VIERTES KAPITEL, welches von der unheilvollen Macht der Schönheit kündet

Am nächsten Tag, gegen elf Uhr morgens, steuerte Erast Fandorin, von seinem Vorgesetzten belobigt und gar mit drei Rubeln für extraordinäre Ausgaben versehen, auf das gelbe Universitätsgebäude an der Mochowaja zu. Seine Aufgabe war simpel, sie zu lösen bedurfte jedoch eines glücklichen Zufalls: Es galt, den krummen, nicht eben ansehnlichen, teils pickligen Studenten mit Zwicker am Seidenband ausfindig zu machen. Dabei konnte es natürlich sein, daß der verdächtige Herr überhaupt nicht an der Universität studierte, sondern zum Beispiel an der Technischen Hochschule, der Forstakademie oder gar an irgendeinem Markscheidekund- lichen Institut, doch hatte Xaveri Gruschin (mit einem Seitenblick, nicht frei von freudigem Staunen) seinem jungen Gehilfen darin zugestimmt, daß der »Grumme« am wahrscheinlichsten dort immatrikuliert war, wo auch der tote Ko- korin studiert hatte, nämlich an der Juristischen Fakultät der Universität.

Hurtig lief Fandorin, in Zivil gekleidet, die ausgetretenen gußeisernen Stufen hinauf durch das Hauptportal, vorbei an dem bärtigen Türhüter in grüner Livree. Er bezog eine günstige Position im Halbrund jener Fensternische, von der aus man das Foyer mitsamt der Garderobe, den Hof und sogar die beiden in die Seitenflügel führenden Gänge bestens im Blick hatte. Zum ersten Mal, seit der Vater tot und das Leben des Sohnes vom geradlinigen Weg abgekommen war, vermochte er die geheiligten gelben Universitätsmauern anzuschauen, ohne daß ein weher Gedanke daran aufkam, was hätte werden können und nicht hatte sein sollen. Denn er konnte nun nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was spannender war und nützlicher für die Gesellschaft zumal: die Paukerei eines Studenten oder das rauhe Leben eines Kriminalpolizisten, der in einem wichtigen und gefährlichen Fall ermittelte. (Nun ja: wenn schon nicht gefährlich, so doch äußerst verantwortungs- und geheimnisvoll.)

Etwa jeder vierte Student, der in den Blick des wachsamen Beobachters geriet, trug einen Zwicker, etliche gar am Seidenband. Die Physiognomie etwa jedes fünften war von Pickeln verunziert. Krumm gingen auch nicht wenige. Doch wollten sich die drei Anzeichen partout in keinem Subjekt vereinigen.

Nach einer reichlichen Stunde wurde Fandorin hungrig, holte sein Wurstbrot aus der Tasche und stärkte sich, ohne den Posten zu verlassen. Unterdessen war es ihm gelungen, das Herz des bärtigen Türhüters zu gewinnen, der sich von ihm Mitritsch nennen ließ und dem jungen Mann bereits einige höchst wertvolle Ratschläge hinsichtlich der Aufnahme an die »Niwirsität« gegeben hatte. Bislang war Fandorin dem geschwätzigen Alten als Hinterwäldler gekommen, mit dem sehnlichen Traum, die Knöpfe mit dem Universitätswappen am Rock zu tragen. Er überlegte schon, ob er seine Legende nicht ändern und Mitritsch ohne Umschweife nach dem pickeligen Krummen fragen sollte, als der Diener ein neues Mal eilfertig die Mütze vom Kopf zog und die Tür aufriß. Dieses Ritual vollzog Mitritsch immer, wenn ein Professor oder ein wohlhabender Student nahte, und bekam dafür hin und wieder eine Kopeke, manchmal auch einen Fünfer zugesteckt. Fandorin blickte auf und sah, daß ein Student auf sie

zukam, der eben an der Garderobe seinen feschen Regenmantel aus Samt (Schnallen in Form von Löwentatzen!) in Empfang genommen hatte. Auf der Nase des Gecken prangte ein Zwicker, auf der Stirn blühten die schönsten Pickel. Fan- dorin beugte sich vor, die Haltung des jungen Mannes zu begutachten, doch die Pelerine und der hochgeschlagene Kragen des verfluchten Regenmantels verhinderten eine Diagnose.

Der Türhüter verbeugte sich. »Angenehmen Abend, Nikolai Stepanitsch. Belieben wir eine Droschke zu nehmen?«

»Hat es denn nicht aufgehört zu regnen, Mitritsch?« fragte der Picklige mit dünner Stimme. »Dann laufe ich lieber, genug gesessen!« Und mit zwei Fingern der weiß behand schuhten Linken ließ er eine Münze in die vorgestreckte Hand fallen.

