SECHZEHNTES KAPITEL, in welchem der Elektrizität eine große Zukunft prophezeit wird

»Tragen Sie ihn ins Laboratorium«, sagte die Lady. »Aber bitte beeilen. In zwölf Minuten fängt die Pause an. Das ist kein Anblick für die Kinder.«

Es klopfte an die Tür.

»Sind Sie es, Timothy?« fragte die Baronesse auf russisch. »Come in!«

Fandorin wagte nicht einmal zu blinzeln - hätte es irgendwer mitbekommen, wäre es das Ende gewesen. Er hörte die schweren Schritte des Portiers und die laute, wie an eine Versammlung Schwerhöriger gerichtete Stimme: »Sozusa

gen alles bestens, Eure Erlaucht. Oll reit. Ich hab den Kutscher zum Täßchen Tee eingeladen. Tschai! Tea! Drink! Zäher Bursche! Trinkt und trinkt, tut sich nix. Drink, drink, nitschewo. Am Ende isser trotzdem umgeplumpst. Pferd und Wägelchen hab ich ums Eck gescheucht. Biheindse Haus! Auf den Hof, mein ich. Da steht’s erst mal gut, ich kümmere mich drum, keine Sorge!«

Blank übersetzte der Baronesse das Kauderwelsch.

»»Fine!« rief sie und raunte dem Butler zu: »»Andrew, just make sure that he doesn't try to make a profit selling the horse and the carriage.«

Eine Antwort war nicht zu vernehmen - wahrscheinlich hatte der schweigsame Andrew sich mit einem Nicken begnügt.

Na los, ihr Scheusale, schnallt mich endlich los! feuerte

Fandorin seine Peiniger insgeheim an. Ist doch gleich Pause. Dann könnt ihr ein feines Experiment erleben! Ich darf nur den Sicherungsknopf nicht vergessen.

Doch auf Fandorin wartete eine herbe Enttäuschung - keiner machte Anstalten, ihn abzuschnallen. Direkt neben seinem Ohr hörte er es schnaufen, Knoblauchgestank stieg ihm in die Nase (Timothy! kombinierte Fandorin) - ein leises Quietschen, das gleiche noch einmal, noch einmal, noch einmal ...

»Fertig! Die Schrauben sind ab«, meldete der Portier. »Los, Andrjucha, angefaßt!«

Fandorin wurde mitsamt dem Sessel in die Höhe gehoben und davongetragen. Er öffnete die Augen nun doch einen schmalen Spalt, erspähte die Galerie und die in der Sonne liegenden holländischen Fenster. Kein Zweifel: Man schleppte ihn ins Hauptgebäude hinüber, ins Laboratorium.

Als die Träger auf leisen Sohlen den Pausenflur betraten, erwog Fandorin allen Ernstes aufzuwachen, einen Höllenlärm zu schlagen und so den Fortgang des pädagogischen Prozesses zu beeinträchtigen. Sollten die Kinder sehen, mit was für Verrichtungen sich ihre gute Lady abgab. Doch die aus den Klassenräumen dringenden Geräusche - der gemessen dozierende Baß des Lehrers, eine Salve Lausbubenlachen, ein schmetternder Chor - waren so friedlich und freundlich, daß Fandorin den Mut nicht aufbrachte. Vielleicht war es ja noch zu früh, die Karten aufzudecken, rechtfertigte er sein Zaudern vor sich selbst.

Und dann war es zu spät - die Geräusche des Schulbetriebs blieben hinter ihm zurück. Fandorin registrierte, daß man ihn eine Treppe hinaufbeförderte; eine Tür knarrte, ein Schlüssel drehte sich im Schloß.

Noch durch den geschlossenen Wimpernvorhang fiel ihm auf, wie hell das elektrische Licht war, das eben anging. Schnell hatte er mit einem blinzelnden Auge die Einrichtung des Raumes erfaßt: porzellanene Apparaturen, Kabel, Metallspulen. All dies gefiel ihm überhaupt nicht. Aus der Ferne hörte er eine Glocke schellen, die wohl das Ende der Schulstunde verkündete; beinahe sogleich tönte helles Kindergeschrei.

