erschienen, um ihn in die finstersten Abgründe der Höllenqualen zu stürzen. Die Augen drohten ihm aus dem Kopf zu springen, und er drehte und wendete sich in alle Richtungen, um Valgerður zu entgehen. Egal, was für Tricks sie anwandten, er war nicht dazu zu bewegen, seinen Mund zu öffnen.

Zum Schluss wurde er gepackt und zu Fall gebracht. Sie hielten ihm die Nase zu, bis er kapitulierte und den Mund zum Atmen öffnete. Valgerður sah ihre Chance gekommen und steckte ihm das Baumwollstäbchen in den Rachen, bis er anfing zu würgen, dann zog sie es blitzschnell zurück.

Neunzehn

Als Erlendur auf seinem Weg in die Küche wieder die Lobby passierte, sah er Marian Briem an der Rezeption stehen, in abgewetztem Mantel, Hut auf dem Kopf, die Finger trommelten auf das Holz. Sie begrüßten sich kurz und gingen in den Speisesaal, wo sie Platz nahmen. Erlendur stellte fest, dass die Jahre an seinem ehemaligen Boss nicht spurlos vorübergegangen waren, aber die Augen waren immer noch genauso wach und fragend wie früher. Und wie immer wurde nicht um die Sache herumgeredet.

»Du siehst furchtbar aus«, sagte Marian und setzte sich. »Mit was quälst du dich eigentlich herum?« Ein Zigarillo wurde zusammen mit einer Streichholzschachtel aus dem Mantel gekramt.

»Hier ist es wohl verboten zu rauchen«, sagte Erlendur.

»Rauchen ist nirgendwo mehr gestattet«, sagte Marian und zündete mit gequälter Miene den Zigarillo an. Die Haut war grau und schlapp und faltig. Farblose Lippen spitzten sich um den Zigarillo. Knochige Finger mit blutleeren Nägeln griffen wieder danach, nachdem die Lungen das ihre bekommen hatten.

Obwohl sie auf eine lange und ereignisreiche Zusammenarbeit zurückblicken konnten, hatten sie sich niemals richtig angefreundet. Marian hatte viele Jahre lang die Regie geführt und versucht, Erlendur in seine Disziplin einzuweisen. Erlendur war störrisch gewesen und hatte sich mit dem Entgegennehmen von Anweisungen und Befehlen schwer getan. Er ertrug keine Vorgesetzten, auch heute noch nicht. Es war Marian Briem damals sauer aufgestoßen und entsprechend oft zu Auseinandersetzungen gekommen, aber Marian wusste, was für ein hervorragender Mitarbeiter Erlendur war, nicht zuletzt deswegen, weil er keine Familie hatte und somit privat kaum eingespannt war. Sein Leben bestand nur aus Arbeit. Marian Briem hatte immer allein gelebt und war in der gleichen Situation.

»Gibt’s was Neues bei dir?«, fragte Marian und paffte am Zigarillo.

»Nein«, sagte Erlendur.

»Geht dir Weihnachten auf die Nerven?«

»Ich habe keine Ahnung, was dieses Theater mit Weihnachten soll«, sagte Erlendur abwesend, schaute zur Küche und hielt Ausschau nach der weißen Mütze.

»Nein«, sagte Marian. »Zu viel an Freude und Glück, könnte ich mir vorstellen. Warum schaffst du dir nicht eine Frau an? Du bist doch noch nicht so alt. Es gibt jede Menge Frauen, die sich durchaus vorstellen können, so einen Griesgram wie dich zu umsorgen, soviel steht fest.«

»Ich hab’s probiert«, sagte Erlendur. »Hast du was herausge …?«

»Meinst du vielleicht deine Ex-Frau?«

Erlendur hatte nicht vor, sich über sein Privatleben auszulassen.

»Hör auf«, sagte er.

»Ich habe gehört, dass …«

»Ich habe gesagt, du sollst damit aufhören«, sagte Erlendur ärgerlich.

»In Ordnung«, erwiderte Marian Briem. »Es geht mich nichts an, was du mit deinem Leben machst. Ich weiß bloß, dass Einsamkeit zermürbend ist.« Marian verstummte für einen Moment. »Aber du hast natürlich deine Kinder …?«

»Lassen wir das«, sagte Erlendur. »Du bist …« Weiter kam er nicht.

»Was bin ich?«

»Was willst du hier überhaupt? Konntest du nicht anrufen?«

Marian schaute Erlendur an, und ein Lächeln schien über das Gesicht zu huschen.

»Ich habe gehört, dass du dich hier im Hotel einquartiert hast. Dass du sogar an Weihnachten nicht nach Hause gehst. Was ist los mit dir? Warum gehst du nicht nach Hause?«

Erlendur antwortete nicht.

»Langweilst du dich so mit dir selbst?«

»Können wir bitte über etwas anderes reden?«

»Ich kenne das Gefühl, wenn man sich selber satt hat. Dieses unangenehme Ich, das man ist und das einem ständig im Kopf herumspukt und einen mit seiner altbekannten Leier piesackt. Eine Zeit lang klappt’s vielleicht, sich selbst zu belügen und glücklich zu sein, aber dann kommt es wieder, und alles fängt von vorne an. Man kann versuchen, es mit Alkohol zu betäuben, oder irgendwo anders hingehen. Im Hotel übernachten, wenn es unerträglich wird.«

»Marian«, bat Erlendur, »lass mich in Ruhe.«

»Wer Platten mit Guðlaugur Egilsson besitzt«, erklärte Marian Briem und kam endlich zur Sache, »der hat ausgesorgt.«

»Wie kommst du darauf?«

»Die sind heutzutage ein Vermögen wert. Es existieren nur sehr wenige, und diejenigen, die schon welche besitzen oder aus irgendwelchen Gründen von ihnen gehört haben, sind bereit, Unsummen dafür zu bezahlen. Guðlaugurs Platten sind eine absolute Rarität in Sammlerkreisen.«

»Was für Unsummen? Zigtausende?«

»Sogar Hunderttausende«, sagte Marian Briem. »Für jedes einzelne Exemplar.«

»Hunderttausende? Das kann nicht dein Ernst sein.« Erlendur richtete sich auf. Er dachte an Henry Wapshott, wusste, weswegen er nach Island gekommen war und Guðlaugur aufgesucht hatte. Er war auf der Jagd nach seinen Platten. Es war keineswegs nur seine Begeisterung für Chorknaben gewesen, was sein Interesse geweckt hatte, wie Wapshott ihm weismachen wollte. Erlendur begriff, warum er Guðlaugur aufs Geratewohl eine halbe Million in die Hand gedrückt hatte.

»Soweit ich feststellen kann, wurden insgesamt nur zwei Platten mit dem Jungen herausgegeben«, sagte Marian Briem. »Und das, was sie so wertvoll macht, jetzt mal abgesehen von dem außergewöhnlichen Gesangstalent des Jungen, ist, dass die Auflage klein war und kaum verkauft wurde. Es gibt heutzutage nicht viele, die diese Platten besitzen.«

»Spielt der Gesang selber gar keine Rolle?«

»Doch, ich glaube schon, aber trotzdem ist es in der Regel so, dass die Qualität der Musik und die Qualität der Einspielung die untergeordnete Rolle spielen. Es geht mehr um die Einmaligkeit der Einspielung. Die Musik kann scheußlich sein, aber wenn es der richtige Solist zur richtigen Zeit mit dem richtigen Lied beim richtigen Plattenproduzenten ist, dann kann der Wert unbegrenzt steigen. Es wird nicht in erster Linie nach dem künstlerischen Gehalt gefragt.«

»Was wurde aus der Auflage? Konntest du da etwas in Erfahrung bringen?«

»Es lassen sich keine alten Bestände finden. Die sind im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten oder vielleicht sogar einfach weggeworfen worden. Groß waren sie nicht, vielleicht ein paar hundert Platten. Die Platten sind in erster Linie deswegen so teuer, weil es nur ein paar Exemplare auf der ganzen Welt zu geben scheint. Hinzu kommt, dass die Karriere des Jungen extrem kurz war; außer diesen beiden Platten, die im gleichen Jahr aufgenommen wurden, gibt es nichts. Wenn ich richtig verstanden habe, ist er in den Stimmbruch gekommen und hat nie wieder gesungen.«

»Das passierte dem Ärmsten ausgerechnet auf einem Konzert«, sagte Erlendur. »Die Stimme ist gekippt.«

»Und Jahrzehnte später wird er ermordet aufgefunden.«

»Falls der Wert dieser Platten Hunderttausende beträgt …«

»Ja?«

»… ist das nicht Grund genug, ihn umzubringen? Von den Platten haben wir jeweils ein Exemplar in seinem Kabuff gefunden. Sonst befand sich eigentlich überhaupt nichts in dem Zimmer.«

»Dann hat derjenige, der ihn erstochen hat, wohl kaum gewusst, wie wertvoll sie sind«, sagte Marian Briem.

