Draußen an der frischen Luft kam Achtyrzew wieder einigermaßen zu sich - er stand wacker auf den Füßen, schwankte nicht, so daß Fandorin es riskierte, seinen Arm loszulassen.
»Laufen wir vor zur Sretenka«, schlug er vor. »Da setze ich Sie in eine Droschke. Haben Sie es weit bis nach Hause?«
»Nach Hause?« Im flackernden Licht der Petroleumlaterne wirkte das bleiche Gesicht des Studenten wie eine Maske. »Auf gar keinen Fall nach Hause! Lassen Sie uns irgendwo anders hinfahren, ja? Mir ist nach Reden zumute. Sie haben ja gesehen, was . die mit mir machen. Wie heißen Sie? Ach ja, Fandorin, komischer Name. Ich heiße Achtyr- zew. Nikolai Achtyrzew.«
Fandorin verbeugte sich andeutungsweise, während er eine heikle moralische Frage zu bedenken hatte: War es in Ordnung, Achtyrzews labilen Zustand auszunutzen, um ihm die nötigen Auskünfte zu entlocken? Immerhin schien der »Grumme« ja selbst nicht abgeneigt, aus dem Nähkästchen zu plaudern.
Fandorin entschied, daß es in Ordnung war. Die Kompliziertheit des zu ermittelnden Falles stand dafür.
»Das >Krim< ist nicht weit von hier«, fiel Achtyrzew ein. »Da brauchen wir kein Gefährt, das schaffen wir zu Fuß. Ist natürlich eine Kaschemme, aber die Weine sind passabel. Gehen wir hin, ja? Ich lade Sie ein.«
Fandorin ließ sich nicht bitten, sie liefen langsam (denn der Student schwankte beim Laufen doch ein bißchen) durch die dunkle Gasse auf die weit vor ihnen blinkenden Lichter der Sretenka zu.
»Bestimmt halten Sie mich für einen Feigling, Fandorin, nicht wahr?« fing Achtyrzew mit schwerer Zunge wieder an. »Weil ich den Grafen nicht zum Duell gefordert, die Beleidigung hingenommen, den Betrunkenen gespielt habe. Ich bin kein Feigling, ich könnte Ihnen Dinge erzählen, Sie würden sich umgucken . Er wollte mich ja nur provozieren. Das hat womöglich sie ihm eingeflüstert, um mich loszuwerden und sich dabei nichts nachsagen zu lassen . Oh, diese Frau, wenn Sie wüßten! Und dem Surow ist es egal, ob er eine Fliege totschlägt oder einen Menschen. Jeden Morgen übt er eine Stunde lang Pistolenschießen. Es heißt, er trifft ein Fünfkopekenstück auf zwanzig Schritt. Soll das etwa ein Duell sein? Er ginge kein Risiko ein. Das wäre der blanke Mord, nur mit hübscherem Etikett. Und hinterher geschähe ihm gar nichts, er windet sich aus allem raus. Wäre nicht das erste Mal. Er fährt einfach ein Weilchen im Ausland spazieren. Ich aber möchte leben, ich hab’s mir verdient.«
Sie bogen von der Sretenka in eine Seitenstraße ab, die unansehnlich, aber immerhin mit Gas- statt Petroleumlaternen versehen war; ein Stück voraus sah man ein dreistöckiges Gebäude mit hellerleuchteten Fenstern. Das muß das »Krim« sein! dachte Fandorin, und das Blut stockte ihm im Herzen - zuviel hatte er schon gehört von diesem in ganz Moskau berüchtigten Lokal.
An dem breiten, im grellen Lampenlicht liegenden Portal hielt niemand sie auf. Mit geübter Geste stieß Achtyrzew die hohe, mit Schnitzwerk verzierte Tür auf. Wärme schlug ihnen entgegen, Küchen- und Schnapsdunst, dazu ein tosendes Stimmengewirr und schluchzende Geigen.
Sie ließen die Zylinder an der Garderobe und liefen sogleich einem flinken Burschen in weinroter Bluse in die Arme, der Achtyrzew mit »Euer Erlaucht« titulierte und einen allerbesten, »extra reservierten« Tisch versprach.