»Ich hoffe, alles geht gut«, seufzte Lady Aster. »Es täte mir leid, wenn der Junge dran glauben müßte.«

»Ganz meine Hoffnung, Mylady«, erwiderte der Professor, dem man die Erregung anhörte, und schepperte mit irgend etwas. »Bedauerlicherweise fordert die Wissenschaft immer wieder ihren Tribut. Für jeden noch so kleinen Fortschritt ist ein hoher Preis zu zahlen. Mit Sentiment kommt man nicht weit. Aber wenn Ihnen an dem jungen Mann so viel liegt - warum hat Ihr Bär den Kutscher vergiftet, anstatt ihm Schlafpulver unterzurühren? Ich hätte fürs erste gern mit dem Kutscher vorliebgenommen und mir den jungen Mann für später aufgehoben. Das hätte seine Überlebenschance erhöht.«

»Sie haben völlig recht, mein Lieber. Das war ein unverzeihlicher Fehler.« In der Stimme der Lady schwang aufrichtige Reue. »Ich bitte Sie dennoch, tun Sie Ihr Bestes. Und erklären Sie mir noch einmal, was genau Sie mit ihm vorhaben.«

Fandorin spitzte die Ohren - diese Frage interessierte auch ihn ungemein.

»Sie kennen ja meine kardinale Idee«, begann der Professor in leidenschaftlichem Ton und ließ sogar das Scheppern sein. »Ich bin der Ansicht, daß die Nutzbarmachung der Naturkraft Elektrizität für das kommende Jahrhundert von entscheidender Bedeutung sein wird. Doch, doch, Mylady!

Noch ganze vierundzwanzig Jahre trennen uns vom zwanzigsten Jahrhundert, das ist nicht mehr viel. Das nächste Jahrhundert wird die Welt von Grund auf verändern, sie wird nicht wiederzuerkennen sein, und all dies dank der Elektrizität. Sie ist nicht bloß Kunstlichtlieferant, wie manche profanen Geister glauben. Sie vermag wahre Wunder zu vollbringen, im kleinen wie im großen Stil. Stellen Sie sich eine Kutsche ohne Pferde vor, von einem Elektromotor gezogen! Oder eine Eisenbahn ohne Dampflokomotive - schnell, sauber und geräuschlos! Oder aber mächtige Kanonen, die den Feind mit einem gezielten Blitzschlag niedermähen! Und auch die Post, ganz ohne Pferde!«

»All dies haben Sie mir schon Dutzende Male erzählt«, fiel die Baronesse dem feurigen Redner milde ins Wort. »Erläutern Sie mir die medizinische Anwendung der Elektrizität.«

»Oh, das ist das Allerinteressanteste!« ereiferte der Professor sich noch mehr. »Das ist diejenige Sphäre der elektrischen Wissenschaft, der ich mein Leben zu widmen gedenke. Während die Makroelektrizität - Turbinen, Motoren, mächtige Dynamomaschinen - zur Verwandlung der Außenwelt führt, wird die Mikroelektrizität den Menschen selbst verändern, die natürlichen Konstruktionsfehler des Homo sapiens korrigieren. Elektrophysiologie und Elektrotherapie werden die Menschheit retten - und bestimmt nicht Ihre Schlaumeier, die sich als große Politiker gebärden, geschweige diese lächerlichen Bilderkleckser!«

»Da haben Sie unrecht, mein Lieber. Auch die tun ein wichtiges und nützliches Werk. Aber fahren Sie fort.«

»Ich werde Ihnen die Möglichkeit in die Hand geben, jedweden Menschen so zu machen, wie Sie ihn haben wollen: ideal, von all seinen Mängeln befreit. Alle Defekte, die das menschliche Verhalten beeinträchtigen, nisten hier, in der

Hirnrinde.« Ein harter Finger klopfte schmerzhaft an Fan- dorins Schädel. »Vereinfacht gesagt, es gibt im Hirn verschiedene Sektoren: zuständig für das logische Denken, für die Genüsse, die Angst, die Enthemmung, den Geschlechtstrieb und so weiter und so fort. Der Mensch könnte eine harmonische Persönlichkeit sein, wenn alle Sektoren gleich gut funktionierten, was aber leider fast niemals der Fall ist. Bei dem einen ist jener Sektor überentwickelt, der den Selbsterhaltungstrieb steuert, und dieser Mensch zeigt sich als pathologischer Feigling. Beim anderen funktioniert die Logikzone unzureichend, der Mann ist ein ausgemachter Dummkopf. Meine Theorie besteht darin, daß sich mit Hilfe der Elektrotherapie, also des gezielten, streng dosierten Einsatzes elektrischer Entladungen, bestimmte Hirnsektoren stimulieren und andere, ungünstig wirkende, dämpfen lassen.«

