SIEBTES KAPITEL, in welchem die Pädagogik zur wichtigsten aller Wissenschaften erklärt wird

Die Adresse, die Fandorin auf dem Amt erfahren hatte, führte ihn zu einem massiven dreistöckigen Gebäude, das auf den ersten Blick an eine Kaserne erinnerte - allerdings war es von einem Garten umgeben, und die Türen standen einladend offen. Dies war das neueröffnete sogenannte Asternat der englischen Baronesse. Ein Bediensteter im feschen blauen Rock mit silbernen Schnüren, der in einem gestreiften Büdchen saß, beeilte sich Auskunft zu geben, daß Mylady nicht hier, sondern im Seitenflügel residierten, Eingang um die Ecke rechts.

Fandorin sah eine Horde Knirpse in niedlichen blauen Uniformen aus den Türen springen, mit wildem Geschrei fegten sie über den Rasen und spielten Fangen. Der Bedienstete dachte nicht daran, die Rangen zur Ordnung zu rufen. Fandorins erstaunten Blick bemerkend, erklärte er: »Das ist nicht verboten. In der Pause dürfen sie Purzelbaum schlagen, soviel sie wollen, wenn nur das Inventar heil bleibt. So ist die Hausordnung.«

Anscheinend hatten die Waisenkinder hier ihre Freiheiten - anders als die Schüler der städtischen Gymnasien, zu denen sich unser Kollegienregistrator noch vor gar nicht langer Zeit zu zählen hatte. Fandorin freute sich für die armen Kinder und lief am Zaun entlang in die angegebene Richtung.

Um die Ecke lag ein schattiges Sträßchen, wie es hier im Viertel Chamowniki unzählige gab: mit staubigem Pflaster,

Palisadenzäunen vor den verträumten kleinen Villen und ausladenden Pappeln, von denen schon bald der weiße Flaum fliegen würde. Der zweistöckige Seitenflügel, in dem Lady Aster ihr Domizil hatte, war mit dem Hauptgebäude über eine lange Galerie verbunden. Vor der Marmortafel mit der Aufschrift Erstes Moskauer Asternat. Direktion sonnte sich ein beeindruckender Türhüter mit geöltem und gestriegeltem Backenbart. So ein vornehmes Exemplar - weiß be- strumpft, mit Dreispitz und goldener Kokarde - hatte Fan- dorin noch nie zu Gesicht bekommen, nicht einmal vor der Residenz des Generalgouverneurs.

»Heute keine Sprechstunde!« Der Recke senkte den Arm wie einen Schlagbaum. »Bemühen Sie sich morgen wieder. In öffentlichen Angelegenheiten von zehn bis zwölf, in privaten von zwei bis vier.«

Nein, mit dem Stamm der Türhüter wollte sich für Erast Fandorin entschieden kein Einvernehmen herstellen. Entweder war sein Aufzug nicht solide genug, oder etwas stimmte an seiner Nase nicht.

»Kriminalpolizei. Zu Lady Aster, dringend!« Fandorin genoß bereits die Vorstellung, wie der goldbetreßte Zerberus im nächsten Moment in eine Verbeugung abknicken würde.

Aber der Zerberus dachte nicht daran.

»Zu Ihrer Erlaucht? Das weiß ich zu verhindern. Wenn es Ihnen beliebt, kann ich Sie bei Mr. Cunningham anmelden.«

»Ich brauche keinen Cunningham!« versetzte Fandorin gereizt. »Geh jetzt und melde mich bei der Baronesse, du Knallkopf, sonst übernachtest du heute bei mir auf dem Revier! Und sag ihr, die Kriminalpolizei steht vor der Tür, in einer dringenden Staatsangelegenheit!«

Der Türhüter maß den wütenden kleinen Beamten mit einem zutiefst skeptischen Blick, verschwand aber immerhin hinter der Tür. Den Gast ließ der dreiste Kerl draußen stehen.

Es verging geraume Zeit, Fandorin war nahe daran, ohne Aufforderung einzutreten, da erschien das martialische Bartgesicht wieder im Türspalt.

»Ihre Erlaucht empfangen, aber Russisch können Sie vergessen, Mr. Cunningham hat keine Muße zum Übersetzen, er hat Wichtigeres zu tun. Höchstens, Sie könnten sich französisch ausdrücken .«

Man hörte heraus, wie wenig der Türhüter an eine solche Möglichkeit glaubte.