»Wer war das?« flüsterte Fandorin, während er dem Gecken angestrengt hinterhersah. Konnte es sein, daß er doch etwas krumm ging?

»Achtyrzew, Nikolai Stepanowitsch. Einer von den ganz Reichen, adliges Blut«, gab Mitritsch ehrfürchtig Auskunft. »Nie gibt er weniger als wie einen Fünfer.«

Fandorin überkam es siedend heiß. Achtyrzew! Etwa der von Kokorin bestellte Testamentsvollstrecker?

Schon verbeugte Mitritsch sich vor dem nächsten Dozenten, einem langhaarigen Magister der Physik. Als er sich wieder umdrehte, erwartete ihn eine Überraschung: Der junge, höfliche Provinzhase war wie vom Erdboden verschluckt.

Das schwarze Samtmantel war von weitem nicht zu verkennen, und Fandorin hatte den Verdächtigen schnell eingeholt, ihn anzusprechen konnte er sich jedoch nicht entschließen. Womit hätte er diesem Achtyrzew kommen sollen? Selbst wenn ihn Kukin, der Krämer, und Jungfer Pfuhl (hier seufzte Fandorin schwer, denn er dachte sogleich - und zum wievielten Male schon! - an Lisanka) bei einer Gegenüberstellung identifizierten - was hatte man davon? War es nicht besser, der Lehre des großen Fouche, jener unübertroffenen Koryphäe der detektivischen Künste, zu folgen und die Beschattung des Objekts aufzunehmen?

Gesagt, getan. Zumal das Objekt nicht schwer zu beschatten war. Achtyrzew ließ sich Zeit und bummelte in Richtung Twerskoi Boulevard blickte sich nicht um, streifte höchstens dann und wann eine der hübschen Modistinnen mit einem Blick. Ein paar Mal wagte sich Fandorin so nahe heran, daß er hören konnte, wie der Student fröhlich die Arie des Smith aus dem »Schönen Mädchen von Perth« vor sich hin pfiff. Augenscheinlich war der verhinderte Selbstmörder (wenn er es denn war) bei bester Laune. Vor »Korffs Tabakladen« blieb der Student stehen und betrachtete lange die Zigarrenschachteln in der Auslage, betrat den Laden jedoch nicht. Fandorin kam immer mehr zu der Überzeugung, daß sein »Objekt« sich auf eine anberaumte Stunde hin die Zeit vertrieb. Diese Überzeugung wurde bestärkt, als Achtyrzew die goldene Taschenuhr hervorzog, den Deckel aufklappen ließ und, seinen Schritt um ein weniges beschleunigend, weiterlief, wobei er nunmehr den forscheren Chor der Gassenjungen aus der neumodischen Oper »Carmen« zu intonieren begann.

Als der Student in die Kamergerski einbog, hörte er zu pfeifen auf und schritt so kräftig aus, daß Erast Fandorin, schon um nicht allzu verdächtig zu erscheinen, zurückbleiben mußte. Glücklicherweise verlangsamte das »Objekt« kurz vor dem Damenmodesalon »Darzens« den Schritt und blieb dann stehen. Fandorin wechselte die Straßenseite und bezog Posten neben einer Bäckerei, aus der es nach frischen Brötchen duftete.

Fünfzehn, vielleicht auch zwanzig Minuten drückte sich Achtyrzew, der immer nervöser wurde, vor der geschnitzten Eichenholztür des Ladens herum, in den hin und wieder geschäftige Damen hineingingen und aus dem Paketboten umfängliche Schachteln und Pakete herausschleppten. Vor dem Trottoir warteten einige Kutschen, manche sogar mit Wappen an den lackierten Türen. Um vierzehn Uhr siebzehn (Fandorin sah auf die Schaufensteruhr) kam Bewegung in den Studenten. Er stürzte auf eine schlanke Dame mit Hutschleier zu, die eben aus dem Laden getreten war, zog die Mütze und begann, mit den Händen fuchtelnd, auf sie einzureden. Mit aufgesetzter Langeweile überquerte Fando- rin die Straße - warum sollte nicht auch er einmal einen Blick auf die Auslagen bei »Darzens« werfen.

»Jetzt hab ich keine Zeit für Sie!« hörte er die Dame (in einem lila Moirekleid mit Schleppe, letzter Schrei der Pariser Mode) mit klangvoller Stimme sagen. »Später! Kommen Sie gegen acht, wie üblich, dann sehen wir weiter.«

Sie würdigte den erregten Achtyrzew keines weiteren Blickes und begab sich zu einem zweisitzigen Phaeton mit offenem Verdeck.