Der Tisch stand an der Wand und zum Glück in einiger Entfernung von der Bühne, wo ein Zigeunerchor grölte und mit Schellen rasselte.
Fandorin, den es zum ersten Mal in eine echte Lasterhöhle verschlagen hatte, drehte unentwegt den Kopf nach allen Seiten. Ein buntes Publikum war zugegen, nüchtern anscheinend niemand mehr. Kaufleute und Börsenspekulanten mit ihren pomadisierten Köpfen gaben den Ton an - daß sie in diesen Zeiten das nötige Geld hatten, wußte man ja. Doch gesellten sich zu ihnen auch einige Subjekte von deutlich herrschaftlicherem Aussehen, sogar das goldene Monogramm eines Flügeladjutanten blitzte Fandorin von einer Epaulette an. Das Hauptaugenmerk des Kollegienregistrators galt allerdings den jungen Damen, die sich zu einem setzten, sobald nur der geringste Wink sie dazu aufforderte. Die Tiefe ihrer Dekolletes ließ Fandorin erröten, und die Röcke waren so geschlitzt, daß die runden Knie in den durchbrochenen Strümpfen auf schamloseste Weise hervorschauten.
»Was ist, haben die Dämchen es Ihnen angetan?« fragte Achtyrzew grinsend, nachdem er beim Kellner Schnaps und Wein bestellt hatte. »Seit ich Amalia kenne, zählen die für mich gar nicht mehr zum weiblichen Geschlecht. Wie alt sind Sie, Fandorin?«
»Einundzwanzig«, erwiderte Fandorin, ein Jährchen zugebend.
»Ich bin dreiundzwanzig. Und ich hab schon einiges hinter mir. Versteifen Sie sich bloß nicht auf diese Huren, sie
sind das Geld und die Zeit nicht wert. Danach fühlt man sich nur um so mieser. Wenn man schon lieben muß, dann bitte schön eine Königin! Aber wozu erzähle ich Ihnen das? Sie sind doch auch nicht zufällig bei Amalia aufgetaucht? Hat sie Ihnen den Kopf verdreht? Das mag sie, sie sammelt Männer, und ständig braucht sie neue Exponate. Wie heißt es in der Operette so schön: Elle ne pense qu’a exciter les hommes . Aber alles hat seinen Preis, und ich habe ihn bezahlt. Soll ich Ihnen eine feine Geschichte erzählen? Sie gefallen mir irgendwie, Sie schweigen so schön. Und es kann Ihnen nicht schaden zu erfahren, was für eine Frau das ist. Vielleicht kommen Sie noch zur Besinnung, ehe sie Sie verschlingt, wie
sie mich verschlungen hat. Oder hat es Sie schon erwischt,
Fandorin, he? Was haben Sie ihr denn heute geflüstert?«
Fandorin schlug die Augen nieder.
»Also hören Sie zu«, begann Achtyrzew. »Sie haben mich vorhin der Feigheit verdächtigt, weil ich von Ippolit die Finger gelassen habe, ihn nicht zum Duell fordern wollte. Dabei hatte ich schon ein Duell, und was für eins, das kann sich
Ihr Ippolit im Traum nicht vorstellen. Haben Sie gehört, wie strikt sie verboten hat, über Kokorin zu sprechen? Das hat seinen Grund! Sie hat Blut am Stecken, fürwahr! Ich natürlich auch. Nur daß ich für meine Sünden schon gebüßt habe, mit Todesangst. Kokorin war mein Studienkollege, er verkehrte auch bei Amalia. Früher waren wir befreundet, aber zuletzt sind wir ihretwegen zu Feinden geworden. Kokorin war frecher als ich, sah auch niedlicher aus, nur, entre nous, ein Krämer bleibt immer ein Krämer, ein Plebs, auch wenn er an der Universität studiert. Amalia hat ihren Spaß mit uns getrieben - mal zog sie den einen vor, mal den anderen. So ist sie: Mal sagt sie Nicolas und duzt dich, du fühlst dich in den Favoritenstand gehoben, und dann fällst du in Ungnade wegen irgendeiner Kleinigkeit, sie verbietet dir eine Woche lang, ihr unter die Augen zu treten, siezt dich, ist förmlich bis dorthinaus. Wer einmal bei ihr an der Angel hängt, kommt nicht wieder los, das ist ihre Politik.«
»Und was spielt dieser Ippolit bei ihr für eine Rolle?« fragte Fandorin vorsichtig nach.