»Du meinst, sonst hätte er die Platten mitgehen lassen?«

»Wie sahen die aus?«

»Wie neu«, erwiderte Erlendur. »Die Plattenhülle völlig sauber und nicht zerknittert. Die Platten sind völlig unbeschädigt. Soweit ich sehen kann, sind sie nie zuvor gespielt worden …«

Er schaute Marian Briem an.

»Könnte es sein, dass Guðlaugur irgendwie in den Besitz der restlichen Auflage gekommen ist?«

»Warum nicht?«, sagte Marian Briem.

»Wir haben Schlüssel bei ihm gefunden, von denen wir nicht wissen, wozu sie gehören. Wo könnte er das Zeug wohl aufbewahrt haben?«

»Es muss ja nicht die gesamte Auflage sein, vielleicht nur ein Teil davon. Wer sonst außer dem Chorknaben selbst sollte das Zeug besitzen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Wir haben einen Sammler in Gewahrsam, der extra aus England angereist ist, um Guðlaugur zu treffen. Ein dubioser Zeitgenosse, der versucht hat, uns zu entwischen und nach eigenen Aussagen den Chorknaben von einst verehrt. Er ist meines Wissens der Einzige, der darüber Bescheid weiß, was die Platten von Guðlaugur wert sind. Er sammelt Platten mit Chorknaben.«

»Tickt der noch richtig?«

»Sigurður Óli findet das gerade heraus«, sagte Erlendur.

»Guðlaugur war Weihnachtsmann hier im Hotel«, fügte er hinzu, als habe der Weihnachtsmann im Hotel eine Planstelle gehabt.

Trotz seines hohen Alters musste Marian grinsen.

»Wir haben bei Guðlaugur einen Zettel gefunden, auf dem« Henry »und die Uhrzeit ›18.30‹ stand, so, als wäre er zu diesem Zeitpunkt verabredet gewesen. Henry Wapshott behauptet, ihn am Tag vor dem Mord um halb sieben getroffen zu haben.«

Erlendur verstummte, tief in Gedanken versunken.

»Was grübelst du?«, fragte Marian.

»Wapshott hat mir gesagt, dass er Guðlaugur eine halbe Million Kronen gezahlt hat, um zu zeigen, dass es ihm ernst war mit dem Ankauf der Platten. Dieses Geld kann in dem Zimmer gewesen sein, als er überfallen wurde.«

»Meinst du damit, dass jemand über Wapshott und dessen Geschäfte mit Guðlaugur Bescheid gewusst hat?«

»Denkbar.«

»Auch ein Sammler?«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Wapshott benimmt sich verdächtig. Ich weiß, dass er uns irgendwas verheimlicht. Ob es mit ihm selbst oder mit Guðlaugur zu tun hat, kann ich nicht sagen.«

»Das Geld war natürlich verschwunden, als ihr Guðlaugur gefunden habt.«

»Ja.«

»Ich muss weiter«, sagte Marian und stand auf. Erlendur erhob sich ebenfalls. »Ich kann mich kaum einen halben Tag auf den Beinen halten. Es ist die Hölle, wenn Tag für Tag die Kräfte nachlassen. Wie geht’s deiner Tochter?«

»Eva? Ich weiß nicht. Ich glaube, es geht ihr nicht gut.«

»Vielleicht solltest du zu Weihnachten mit ihr zusammen sein.«

»Ja, vielleicht.«

»Und wie steht’s mit den Frauen?«

»Mensch, hör auf damit«, sagte Erlendur und musste an Valgerður denken. Er hätte sie gerne angerufen, aber er traute sich nicht. Was sollte er sagen? Was ging sie seine Vergangenheit an? Was ging andere sein Leben an? Völliger Blödsinn, sie einzuladen. Er wusste nicht, was da in ihn gefahren war.

»Ich habe gehört, dass du hier mit einer Frau zu Abend gegessen hast«, sagte Marian, »das ist ja, soweit bekannt, schon seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall gewesen.«

»Von wem hast du das?«, fragte Erlendur wie vom Donner gerührt.

»Was für eine Frau ist das?«, fragte Marian zurück, ohne auf seine Frage einzugehen. »Mir wurde gesagt, dass sie gut aussah.«

»Es gibt keine Frau«, stieß Erlendur hervor und stapfte davon. Marian Briem schaute ihm nach und verließ grinsend und mit langsamen, vorsichtigen Schritten das Hotel.


Auf dem Weg von seinem Zimmer in die Lobby hatte Erlendur noch überlegt, wie er den Chefkoch auf vorsichtige Weise mit dem Vorwurf des Diebstahls konfrontieren könnte, aber das Gespräch mit Marian Briem hatte ihn innerlich aufgewühlt. Als er nun den Mann in der Küche auf die Seite zog, ließ er alles, was Höflichkeit hieß, beiseite.

»Du klaust hier also?«, sagte er ohne Umschweife. »Und all die anderen in der Küche auch? Ihr klaut hier alles, was nicht niet- und nagelfest ist?«

Der Chefkoch starrte ihn an.

»Was meinst du eigentlich?«

»Ich meine, dass der Weihnachtsmann erstochen wurde, weil er ganz genau über diese Klauerei hier im Hotel Bescheid wusste. Vielleicht wurde er erstochen, weil er genau wusste, wer dahinter steckt. Vielleicht hast du dich da in sein Kabuff unten im Keller geschlichen und ihn erstochen, damit er diese Geschichte nicht an die große Glocke hängt. Wie findest du diese Erklärung? Und außerdem hast du ihn ausgeraubt.«

Der Koch glotzte Erlendur an. »Du bist durchgeknallt«, sagte er schließlich ächzend.

»Klaust du aus der Küche?«

»Mit wem hast du geredet?«, fragte der Koch mit drohendem Unterton. »Wer lügt dir so die Hucke voll? War das jemand aus dem Hotel?«

»Hat man dir inzwischen die Speichelprobe entnommen?«

»Von wem hast du das?«

»Warum hast du dich gegen die Speichelprobe gewehrt?«

»Die wurde doch noch gemacht, zum Schluss. Ich glaube, du bist ein Volltrottel. Speichelproben von allen, die hier im Hotel arbeiten! Wozu? Um uns alle lächerlich zu machen? Und dann kommst du daher und nennst mich einen Dieb. Ich habe hier aus der Küche noch nicht mal so was wie einen Kohlkopf mitgehen lassen! Niemals! Wer lügt dir so was vor?«

»Falls der Weihnachtsmann etwas gegen dich in der Hand hatte und wusste, dass du ein Dieb bist, könnte es dann nicht sein, dass er versucht hat, dich zu erpressen? Beispielswei …«

»Jetzt reicht’s aber!«, brüllte der Chefkoch. »War es dieser Zuhälter, der dir das aufgebunden hat?«

Erlendur war klar, dass sein Gegenüber jeden Moment ausrasten und womöglich handgreiflich werden würde.

Der Koch war so dicht an ihn herangetreten, dass sich ihre Gesichter fast berührten.

»War das dieser verdammte Zuhälter?«, fauchte der Koch.

»Wer ist hier ein Zuhälter?«

»Dieser feiste Fettkloß von einem Manager«, stieß der Koch zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Erlendurs Handy klingelte. Sie fixierten einander mit zusammengekniffenen Augen, keiner von beiden war bereit nachzugeben. Schließlich holte Erlendur das Handy aus der Tasche. Schäumend vor Wut wandte sich der Koch von ihm ab.

Der Leiter der Spurensicherung war am Apparat.