»Aber Amalia! Erlauben Sie, Amalia Kasimirowna!« rief ihr der Student hinterher. »Mir wäre an einer privatimen Äußerung gelegen!«

»Später! Später!« warf ihm die Dame hin. »Jetzt habe ich es eilig!«

Ein leichter Windstoß lupfte den beinahe schwerelosen Schleier vor ihrem Gesicht, und Fandorin stand wie vom Donner gerührt. Diese Nachtschattenaugen, dieses ägyptische Oval des Gesichts, diesen launischen Lippenschwung - all das kannte er, ein solches Antlitz, einmal erblickt, vergaß man nie wieder. Sie war es, die geheimnisvolle A.B. die dem unglücklichen Kokorin geboten hatte, seine Liebe nie zu verleugnen! Der Fall, so schien es, nahm eine Wendung, geriet in ein vollkommen anderes Licht.

Verloren stand Achtyrzew auf dem Trottoir, zog den Kopf unschön zwischen die Schultern (und war nun krumm, eindeutig krumm! entschied Fandorin), während der Phaeton mit der ägyptischen Königin gemächlich in Richtung Pe- trowka davonfuhr. Es galt eine Entscheidung zu treffen - und da der Student, wie es aussah, vorläufig nichts mit sich anzufangen wußte, winkte Fandorin innerlich ab und ließ ihn stehen; er rannte los, zur Ecke Bolschaja Dmitrowka hinüber, wo eine Reihe Droschken standen.

»Polizei!« zischte er dem Kutscher zu, der verschlafen in Schirmmütze und Wattejacke auf dem Bock saß. »Fahr dem Gespann dort vorn hinterher! Schnell, beweg dich! Keine Angst, du kriegst schon dein Geld.«

Der Kutscher streckte sich, krempelte in übertriebener Beflissenheit die Ärmel auf, ruckte an den Zügeln, blökte auch etwas, und die scheckige Stute bequemte sich und ließ ihre Hufe über das Pflaster klappern.

An der Ecke Roshdestwenka kam ihnen ein mit Brettern beladener Lastkarren entgegengekrochen, der die Fahrbahn in ihrer ganzen Breite versperrte. Kribbelig sprang Fandorin auf, stellte sich gar auf die Zehenspitzen, um den Phaeton, der gerade so durchgeschlüpft war, nicht aus den Augen zu verlieren. Und dies war gut, denn so bekam er zumindest noch mit, wie er in die Bolschaja Lubjanka einbog.

Der liebe Gott war Fandorin gnädig; sie holten den Phaeton unmittelbar vor der Sretenka ein, gerade noch rechtzeitig, um ihn in eine schmale, holprige Gasse abtauchen zu sehen; die Räder hüpften nur so durch die Schlaglöcher. Als der Phaeton hielt, stieß Fandorin seinen Kutscher in den Rücken: Weiterfahren! hieß das, wir fallen sonst auf. Er selbst drehte sich absichtlich zur Seite, spähte aus den Augenwinkeln und bekam immerhin mit, wie die lila Dame vor einer schmucken kleinen Villa von einer hochgewachsenen dienernden Person in Livree empfangen wurde. Gleich hinter der nächsten Ecke entließ Fandorin den Kutscher und kehrte im Schlenderschritt zurück. Nun konnte er die Villa eingehend betrachten: grün gedecktes Mezzanin, Gardinen an den Fenstern, das Portal mit kleinem Vordach. Ein Kupferschildchen am Eingang war nicht zu entdecken.

Dafür saß der Hausknecht mit Schürze und knittriger Mütze auf einer Bank an der Mauer und langweilte sich. Fan- dorin ging zu ihm hin.

»Was ich dich fragen wollte, Alterchen«, sprach er ihn noch im Gehen an, während er das letzte fiskalische Zwanzigkopekenstück aus der Tasche zog, »wem gehört dieses Haus?«

»Das möchtest du gern wissen«, gab der Hausknecht zurückhaltend zur Antwort und schaute Fandorin neugierig auf die Finger.

»Hier hast du. Was ist da vorhin für eine Dame angekommen?«

Der Knecht nahm die Münze entgegen und erwiderte gesetzt: »Das Haus gehört der Generalin Masiowa, aber die Herrschaften wohnen nicht hier, sie vermieten. Und angekommen ist die Mieterin Frau Beshezkaja, Amalia Kasi- mirowna«

»Wer ist sie denn?« Fandorin ließ noch nicht locker. »Wohnt sie schon lange hier? Hat sie oft Gäste?«

Der Hausknecht schaute ihn an, schürzte die Lippen und sagte nichts. Unklar, was in seinem Kopf vorging.