»Genausogut englisch«, beschied Fandorin in kühlem Ton. »Wohin muß ich?«

»Ich gehe vor. Bitte zu folgen.«

Durch ein blitzsauberes, mit Möbelleinen tapeziertes Vestibül und einen sonnenüberfluteten Korridor mit einer Reihe hoher holländischer Fenster folgte Fandorin dem Recken zu einer goldverzierten weißen Tür.

Daß das Gespräch in Englisch geführt werden würde, brachte Fandorin nicht in Verlegenheit. Er war in der Obhut von Nanny Lizbeth (in strengen Augenblicken zuweilen: Mrs. Jason) aufgewachsen, einer waschechten englischen Amme. Sie war eine herzensgute, fürsorgliche, dabei streng auf Etikette bedachte alte Jungfer, die man - der Berufsehre wegen - keinesfalls mit »Miss«, nur mit »Mistress« ansprechen durfte. Lizbeth hatte ihren Schützling gelehrt, pünktlich aufzustehen - sommers um halb sieben und winters um halb acht -, beim Zähneputzen bis zweihundert zu zählen, sich nie ganz satt zu essen, und was es sonst noch an Qualitäten gibt, die einen echten Gentleman ausmachen.

Eine sanfte Frauenstimme antwortete auf sein Klopfen:

»Come in! Entrez!«

Fandorin reichte dem Türhüter seine Mütze und trat ein.

Er kam in ein großes, üppig möbliertes Kabinett, dessen Mittelpunkt ein riesiger Mahagonischreibtisch war. Dahinter saß eine grauhaarige Dame, die einen angenehmen, ja, ausgesprochen gemütlichen Eindruck machte. Die blauen Augen hinter dem goldenen Kneifer sprühten geradezu vor Freundlichkeit und Lebendigkeit. Das nicht sehr anmutige Gesicht mit der entenschnäbligen Nase und dem großen, lächelnden Mund gefiel Fandorin auf Anhieb.

Er stellte sich auf englisch vor, wobei er mit seinem Anliegen noch hinter dem Berg hielt.

»Sie haben eine exzellente Aussprache, Sir«, lobte ihn Lady Aster in selbiger Sprache, wobei sie jede Silbe sorgfältig ausformte. »Ich hoffe, unser grimmiger Timothy . ich meine, Timofej hat Sie nicht allzusehr erschreckt? Ehrlich gesagt, habe sogar ich zuweilen Angst vor ihm, doch hier in der Direktion tauchen des öfteren irgendwelche Amtspersonen auf, und dann ist Timothy unersetzlich, besser als jeder englische Butler. Nehmen Sie doch Platz, junger Mann. Am besten dort, in dem Sessel, da haben Sie es am bequemsten. Sie arbeiten also bei der Kriminalpolizei? Das muß ja ein sehr interessanter Beruf sein. Und was tut Ihr Vater, wenn ich fragen darf?«

»Er ist tot.«

»Oh, das tut mir leid, Sir. Und die Frau Mutter?«

»Die auch«, brummte Fandorin, dem dieser Einstieg ins Gespräch nicht behagte.

»Ach. Sie armer Junge. Ich weiß, wie einsam Sie sind. Seit nunmehr vierzig Jahren helfe ich solch armen Jungen, die Einsamkeit hinter sich zu lassen und ihren Weg zu finden.«

»Ihren Weg, Mylady?« Fandorin verstand nicht recht, was gemeint war.