»Graf Surow? Das weiß ich nicht so genau, zwischen ihnen ist irgend etwas Besonderes. Entweder hat er sie in der Hand, oder sie ihn . Eifersüchtig ist er jedenfalls nicht. So eine wie sie verbittet sich jede Eifersucht. Eben ganz die Königin!«
Er verstummte, weil eine Horde angetrunkener Kaufleute am Nachbartisch krakeelte - sie waren im Gehen und stritten, wer die Zeche bezahlen sollte. Dann schafften die Kellner flink das schmutzige Tischtuch beiseite, legten ein frisches auf, und keine Minute später nahm bereits ein neuer Gast Platz: ein Beamter, ziemlich besoffen, mit fast weißen, noch dazu (wohl vom Trinken) glasigen Augen. Eine dralle Brünette kam zu dem Trunkenbold geflattert, faßte ihn um die Schulter und schlug die Beine so eindrucksvoll übereinander, daß Fandorin Gelegenheit hatte, sich in den Anblick ihres faltenlos mit rotem Fil de Perse bestrumpften Knies zu versenken.
Unterdessen hatte der Student ein gut gefülltes Glas Rheinwein trockengelegt und fuhr, in seinem blutigen Beefsteak stochernd, zu erzählen fort: »Sie glauben wohl, Pierre Kokorin hätte aus Liebeskummer Hand an sich gelegt? Das wäre ja noch schöner. Nein, ich war es, der ihn umgebracht hat.«
»Was?!« Fandorin traute seinen Ohren nicht.
»Sie haben richtig gehört!« Achtyrzew nickte und schaute stolz drein. »Wenn Sie den Mund halten und mich nicht mit Ihren Fragen behelligen, erzähle ich Ihnen alles haarklein.
Jawohl, ich habe ihn getötet, und es reut mich nicht im geringsten. Wir haben uns duelliert, und zwar auf ehrliche Art. Ein ehrlicheres Duell hat es seit Ewigkeiten nicht gegeben! Wenn zwei sich vis-a-vis gegenüberstehen, geht es fast nie mit rechten Dingen zu: Der eine schießt besser, der andere schlechter, der eine ist dicker, man trifft ihn darum leichter, oder er hat eine schlaflose Nacht verbracht, und seine Hand zittert. Bei Pierre und mir hingegen war alles gerecht. Angefangen hat es im Sokolniki-Park, auf dem Rondell, wir fuhren zu dritt in einer Equipage spazieren, und plötzlich sagte sie: >Ach, ich hab euch alle beide satt, ihr reichen, verzogenen Jungs! Von mir aus könntet ihr euch gegenseitig den Schädel einschlagen.< Darauf Kokorin, das miese Stück: >Ich tät’s, wenn Ihr es mir lohntet.< Und ich: >Für den richtigen Lohn täte ich es auch. Den, der nicht zu teilen ist. Einer soll verzichten - oder ins Gras beißen. < So weit war es mit uns schon gekommen, mit Kokorin und mir. >Liebt Ihr mich wirklich so sehr?< fragte sie. Und er: >Mehr als das Leben.< Von mir bekam sie Gleiches zu hören. >Na gut<, meinte sie, >Mut ist das einzige, was ich an Menschen schätze, alles übrige läßt sich imitieren. So hört meinen Willen. Sollte einer von euch tatsächlich den anderen aus der Welt schaffen, dann wird sein Mut belohnt - womit, könnt ihr euch denken.< Und sie lachte. >O je, was seid ihr zwei für hohle Schwätzer. Ihr würdet doch nie einen Mord begehen. Ihr habt auch wirklich gar nichts zu bieten außer dem elterlichen Kapital.< Das hat mich wütend gemacht. >Für Kokorin kann ich die Hand nicht ins Feuer legen<, habe ich gesagt, >aber was mich angeht, so würde ich um einer solchen Belohnung willen weder mein noch ein anderes Leben schonen.< Darauf fuhr sie mich wütend an: >Ach wißt ihr, mir reicht euer eitles Geschwätz. Die Wette gilt, ihr werdet euch duellieren, aber nicht wie üblich, sonst gibt es hinterher bloß wieder einen Skandal. Und außerdem wäre es eine halbe Sache. Der eine schießt dem anderen in den Arm und erklärt sich zum Sieger. Nein, einer soll sterben und der andere lieben. So wie das Schicksal es will. Werft das Los! Wen es trifft, der soll sich erschießen. Und vorher schreibt er einen anständigen Abschiedsbrief, damit keiner auf den Gedanken kommt, es wäre um meinetwillen passiert. Na, was ist, kneift ihr? Wenn ihr kneift, dann schämt euch wenigstens und laßt euch nicht mehr bei mir blicken. Wäre mir auch recht.< Pierre sah mich an und sagte: >Ich weiß nicht, wie Achtyrzew die Sache sieht, ich jedenfalls kneife nicht.< Und so war es besiegelt ...«
Der Student schwieg und ließ den Kopf hängen. Dann fuhr er auf, goß das Weinglas randvoll und schüttete es in sich hinein. Das rotbestrumpfte Mädchen am Nachbartisch bekam von dem Mann mit den weißen Augen etwas ins Ohr geflüstert, worüber sie sich halbtot lachte.