»Es ist wegen des Speichels an dem Kondom«, erklärte er, nachdem er seinen Namen genannt hatte.

»Ja«, sagte Erlendur. »Habt ihr die zugehörige Person schon gefunden?«

»Nein, das wird bestimmt noch eine Weile dauern. Aber wir haben sie uns genauer angeschaut, also die Zusammensetzung, und wir fanden unter anderem Tabakrückstände.«

»Tabak? Meinst du, der Täter war Raucher?«

»Nein, eigentlich mehr im Sinne von Kauresten.«

»Kauresten?«

»Die chemische Zusammensetzung. Früher konnte man so was in Tabakläden bekommen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt noch verkauft werden darf. Wir werden dem nachgehen. Die Leute schieben das unter die Lippe, entweder lose oder in kleinen Gazebeutelchen, du musst das doch kennen.«

Der Koch trat gegen eine Schranktür und ließ eine Schimpfkanonade vom Stapel.

»Du meinst also Kautabak«, sagte Erlendur. »Gibt es Reste von Kautabak in dem Speichel am Kondom?«

»Genau«, sagte der Abteilungsleiter.

»Und was bedeutet das?«

»Derjenige, der mit dem Weihnachtsmann zusammen war, benutzt Kautabak.«

»Bringt uns das weiter?«

»Nein. Noch nicht. Ich dachte bloß, du würdest das wissen wollen. Und dann noch etwas. Du hast nach dem Kortisol im Speichel gefragt.«

»Ja.«

»Gemessen wurde nicht viel, es war eigentlich ganz normal.«

»Und was sagt uns das? Alles war also friedlich?«

»Falls viel Kortisol gemessen wird, ist der Blutdruck wegen Spannung oder Belastung gestiegen. Wer auch immer mit dem Portier zusammen gewesen ist, war die ganze Zeit völlig gelassen. Keine Spannung. Er hat keine Angst vor nichts gehabt.«

»Bis dann aber etwas passierte«, sagte Erlendur.

»Ja«, sagte der Abteilungsleiter. »Bis dann etwas passierte.«

Sie beendeten das Gespräch. Erlendur steckte das Telefon wieder in die Tasche. Der Chefkoch stand da und starrte ihn an.

»Weißt du, ob irgendjemand hier im Hotel Kautabak verwendet?«, fragte Erlendur.

»Leck mich am Arsch!«, schrie der Koch.

Erlendur holte tief Atem, nahm die Hände vors Gesicht und rieb es müde. Im Geiste sah er plötzlich die tabakgeschädigten Zähne von Henry Wapshott vor sich.

Zwanzig

Erlendur fragte in der Rezeption nach dem Hotelmanager und erfuhr, dass er momentan nicht im Haus sei. Der Chefkoch weigerte sich, genauer zu erläutern, warum er den Manager einen Zuhälter genannt hatte, als die Rede auf »diesen verdammten, feisten Fettkloß« kam. Erlendur war noch nie einem derartig cholerischen Menschen begegnet; ihm war klar, dass dem Koch in seiner Wut irgendetwas herausgerutscht war, was er eigentlich nicht hatte sagen wollen. Erlendur wusste im Augenblick aber nicht so recht weiter, denn aus seinem Gegenüber war nichts anderes herauszuholen als Ausflüchte und Verwünschungen. Um den Heimvorteil, den dieser in der Küche hatte, etwas auszugleichen, aber hauptsächlich, um seine Wut noch mehr zu steigern, erwägte Erlendur, vier uniformierte Polizisten ins Hotel zu beordern, den Koch abführen und zur Vernehmung ins Dezernat an der Hverfisgata bringen zu lassen.

Er spielte eine Weile mit dem Gedanken, beschloss dann aber, davon abzusehen.

Stattdessen fuhr er hoch zu Henry Wapshotts Zimmer.

Er brach das Polizeisiegel, das sich an der Tür befand. Die Leute von der Spurensicherung hatten darauf geachtet, alles an seinem Platz zu belassen. Erlendur stand lange Zeit unbeweglich da und blickte sich um. Er suchte nach irgendwelchen Verpackungen für Kautabak.

Es war ein Doppelzimmer mit zwei Betten, beide waren nicht gemacht, so als hätte Wapshott entweder in beiden geschlafen, oder es hatte noch jemand hier übernachtet.

Auf einem Tisch stand ein alter Plattenspieler, der mit einem Verstärker und zwei kleinen Lautsprechern verbunden war, und auf einem anderen Tisch stand ein kleiner Fernseher mit einem Videogerät. Daneben lagen zwei Videokassetten. Erlendur legte die eine ein und schaltete den Fernseher ein, machte aber sofort wieder aus, als er die ersten Bilder gesehen hatte. Ösp hatte Recht gehabt mit den Pornos.

Er öffnete die Nachttischschubladen und untersuchte den Koffer genau, Kautabak fand er nirgends. Er warf einen Blick in den Papierkorb, aber der war leer.

»Elinborg hatte Recht«, sagte Sigurður Óli, der plötzlich im Zimmer stand.

Erlendur drehte sich um.

»Was meinst du?«, fragte er.

»Die Engländer haben endlich ein paar Informationen über ihn rübergeschickt«, sagte Sigurður Óli und blickte sich um.

»Ich suche nach Kautabak. Sie haben so was in der Art an dem Kondom gefunden.«

»Ich glaube, ich weiß, warum er keine Verbindung zu seiner Botschaft oder zu einem Rechtsanwalt aufnehmen wollte und darauf hofft, dass sich das einfach so erledigt«, sagte Sigurður Óli, und er berichtete kurz, was der englischen Polizei über den Plattensammler vorlag.

Henry Wapshott, unverheiratet und kinderlos, kam 1938, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in London zur Welt. Seine Familie väterlicherseits besaß einige wertvolle Immobilien mitten in der City. Einige der Gebäude waren im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, und auf den Grundstücken hatte man solide Wohnhäuser und Bürogebäude errichtet, die erhebliche Einkünfte garantierten.

Wapshott hatte nie seinen Lebensunterhalt verdienen müssen. Er war Einzelkind und besuchte die besten Schulen, Eaton und Oxford, schloss aber sein Universitätsstudium nie ab. Als sein Vater starb, übernahm er die Firma, aber im Gegensatz zu seinem alten Herrn hatte er keinerlei Interesse, sich um den Hausbesitz zu kümmern, und bald ließ er sich nur noch auf den allerwichtigsten Sitzungen blicken, bis er auch damit aufhörte und die Abwicklung ganz und gar seinen Geschäftsführern überlief?.

Er hatte zeit seines Lebens im elterlichen Haus gewohnt, und bei den Nachbarn galt er als spleeniger Einzelgänger, zwar zuvorkommend und höflich, aber wortkarg und unzugänglich. Plattensammeln war sein einziges Interesse, er füllte das Haus mit Schallplatten, die er aus Nachlässen oder auf Schallplattenmessen aufkaufte. Wegen seiner Sammelleidenschaft reiste er viel. Angeblich besaß er eine der größten Plattensammlungen in England.

Er war zweimal mit dem Gesetz in Konflikt geraten und gehörte zu denjenigen Sexualstraftätern, die die englische Polizei ständig im Visier behielt. Beim ersten Mal war er angeklagt und verurteilt worden, weil er einen zwölfjährigen Jungen vergewaltigt hatte. Der Junge wohnte in Wapshotts Nachbarschaft, sie hatten sich durch das gemeinsame Interesse an Schallplatten kennen gelernt.

Der Vorfall ereignete sich in Wapshotts Elternhaus. Als seine Mutter davon erfuhr, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch; der Fall wurde in den englischen Zeitungen, vor allem in der Regenbogenpresse, breitgetreten. Wapshott, der den privilegierten Schichten angehörte, war als Unmensch in aller Munde. Bei der polizeilichen Ermittlung stellte sich heraus, dass er gewohnt war, Jungen und junge Männer großzügig für diverse sexuelle Dienstleistungen zu bezahlen.

Als er aus dem Gefängnis kam, war seine Mutter gestorben. Er verkaufte sein Elternhaus und zog in einen anderen Stadtteil. Einige Jahre später kam er wieder in die Schlagzeilen, als zwei Jungen im Konfirmationsalter aussagten, dass Henry Wapshott ihnen Geld dafür angeboten hatte, sich vor ihm auszuziehen. Außerdem lag wieder eine Anzeige wegen Vergewaltigung gegen ihn vor.