»Paß mal auf, mein Lieber«, sagte er endlich, während er sich erhob und Fandorin überraschend beim Ärmel packte. »Was jetzt passiert.«

Er zerrte den sich sträubenden Fandorin zur Tür des Hauses und riß an der Schnur des bronzenen Glöckchens.

»Untersteh dich!« Der erschrockene Detektiv unternahm einen vergeblichen Versuch, sich zu befreien. »Ich werd dir gleich ... Du weißt wohl nicht, wen du ...?!«

Die Tür öffnete sich, und der livrierte Hüne mit üppigen blonden Koteletten und rasiertem Kinn stand auf der Schwelle - kein Russe von Geburt, das war sofort klar.

»Hier ist wer, der sich für Amalia Kasimirowna interessiert«, hintertrug ihm der Schuft von Hausknecht mit süßlicher Stimme. »Geld hat er dafür geboten. Ich hab’s natürlich nicht genommen. Und da dachte ich, John Karlitsch .«

Der Butler (denn ein solcher mußte er, wenn er Engländer war, sein) maß den Arrestanten mit einem leidenschaftslosen Blick aus kleinen, stechenden Augen, steckte dem Judas wortlos seinen Silberling zu und trat einen Schritt zur Seite.

»Es handelt sich um ein komplettes Mißverständnis!« Fan- dorin mochte sich immer noch nicht in die Lage schicken. »It’s ridiculous! A complete misunderstanding!« wechselte er ins Englische.

»Na nun, wird’s bald!« grölte der Hausknecht von hinten und stieß Fandorin, nachdem er ihn sicherheitshalber noch beim anderen Ärmel gepackt hatte, ins Innere des Hauses.

Fandorin fand sich in einem recht üppigen Vestibül wieder, einem ausgestopften Bären mit Silbertablett direkt gegenüber - letzteres offenbar zu dem Zweck, Visitenkarten darauf abzulegen. Ungerührt blickten die Glasaugen des zottigen Tiers dem konsternierten Registrator ins Gesicht.

»Name? Anliegen?« fragte der Butler knapp mit starkem Akzent, womit er Fandorins passables Englisch vollkommen ignorierte.

Fandorin schwieg; um nichts in der Welt mochte er sein Inkognito preisgeben.

»What’s the matter, John?« ertönte da die Fandorin bereits bekannte wohlklingende Stimme. Auf der mit einem Läufer versehenen Treppe, die wohl in das Mezzanin führte, stand die Hausherrin, die Hut und Schleier inzwischen abgelegt hatte.

»Ah, der holde schwarzbraune Knabe«, versetzte sie schelmisch, an Fandorin gewandt, der sie mit Blicken geradezu verschlang. »Sie sind mir schon auf der Kamergerski aufgefallen. Ziemt es sich, fremde Damen so anzustarren? Aber pfiffig, ich muß schon sagen! Ist mir auf den Fersen geblieben! Student? Oder Müßiggänger?«

»Fandorin, Erast Petrowitsch«, stellte der Gefragte sich vor und schwankte, wie er sich der Dame im weiteren empfehlen sollte; Kleopatra schien sein Verhalten jedoch schon auf ihre Weise gedeutet zu haben.

»Die Dreisten mag ich leiden«, sagte sie lächelnd. »Erst recht, wenn sie so nett aussehen. Aber Spionieren ist nicht fein. Wenn meine Person Sie so sehr interessiert, beehren Sie mich heute abend wieder - auf einen mehr kommt’s nicht an. Dann können Sie Ihre Neugier zur Genüge befriedigen. Und bitte schön im Frack. Bei mir herrschen freizügige Sitten, aber die Herren, so sie keine Militärs sind, haben im Frack zu erscheinen - das ist Gesetz.. «

Der Abend kam, und Erast Fandorin hatte sich in Schale geworfen. Zwar war ihm der väterliche Frack in den Schultern etwas weit, doch Agrafena Kondratjewna, die gute Frau

Gouvernementssekretärin, bei der Fandorin ein Zimmerchen zur Miete bewohnte, steckte ein paar Nadeln entlang der Naht, bis er ordentlich saß - wenigstens, solange man ihn nicht knöpfte. Ein riesiger Kleiderschrank war das einzige gewesen, was der gescheiterte Spekulant dem Sohn vererbt hatte; darin zum Beispiel fünf Paar weiße Handschuhe. Eine Seidenweste von Burgess und Lackschuhe von Pironet schossen den Vogel ab. Auch der nagelneue Zylinder aus dem Hause Blanc war nicht zu verachten, er rutschte allerdings etwas tief in die Stirn. Was nicht weiter schlimm war, man gab ihn am Eingang ab, das genügte. Auf das Stöckchen verzichtete Fandorin - zu gewagt, wie er fand. Er drehte sich vor dem Spiegel im dämm- rigen Flur und war zufrieden, besonders was die vom unbarmherzigen »Lord Byron« ideal fassonierte Taille anging. In der Westentasche lagerte der Silberrrubel, den Gruschin für einen Blumenstrauß spendiert hatte - »einen anständigen, aber ohne Protz«. Die Frage, welchen Protz man sich für einen lausigen Rubel hätte leisten können, verkniff sich Fandorin und beschloß statt dessen, einen halben aus eigener Tasche dazuzulegen, damit es für Veilchen aus Parma reichte.