»Aber was ist mit dem Testament?« fragte Fandorin - und biß sich auf die Zunge, denn davon hätte er wohl kaum etwas wissen dürfen. Doch Achtyrzew, versunken in seiner Geschichte, nickte nur matt:
»Ach, das Testament . Das kam auch von ihr. >Ihr denkt, ihr könnt mich mit Geld kaufen? Na schön, von mir aus - nur nicht für hunderttausend, wie Nikolai sich einbildet!< (Ich hatte es einmal versucht, so bei ihr zu landen, und wäre um ein Haar rausgeflogen.) Auch nicht für’s Doppelte. Nein, ich will alles, was ihr habt. Wem der Tod beschieden ist, der soll nackt ins Jenseits hinübertreten. Aber<, hat sie gesagt, >denkt nicht, daß ich euer Geld nötig habe, ich verschenke mein eigenes an Hinz und Kunz. Nein, soll es für irgendeinen guten Zweck hingehen - an ein Kloster oder was weiß ich. Als Abbitte für die Todsünden. >Was meinst du, Pe- truscha<, fragt sie ihn, >reichen deine Millionen für eine schöne dicke Kerze?< Dabei war Kokorin ein bekennender Atheist. >Bloß nicht den Popen in den Rachen!< parierte er hitzig. >Dann schon lieber den gefallenen Mädchen! Soll jedes sich eine Nähmaschine kaufen und das Gewerbe wechseln. Wenn eines Tages in ganz Moskau keine Hure mehr übrig ist, verdankt ihr es dem seligen Pjotr Kokorin!< - >Na, ich weiß nicht<, entgegnete Amalia, >wer einmal vom Weg abgekommen ist, den krempelst du nicht mehr um. Das muß früher passieren, in zartester Jugend!< Kokorin hat bloß abgewinkt: >Dann kriegen es eben irgendwelche Kinder, das Waisenhaus, was weiß ich!< Sie strahlte übers ganze Gesicht: >Dafür, Petruscha, wird dir vieles verziehen sein. Komm her, laß dich küssen!< Mich hat die Wut gepackt. >Puh, im Waisenhaus, da lassen sie deine Million ruck, zuck verschwinden, sag ich dir. Hast du nicht gelesen, was über die staatlichen Heime in den Zeitungen steht? Es gibt sowieso viel zu viele davon. Soll es die Engländerin kriegen, dieses Freifräulein Aster, die klaut nicht.< Dafür bekam auch ich von Ama- lia einen Kuß: Prima! hieß das, wischt den Patrioten ruhig mal eins aus. Das war am elften, am Sonnabend. Am Sonntag haben wir uns getroffen, Kokorin und ich, und alles besprochen. Das war ein seltsames Gespräch, kann ich Ihnen sagen. Er tat großspurig, alberte herum, während ich die meiste Zeit schwieg. In die Augen haben wir uns kein einziges Mal gesehen. Ich war wie betäubt . Wir bestellten einen Advokaten und setzten in aller Form die Testamente auf. Pierre wurde für mich zum Zeugen und Vollstrecker ernannt, ich für ihn. Der Advokat bekam von jedem fünftausend dafür, daß er den Mund hielt. Wenn er geplaudert hätte, wäre es ohnehin sein Schaden gewesen. Verblieben sind wir so, wie Pierre es vorschlug: Treffpunkt um zehn bei mir an der