»Aber ja!« ereiferte sich Lady Aster, sie schien gerade ihr Steckenpferd zu reiten. »Seinen Weg zu finden ist das Wichtigste im Leben eines jeden Menschen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß jeder Mensch seine einzigartigen Talente hat, in jedem steckt eine göttliche Gabe. Die Tragödie der Menschheit besteht darin, daß wir nicht imstande und wohl nicht einmal sonderlich interessiert daran sind, diese Gabe im Kinde aufzuspüren und zu hegen. Das Genie gilt uns als die Ausnahme und als Wunder, dabei ist das Genie nichts anderes als ein Mensch, der Glück gehabt hat: Das Schicksal wollte es, daß die Lebensumstände diesen Menschen zur richtigen Wahl seines Weges angehalten haben. Mozart ist das klassische Beispiel dafür. Er ist in der Familie eines Musikers geboren, also in einer Atmosphäre aufgewachsen, die die ihm in die Wiege gelegten Talente auf ideale Weise genährt hat. Nun stellen Sie sich einmal vor, Sir, Wolfgang Amadeus wäre in einer Bauernfamilie aufgewachsen. Bestimmt wäre ein garstiger Kuhhirt aus ihm geworden, bestenfalls einer, der seine Kühe mit zauberhaften Schalmeientönen beglückt. In der Familie eines tumben Offiziers hätte er es wiederum am ehesten zum linkischen Feldwebel gebracht, mit einer Vorliebe für Militärmärsche. Oh, glauben Sie mir, junger Mann: Jedes, wirklich ausnahmslos jedes Kind birgt in sich einen Schatz - aber der will erst einmal gehoben sein! Es gibt einen sehr netten nordamerikanischen Schriftsteller mit Namen Mark Twain. Ich habe ihm einmal die Idee zu einer Erzählung geliefert, in der die Menschen nicht nach ihren tatsächlichen Leistungen angesehen werden, sondern nach ebenjenem Potential, jener Begabung, die die Natur in ihnen angelegt hat. Und es zeigt sich, der größte Heerführer aller Zeiten ist irgendein namenloser Schneider, der niemals bei der Armee war, und der größte Maler hatte nie einen Pinsel in der Hand, weil er nämlich sein Lebtag als Schuster gearbeitet hat. Mein Erziehungssystem zielt darauf ab, daß jeder große Heerführer unbedingt eine Militärkarriere ansteuern und jeder große Maler beizeiten Zugang zu den Farben erhalten muß. Meine Pädagogen erforschen behutsam und geduldig jede seelische Regung ihrer Zöglinge, suchen darin nach dem göttlichen Funken, und in neun von zehn Fällen entdecken sie ihn!«

»Aha, das heißt, er steckt doch nicht in jedem!« sagte Fan- dorin und hob triumphierend den Zeigefinger.

»Doch, mein Junge, absolut in jedem, nur leider sind wir Pädagogen noch nicht geschickt genug. Oder aber in dem Kind schlummert ein Talent, für das die Welt von heute leider keine Verwendung hat. Vielleicht wäre dieser Mensch wie geschaffen für die Urgesellschaft, oder sein Genie wird erst in der fernen Zukunft gebraucht - auf einem Gebiet, von dem wir einstweilen noch keine Vorstellung haben.«

»Gut, was die Zukunft angeht, kann es sein, das wage ich nicht zu beurteilen«, erwiderte Fandorin, den das Thema wider Willen gepackt hatte. »Aber was Sie über die Urgesellschaft sagen, verstehe ich nicht ganz. An was für Talente denken Sie dabei?«

»Das weiß ich doch nicht, mein Junge!« antwortete Lady Aster mit entwaffnendem Lächeln. »Meinetwegen die Gabe, mit Bestimmtheit zu erkennen, wo unter der Erde sich Wasser befindet. Oder die, ein wildes Tier im Wald zu wittern. Vielleicht auch die Fähigkeit, genießbare von ungenießbaren Wurzeln zu unterscheiden. Ich weiß nur eins: In damaligen Zeiten galten solche Menschen als die großen Genies, während Mr. Darwin oder Herr Schopenhauer, hätten sie damals gelebt, von ihren Stämmen für die letzten Tölpel gehalten worden wären. Nebenbei bemerkt, verfügen auch diejenigen Kinder, die heute als geistig minderbemittelt angesehen werden, über Begabungen. Freilich keine von rationaler Art, darum aber nicht minder kostbare. Zu Hause in Sheffield habe ich ein spezielles Asternat für solche Kinder, mit denen die herkömmliche Pädagogik nichts zu tun haben will. Jesus! Welche Wunder an Genialität bei diesen Jungen zutage treten! Es gibt da ein Kind, das mit dreizehn noch kaum richtig sprechen kann, aber durch Handauflegen jede Migräne zu heilen versteht. Ein anderes, vollkommen stumm, kann über viereinhalb Minuten den Atem anhalten. Ein drittes heizt allein mit seinem Blick ein Glas Wasser auf, können Sie sich das vorstellen?«

»Unglaublich! Aber wieso eigentlich immer nur Jungen? Was ist mit den Mädchen?«

Lady Aster seufzte und hob die Hände.