Als die Sache hochkam, befand sich Wapshott in Baden-Baden und wurde in Brenner’s Park Hotel & Spa festgenommen.

Es gelang nicht, ihm diese zweite Vergewaltigung nachzuweisen, und Wapshott verließ das Land; er zog nach Thailand, behielt aber seine britische Staatsbürgerschaft, denn seine Plattensammlung ließ er in England und kam häufig zu Sammelzwecken zurück. Er verwendete seitdem den Namen seiner Mutter, Wapshott, aber sein richtiger Name war Henry Wilson. In England war er nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, seit er das Land verlassen hatte, aber über seinen Aufenthalt in Thailand war so gut wie nichts bekannt.

»Kein Wunder, dass er inkognito bleiben wollte«, sagte Erlendur, als Sigurður Óli seinen Bericht beendet hatte.

»Scheint wirklich Abschaum zu sein«, sagte Sigurður Óli.

»Man kann sich vorstellen, warum er nach Thailand gezogen ist.«

»Gegen ihn liegt also derzeit nichts vor?«, fragte Erlendur.

»Bei der englischen Polizei?«

»Nein, die sind bestimmt heilfroh, ihn los zu sein«, sagte Sigurður Óli. »Elínborg hat Recht gehabt.«

»Wie war das noch?«

»Dass Henrys Interesse an Guðlaugur, das heißt, an dem Chorknaben Guðlaugur und nicht an dem Weihnachtsmann, sexueller Natur gewesen ist. Sie hat uns verklemmte Mönche genannt, weil wir nicht mit ihrer Phantasie mitkamen.«

»Mit anderen Worten, Henry ist da unten bei ihm gewesen und hat ihn umgebracht? Den Chorknaben, den er verehrte? Klingt das nicht trotzdem irgendwie widersinnig?«

»Ich krieg sowieso keinen Sinn in das Ganze«, sagte Sigurður Óli. »Ich begreife Kerle mit solchen perversen Interessen einfach nicht, ich weiß bloß, dass es das Abartigste ist, was man sich vorstellen kann.«


»Angesehen hat man ihm das nicht, so auf den ersten Blick«, sagte Erlendur und nippte an einem grünen Chartreuse, den er inzwischen bestellt hatte.

»Denen sieht man nie was an, diesen perversen Päderasten«, sagte Sigurður Óli.

Sie waren wieder ins Erdgeschoss gegangen und hatten in der kleinen Bar Platz genommen. An der Theke herrschte Hochbetrieb. Die ausländischen Hotelgäste waren aufgekratzt und unterhielten sich mit geröteten Wangen lautstark über das, was sie tagsüber alles gesehen und erlebt hatten. Man sah ihnen an, dass sie mit ihrem Aufenthalt im winterlichen Island sehr zufrieden waren.

»Hast du herausgefunden, ob Guðlaugur irgendwelche Bankkonten hatte?«, fragte Erlendur. Er zündete sich eine Zigarette an und stellte mit einem kurzen Blick fest, dass er der Einzige in der Bar war, der rauchte.

»Ich bin dabei«, sagte Sigurður Óli und nahm einen Schluck Bier.

Elinborg erschien im Eingang zur Bar, und Sigurður Óli winkte ihr zu. Sie nickte und zwängte sich zu ihnen zur Theke durch, bestellte sich ein großes Bier und setzte sich.

Sigurður Óli informierte Elinborg in knappen Worten darüber, was die englische Polizei in Bezug auf Wapshott zu berichten hatte. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Da habe ich also haarscharf ins Schwarze getroffen.«

»Womit?«

»Damit, dass sein Interesse an Chorknaben mit Sex zu tun hat. Und sein Interesse an Guðlaugur genauso.«

»Meinst du, dass er und Guðlaugur da unten rumgemacht haben?«

»Vielleicht wurde Guðlaugur dazu gezwungen. Und irgendjemand hatte ein Messer dabei.«

»Mein Gott, dass man sich zu Weihnachten über so was den Kopf zerbrechen muss«, stöhnte Elinborg.

»Nicht gerade appetitlich«, sagte Erlendur und leerte sein Glas Chartreuse. Er hätte gern noch eins getrunken, er schaute auf die Uhr. Im Büro wäre jetzt Dienstschluss angesagt. Der Betrieb an der Bar hatte etwas nachgelassen, und Erlendur gab dem Barkeeper ein Zeichen.

»Das hieße, es wären mindestens zwei da unten bei ihm gewesen, denn schließlich schaffst du es kaum, jemanden zu bedrohen, wenn du bei so einer Beschäftigung vor jemandem kniest«, bemerkte Sigurður Óli. Er schaute zu Elinborg hinüber, weil er glaubte, dass er vielleicht zu weit gegangen war.

»Das wird ja immer besser«, sagte Elinborg.

»Die Spekulatius verlieren wohl etwas an Geschmack«, sagte Erlendur.

»Okay, aber warum geht er mit dem Messer auf Guðlaugur los?«, fuhr Sigurður Óli fort. »Und zwar nicht nur einmal, sondern mehrmals. Als hätte er die Kontrolle über sich verloren. Falls es Henry war, der über ihn hergefallen ist, muss da im Keller etwas vorgefallen oder gesagt worden sein, wodurch dieser perverse Brite völlig ausgerastet ist.«

Der Barkeeper kam, und Erlendur wollte eine weitere Runde bestellen, Elinborg und Sigurður Óli lehnten jedoch ab, indem sie auf die Uhr zeigten. Weihnachten rückte unerbittlich näher.

»Ich bin überzeugt, dass er da unten mit einer Frau zusammen war«, sagte Sigurður Óli.

»Die haben das Kortisol gemessen«, sagte Erlendur, »und das war völlig normal. Wer immer mit Guðlaugur zusammen war, kann schon weg gewesen sein, als er ermordet wurde.«

»Finde ich nicht sehr wahrscheinlich, wenn man bedenkt, wie wir ihn gefunden haben«, warf Elinborg ein.

»Wer auch immer mit ihm zusammen war, ist zu nichts gezwungen worden«, sagte Erlendur. »So viel steht, glaube ich, fest. Falls der Kortisolspiegel höher gewesen wäre, hätte es auf körperliche Erregung oder Spannung gedeutet.«

»Also war es eine Nutte«, sagte Sigurður Óli, »die schlicht und ergreifend ihrem Job nachging.«

»Können wir vielleicht über was anderes reden?«, bat Elinborg.

»Es kann sein, dass hier im Hotel geklaut wurde und dass der Weihnachtsmann davon wusste«, sagte Erlendur.

»Und deswegen ist er umgebracht worden?«, fragte Sigurður Óli.

»Ich weiß es nicht. Außerdem kann es sein, dass es hier in irgendeiner Form professionell organisierte Prostitution gibt, und zwar gedeckt vom Hotelmanager. Mir ist nicht ganz klar, wie das abläuft, aber das werden wir wohl mal unter die Lupe nehmen müssen.«

»Hat Guðlaugur irgendwas damit zu tun?«, fragte Elinborg.

»Wenn man bedenkt, wie er gefunden wurde, ist das keineswegs unwahrscheinlich«, sagte Sigurður Óli.

»Wie kommst du mit deinem Typen weiter?«, wandte sich Erlendur an Elinborg.

»Vor Gericht hat er keinen Ton von sich gegeben«, sagte Elinborg und trank einen Schluck Bier.

»Der Kleine hat immer noch nicht gegen seinen Vater ausgesagt, oder?«, fragte Sigurður Óli, der auch über den Fall informiert war.

»Schweigsam wie ein Grab, der arme Junge«, sagte Elinborg. »Und der verdammte Kerl hält sich an seine Aussage. Streitet rundheraus ab, über ihn hergefallen zu sein. Er hat natürlich zwei ausgezeichnete Rechtsanwälte.«

»Und muss der Kleine dann wieder zu ihm zurück?«

»Das kann gut sein.«

»Und was sagt der Junge?«, fragte Erlendur. »Will er wieder zu ihm zurück?«

»Das ist das Merkwürdigste an der ganzen Sache«, sagte Elinborg. »Er hängt immer noch an ihm. Man hat den Eindruck, dass er glaubt, er habe es verdient, bestraft zu werden.«

Sie schwiegen.