Taganka. Da wohne ich, genaugenommen in der Gon- tscharnaja. Jeder mit einem Revolver in der Tasche, Sechsermagazin, aber nur eine Patrone dann. Wir gehen jeder für sich, immer so, daß er den anderen sieht. Wer als erster dran ist, wird ausgelost. Irgendwo hatte Kokorin etwas über das amerikanische Roulette gelesen, das hat ihm gefallen. >Du wirst sehen, Kolja<, hat er gesagt, >nach uns werden sie es in russisches Roulette umbenennen.< Außerdem fand er es öde, sich zu Hause die Kugel zu geben, wir sollten zuletzt noch mal einen richtig schönen Spaziergang machen, mit Spannungsmomenten. Ich stimmte zu, mir war alles egal. Ehrlich gesagt, hatte ich mich schon aufgegeben, weil ich mir sicher war zu verlieren. Morgen ist der Dreizehnte, ausgerechnet der Dreizehnte, hämmerte es in meinem Kopf. Die Nacht hab ich kein Auge zugetan, ich war nahe daran, mich ins Ausland abzusetzen, aber allein der Gedanke, wie er mit ihr zurückbleiben und mich auslachen würde . Ich rührte mich also nicht von der Stelle.
Und dann der Morgen. Pierre kam - geckenhaft gekleidet, mit weißer Weste, äußerst aufgekratzt. Er war ein Glückskind, anscheinend hoffte er auch diesmal wieder Glück zu haben. Wir würfelten bei mir im Arbeitszimmer. Er kam auf neun Augen, ich auf drei. Darauf war ich gefaßt gewesen. >Ich tue keinen Schritt mehr<, sagte ich. >Lieber sterbe ich hier.< Ich ließ die Trommel rotieren, setzte mir die Mündung an die Brust. >Halt!< rief er. >Nicht ins Herz. Wenn die Kugel abdriftet, quälst du dich ewig. Besser an die Schläfe oder in den Mund.< - >Danke der Fürsorge<, sagte ich und haßte ihn in dem Moment so, daß ich ihn am liebsten abgeknallt hätte, ohne jedes Duell. Aber ich folgte seinem Rat. Nie werde ich dieses Klicken vergessen, beim ersten Mal. Das fuhr mir so ins Ohr, ich hätte .«
Achtyrzew schüttelte sich und goß wieder ein. Die Sängerin, eine fette Zigeunerin mit goldglänzendem Schal, trug jetzt mit tiefer Stimme etwas Langsames, zu Herzen Gehendes vor.
»Und dann hörte ich Pierre sagen: >Gut, jetzt bin ich dran. Gehen wir spazieren.< Erst da wurde mir bewußt, daß ich noch am Leben war. Wir liefen zur Schwiwaja Gorka hinauf, von wo man den Blick auf die Stadt hat. Kokorin immer voraus, ich zwanzig Meter hinter ihm. Knapp vor dem Abhang blieb er stehen, das Gesicht von mir abgewandt. Dann hob er die Hand mit der Pistole so, daß ich sie sehen konnte, drehte die Trommel. Zack! hatte er sie an der Schläfe - und klick. Ich hatte gewußt, daß ihm nichts passieren würde, ich hatte es nicht einmal anders zu hoffen gewagt. Danach würfelten wir neu - und wieder traf es mich. Wir liefen zur Jausa hinunter, dort war keine Menschenseele. Ich kletterte auf einen Brückenpfeiler, um mich nachher gleich ins Wasser fallenzulassen . Noch einmal ging es gut. Wir machten, daß wir davonkamen. Pierre meinte: >Irgendwie wird es langweilig. Wollen wir die Spießer ein bißchen schockieren?