»Das ist sehr, sehr interessant«, sagte die Baronesse. »Sie wissen, mein lieber Gebhardt, daß ich die Finanzierung Ihrer Forschungen bislang in keiner Weise eingeschränkt habe, erlauben Sie mir trotzdem die Frage, woher Sie die Gewißheit nehmen, daß eine solche Korrektur der Psyche prinzipiell möglich ist?«

»Sie ist möglich! Daran kann es nicht den geringsten Zweifel geben! Haben Sie nicht davon gehört, Mylady, daß in den Grabstätten der alten Inka Schädel gefunden wurden, die hier an dieser Stelle immer die gleichen Löcher aufweisen?« Schon wieder war der Finger zweimal auf Fandorins Kopf niedergestoßen. »Das ist der Bezirk, der für die Angst verantwortlich zeichnet. Die Inka wußten das und bohrten den Knaben der Kriegerkaste mit ihren primitiven Werkzeugen die Feigheit aus dem Schädel, machten sie so zu furchtlosen Soldaten. Oder erinnern Sie sich an die Maus!«

»Ja, Ihre tapfere Maus, die sich auf die Katze gestürzt hat, das fand ich sehr beeindruckend.«

»Und das war erst der Anfang. Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der es keine Verbrecher gibt! Brutale Mörder, Triebtäter, Taschendiebe werden nach ihrer Ergreifung nicht hingerichtet oder ins Straflager geschickt, an ihnen wird lediglich eine kleine Operation vollzogen, und die Unglücklichen sind ihre krankhafte Brutalität, ihre Wollust, ihre unmäßige Gier ein für allemal los und können zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft werden! Oder stellen Sie sich vor, man unterzöge einen Ihrer ohnehin so begabten Jungen meiner Elektrotherapie und steigerte seine Begabung noch um ein Vielfaches!«

»Nein, meine Jungen kriegen Sie nicht!« wehrte die Baronesse ab. »Zuviel Talent kann einen in den Wahnsinn treiben. Experimentieren Sie lieber mit Verbrechern. Aber sagen Sie, was hat es mit Ihrem sogenannten reinen Menschen auf sich?«

»Das ist eine vergleichsweise einfache Operation. Sie auszuführen glaube ich schon beinahe in der Lage zu sein. Man kann dem Gedächtnissektor einen Stromstoß versetzen, und aus dem menschlichen Hirn wird ein unbeschriebenes Blatt, so als wäre man mit dem Radiergummi darüber hinweggegangen. Alle intellektuellen Begabungen bleiben erhalten, während die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten ausgemerzt werden. Heraus kommt ein Mensch in vollkommener Unschuld, wie neugeboren. Erinnern Sie sich an das Experiment mit dem Frosch? Nach der Operation hatte er das Springen verlernt, ohne die motorischen Reflexe eingebüßt zu haben. Er wußte nicht mehr, wie man Fliegen fängt, doch der Schluckreflex war noch vorhanden. Theoretisch hätte man ihm all dies wieder beibringen können. Und wenn wir nun unseren jungen Patienten hernehmen ... Was steht ihr beiden herum und gafft? Nehmt ihn und legt ihn hier auf den Tisch. Macht schnell!«

Es war soweit! Fandorin konzentrierte sich. Doch Andrew, dieser Schuft, packte ihn so fest bei den Schultern, daß der Versuch, nach der Pistole zu greifen, nicht lohnte. Während dessen hantierte Timothy mit etwas, es machte klack, und die Stahlreifen, die dem Gefangenen die Brust geschnürt hatten, waren weg.

»Ein, zwei, hopp!« kommandierte Timothy, der Fandorin bei den Beinen nahm, während Andrew ihn, ohne den Griff um seine Schultern zu lockern, mühelos aus dem Sessel hob.

Das Versuchsobjekt wurde auf den Tisch bugsiert, Andrew hielt die Ellbogen fest, der Portier die Knöchel. Das Holster drückte Fandorin gemein in die Hüfte. Erneut schellte die Glocke - die Pause war vorüber.