Der Blumen wegen mußte er nun auch noch eine Droschke bezahlen. Als Erast Fandorin vor dem Palast der Kleopatra anlangte (den Namen fand er für Amalia Kasimirowna Be- shezkaja ausgesprochen passend), war es Viertel vor neun.

Die Gästeschar war schon beisammen. Noch im Vestibül konnte Schriftführer Fandorin, vom Stubenmädchen eingelassen, ein Gewirr aus vielen Männerstimmen hören, dazwischen ließ sich auch die eine silberhelle kristallklare ausmachen, die Stimme der Zauberin. An der Schwelle zögerte Fandorin ein wenig, nahm seinen Mut zusammen und trat nun einigermaßen forsch über sie hinweg; ihm lag daran, den

Eindruck eines gestandenen und weltgewandten Mannes zu erwecken. Die Mühe war umsonst - keiner schenkte dem Eintretenden Beachtung.

Fandorin blickte in einen Salon mit behaglich wirkenden saffianledernen Diwanen, samtbezogenen Stühlen und vornehmen Rauchtischchen, alles sehr stilvoll und modern. Auf einem Tigerfell in der Mitte des Raumes stand die Hausherrin, zur Spanierin herausgeputzt: purpurnes Kleid mit Korsage, eine feuerrote Kamelienblüte im Haar. Sie war so schön, daß es Fandorin den Atem verschlug. Er kam darum nicht gleich dazu, die Gäste näher zu betrachten, sah nur, daß es ausnahmslos Männer waren. Achtyrzew war auch da, er saß ein wenig abseits und schien ziemlich blaß.

»Da ist ja auch mein neuester Verehrer!« rief die Beshez- kaja und sah Fandorin lachend an. »Nun haben wir das Teufelsdutzend voll. Alle vorzustellen dauert mir zu lange, aber sagen Sie, wie Sie heißen, ich habe es schon wieder vergessen, nur daß Sie Student sind, weiß ich noch.«

»Fandorin«, krähte er mit verräterisch zitternder Stimme, und er wiederholte noch einmal, eine Oktave tiefer: »Fan- dorin.«

Alle schauten ihn an, aber eher flüchtig, es war klar, daß der hinzugekommene Grünschnabel niemanden interessierte. Man spürte sofort, daß es in dieser Runde einen Mittelpunkt gab. Untereinander sprachen die Gäste kaum, alle hatten sie nur Augen für die Gastgeberin, und ausnahmslos jeder, selbst der gravitätische alte Herr mit dem Brillantstem, überschlug sich, um die anderen in den Schatten zu stellen und die Aufmerksamkeit der Dame wenigstens für einen Moment auf sich zu lenken. Lediglich zwei der Anwesenden benahmen sich nicht so - der schweigende Achtyrzew, der ständig das Glas an den Lippen hatte und Champagner in sich hineinschüttete, und ein Husarenoffizier: kräftiger Kerl mit schelmischen, etwas glupschenden Augen, lächelndem Mund und blendend weißen Zähnen, ein schwarzes Bärtchen über der Lippe. Er schien sich ordentlich zu langweilen und schaute nur selten zu Amalia hinüber, zog es vor, mit abschätzigem Grinsen die übrigen Gäste zu betrachten. Die Kleopatra war dem Flegel offenbar besonders gewogen, sie rief ihn Ippolit, und allein von dem Blick, den sie ihm ein paar Mal zuwarf, wurde Fan- dorin weh ums Herz.

Plötzlich zuckte er zusammen. Ein aalglatter Herr mit dem weißen Annenkreuz am Hals hatte die eingetretene Konversationspause genutzt, um zu verkünden: »Zwar haben Sie es sich letztens verbeten, Amalia Kasimirowna, über Kokorin herzuziehen, doch ist mir da etwas Interessantes zu Ohren gekommen.«

Er schwieg ein Weilchen und genoß den Effekt: Alle wandten sich ihm zu.

»Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Anton Iwanowitsch, erzählen Sie«, drängte ein Dicker mit hoher Stirn, der aussah wie ein erfolgreicher Advokat.

»Ja, nur zu!« pflichteten die anderen ihm bei.