< Er hielt sich großartig, das muß man ihm lassen. Wir bogen in eine Gasse, wo mehr Betrieb war, Kutschen verkehrten. Ich wechselte auf die andere Straßenseite. Kokorin nahm den Hut ab, verbeugte sich nach rechts und nach links, hob dann die Hand in die Höhe, ließ die Trommel kreisen - kein Schuß. Jetzt mußten wir die Beine in die Hand nehmen: Geschrei, Aufruhr, kreischende Damen. Wir verzogen uns in eine Einfahrt - das war schon in der Marosejka -, würfelten. Und was glauben Sie? Wieder verlor ich! Er hatte zwei Sechsen und ich zwei Einsen, ungelogen! Das war’s! dachte ich, Schluß, aus, finito! Ein besseres Symbol konnte es nicht geben: dem einen die volle Hand, dem anderen gar nichts. Den dritten Anlauf nahm ich vor der Kosma-und-Damian-Kirche, wo ich getauft worden bin. Ich stellte mich auf die Freitreppe, wo die Bettler hocken, gab jedem einen Rubel, nahm die Mütze ab . Als ich die Augen wieder aufschlug, lebte ich immer noch. Und einer von den Krüppeln tat einen Spruch: >Die Seele juckt, der Herrgott schluckt<, meinte er zu mir. Wortwörtlich, das hab ich mir gemerkt. Wir also schleunigst weg und weiter. Kokorin konnte es beim nächsten Mal nicht vornehm genug haben, die Konditorei auf dem Neglinny mußte es sein, direkt neben der Go- loftejew-Passage. Er geht hinein, sucht sich einen Platz, ich stehe draußen vor dem Fenster. Er sagt etwas zu einer Dame am Nebentisch, sie lächelt. Er zieht den Revolver, drückt ab - alles gut zu sehen. Die Dame kriegt sich nicht ein vor Lachen. Da hat er den Revolver wieder eingesteckt und mit ihr noch ein bißchen geplaudert, seinen Kaffee ausgetrunken. Ich stand wie versteinert, empfand überhaupt nichts mehr, hatte nur den einen Gedanken: Jetzt müssen wir wieder würfeln. Das haben wir dann auf dem Ochotny getan, neben dem Hotel »Loskutnaja«, und da traf es ihn. Ich hatte eine Sieben, er eine Sechs. Sieben und sechs, das ist nur ein Auge Unterschied. Bis zu Gurowskis Gasthaus sind wir zusammen gegangen. Da, wo sie das Historische Museum bauen, trennten wir uns - er spazierte in den Alexandergarten rein, die Allee lang, und ich blieb draußen vor dem Zaun. Das letzte, was er zu mir sagte, war: >Was sind wir für Idioten, Kolja. Wenn’s jetzt noch mal gut geht, ist Feierabend.< Ich wollte ihn aufhalten, Gott ist mein Zeuge, aber ich hab’s nicht getan. Warum, weiß ich nicht. Nein, falsch, geschwindelt, ich weiß es sehr wohl: Es war die pure Gemeinheit. Einmal soll er ruhig noch die Trommel drehen, dachte ich, hinterher sehen wir weiter, vielleicht lassen wir’s ja wirklich gut sein. Das erzähle ich nur Ihnen, Fandorin. Ich komme mir vor wie zur Beichte .«
Achtyrzew trank wieder, die Augen hinter dem Zwicker waren rot und trübe. Atemlos wartete Fandorin, daß die Geschichte weiterging, obwohl ihm das, was nun kommen mußte, mehr oder weniger bekannt war. Achtyrzew zog eine Zigarre aus der Tasche, rieb mit zitternder Hand ein Zündholz an. Es war auffällig, wie wenig die lange, dicke Zigarre zu dem groben Jungengesicht paßte. Achtyrzew zertrieb mit der Hand die Rauchwolke vor seinen Augen und sprang plötzlich auf.
»Ober, die Rechnung! Ich halte es hier nicht mehr aus. Der Lärm, die Luft!« Er zerrte an seinem Seidenschlips. »Wir sollten das Lokal wechseln. Oder uns die Beine vertreten.«
Vor dem Eingang blieben sie stehen. Die Straße war düster und leer, alles Licht in den Häusern, mit Ausnahme des »Krim«, erloschen. In der nächststehenden Laterne flackerte und zuckte die Gasflamme.