»Willst du wirklich über Weihnachten hier im Hotel bleiben, Erlendur?«, fragte Elinborg. In ihrer Stimme schwang ein vorwurfsvoller Unterton mit.

»Nein, ich werde wohl machen, dass ich nach Hause komme«, sagte Erlendur. »Eva will bei mir sein und geräuchertes Lammfleisch kochen.«

»Wie geht es ihr?«, fragte Elinborg.

»Na ja«, sagte Erlendur, »ganz gut, denke ich.« Er glaubte, dass sie es ihm ansehen konnten, dass er log. Sie kannten die Probleme nur zu gut, mit denen seine Tochter zu kämpfen hatte, kamen aber nur selten darauf zu sprechen.

Sie wussten, dass er so wenig wie möglich darüber reden wollte, und sie fragten nie nach irgendwelchen Details.

»Morgen ist der Dreiundzwanzigste«, sagte Sigurður Óli.

»Alles im grünen Bereich bei dir, Elinborg?«

»Nix ist im grünen Bereich«, seufzte Elinborg.

»Ich denke an diese Plattensammelei«, sagte Erlendur.

»Was ist damit?«, fragte Elinborg.

»Ist das nicht etwas, womit man schon als junger Mensch anfängt?«, sagte Erlendur. »Obwohl ich mich da nicht auskenne. Ich habe noch nie irgendwas gesammelt. Aber kommt das Interesse für so was nicht schon bei Kindern auf, wenn man Bilder von Schauspielern sammelt oder Modellflugzeuge, und natürlich Briefmarken und Kinoprogramme und Platten? Bei den meisten ist das nur eine vorübergehende Begeisterung, aber einige machen weiter und sammeln Bücher und Platten, bis an ihr Lebensende.«

»Willst du uns damit etwas sagen?«

»Ich denke über solche Plattensammler wie Wapshott nach, obwohl die meisten sicherlich nicht so pervers sind wie er.

Ob diese Sammelei nicht so etwas wie ein Kindheitssyndrom ist. Ob es vielleicht mit dem Bedürfnis zu tun hat, etwas zu behalten, was sonst aus ihrem Leben verschwinden würde, was sie aber auf keinen Fall missen wollen. Ist Sammeln nicht ein Versuch, etwas aus der Jugend aufzubewahren? Etwas, was mit den Erinnerungen zu tun hat, die man unbedingt lebendig halten möchte und die man mit dieser Manie sozusagen hegt und pflegt.«

»Mit anderen Worten, Wapshotts Plattensammlung, diese Chorknaben, das hat also was mit einem Kindheitssyndrom zu tun«, sagte Elinborg.

»Und wenn sich dieses Kindheitssyndrom ihm auf einmal leibhaftig hier im Hotel präsentiert, dreht er durch?«, fragte Sigurður Óli. »Der Chorknabe ist zu einem alten Knacker geworden. Meinst du etwas in der Art?«

»Ich weiß es nicht.«

Erlendur betrachtete nachdenklich die Touristen an der Bar und bemerkte einen Mann mittleren Alters, mit asiatischen Zügen, der aber fließend Amerikanisch sprach. Er hatte eine funkelnagelneue Videokamera in der Hand und filmte damit seine Bekannten. Urplötzlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es im Hotel Überwachungskameras geben könnte. Darum hatte er sich noch gar nicht gekümmert! Weder der Hotelmanager noch der Empfangschef hatten andererseits etwas darüber erwähnt.

Er schaute Sigurður Óli und Elínborg an.

»Habt ihr euch danach erkundigt, ob es hier im Hotel Überwachungskameras gibt?«, fragte er.

Sie schauten einander an.

»Wolltest du das nicht machen?«, fragte Sigurður Óli zu Elínborg.

»Ich habe es vergessen«, erwiderte sie. »Ihr wisst, Weihnachten und das alles. Hab’s total vergessen.«


Der Empfangschef schaute Erlendur an, schüttelte den Kopf und erklärte, dass man in diesem Hotel diesbezüglich eine klare Übereinkunft getroffen hatte. Es gäbe keine Überwachungskameras im Hotelgebäude, weder in der Lobby, in der Rezeption, den Aufzügen, den Fluren noch auf den Zimmern, vor allem nicht auf den Zimmern, selbstverständlich.

»Sonst hätten wir hier keine Gäste mehr«, sagte der Empfangschef ernst.

»Ja, das habe ich mir gedacht«, sagte Erlendur enttäuscht. Einen Augenblick lang hatte er die schwache Hoffnung gehabt, dass Überwachungskameras irgendetwas aufgezeichnet haben könnten. Etwas, das die bisherigen Berichte und Aussagen, die der Polizei vorlagen, in einem neuen Licht erscheinen ließ.

Er hatte sich schon umgedreht und wollte zurück in die Bar, als der Empfangschef ihm hinterherrief.

»Beim Südeingang gibt es eine Bankfiliale, auf der anderen Seite des Hauses. Dort sind Geschäfte und eine Bank, und von da kann man ins Hotel kommen. Die wenigsten Leute benutzen aber diesen Eingang. Die Bank hat bestimmt solche Kameras, aber die zeigen wohl kaum etwas anderes als deren Kunden.«

Erlendur waren die Bank und der Souvenirladen schon zuvor aufgefallen, und er machte sich gleich auf den Weg dorthin. Die Filiale war aber bereits geschlossen. Er schaute hoch und sah ein fast unsichtbares Kameraauge über dem Eingang. Die Räume waren offensichtlich menschenleer. Er klopfte und rüttelte trotzdem an der gläsernen Tür, aber nichts rührte sich. Schließlich griff er zum Handy und verlangte, dass der Filialleiter ausfindig gemacht und geholt würde.

Solange Erlendur wartete, schaute er sich in dem Souvenirgeschäft um. Wo er auch hinschaute, völlig überzogene Preise. Teller mit Bildern von Gullfoss und Geysir, geschnitzte Thor-Skulptürchen, Schlüsselanhänger mit Fuchshaar, Plakate mit den Walen vor Islands Küsten, Jacken aus Seehundfell, die ein Monatsgehalt von ihm kosteten. Er erwog kurz, sich hier etwas zur Erinnerung an dieses seltsame Touristen-Island zu kaufen, das nur in der Vorstellung reicher Ausländer existierte, aber er fand nichts, was einigermaßen bezahlbar gewesen wäre.

Die Bankfiliale wurde von einer Frau um die vierzig geleitet. Sie war auf dem Weg zu einer Weihnachtsfeier gewesen und alles andere als erfreut über diese Störung. Ihr erster Gedanke war, dass die Bank ausgeraubt worden sei. Ihr war nicht gesagt worden, was los war, als zwei Polizisten bei ihr zu Hause klingelten und sie abholten. Sie starrte Erlendur grimmig an, als er ihr vor der Filiale erklärte, dass er an die Überwachungskameras herankommen müsse. Sie hatte gerade eine Zigarette geraucht, zündete sich mit der Glut von der alten aber schon wieder eine neue an. Erlendur dachte, dass er lange keine so fanatische Raucherin mehr gesehen hatte.

»Hätte das nicht Zeit bis morgen gehabt?«, fragte sie frostig, und er hörte förmlich die Eisnadeln klirren, die von ihr abfielen. Dieser Frau hätte er um keinen Preis etwas schulden mögen.

»Das bringt dich um«, sagte er und deutete auf ihre Zigarette.

»Noch nicht«, sagte sie. »Weswegen hast du mich holen lassen?«

»Es hängt mit dem Mord hier im Hotel zusammen.«

»Und?«, fragte sie. Ein Mord konnte sie offenbar nicht aus der Fassung bringen.

»Wir versuchen, die Ermittlungen voranzutreiben.« Er versuchte zu lächeln, aber das gelang ihm nicht so richtig.