»Ich werde zwei Hirnsektoren synchron mit einem elektrischen Stromstoß behandeln. Danach wird der Patient aller vorherigen Lebenserfahrung ledig und sozusagen wieder zum Kleinkind geworden sein. Er wird alles wieder neu lernen müssen: zu gehen, zu kauen, die Toilette zu benutzen, späterhin das Lesen, Schreiben und so weiter. Ich denke, Ihre Pädagogen dürfte das interessieren. Zumal Sie sich ja im Falle dieses Individuums bereits ein Bild über die vorhandenen Anlagen machen konnten.«

»O ja. Er verfügt über eine hohe Reaktionsschnelligkeit, viel Mut, ein gut entwickeltes logisches Denken und eine einzigartige Intuition. Ich hoffe, all dies wird wiederherzustellen sein.«

Unter anderen Umständen hätte Erast Fandorin sich von solch beifälliger Charakteristik geschmeichelt gefühlt. Jetzt aber packte ihn das kalte Grausen: Er malte sich aus, als

Wickelkind mit Schnuller im Mund in einer rosa Wiege zu liegen und vor sich hin zu lallen, Lady Aster beugt sich über ihn und sagt mit vorwurfsvoller Stimme: »Ei, was sind wir böseböse, haben uns schon wieder naß gemacht!« Lieber sterben!

»Er zuckt, Sir!« Andrew tat zum ersten Mal den Mund auf. »Nicht, daß er uns noch aufwacht.«

»Unmöglich«, beschwichtigte ihn der Professor. »Die Narkose hält mindestens zwei Stunden vor. Leichte Konvulsionen sind ganz normal. Das Risiko liegt in folgendem, Mylady. Zur exakten Bemessung der nötigen Stromstärke bin ich leider noch nicht gekommen. Ein Zuviel an elektrischer Ladung kann den Patienten töten oder zum bleibenden Idioten machen. Ein Zuwenig bewirkt, daß dunkle Restbilder in der Hirnrinde verbleiben, die sich später unter Einwirkung äußerer Reize zu gewissen Erinnerungen fügen könnten.«

Die Baronesse schwieg eine Weile, dann sagte sie mit unüberhörbarem Bedauern: »Das können wir nicht riskieren. Geben Sie lieber etwas mehr.«

Ein obskures Surren setzte ein und sodann ein Knistern, von dem Fandorin eine Gänsehaut bekam.

»Andrew, scheren Sie ihm am Kopf zwei kleine Kreise frei - hier und hier!« befahl Blank und griff dem Liegenden in die Haare. »Ich muß die Elektroden ansetzen.«

»Nein, das soll Timothy machen!« entschied Lady Aster kategorisch. »Und ich lasse Sie allein. Ich möchte das nicht mit ansehen, sonst kann ich heute nacht nicht schlafen. Andrew, du kommst mit. Ich habe noch ein paar dringende Depeschen zu schreiben, die trägst du zum Telegrafen. Wir müssen Vorkehrungen treffen - man wird unseren Freund recht bald vermissen.«

»Schon recht, Mylady, Sie würden mich doch nur stören«, erwiderte der Professor zerstreut, von seinen Vorbereitungen ganz in Anspruch genommen. »Ich werde Sie das Ergebnis schleunigst wissen lassen.«

Endlich löste sich der Klammergriff, der Fandorins Ellbogen niedergedrückt hatte.

Kaum hatten sich die Schritte auf dem Flur entfernt, schlug Fandorin die Augen auf, riß seine Beine los, streckte die Knie blitzschnell wieder und trat Timothy dabei so kräftig vor die Brust, daß er in die Ecke flog. Im nächsten Moment war Fandorin vom Tisch auf den Boden gesprungen und zog, blinzelnd vom grellen Licht, die brave Herstal unter dem Rockschoß hervor.

»Keine Bewegung, oder ich schieße!« zischte der Auferstandene, nach Rache gierend, und hatte tatsächlich in diesem Augenblick nicht übel Lust, die beiden niederzuschießen: den blöde mit den Augen klappernden Timothy ebenso wie den verrückten Professor, der verdutzt mit zwei Stahlklammern in der Hand vor ihm stand. Von den Klammern führten dünne Drähte zu einer komplizierten, Funken spuckenden Maschine. Überhaupt gab es in dem Laboratorium allerlei interessante Gerätschaften zu sehen - sie zu betrachten war leider nicht der Moment.

Der Portier unternahm keinen Versuch, auf die Füße zu kommen, schlug nur ein zaghaftes Kreuz; Blank hingegen verhielt sich weniger harmlos. Fandorin hatte den Eindruck, als sei der Gelehrte nicht im geringsten erschrocken, nur wütend über den eingetretenen Zwischenfall, der sein Experiment gefährdete. Gleich stürzt er sich auf mich! schoß es Fandorin durch den Kopf. Die Mordlust verging ihm, war augenblicklich vorüber.