»Oder doch lieber nach Hause?« stammelte Achtyrzew undeutlich mit zwischen den Lippen klemmender Zigarre. »Hier um die Ecke muß es Kutschen geben!«
Die Tür ging auf, heraus trat ihr Tischnachbar von eben, der weißäugige Staatsdiener mit schiefsitzender Mütze. Er hickste laut, kramte in der Tasche seines Uniformrocks und holte eine Zigarre hervor.
»Dürfte ich um ein Feuerchen bitten?« fragte er und näherte sich ihnen. Fandorin meinte einen leichten, irgendwie baltischen Akzent gehört zu haben.
Achtyrzew klopfte sich auf die eine, dann auf die andere Tasche, dort klapperten leise die Zündhölzer. Fandorin wartete geduldig. Da plötzlich ging mit dem Weißäugigen eine unbegreifliche Verwandlung vor sich: Er schien zu schrumpfen und ein wenig einzuknicken. Im allernächsten Moment lag wie von ungefähr ein kurzes, flaches Messer in seiner Hand, das der Beamte mit knapper, wippender Bewegung in Achtyrzews rechte Seite stieß.
Das weitere geschah sehr schnell, binnen zwei, drei Sekunden, aber Erast Fandorin schien es, als stünde die Zeit still. Er nahm so manches wahr, dachte so manches, nur sich vom Fleck zu rühren vermochte er nicht; es war, als hätte das Aufblitzen der stählernen Klinge ihn hypnotisiert.
Das erste, was Fandorin durch den Kopf ging, war: Er hat die Leber getroffen - und sogleich tauchte, wer weiß aus welchen Tiefen des Gedächtnisses, ein Satz aus dem Gymnasiallehrbuch für Biologie vor ihm auf: Die Leber ist diejenige Innerei im tierischen Körper, worin Blut und Galle sich sondern. Als nächstes sah er Achtyrzew sterben. Fandorin hatte nie zuvor jemanden sterben sehen, doch daß Achtyrzew starb, wußte er aus irgendeinem Grund genau. Sein Blick war vollkommen gläsern geworden, die Lippen zuckten im Krampf, und ein dünner Strahl kirschroten Bluts kam zwischen ihnen hervorgeschossen. Langsam und, wie es Fando- rin schien, geradezu elegant zog der Beamte das Messer zurück, dessen Klinke nun nicht mehr blitzte; ganz langsam drehte er sich zu Fandorin um, und sein Gesicht war plötzlich sehr nah: die weißen Augen mit den schwarzen Pupillenpunkten, die schmalen, blutleeren Lippen. Letztere bewegten sich, sprachen ein vernehmliches Wort: »Asasel«. Und dies war der Moment, da die Zeit, die sich einer Feder gleich gedehnt hatte, an die Grenze ihrer Dehnbarkeit gekommen war, sie entspannte sich nun blitzartig und fuhr Fandorin brennend in die rechte Seite, so heftig, daß er einfach nach hinten umfiel und mit dem Kopf gegen das Geländer der Eingangstür schlug. Was war das? Wer ist noch mal Asasel? dachte Fandorin, und: Träume ich etwa? Dann dachte er: Jetzt hat er mit seinem Messer Lord Byron getroffen. Fischbein. Für die gertenschlanke Taille.
Die Tür wurde aufgestoßen, eine lärmende, lachende Gesellschaft drängte heraus.
»Oho, meine Herren, geben Sie acht, hier haben wir ja ein Schlachtfeld, das reinste Borodino! Es hat sie umgehauen, die Guten. Na, wer nicht zu trinken versteht!«
Fandorin stützte sich auf, eine Hand gegen die feuchte, heiße Hüfte gepreßt, um nach dem Weißäugigen zu sehen.
Doch seltsam, der Weißäugige war weg. Achtyrzew lag da, wie er umgefallen war, kopfüber auf den Treppenstufen. Der Zylinder lag auch da, er war ein wenig weitergerollt, nur der Beamte fehlte, war spurlos verschwunden, hatte sich in Luft aufgelöst. Und kein Mensch sonst war auf der Straße zu sehen, die Laternen brannten trübe.
Plötzlich ging mit diesen Laternen etwas Merkwürdiges vor. Sie drehten sich, kippten, erst wurde es ganz hell - und schließlich ganz finster.