»Kokorin hat sich nicht auf die simple Art erschossen, er hat amerikanisches Roulette gespielt. In der Kanzlei des Generalgouverneurs hat man es mir heute morgen brühwarm erzählt«, tat der Glatte sich wichtig. »Wißt Ihr, was das ist, amerikanisches Roulette?«

»Ein alter Hut«, sagte Ippolit und hob die Schultern. »Du schnappst dir einen Revolver und steckst eine einzige Patrone rein. Blöd, aber macht was her. Zu dumm, daß es der Amerikaner erfunden hat und nicht unsereins.«

»Und was hat das mit Roulette zu tun, Graf?« Der alte Herr mit dem Stern verstand nicht.

»Pair oder Impair, Rouge oder Noir, Hauptsache, nicht Zero!« brüllte Achtyrzew und lachte gekünstelt, während er Amalia provozierend (so schien es Fandorin zumindest) in die Augen sah.

»Ich habe euch gewarnt: Wer davon redet, fliegt raus!« rief die Gastgeberin ernstlich erbost. »Und er kommt mir nicht mehr ins Haus! Habt ihr endlich was gefunden, worüber ihr euch das Maul zerfetzen könnt!«

Betretenes Schweigen.

»Mich vor die Tür zu setzen werdet Ihr gewiß nicht wagen«, versetzte Achtyrzew in unverändert dreistem Ton. »Ich darf mir hier wohl das Recht herausnehmen, zu sagen, was ich denke.«

»Und wieso, wenn man fragen darf?« erkundigte sich ein bulliger Hauptmann in Gardeuniform.

»Weil er besoffen genug ist, der Milchbart«, trieb Ippolit, eben vom Senior mit Graf tituliert, die Situation entschlossen auf die Spitze. »Wenn Ihr erlaubt, Amelie, befördere ich ihn an die frische Luft.«

»Wenn ich Eurer Sekundanz bedarf, lasse ich es Euch wissen, Ippolit Alexandrowitsch«, erwiderte Kleopatra nicht ohne Bissigkeit und erstickte so die Konfrontation im Keim. »Ich habe die bessere Idee, meine Herren. Wenn keiner von Ihnen in der Lage ist, eine interessante Unterhaltung in Gang zu bringen, sollten wir zum Pfänderspiel übergehen. Das war doch letztens sehr lustig, als Frol Lukitsch verlor und Blumen in den Rahmen sticken mußte und sich die Finger dabei zerstochen hat!«

Alle brachen in fröhliches Lachen aus - außer einem Herrn Herren mit Kolbe und Kinnbart, dem der Frack in den Nähten zu platzen schien.

»Ja, da hatte meine beste Amalia Kasimirowna was zu lachen über den braven Kaufmann. Mir Dussel geschah’s ganz recht«, versetzte er friedfertig. »Aber Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn, so heißt es, zumindest im ehrlichen Handel. Wenn wir vor Euch Kopf und Kragen riskieren, solltet Ihr nicht billiger davonkommen!«

»Wo er recht hat, hat er recht, der Herr Kommerzienrat!« rief der Advokat. »Topp! Soll Amalia Kasimirowna ruhig auch einmal ihren Mut beweisen! Meine Herren, ich habe einen Vorschlag zu machen! Derjenige von uns, dem das glückliche Pfand gehört, darf von unserem Goldstück verlangen . na . eben etwas ganz Besonderes.«

»Jawohl! Bravo!« kam von allen Seiten Zustimmung.

»Oho? Ein kleiner Aufstand? Pugatschow und seine Bande?« Die betörend charmante Gastgeberin lachte. »Was wollt Ihr denn von mir?«

»Ich weiß etwas!« meldete Achtyrzew sich zu Wort. »Eine aufrichtige Antwort auf eine beliebige Frage. Ohne Zaudern, ohne Katz-und-Maus-Spiel. Und unter vier Augen.«

»Wozu unter vier Augen?« protestierte der Hauptmann. »Dann haben die anderen doch nichts davon.«

»Entweder aufrichtig oder vor allen, das ist wohl wahr«, stimmte die Beshezkaja Achtyrzew zu, und ihre Augen blitzten. »Gut, spielen wir um die Aufrichtigkeit - wie ihr wollt. Hoffentlich kriegt es der Glückliche nicht mit der Angst, wenn er die Wahrheit von mir zu gewärtigen hat? Sie könnte ihm schlecht bekommen!«

Der Graf stellte sich in alberne Positur und kollerte in Pariser Manier: »J’en ai le frisson que d’y penser. Zum Teufel mit der Wahrheit, meine Herren. Wen interessiert sie? Wollen wir nicht lieber amerikanisches Roulette spielen? Wäre das keine Versuchung?«

»Ippolit, ich hatte mich doch wohl deutlich genug ausgedrückt!« ließ die Göttin einen Blitz auf ihn niederfahren. »Und ich sage es nicht noch einmal. Davon kein Wort mehr!«

Ippolit verstummte augenblicklich, hob gar die Hände - ich bin ja schon still, sollte das heißen.