»Keine Dummheiten! Bleiben Sie, wo Sie sind!« schrie Fandorin, die Stimme zitterte ihm ein wenig.

Im selben Moment brüllte Blank los, auf deutsch: »Schweinehund! Du hast alles verdorben!«

Und warf sich auf sein Versuchsobjekt, wobei er mit der Hüfte gegen die Tischkante stieß.

Fandorin drückte ab. Nichts geschah. Die Sicherung! Er entriegelte sie. Dann schoß er, zweimal hintereinander. Es gab einen Doppelknall, pa-pamm! - und der Professor fiel kopfüber nach vorn, dem Schützen direkt vor die Füße.

Fandorin, der einen Angriff von hinten befürchtete, fuhr herum, die Waffe immer noch im Anschlag, doch Timothy hockte, den Rücken gegen die Wand gepreßt, in der Ecke und hob zu winseln an: »Nicht schießen, Euer Ehren! Ich kann nichts dafür! So wahr mir Gott helfe! Euer Wohlgeboren!«

»Steh auf, du Lump!« bellte Fandorin, halb taub und vollkommen entfesselt. »Vorwärts marsch!«

Er stieß dem Portier die Pistole in den Rücken, jagte ihn über den Korridor, die Stiege hinunter. Der Portier lief mit trippelnden Schritten und zeterte jedes Mal, wenn der Lauf ihm zwischen die Rippen fuhr.

Im Nu hatten sie den Pausenflur durchquert. Fandorin sah mit Absicht nicht in die Klassenräume, wo die Lehrer standen und große Augen machten und hinter ihren Rücken die Kinder in den blauen Uniformen stumm hervorlugten.

»Polizei!« rief Fandorin. »Keiner verläßt die Klassen! Die Lehrer auch nicht!«

Im Laufschritt fegten sie durch die lange Galerie und gelangten in den Seitenflügel. Vor der weißgoldenen Tür versetzte Fandorin Timothy einen derben Stoß. Der Portier knallte mit der Stirn gegen die Tür, die davon aufsprang. Er taumelte. Drinnen war niemand. Das Zimmer war leer!

»Vorwärts marsch! Alle Türen aufschließen!« befahl

Fandorin. »Und paß ja auf: Wenn du Zicken machst, erschieße ich dich wie einen Hund!«

Erschrocken schlug der Portier die Hände zusammen und raste zurück auf den Flur. Binnen fünf Minuten hatten sie alle im Parterre gelegenen Zimmer durchsucht. Keine Menschenseele. Einzig in der Küche lag, vornüber auf den Tisch gekippt, das leblose Gesicht zur Seite gedreht, der arme Kutscher und schlief seinen ewigen Schlaf. Fandorin sah kurz auf die Zuckerkrümel in seinem Bart, die Teepfütze, dann befahl er Timothy, sich zu sputen.

Im ersten Stock befanden sich zwei Schlafzimmer, eine Kleiderkammer und die Bibliothek. Auch hier waren die Baronesse und ihr Lakai nicht anzutreffen. Wo zum Teufel steckten sie? Hatten sie die Schüsse gehört und hielten sich irgendwo im Asternat verborgen? Waren sie womöglich auf und davon?

In seiner Rage fuchtelte Fandorin so wild mit der Pistole, daß sich ein Schuß löste. Pfeifend prallte die Kugel von Wand zu Wand und schlug dann durch das Fenster, in dem sie nicht mehr als ein sternförmig gezacktes Löchlein hinterließ. Verdammt, er hatte die Pistole zu sichern vergessen, und der Abzug ging leicht; Fandorin schüttelte den Kopf, um das Dröhnen in den Ohren loszuwerden.

Bei Timothy rief der versehentliche Schuß eine verblüffende Wirkung hervor. Er fiel auf die Knie und barmte: »Euer Wohl- . Euer Hochwohlgeboren, laßt mich am Leben! Der Teufel hat mich geritten! Ich will ja beichten! Mein armes Frauchen, meine lieben Kinderlein! Ich zeig es Euch! Ich zeig Euch alles, so wahr mir Gott helfe! Im Keller sind sie, im geheimen Verlies! Ich zeig es Euch, verschont mich nur, o weh!«

»In was für einem Verlies?« fragte Fandorin drohend und hob die Pistole, so als wollte er wirklich im nächsten Moment zur Vergeltung schreiten.