»Sie haben recht, mein Freund. Man müßte natürlich auch mit Mädchen arbeiten. Leider hat mir die Erfahrung gezeigt, daß die heutige Gesellschaft moralisch nicht bereit ist, die der weiblichen Natur innewohnenden Talente in ihrer oftmals sehr besonderen Beschaffenheit auf gebührende Weise anzunehmen. Wir leben in einer Epoche der Männer, das muß man berücksichtigen. In einer Gesellschaft, in der die Männer das Sagen haben, stößt die begabte, außergewöhnliche Frau auf Mißtrauen und Feindseligkeit. Und ich möchte nicht, daß meine Schützlinge in ihr Unglück laufen.«

»Aber wie ist Ihr System denn aufgebaut? Wie zum Beispiel werden die Kinder, na, sagen wir, sortiert?« fragte Fan- dorin mit lebhafter Neugier.

»Ach, interessiert Sie das?« freute sich die Baronesse. »Dann gehen wir am besten ins Schulhaus hinüber, da sehen Sie es mit eigenen Augen.«

Mit einer für ihr Alter erstaunlichen Behendigkeit war sie aufgesprungen - bereit zu einer Führung durch das Haus, wie es schien.

Fandorin verbeugte sich, und Mylady geleitete ihren jungen Gast zunächst wieder den Korridor entlang und durch die lange Galerie zum Haupthaus.

Unterwegs erzählte sie: »Das hiesige Institut ist ganz neu, erst vor drei Monaten eröffnet, und wir stehen mit unserer Arbeit noch am Anfang. Meine Leute haben die Jungen aus den Waisenhäusern und manchmal direkt von der Straße geholt, einhundertzwanzig insgesamt, zwischen vier und zwölf Jahren. Bei noch älteren Kindern läßt sich kaum mehr etwas ausrichten, die Persönlichkeit ist schon fertig geformt. Zunächst hat man die Jungen in Altersklassen aufgeteilt, jede hat ihren eigenen Lehrer, der sich mit dem jeweiligen Alter besonders gut auskennt. Ihm obliegt es, sich die Kinder genau anzuschauen und ihnen nach und nach bestimmte einfache Aufgaben zu stellen. Diese Aufgaben sind spielerischer Art, doch läßt sich mit ihrer Hilfe gut erkennen, welche grundsätzlichen Anlagen vorhanden sind. In der Anfangsphase ist erst einmal herauszufinden, wo sich bei jedem Kind die Begabungen konzentrieren - im Körper, im Kopf oder in der Intuition. Anschließend werden die Kinder schon nicht mehr nach dem Alter, sondern nach Profilen sortiert: Rationalisten, Künstler, Handwerker, Führer, Sportler und so weiter. Allmählich engt sich das Profil immer weiter ein, so daß die älteren Jungen nicht selten individuell ausgebildet werden. Ich arbeite seit vierzig Jahren mit Kindern, und Sie können sich nicht vorstellen, was meine Schützlinge schon alles geleistet haben - auf den allerverschiedensten Gebieten.«

»Das ist grandios, Mylady!« Fandorin ließ seiner Begeisterung freien Lauf. »Aber wo nehmen Sie die vielen geschickten Pädagogen her?«

»Ich bezahle meine Lehrer sehr gut, denn die Pädagogik ist nun einmal die wichtigste aller Wissenschaften«, sagte die Baronesse aus tiefster Überzeugung. »Außerdem äußern viele meiner ehemaligen Schüler den Wunsch, als Erzieher am Asternat zu bleiben. Was nur natürlich ist, denn das Asternat ist wie eine große Familie, die einzige, die sie je hatten.«

Sie betraten einen großen Pausenraum, von dem aus die Türen zu den Klassenzimmern abgingen.