Währenddessen sammelte der flinke Hauptmann die Pfänder in seine Mütze. Fandorin legte das Batisttuch seines Vaters mit dem Monogramm P.F. hinein.

Der aalglatte Anton Iwanowitsch durfte ziehen. Gleich als erstes zog er die Zigarre hervor, die er selbst hineingelegt hatte, und fragte in servilem Ton: »Was bekommt dieses Pfand?«

»Vom Kringel das Loch«, erwiderte Kleopatra, das Gesicht zur Wand gedreht, und alle außer dem Glatten lachten gehässig.

»Und dieses?« Aufs Geratewohl zog Anton Iwanowitsch den Silberstift des Hauptmanns aus der Mütze.

»Den Schnee vom vorigen Jahr.«

Es folgten eine Uhr im Medaillon (»die Ohren vom Fisch«), ein Satz Spielkarten (»mes condoleances«), eine bernsteinene Zigarettenspitze (»viel Lärm um nichts«), ein alter Hundertrubelschein (»dreimal nichts«), ein Schildpattkamm (»viermal nichts«), eine einzelne Weinbeere (»die Mähne von Orest Kirillowitsch« - anhaltendes Gelächter, das einem absolut kahlköpfigen Herren mit Wladimir-Orden am Revers galt), eine Nelke (»dem nie und nimmer«). Nun lagen nur noch zwei Pfänder in der Mütze: Fandorins Tuch und Ach- tyrzews goldener Ring. Als nächstes glänzte der Ring in den Fingern des Spielmeisters, der Student beugte sich weit nach vorn, und Fandorin sah Schweißperlen auf die pickelüber- säte Stirn treten.

»Der, ja, vielleicht könnte der ...?« fragte sich Amalia Ka- simirowna gedehnt, die es wohl allmählich leid war, für die

Unterhaltung der Gäste zu sorgen. Achtyrzew hielt es nicht auf seinem Stuhl, er riß sich, ohne seinem Glück noch ganz zu trauen, den Zwicker von der Nase. »Ach nein, dem doch nicht, lieber dem letzten!« beschied die Schicksalsgöttin, womit die Folter ein Ende hatte.

Alles drehte sich zu Fandorin um, die meisten nahmen erst jetzt richtig von ihm Notiz. Die letzten Minuten, während seine Chancen stetig wuchsen, hatte er fieberhaft überlegt, wie er sich im Glücksfall verhalten sollte. Nun waren alle Zweifel ausgeräumt. Es hatte so kommen sollen.

Aber da sprang Achtyrzew auf ihn zu und wisperte voller Inbrunst: »Treten Sie zurück, ich flehe Sie an. Was wollen Sie denn ... Sie sind zum ersten Mal hier, für mich hingegen ist es die Stunde des Schicksals. Verkaufen Sie mir einfach Ihr Anrecht. Wieviel wollen Sie? Fünfhundert, tausend? Mehr?«

Mit ruhiger Entschiedenheit, die ihn selbst in Erstaunen setzte, schob Fandorin den verzweifelt Flüsternden beiseite, stand auf, trat auf die Gastgeberin zu und fragte, sich verbeugend: »Wohin wünschen Sie, daß wir uns zurückziehen?«

Erheitert und voller Neugier schaute sie Fandorin an. Ihm schwindelte von diesem geraden Blick.

»Am besten dort hinüber, in die Ecke. Ganz allein mit einem Draufgänger wie Ihnen möchte ich dann doch nicht sein.«

Ohne sich durch das höhnische Gelächter der anderen beirren zu lassen, folgte Fandorin ihr in die entfernteste Ecke des Salons und ließ sich auf einem Diwan mit geschnitzter Lehne nieder. Amalia Kasimirowna steckte eine Maisstrohzigarette in ihr silbernes Mundstück, entzündete sie an einer Kerze und streckte sich behaglich.

»Na, wieviel hat Ihnen Nikolai für mich geboten? Ich weiß doch, was er Ihnen einflüstern wollte.«

»Tausend Rubel«, gab Fandorin ehrlich zur Antwort. »Er wäre noch höher gegangen.«

Kleopatras Achataugen blitzten böse auf: »Oho, der

scheint es ja nötig zu haben. Und Sie? Sind wohl Millionär?«

»Nein, eher arm«, erwiderte Fandorin bescheiden. »Aber mit dem Glück Handel zu treiben kommt mir schäbig vor.«

Im Salon hatte man es unterdessen aufgegeben, die Ohren zu spitzen, zu verstehen war von dem Zwiegespräch ohnehin nichts. Man fand sich zu Grüppchen zusammen, parlierte über dies und jenes, wobei freilich jeder immerzu in die Ecke herüberschielte.