»So folgt mir doch, bitte sehr, folgt mir nur!«

Der Portier sprang auf und geleitete Fandorin, sich jeden Moment umdrehend, wieder hinab ins Kabinett der Baronesse.

»Ganz zufällig bin ich drauf gestoßen. Unsereins haben sie nich reingelassen. Kein Vertrauen in die Dienerschaft. Wozu auch: Russenmenschen, rechtgläubige Seelen, kein angelsächsisches Blut!« Timothy bekreuzigte sich. »Nur ihr Andrew durfte rein, wir nie und nimmer nich.«

Er lief hinter den Schreibtisch, drehte einen Griff am Sekretär. Augenblicklich fuhr dieser zur Seite und gab eine kleine kupferne Tür frei.

»Aufmachen!« befahl Fandorin.

Timothy bekreuzigte sich noch dreimal, bevor er die Tür aufstieß. Sie gab lautlos nach, eine Treppe wurde sichtbar, die abwärts führte und sich im Dunkeln verlor.

Den Portier mit Püffen vor sich her treibend, begann Fan- dorin vorsichtig hinabzusteigen. Unten stieß die Treppe auf eine Wand, doch nach rechts führte ein niedriger Gang.

»Los, geh weiter!« zischte Fandorin den zaudernden Timothy an.

Sie bogen um die Ecke, dahinter war es stockfinster. Man hätte eine Kerze mitnehmen sollen! dachte Fandorin. Gerade fuhr er mit der linken Hand in die Tasche, um nach Zündhölzern zu suchen, als es vor ihm blitzte und krachte. Der Portier ging ächzend zu Boden. Im selben Moment hatte Fandorin schon die Hand mit der Herstal ausgestreckt und schoß so oft und so lange, bis der Schlagbolzen nur noch in die leeren Hülsen tickte. Dröhnende Stille trat ein. Fando- rin fand mit zitternden Fingern die Schachtel, riß ein Zündholz an. Timothy kauerte an der Wand und regte sich nicht mehr. Fandorin lief ein paar Schritte nach vorn und sah Andrew, den Lakaien, bäuchlings am Boden liegen. Das Flämm- chen flackerte, vollführte einen kurzen Tanz in Andrews glasigen Augen und erlosch.

Im Dunkeln, so lehrt der große Fouchet, muß man die Augen zusammenkneifen und bis dreißig zählen, damit die Pupillen Zeit haben, sich zu weiten, worauf das Auge in der Lage sein wird, selbst die geringste Lichtquelle zu erkennen. Sicherheitshalber zählte Fandorin bis vierzig, ehe er die Augen aufschlug - und richtig, da vorn war ein Streifen Licht. Die Hand mit der nutzlosen Herstal vor sich gestreckt, tat er einen ersten Schritt, dann noch einen und noch einen - und erkannte plötzlich eine angelehnte Tür, aus deren Spalt der schwache Schein drang. Dort mußte die Baronesse sein. Entschlossen ging Fandorin auf den Lichtstreifen zu und stieß die Tür auf.

Er sah in eine kleine Kammer mit Regalen längs der Wände. In der Mitte stand ein Tisch, darauf ein bronzener Leuchter mit Kerze. Im Spiel von Licht und Schatten erkannte er Lady Asters Gesicht.

»Kommen Sie herein, mein Junge!« sagte sie ruhig. »Ich habe auf Sie gewartet.«

Kaum hatte Fandorin die Schwelle überschritten, als die Tür hinter seinem Rücken jäh ins Schloß fiel. Er zuckte zusammen, wandte sich um und sah, daß die Tür weder Knauf noch Klinke hatte.

»Treten Sie näher«, bat die Lady leise. »Ich möchte Ihnen ins Gesicht schauen, denn es ist das Gesicht des Schicksals. Sie sind der Stein, der mir im Weg gelegen hat. Ein Steinchen nur, über das zu stolpern mir beschieden war.«

Fandorin schluckte die Kränkung, die dem Vergleich innewohnte, trat zum Tisch und sah, daß die Baronesse ein blankes metallisches Kästchen vor sich liegen hatte.

»Was ist das?« fragte er.

»Dazu kommen wir gleich. Was haben Sie Gebhardt angetan?«

»Er ist tot. Selber schuld. Hätte mir nicht vor die Kimme springen müssen«, erwiderte Fandorin grob; daran, daß er binnen weniger Minuten zwei Menschen umgebracht hatte, wollte er jetzt nicht denken müssen.