»Was für ein hirnrissiger Quatsch«, erklärte sie und gab Erlendur ein Zeichen, ihr zu folgen. Die zwei Polizisten waren wieder gegangen, offensichtlich froh, die Frau loszusein, die sie auf dem Weg ins Hotel mit Beschimpfungen überschüttet hatte. Sie ging mit Erlendur zum Personaleingang der Bank, gab ihren Nummerncode ein, öffnete die Tür und erklärte, dass er sich gefälligst beeilen solle.

Die Filiale war nicht groß, und im Büro der Frau befanden sich vier kleine Bildschirme, die mit den Kameras über den Schaltern, im Schalterraum und am Eingang verbunden waren. Sie schaltete die Geräte ein und erklärte Erlendur, dass die Kameras rund um die Uhr liefen und alles auf Videokassetten aufgezeichnet würde, die drei Wochen lang aufbewahrt und dann wieder überspielt wurden. Die Aufnahmegeräte befanden sich im Keller des Hauses.

Nach der dritten Zigarette ging die Frau mit ihm nach unten und zeigte ihm die Kassetten, die sorgfältig mit Datum und Kamerastandort beschriftet waren. Die Kassetten wurden in einem verschlossenen Schrank aufbewahrt.

»Hier kommt täglich ein Sicherheitsbeamter vorbei«, sagte sie, »der sich um das alles kümmert. Ich kenne mich da überhaupt nicht aus, und ich möchte dich bitten, hier nicht in etwas herumzukramen, was dich nichts angeht.«

»Vielen Dank«, sagte Erlendur unterwürfig. »Ich möchte mit dem Tag beginnen, an dem der Mord begangen wurde.«

»Bitte sehr«, sagte sie und ließ die aufgerauchte Zigarette zu Boden fallen, um dann die Glut mit dem Fuß auszutreten.

Er fand die Kassette, die mit »Eingang« beschriftet war und das richtige Datum aufwies, legte sie in einen Videorekorder ein, der mit einem kleinen Fernseher verbunden war. Er hielt es für überflüssig, die Filme aus den Überwachungskameras über den Bankschaltern anzusehen.

Die Filialleiterin sah auf ihre goldene Armbanduhr.

»Auf jedem Band sind 24 Stunden«, stöhnte sie.

»Wie kriegst du das hin?«, fragte Erlendur. »Bei der Arbeit?«

»Was meinst du mit ›Wie kriegst du das hin‹?«

»Mit dem Rauchen?«

»Was geht dich das an?«

»Gar nichts«, beeilte Erlendur sich zu sagen.

»Kannst du nicht einfach die Kassetten mitnehmen?«, sagte sie. »Ich habe eigentlich keine Zeit, ich werde schon längst erwartet, und ich habe nicht vor, hier herumzuhängen, solange du dir die Kassetten anschaust.«

»Nein, da hast du Recht«, sagte Erlendur. Er schaute auf die Kassetten im Schrank. »Ich nehme den halben Monat vor dem Mord mit. Das sind vierzehn Kassetten.«

»Wisst ihr, wer den Mann umgebracht hat?«

»Noch nicht«, sagte Erlendur.

»Ich kann mich gut an ihn erinnern«, sagte sie. »An den Portier. Ich bin hier seit sieben Jahren Filialleiterin«, fügte sie wie zur Erklärung hinzu. »Ein harmloser Zeitgenosse.«

»Hast du in letzter Zeit mit ihm gesprochen?«

»Ich habe nie mit ihm gesprochen. Kein einziges Wort.«

»War er Kunde hier in der Bank?«, fragte Erlendur.

»Nein, er hat kein Konto hier gehabt. Nicht dass ich wüsste. Ich habe ihn nie hier in der Bank gesehen. Hat er Geld gehabt?«


Erlendur nahm die vierzehn Kassetten mit auf sein Zimmer und ließ dort einen Videorekorder an den Fernseher anschließen. Inzwischen war es schon Abend geworden.

Er legte gerade die erste Kassette ein, als sein Handy klingelte. Es war Sigurður Óli.

»Wir müssen entweder Anklage erheben oder ihn freilassen«, erklärte er. »Gegen ihn liegt eigentlich ja nichts vor.«

»Hat er sich beschwert?«

»Er hat keinen Ton gesagt.«

»Hat er einen Rechtsanwalt verlangt?«

»Nein.«

»Dann formuliere eine Anklage wegen Kinderpornographie.«

»Kinderpornographie?«

»Er hatte Kinderpornos bei sich auf dem Zimmer. Es ist verboten, so etwas in seinem Besitz zu haben. Wir haben eine Zeugin, die gesehen hat, wie er sich das angeschaut hat. Wir können ihn wegen dieser Pornos festhalten. Ich will nicht, dass er gleich wieder nach Thailand abhauen kann. Und wir müssen unbedingt noch sein Alibi überprüfen und schauen, ob alles stimmt, was er zu Protokoll gegeben hat über seinen Tagesablauf, als Guðlaugur ermordet wurde. Lassen wir ihn doch noch eine Weile in seiner Zelle schmoren und schauen, was passiert.«

Einundzwanzig

Erlendur schaute sich fast die ganze Nacht die Videos an.

Er fand heraus, wie man den schnellen Vorlauf betätigte, wenn keine Menschen zu sehen waren. Wie nicht anders zu erwarten, war in der Zeit von neun Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags am meisten los vor dem Eingang, bis die Geschäfte um sechs Uhr dichtmachten, ging es schon etwas ruhiger zu. Der Hoteleingang war aber die ganze Nacht geöffnet. Dort befand sich ebenfalls ein Bankautomat, der aber zu dieser späten Stunde kaum mehr benutzt wurde.

Er sah nichts Außergewöhnliches an dem Tag, als Guðlaugur ermordet wurde. Die Leute, die zum Eingang hereinkamen, sah man einigermaßen deutlich, und Erlendur erkannte niemanden darunter. Als er die Nachtaufnahmen schnell vorspulte, schossen die Leute blitzartig herein, hielten kurz vor den Geldautomaten und sausten ebenso schnell wieder hinaus. Vereinzelt ging auch jemand ins Hotel. Er schaute sich die Leute an, konnte sie aber nicht mit Guðlaugur in Verbindung bringen.

Er sah, dass das Hotelpersonal diesen Eingang benutzte.

Er erkannte den Hotelmanager und den Empfangschef.

Als er sah, wie Ösp hinaushuschte, dachte er daran, dass sie nach einem solchen Arbeitstag bestimmt froh war, nach Hause zu kommen. Einmal tauchte Guðlaugur beim Eingang auf, und Erlendur verlangsamte die Geschwindigkeit der Wiedergabe. Der Portier war allein unterwegs, ging ruhigen Schritts an der Kamera vorbei, warf einen Blick in die Bankfiliale, drehte sich um und schaute zu dem Souvenirladen hinüber, um dann ins Hotel zurückzukehren. Erlendur spulte zurück und schaute sich Guðlaugur noch einmal an, dann noch einmal und schließlich ein viertes Mal. Es berührte ihn seltsam, ihn am Leben zu sehen. Er stoppte das Bild, als Guðlaugur in die Bank hineinschaute, und betrachtete sein eingefrorenes Gesicht auf dem Bildschirm. Da war der ehemalige Chorknabe.

Der Mann, der einmal eine weiche und sehnsuchtsvolle Knabenstimme besessen hatte. Der Junge, der Erlendur dazu gebracht hatte, sich in seine schmerzhaftesten Erinnerungen zu versenken, während er ihm lauschte.

Als an die Tür geklopft wurde, schaltete er das Gerät ab und öffnete Eva Lind die Tür.

»Warst du schon eingeschlafen?«, fragte sie und schlüpfte ins Zimmer. »Was für Kassetten sind das?«, fragte sie, als sie die gestapelten Videokassetten sah.

»Die hängen mit dem Fall zusammen«, sagte Erlendur.

»Kommst du vorwärts?«

»Nein. Kein bisschen.«

»Hast du mit Stina gesprochen?«

»Stina?«

»Ich hab dir doch von ihr erzählt. Stina! Du hast mich nach Nutten in den Hotels gefragt.«

»Nein, ich habe noch nicht mit ihr gesprochen. Aber sag mir etwas anderes, kennst du ein Mädchen, das ungefähr in deinem Alter ist, sie heißt Ösp und arbeitet hier im Hotel? Eure Einstellung zum Leben ist so ziemlich die gleiche.«

»Was meinst du damit?« Eva Lind bot ihrem Vater eine Zigarette an, zündete sie für ihn an und warf sich dann aufs Bett. Erlendur setzte sich an den Schreibtisch und schaute durch das Fenster in die pechschwarze Nacht.