Kleopatra musterte den jungen Mann, in dessen Hände sie sich für kurze Zeit begeben hatte, mit unverhohlenem Spott.

»Was wollen Sie denn nun fragen?«

Fandorin zögerte noch.

»Die Antwort wird ehrlich sein?«

»Ehrlichkeit hat etwas mit Ehre zu tun, und nach Ehre kann man bei unserer Art von Spielen lange suchen«, antwortete die Beshezkaja, ihr Lächeln bekam einen leisen Zug von Bitterkeit. »Aber Offenheit, die kann ich Ihnen garantieren. Nur enttäuschen Sie mich bitte nicht und stellen Sie keine dummen Fragen. Ich halte Sie für ein achtbares Individuum.«

Der Moment war da. Fandorin ging zur Attacke über.

»Was wissen Sie über den Tod von Pjotr Alexandrowitsch Kokorin?«

Die Gastgeberin erschrak nicht, zuckte nicht einmal, doch wenn Fandorin richtig gesehen hatte, waren ihre Augen für einen winzigen Moment schmal geworden.

»Wozu fragen Sie das?«

»Das erkläre ich Ihnen später. Erst antworten Sie.«

»Gut. Ich kann Ihnen sagen, was ich weiß. Den lieben

Kokorin hat eine äußerst rauhbeinige Dame auf dem Gewissen.« Für einen Moment senkte die Beshezkaja ihre dichten schwarzen Wimpern, und ein glühender Blick, schnell wie ein Bajonettstoß, schoß darunter hervor. »Diese Dame heißt Liebe.«

»Liebe zu wem? Zu Ihnen? Er ist doch öfters hier gewesen, oder nicht?«

»In der Tat. Und außer mir gibt es hier wohl niemanden zum Verlieben. Es sei denn, Orest Kirillowitsch.« Sie lachte.

»Kokorin tut Ihnen kein bißchen leid?« fragte Fandorin, erstaunt über soviel Hartherzigkeit.

Die ägyptische Königin zuckte gleichmütig die Schultern.

»Jeder ist seines Schicksals Schmied. Könnten das genug Fragen gewesen sein?«

»Noch nicht!« erwiderte Fandorin hastig. »Was hatte Ach- tyrzew mit der Sache zu tun? Und was hat das Testament zugunsten von Lady Aster zu bedeuten?«

Das Stimmengewirr in Fandorins Rücken schwoll an, genervt drehte er sich um.

»Ach, mein Ton behagt dir nicht?« fragte Ippolit herausfordernd. Er war dabei, dem betrunkenen Achtyrzew zu Leibe zu rücken. »Dann behagt dir das vielleicht besser?« Und er stieß dem Studenten mit der flachen Hand vor die Stirn - nicht sehr kräftig, doch genug, daß der magere Ach- tyrzew in Richtung Sessel flog und hineinplumpste; dort saß er nun und klapperte fassungslos mit den Augen.

»Hören Sie, Graf, so geht das nicht!« rief Fandorin und eilte auf den Raufbold zu. »Daß Sie stärker sind, gibt Ihnen nicht das Recht zu .«

Doch seine wirre Anklage, die den Grafen wenig zu beeindrucken schien, ging in der schneidenden Stimme der Gastgeberin unter: »Raus hier, Ippolit! Und daß du mir den

Fuß nicht mehr in dieses Haus setzt, bis du wieder nüchtern bist!«

Schimpfend und fluchend polterte der Graf zum Ausgang. Neugierig beäugten die übrigen Gäste den schlaff im Sessel hängenden Achtyrzew, ein Häufchen Elend; er machte nicht den Versuch, sich zu erheben.

»Sie scheinen mir hier der einzige normale Mensch zu sein«, raunte Amalia Fandorin zu, während sie zur Tür ging. »Schaffen Sie ihn fort. Nur nicht fallenlassen.«

Beinahe augenblicklich erschien der Hüne John, der die Livree mit einem schwarzen Gehrock und gestärkter Chemisette getauscht hatte. Er half, den Studenten zur Tür zu bugsieren, und stülpte ihm den Zylinder auf den Kopf. Die Beshezkaja kam nicht heraus, sich zu verabschieden, und die finstere Physiognomie des Butlers sagte Fandorin, daß es Zeit war zu gehen.

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