»Das ist ein schwerer Verlust für die Menschheit. Vielleicht war er von Natur aus etwas sonderbar und gehemmt, doch als Wissenschaftler war er ein ganz Großer. Wieder ein Asa- sel weniger .«

Fandorin horchte auf.

»Was heißt das, ein Asasel?« brach es aus ihm hervor. »Was hat dieser Satan mit Ihren Waisenkindern zu schaffen?«

»Asasel ist kein Satan, mein Junge. Er ist das großartige Symbol für einen Erlöser und Erleuchter der Menschheit. Der Herr hat diese Welt erschaffen, er schuf die Menschen und überließ sie sich selbst. Doch die Menschen sind schwach und blind, so furchtbar blind, daß sie Gottes Werk zur Hölle gemacht haben. Die Menschheit wäre längst ausgemerzt, wenn nicht von Zeit zu Zeit Ausnahmepersönlichkeiten geboren würden. Keine Dämonen und keine Götter, heros civilisateurs nenne ich sie. Jedem von ihnen hat die Welt einen Sprung nach vorn zu verdanken. Prometheus hat uns das Feuer gegeben. Moses den Gesetzesbegriff. Christus gab uns das moralische Gerüst. Doch der bedeutsamste dieser Heroen ist der jüdische Asasel, der die Menschen das Empfinden ihrer eigenen Würde gelehrt hat. Im Buch Henoch steht geschrieben: >Er war von Liebe zu den Menschen voll und entdeckte ihnen die Geheimnisse, die er im

Himmel erfahren hatte.< Der Mensch bekam von ihm den Spiegel zum Geschenk, damit er den Menschen hinter sich sehen konnte - das heißt, damit er ein Gedächtnis hatte und seine Vergangenheit erkennen konnte. Den Mann versetzte Asasel in die Lage, ein Handwerk betreiben und sein Haus beschützen zu können. Die Frau ermächtigte er, vom braven, fruchtbaren Weibchen zum ebenbürtigen Menschen zu reifen, frei wählen zu dürfen: häßlich zu sein oder schön, Mutter oder Amazone, für die Familie zu leben oder für die ganze Menschheit. Gott hat dem Menschen die Karten in die Hand gegeben, Asasel aber hat ihn gelehrt, wie man damit spielen muß, um zu gewinnen. Jeder meiner Sprößlinge ist ein Asasel, auch wenn sie es nicht alle wissen .«

»Was heißt, nicht alle?« unterbrach Fandorin ihren Redefluß.

»In den hohen Zweck sind nur die wenigsten eingeweiht, die allertreuesten und unbeugsamsten«, erläuterte die Lady. »Sie sind es, die alle schmutzige Arbeit auf sich nehmen, damit die übrigen meiner Kinder unbefleckt bleiben können. Es ist meine Avantgarde, die insgeheim und Schritt für Schritt das Steuer ergreifen und den Lauf der Welt lenken soll. Oh, wie wird dieser Planet erblühen, wenn meine Asa- sels einmal die Führung übernommen haben! Und es könnte durchaus bald soweit sein - in zwanzig Jahren vielleicht schon . Die übrigen Zöglinge der Asternate gehen derweil ihren Weg durch das Leben und tun der Menschheit unermeßlich viel Gutes. Ich aber beobachte ihr Treiben, freue mich über ihre Erfolge und weiß, in der Not wird keiner von ihnen seiner Mutter die Hilfe versagen. Ich frage mich, was nun aus ihnen wird, wenn ich nicht mehr bin? Wie wird es der Welt ergehen? . Ach was. Asasel wird leben, der Bund wird meine Sache zu Ende führen.«

Fandorin war entrüstet.

»Ihre getreuen und unbeugsamen Asasels habe ich zur Genüge kennengelernt! Morbid und Franz und Andrew und den mit den Fischaugen, der Achtyrzew auf dem Gewissen hat! Ist sie das, Ihre Avantgarde, Mylady? Die Würdigsten unter den Würdigen?«

»Nicht sie allein. Doch sie gehören dazu. Ich habe Ihnen schon erzählt, mein Freund, daß manches meiner Kinder Mühe hat, seinen Weg in der heutigen Welt zu finden, weil seine Gabe nur in ferner Vergangenheit etwas wert war oder aber erst in ferner Zukunft benötigt wird, entsinnen Sie sich? Genau diese Zöglinge sind meine treuesten und ergebensten Vollstrecker. Die einen sind das Hirn, die anderen der Arm, so ist das nun mal. Der Mann, der Achtyrzew aus der Welt geschafft hat, gehört übrigens gar nicht dazu. Er ist unser zeitweiliger Verbündeter.«

Die Finger der Baronesse schienen von allein über die polierte Oberfläche des Kästchens zu wandern und drückten wie zufällig und nebenbei einen kleinen, runden Knopf.