Zwei Tage bis Weihnachten, dachte er. Dann wird alles wieder normal.

»Eine ziemlich negative«, sagte er.

»Findest du, dass ich so unheimlich negativ bin?«, fragte Eva Lind.

Erlendur schwieg, aber Eva Lind verschluckte sich am Rauch und prustete los, sodass ihr der Rauch zur Nase herauskam.

»So what? Und dagegen bist du wohl die personifizierte Lebenslust?«

Erlendur grinste.

»Ich kenne keine Ösp«, sagte Eva. »Was hat die mit der Sache zu tun?«

»Sie hat nichts mit der Sache zu tun«, sagte Erlendur. »Oder zumindest glaube ich es nicht. Sie hat die Leiche gefunden und scheint das eine oder andere zu wissen, was sich hier im Hotel abspielt. Sie ist nicht dumm. Weiß sich zu helfen und ist nicht auf den Mund gefallen. Sie erinnert mich ein wenig an dich.«

»Kenn ich nicht«, erklärte Eva. Dann verstummte sie und starrte vor sich hin, ohne ein Wort zu sagen. Er schaute sie an und schwieg ebenfalls, auf diese Weise schritt die Nacht voran. Manchmal hatten sie einander nichts zu sagen. Sie redeten nie über belanglose Dinge. Sie redeten nie über das Wetter oder das Preisniveau in den Geschäften, über Politik oder Sport, oder Klamotten, oder was es auch immer war, womit die Leute sich die Zeit totschlugen. Beide hielten sie das für Zeitverschwendung. Nur sie beide, ihre Vergangenheit und Gegenwart, die Familie, die nie eine war, weil Erlendur sie verlassen hatte. Evas tragische Geschichte und die ihres Bruders, die Feindseligkeit und der Hass ihrer Mutter, nur das spielte für sie eine Rolle, indem es ihre Gespräche beherrschte und auf ihre Beziehung abfärbte.

»Was soll ich dir zu Weihnachten schenken?«, fragte Erlendur schließlich und unterbrach das Schweigen.

»Zu Weihnachten?«, fragte Eva.

»Ja.«

»Ich brauche nichts.«

»Irgendwas wirst du doch brauchen können.«

»Was hast du zu Weihnachten gekriegt? Als du klein warst?«

Erlendur überlegte. Er konnte sich an Fäustlinge erinnern.

»Irgendwelche Kleinigkeiten.«

»Ich habe immer gefunden, dass Sindri tollere Geschenke bekommen hat als ich«, sagte Eva Lind. »Und dann hat Mama auf einmal aufgehört, mir was zu schenken und hat behauptet, ich würde es nur zu Geld machen, um an Dope ranzukommen. Sie hat mir einmal einen Ring geschenkt, den ich verscherbelt habe. Hat dein Bruder auch tollere Geschenke als du gekriegt?«

Erlendur spürte, wie sie sich vorsichtig an ihn heranzupirschen versuchte. Meistens kam sie ohne Umschweife zur Sache und brachte ihn mit ihrer Direktheit aus der Fassung.

Hin und wieder, aber sehr viel seltener, kam es auch vor, dass sie etwas feinfühliger vorging.

Als Eva nach der Fehlgeburt im Koma auf der Intensivstation lag und ihr Arzt zu Erlendur gesagt hatte, er solle so viel Zeit wie möglich bei ihr verbringen und mit ihr reden, war es der Verlust seines Bruders gewesen, worüber Erlendur damals zu Eva gesprochen hatte. Und wie er selbst gerettet worden war. Als Eva wieder zu Bewusstsein gekommen war, aus dem Krankenhaus durfte und zu ihm gezogen war, fragte er sie, ob sie wüsste, was er ihr im Krankenhaus erzählt hatte, aber sie konnte sich an nichts erinnern. Dadurch war aber ihre Neugier geweckt worden, und sie setzte ihm so lange zu, bis er das wiederholte, was er im Krankenhaus gesagt hatte. Nie zuvor hatte er zu einem anderen darüber gesprochen, und niemand wusste davon. Er hatte ihr gegenüber nie seine Vergangenheit erwähnt, und Eva, die ihn unermüdlich zur Verantwortung ziehen wollte, fand, dass sie ihm ein wenig näher gekommen war. Es kam ihr so vor, als hätte sie ihren Vater ein wenig besser kennen gelernt, obwohl sie wusste, dass sie noch weit entfernt davon war, ihn ganz und gar zu verstehen. Die bohrende Frage, die Eva seit jeher zu schaffen machte und ihr Verhältnis mehr als alles andere überschattete, war immer noch unbeantwortet. Scheidungen waren gang und gäbe, das war ihr klar. Die Leute ließen sich dauernd scheiden, und manche Scheidungen waren schlimmer als andere, weil die Leute nicht miteinander reden konnten.

Das war ihr bewusst, und es machte ihr auch keine Probleme. Aber es war und blieb ihr ein vollkommenes Rätsel, weswegen Erlendur auch seine Kinder verlassen hatte. Weswegen er nach der Trennung überhaupt nicht mehr an ihrem Leben interessiert gewesen war. Weswegen er sich nie um sie gekümmert hatte, bis Eva ihn aufgespürt und ganz allein in seiner dunklen Behausung gefunden hatte. Über all das hatte sie mit ihrem Vater geredet, der aber bislang keine Antworten auf ihre Fragen gehabt hatte.

»Tollere Geschenke?«, sagte er. »Es waren immer die gleichen Sachen. Eigentlich genau wie in dem alten Gedicht: Kerzen und ein Kartenspiel. Man hätte sich wohl manchmal etwas Spannenderes gewünscht, aber unsere Familie war arm. Damals waren alle arm.«

»Aber nachdem dein Bruder gestorben war?«

Erlendur schwieg.

»Erlendur?«, sagte Eva.

»Es hat kein Weihnachten mehr gegeben, nachdem er fort war«, sagte Erlendur.


Das Fest zur Erinnerung an die Geburt des Erlösers wurde nicht mehr gefeiert, nachdem sein Bruder in den Bergen verschollen war. Etwas mehr als ein Monat war seitdem vergangen, und bei ihnen zu Hause gab es keine Freude, keine Geschenke und keine Gäste mehr. Sonst waren die Verwandten mütterlicherseits Heiligabend zu Besuch gekommen, und dann wurden Weihnachtslieder gesungen.

Das Haus war klein, die Leute saßen dicht beieinander und strahlten Wärme und Helligkeit aus. Seine Mutter lehnte in diesem Jahr Weihnachtsbesuche kategorisch ab. Sein Vater litt unter schweren Depressionen und lag die meisten Tage im Bett. Er hatte nicht an der Suche nach seinem Sohn teilgenommen, als hätte er gewusst, dass es hoffnungslos war, als hätte er gewusst, dass er versagt hatte. Sein Sohn war tot, und weder er noch irgendein anderer konnten jemals etwas daran ändern. Er allein trug die Schuld daran und niemand anderes.

Seine Mutter war unermüdlich. Sie sorgte dafür, dass Erlendur nach besten Kräften hochgepäppelt wurde. Sie ermunterte die Suchmannschaften, weiterzumachen, und sie nahm selber an der Suche teil. Erst wenn die Dunkelheit hereinbrach, kam sie herunter ins Tal, und sie machte sich als Erste wieder auf den Weg in die Berge, sobald es hell wurde. Selbst als feststand, dass ihr Sohn nicht mehr am Leben sein konnte, suchte sie mit der gleichen Intensität weiter. Erst als der Winter hereingebrochen war, als eine dicke Schneedecke lag und das Wetter immer unbeständiger wurde, gab sie auf und musste sich mit der Tatsache abfinden, dass ihr Sohn in den Bergen umgekommen war und sie bis zum Frühjahr warten musste, um eine erneute Suche nach seinen sterblichen Überresten zu beginnen. Sie schaute hoch zu den Bergen, manchmal stieß sie Verwünschungen aus. Mögen euch die Trolle verschlingen, die ihr mir den Sohn genommen habt.