»In welches soll ich Sie führen?« überlegte Lady Aster. »Vielleicht ins Physikzimmer. Da gibt gerade mein verehrter Doktor Blank eine Demonstrationsstunde. Er ist Absolvent des Zürcher Asternats und ein genialer Physiker. Ich konnte ihn nach Moskau locken, indem ich ihm ein Labor für Versuche an der Elektrizität eingerichtet habe. Dafür muß er den Kindern allerlei physikalische Kunststückchen vorführen, um das Interesse an dieser Wissenschaft zu wecken.«

Die Baronesse klopfte an eine der Türen, und sie warfen einen Blick in die Klasse. An die fünfzehn Jungen saßen in den Bänken, Elf- oder Zwölfjährige, in blauen Uniformen mit einem goldenen »A« auf den Kragen. Alle schauten sie mit angehaltenem Atem zu, wie ein mürrisch dreinblickender junger Mann mit wucherndem Bart, speckigem Jackett und nicht ganz frischem Hemd eine Art gläsernes Rad drehte, welches fauchte und blaue Funken sprühte.

»Ich bin stark beschäftigt, Mylady! Später, später!« rief Doktor Blank auf deutsch und in unwirschem Ton, dann wandte er sich sofort wieder den Kindern zu, denen er in gebrochenem Russisch seine Erklärungen gab: »Gleich, meine Herren, ihr sehen echten kleinen Regenbogen! Name: Blankscher Regenbogen, Raduga Blanka. Meine Ausden- kung, als ich klein war wie ihr.«

Zwischen diesem seltsamen Rad und dem mit allerlei physikalischem Gerät vollgestellten Tisch spannte sich urplötzlich ein kleiner, erstaunlich heller Regenbogen, und die Jungen riefen begeistert oh und ah.

»Ein bißchen verrückt ist er, aber ein echtes Genie!« raunte Lady Aster Fandorin zu.

Im selben Moment erscholl von nebenan ein lauter, kindlicher Schrei.

»Mein Gott!« Mylady griff sich ans Herz. »Das kam aus dem Turnsaal. Schnell!«

Sie stürzte auf den Korridor, Fandorin ihr nach. Sie liefen in den Nachbarraum, einen lichten, leer wirkenden Saal, dessen Fußboden fast vollständig mit Ledermatten ausgelegt war und an dessen Wänden sich diverse Gerätschaften zur Körperertüchtigung reihten: Sprossenwände, Ringe, dicke Seile und Trampolins; Rapiere und Fechtmasken lagerten neben Boxhandschuhen und Gewichten. Ein Schwarm Siebenoder Achtjähriger drängte sich um eine der Matten. Fando- rin schob ein paar Kinder beiseite und sah einen Knaben dort liegen, schmerzverkrümmt; ein Mann im Turntrikot, um die Dreißig, mit feuerrotem, lockigem Haar, grünen Augen und einem energischen, mit Sommersprossen übersäten Gesicht, beugte sich über ihn.

»Na, komm, mein Lieber«, sprach er auf Russisch, mit nur leichtem Akzent. »Zeig her das Beinchen, hab keine Angst. Ich tu dir nicht weh. Sei mal tapfer, bist doch ein Mann ... Fell from the rings, Mylady«, erklärte er der Baronesse. »Weak hands. I am afraid, the ankle is broken. Would you please tell Mr. Izyumoff?«

Die Lady nickte wortlos und verließ, Fandorin mit sich ziehend, schnell den Saal.

»Ich hole den Doktor«, sagte sie hastig. »Solche Geschichten kommen vor - es sind eben Jungen. Das war übrigens Gerald Cunningham, meine rechte Hand. Absolvent des Londoner Asternats. Ein glänzender Pädagoge. Er leitet die gesamte russische Niederlassung. In sechs Monaten hat er Ihre schwere Sprache gelernt, was mir überhaupt nicht gelingen will. Erst vorigen Herbst hat Gerald das Asternat in Petersburg aufgemacht, und nun ist er für ein Weilchen hier und hilft, die Sache in Gang zu bringen. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen.«

Vor der Tür mit der Aufschrift »Arzt« blieb sie stehen.

»Verzeihen Sie, Sir, wir müssen unser Gespräch erst einmal unterbrechen. Alles übrige ein andermal, ja? Kommen Sie morgen wieder, dann reden wir weiter. Sie hatten doch ein Anliegen, nicht wahr?«

»Nichts Wichtiges, Mylady« sagte Fandorin und wurde schon wieder rot. »Ich denke, das können wir wirklich ... ein andermal. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrem edlen Unterfangen.«

Er verbeugte sich ungeschickt und schritt eilig von dannen. Erast Fandorin schämte sich sehr.