»So, das war’s, mein lieber Junge. Uns beiden bleiben noch zwei Minuten. Gemeinsam scheiden wir aus diesem Leben. Es tut mir leid, ich kann Sie nicht verschonen. Sie würden meinen Kindern nur Schaden zufügen.«

»Was ist das?« schrie Fandorin und ergriff das Kästchen, das überraschend schwer war. »Eine Bombe?«

»Nun ja«, bestätigte Lady Aster und zeigte ein mitfühlendes Lächeln. »Der Zeitzünder. Die Erfindung eines meiner begabtesten Jungen. Solche Kästchen gibt es mit unterschiedlichen Mechanismen: für dreißig Sekunden, zwei Stunden oder sogar zwölf. Sie zu öffnen und den Mechanismus zu stoppen ist unmöglich. Dieses hier ist auf einhundertzwanzig Sekunden eingestellt. Ich gehe mit meinem

Archiv in den Tod. Mein Leben ist vorbei, doch was ich zu leisten vermochte ist nicht wenig. Meine Sache wird fortgeführt werden, und man wird meiner im Guten gedenken.«

Fandorin versuchte den Knopf an dem Kästchen mit den Fingernägeln zu fassen, doch das mißlang. Als nächstes warf er sich gegen die Tür, bearbeitete sie mit Händen, mit Fäusten. Das Blut pulste ihm in den Ohren, im Sekundentakt.

»Lisanka!« stöhnte der todgeweihte Fandorin voller Verzweiflung. »Mylady! Ich will nicht sterben! Ich bin jung! Ich bin verliebt!«

Mitleidig blickte Lady Aster ihn an. Sie rang sichtlich mit sich selbst.

»Könnten Sie mir versprechen, daß Sie ihr Leben nicht dafür verwenden werden, Jagd auf meine Kinder zu machen?« fragte sie leise und sah dem jungen Mann in die Augen.

»Ich schwöre es!« rief Fandorin aus. Er hätte in diesem Moment alles versprochen, was man von ihm wollte.

Nach einer langen, quälend langen Pause lächelte die Lady ihr sanftes, mütterliches Lächeln.

»Gut. Leben Sie, mein Junge, leben Sie wohl. Aber sputen Sie sich, Sie haben noch vierzig Sekunden.«

Sie fuhr mit der Hand unter den Tisch, und die kupferne Tür ging knarrend nach innen auf.

Fandorin warf einen letzten Blick auf die reglos sitzende weißhaarige Frau und die flackernde Kerze, dann sprang er mit Riesensätzen durch den finsteren Gang. Er rannte in vollem Lauf gegen eine Wand, kroch auf allen vieren die Treppe empor; im Kabinett der Lady angekommen, rappelte er sich auf und war mit zwei Sprüngen draußen.

Keine zehn Sekunden später flog die eichene Eingangstür des Seitengebäudes mit einem so wuchtigen Stoß auf, daß sie aus den Angeln zu springen drohte, und ein junger Mann mit krampfhaft verzerrtem Gesicht kam Hals über Kopf die Freitreppe herabgestürmt. Er raste die stille, schattige Straße entlang bis zur nächsten Ecke und blieb dort keuchend stehen. Sah sich um, stand still, wartete.

Sekunden vergingen, in denen nichts passierte. Holdes Sonnenlicht vergoldete die Pappelkronen, auf einer Bank döste eine fuchsrote Katze, irgendwo auf einem Hof gackerten Hühner.

Erast Fandorin griff sich an das wild hämmernde Herz. Sie hatte ihn getäuscht! Vorgeführt wie einen kleinen Jungen! War längst durch den Hinterausgang geschlüpft und über alle Berge!

Er röhrte vor ohnmächtiger Wut, und der Seitentrakt des Asternats schien ihm mit einem Grollen zu antworten. Die Wände erbebten, das Dach schwankte kaum merklich, und von irgendwo tief unten, wie aus dem Schoß der Erde, dröhnte dumpf die Explosion.

Загрузка...