Der Gedanke an den toten Bruder oben in den Bergen war nicht zu ertragen, und Erlendur begann, ihn in Albträumen zu sehen, aus denen er schreiend und weinend hochschreckte; er sah ihn gegen den Schneesturm ankämpfen, er kam nicht mehr vorwärts in den tiefen Wehen, er hatte den schmalen Rücken in den Wind gekehrt, und der Tod stand an seiner Seite.

Erlendur begriff nicht, wie sein Vater zu Hause bleiben und gar nichts unternehmen konnte, während andere bis zur Erschöpfung suchten. Das tragische Ereignis schien ihn völlig zerbrochen und in ein teilnahmsloses Wrack verwandelt zu haben. Erlendur grübelte lange darüber, welche Macht die Trauer hatte, denn sein Vater war ein starker und robuster Mann gewesen. Der Verlust des Sohns nahm ihm nach und nach alle Lebenskraft, und er erholte sich nie wieder davon.

Später, eine geraume Zeit war vergangen, kam es zum ersten und einzigen Mal zu einem Streit zwischen seinen Eltern, und Erlendur erfuhr, dass seine Mutter damals nicht gewollt hatte, dass sein Vater an diesem Tag in die Berge ging, aber er hatte das in den Wind geschlagen. Aber, hatte sie gesagt, falls du unbedingt losziehen willst, die Jungen nimmst du nicht mit. Er hörte nicht auf sie.

Seitdem war Weihnachten nie wieder dasselbe Fest gewesen. Seine Eltern söhnten sich mit der Zeit auf eine gewisse Weise miteinander aus. Sie kam nie darauf zu sprechen, dass er gegen ihren Willen gehandelt hatte. Er wiederum kam nie darauf zu sprechen, dass es eine Trotzreaktion gewesen war, weil er sich von ihr keine Vorschriften machen lassen wollte. Das Wetter war gut, und er fand, dass sie sich in seine Angelegenheiten einmischte.

Sie zogen es vor, nie wieder über das zu reden, was zwischen ihnen vorgefallen war, bevor das Unglück geschah, es war, als würde sie nichts mehr miteinander verbinden, wenn das Schweigen gebrochen würde. In diesem Schweigen kämpfte Erlendur mit den Schuldgefühlen, die ihn überfielen, weil er mit dem Leben davongekommen war.


»Warum ist es hier drinnen so kalt?«, fragte Eva Lind und zog die Jacke enger um sich.

»Das liegt am Heizkörper«, sagte Erlendur. »Der wird einfach nicht warm. Gibt’s was Neues bei dir?«

»Nichts. Mama hat sich wieder so einen Kerl zugelegt, den sie in so einer Tanzbar für Gruftis aufgerissen hat, bei Akkordeonmusik. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein total durchgeknallter Zombie das ist. Ich glaube, der benutzt immer noch Brillantine, und dann macht er sich so eine Tolle und trägt Hemden mit Riesenkragen, und wenn er diese gammligen Schnulzen im Radio hört, schnipst er mit den Fingern. Meine Heimat ist das Meer …«

Erlendur grinste. Eva zog sonst nicht über andere Leute her, nur über diese »Typen« im Leben ihrer Mutter, die von Jahr zu Jahr schlimmer zu werden schienen.

Dann schwiegen sie wieder.

»Ich versuche gerade, mich zu erinnern, wie ich war, als ich acht Jahre alt war«, sagte Eva plötzlich. »Ich kann mich eigentlich an nichts außer meinen Geburtstag erinnern.

Ich kann mich noch nicht mal an die Geburtstagsparty erinnern, nur an den Tag, an dem ich Geburtstag hatte. Ich stand auf dem Parkplatz vor dem Haus und wusste, dass ich Geburtstag hatte und acht Jahre alt geworden war, und irgendwie verfolgt mich diese Erinnerung, obwohl sie total unbedeutend ist. Bloß, dass ich da stand und wusste, dass ich Geburtstag hatte und acht Jahre alt war.«

Sie schaute Erlendur an.

»Du hast gesagt, dass er acht Jahre alt war. Als er umkam.«

»Er hatte im Sommer Geburtstag gehabt.«

»Weshalb wurde er nie gefunden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Also ist er immer noch da oben in den Bergen.«

»Ja.«

»Seine Knochen.«

»Ja.«

»Acht Jahre alt.«

»Ja.«

»War es deine Schuld? Dass er umgekommen ist?«

»Ich war zehn Jahre alt.«

»Ja, aber …«

»Niemand hatte Schuld.«

»Aber du musst doch gedacht haben …«

»Worauf willst du hinaus, Eva? Was willst du wissen?«

»Warum hast du nie Verbindung zu mir und Sindri gehabt, nachdem du uns verlassen hast?«, fragte Eva Lind. »Warum hast du nicht versucht, mit uns zusammen zu sein?«

»Eva …«

»Wir waren es nicht wert, war es das?«

Erlendur schwieg und schaute aus dem Fenster. Es hatte wieder angefangen zu schneien.

»Du versuchst, einen Zusammenhang zwischen beidem zu sehen«, sagte er schließlich.

»Ich habe nie eine Erklärung dafür bekommen. Mir ist eingefallen …«

»Dass es irgendwas mit meinem Bruder zu tun hat? Wie er umgekommen ist? Willst du da einen Zusammenhang sehen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Eva. »Ich kenne dich überhaupt nicht. Ich habe dich erst vor ein paar Jahren zum ersten Mal getroffen, und da habe ich nach dir gesucht. Das mit deinem Bruder ist das Einzige, was ich über dich weiß, abgesehen davon, dass du ein Bulle bist. Ich habe nie kapiert, wie du mich und Sindri hast verlassen können, wir waren doch deine Kinder.«

»Ich habe das völlig deiner Mutter überlassen. Vielleicht hätte ich mehr Druck wegen des Umgangsrechts machen und kämpfen sollen, aber …«

»Du hattest kein Interesse daran«, führte Eva den Satz zu Ende.

»Das stimmt nicht.«

»Doch. Warum? Warum hast du dich nicht ganz normal um deine Kinder gekümmert?«

Erlendur schwieg und schaute zu Boden. Eva machte die dritte Zigarette aus. Dann stand sie auf, ging zur Tür und öffnete sie.

»Stina kommt morgen hier zu dir ins Hotel«, sagte sie.

»Mittags. Du kannst sie nicht übersehen mit ihrem neuen Busen.«

»Danke, dass du mit ihr gesprochen hast.«

»Keine Ursache«, sagte Eva.

Sie blieb zögernd in der Tür stehen.

»Was willst du?«, fragte Erlendur.

»Ich weiß es nicht.«

»Nein, ich meine als Weihnachtsgeschenk.«

Eva schaute zu ihrem Vater hinüber.

»Ich wollte, ich dürfte mein Kind bei mir haben«, sagte sie und machte leise die Tür hinter sich zu.

Erlendur seufzte tief auf und saß lange Zeit auf der Bettkante, bevor er mit den Videoaufzeichnungen weitermachte. Menschliche Wesen, die vor Weihnachten viel zu erledigen hatten, irrten über den Schirm, viele hatten volle Taschen und Tüten vom Weihnachtseinkauf dabei.

Er war beim fünften Tag vor dem Mord angekommen, als er sie erblickte. Erst hatte er sie übersehen, aber irgendwo klickte es bei ihm, er stoppte die Kassette, spulte zurück und ließ die Sequenz wieder ablaufen. Nicht das Gesicht hatte seine Aufmerksamkeit erweckt, sondern ihr Auftreten, ihr Gang und die herausfordernd arrogante Haltung.

Er drückte wieder auf ›Play‹ und sah sie jetzt deutlich, wie sie ins Hotel hineinging. Er spulte im Schnellvorlauf weiter, bis sie eine halbe Stunde später wieder auf dem Schirm erschien; sie kam aus dem Hotel und ging rasch an der Bank und den Souvenirläden vorbei, ohne nach rechts oder links zu blicken.

Er stand auf und starrte auf den Bildschirm.

Auf Guðlaugurs Schwester.

Die ihren Bruder angeblich jahrzehntelang nicht gesehen hatte.

Загрузка...