»Na, was ist, haben wir die Übeltäterin auf frischer Tat ertappt?« wurde der zerknirschte Fandorin von seinem Vorgesetzten fröhlich empfangen, der über irgendwelchen schwierigen Diagrammen saß. Die Vorhänge im Kabinett waren zugezogen, die Schreibtischlampe brannte, draußen dunkelte es schon. »Lassen Sie mich raten. Von einem Mr. Ko- korin haben Mylady noch nie etwas gehört, von Miss Beshezkaja gleich gar nicht, und die Nachricht von dem Selbstmord hat sie außerordentlich betroffen gemacht. Hab ich recht?«

Fandorin seufzte nur.

»Ich kenne die Dame von Petersburg her. Ihren Antrag auf pädagogische Betätigung in Rußland hatten wir in der Dritten Abteilung auf dem Tisch. Hat Sie Ihnen von den genialen Schwachköpfen vorgeschwärmt? Egal. Zur Sache. Setzen Sie sich!« Der Chef winkte ihn an den Tisch. »Sie haben eine spannende Nacht vor sich!«

Fandorin spürte ein angenehmes Kribbeln in der Brust - wie jedesmal, wenn er mit dem Herrn Staatsrat zu tun hatte.

»Sie nehmen Surow ins Visier. Gesehen haben Sie ihn ja schon, können sich also ein ungefähres Bild von ihm machen. Sich dem Grafen zu nähern ist einfach, man braucht keine Empfehlungen. Er betreibt in seinem Haus eine Art Spielhölle, um Konspiration schert er sich wenig. Es herrscht so ein Husarengardeton, aber natürlich lungert da alles mögliche Gesindel herum. Ein gleiches Haus unterhielt Surow in Petersburg. Nachdem die Polizei ihm dort ihre Aufwartung machte, hat er sich nach Moskau verzogen. Er tut und läßt, was er will, beim Regiment gilt er als beurlaubt, schon das dritte Jahr. Ihre Aufgabe ist folgende: Versuchen Sie in seine Nähe zu kommen, erforschen Sie seine Umgebung. Womöglich taucht plötzlich Ihr weißäugiger Bekannter dort auf? Aber bitte keine Eigenmächtigkeiten, gegen so einen hätte man als einzelner keine Chance. Im übrigen ist es unwahrscheinlich, daß Sie ihn dort treffen. Möglicherweise interessiert sich der Graf für Sie, er ist Ihnen ja bei der Beshezkaja begegnet, und die läßt ihn augenscheinlich nicht kalt. Handeln Sie je nach Situation. Aber lassen Sie sich zu nichts hinreißen! Mit diesem Herrn ist nicht zu spaßen. Er betrügt beim Spiel, >mauschelt<, wie man in diesen Kreisen zu sagen pflegt, und wenn ihn einer dabei erwischt, sucht er sein Heil im Skandal. Ein gutes Dutzend Duelle hat er schon auf dem Kerbholz - und das sind nur die, von denen man weiß. Jemandem ohne Duell den Schädel einzuschlagen, bringt er genauso fertig. Zur Messe in Nishni Nowgorod 1872 zum Beispiel hat er sich mit dem Kaufmann Swistschow beim Kartenspiel in die Wolle gekriegt und den Rauschebart kurzerhand aus dem Fenster geschmissen. Erster Stock. Der Kaufmann hat sich alle Knochen gebrochen, einen Monat gelegen und nur gewinselt. Und der Graf ist ungeschoren davongekommen. Er hat einflußreiche Verwandte an den nötigen Stellen sitzen. Was ist das?« fragte Brilling auf seine überrumpelnde Art und legte einen Satz Spielkarten auf den Tisch.

»Spielkarten«, sagte Fandorin und wunderte sich.

»Spielen Sie?«

»Überhaupt nicht. Papa war dagegen, daß ich Karten auch nur in die Hand nehme. Er habe genug gespielt - für sich, mich und drei Fandorinsche Generationen im voraus, meinte er immer.«

»Schade.« Brilling schaute bekümmert drein. »Dann haben Sie beim Grafen eigentlich nichts zu suchen. Aber gut, nehmen Sie einen Zettel und schreiben Sie mit .«

Nach einer Viertelstunde konnte Fandorin ohne Stocken die Farben benennen und erkennen, welche Karte höher und welche niedriger war, nur die Bilder brachte er noch durcheinander - er vergaß immer, ob die Dame dem Buben über war oder umgekehrt.

»Sie sind ein hoffnungsloser Fall«, resümierte Brilling. »Aber das ist nicht weiter schlimm. Preference und ähnliche intelligente Spiele werden beim Grafen sowieso nicht gespielt. Dort kann es gar nicht primitiv genug sein, Hauptsache, es geht schnell, und die Einsätze sind hoch. Meine Detektive sagen, er spiele am liebsten Stoß, noch dazu die einfache Variante. Ich erkläre die Regeln. Der, der die Karten ausgibt, heißt Banquier. Der daneben Sitzende ist der Pointeur. Vor beiden liegt ein Satz Karten. Der Pointeur entnimmt seinem Stapel eine Karte - sagen wir, eine Neun. Er legt sie verdeckt vor sich hin, Schwarte nach oben.«

»Schwarte heißt das Muster auf der Rückseite?« fragte Fandorin.

»Genau. Jetzt setzt der Pointeur eine Summe - sagen wir, zehn Rubel. Der Banquier fängt an zu werfen, das heißt, er deckt die oberste Karte auf und legt sie nach rechts, das ist die Stirn. Die nächste legt er links daneben, zu ihr sagt man Orakel.«

Stirn - re. Orakel - li. schrieb Fandorin gewissenhaft in sein Notizbüchlein.

»Jetzt deckt der Pointeur seine Neun auf. Ist die Stirn zufällig auch eine Neun, gleich welcher Farbe, streicht der Ban- quier den Einsatz ein. Dazu sagt man: er sticht die Neun. Es bedeutet, die Bank, das heißt der Einsatz, um den gespielt wird, erhöht sich. Ist hingegen im Orakel eine Neun, dann gewinnt der Pointeur, er findet die Neun.«

»Und wenn in beiden keine Neun ist?«

»Wenn in beiden keine Neun ist, legt der Banquier das nächste Paar Karten aus. Und immer so weiter, bis eine Neun kommt. Das ist das ganze Spiel. Absolut simpel, aber man kann sich um Kopf und Kragen spielen, besonders wenn man als Pointeur den Einsatz ständig verdoppelt. Darum schreiben Sie sich hinter die Ohren, Fandorin: Wenn Sie spielen, dann nur als Banquier. Das ist einfach: Sie legen eine Karte nach rechts und eine nach links, wieder eine nach rechts und wieder eine nach links. Mehr als den ursprünglichen Einsatz kann der Banquier nicht verlieren. Seien Sie nie Pointeur, und falls doch, weil das Los Sie getroffen hat, dann halten Sie den Einsatz niedrig. Beim Stoß gibt es nie mehr als fünf Runden, danach geht der Rest der Bank an den Banquier. An der Kasse liegen zweihundert Rubel zum Verspielen für Sie bereit.«

»So viel?« ächzte Fandorin.

»Das ist nicht viel, sondern wenig, Sie werden sehen. Versuchen Sie, mit dieser Summe auszukommen. Sollten Sie schneller bankrott sein, müssen Sie auch nicht gleich gehen, sondern können sich noch eine Weile dort herumdrücken. Nur ja keinen Verdacht erregen, ist das klar? Und so werden Sie jeden Abend spielen, bis wir ein Ergebnis haben. Zu wissen, daß Surow nicht in den Fall verwickelt ist, wäre auch ein Ergebnis. Dann hätten wir einen Verdächtigen weniger.«

Fandorin murmelte etwas vor sich hin, schielte auf seinen Spickzettel.

»Herz, das sind die roten und nicht die schwarzen Herzen, ja?«

»Ja. Manchmal sagt man auch einfach Rot oder auf gut französisch Creur. Gehen Sie übrigens noch in der Kleiderkammer vorbei, Ihr Maßanzug ist schon fertig. Bis morgen mittag wird die Garderobe für alle Lebenslagen komplett sein. Marsch, Marsch, Fandorin, ich hab auch ohne Sie genug zu tun. Von Surow kommen Sie direkt wieder her. Egal, um welche Zeit. Ich übernachte heute hier im Amt.«

Brilling steckte die Nase wieder in seine Papiere.

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