NEUNTES KAPITEL, in welchem sich für Fandorin gute Karriereaussichten auftun

»... und Freund Momos. Der Kasper!« kommentierte Surow und sog genüßlich an seiner Pfeife. »Aber der kann Ihnen auch nicht mehr helfen. Noch ein Schlückchen Champagner für den guten Mut - oder gleich auf den Hof?«

Mit hochrotem Gesicht saß Fandorin da. Groll schnürte ihm die Kehle zu - nicht auf den Grafen, sondern auf sich selbst, den vollkommenen Idioten, der er war. Der nicht zu leben verdiente.

»Ich mach’s gleich hier«, stieß er grimmig hervor, wenigstens wollte er den Hausherrn zuletzt noch etwas piesacken. »Ihr flinker Johann kann ja anschließend aufwischen. Und verschonen Sie mich mit dem Champagner - mir brummt der Schädel davon.«

In solcher Wut, jeden Gedanken vermeidend, packte Fan- dorin den schweren Revolver, spannte den Hahn, zögerte einen Moment, wohin er schießen sollte - ach, egal! -, schob sich den Lauf in den Mund, zählte still: drei, zwei, eins - und betätigte den Abzug so heftig, daß er sich die Zunge schmerzhaft einklemmte. Ein Schuß war übrigens nicht losgegangen - es gab nur ein trockenes Klicken. Irritiert drückte Fandorin noch einmal ab - es klickte wieder, nur daß das Metall diesmal unangenehm gegen den Zahn schrammte.

»Nicht schlecht für den Anfang!« ließ Surow sich hören, nahm ihm die Waffe aus der Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Tapferes Bürschchen! Macht Anstalten, sich ohne

Brimborium und Hysterie übern Haufen zu schießen. Da wächst eine feine Generation heran, was, meine Herren? Jean, gieß Champagner ein, ich möchte mit Herrn Fandorin Brüderschaft trinken.«

Erast Fandorin, von einer seltsamen Willenlosigkeit ergriffen, tat, was ihm geheißen. Matt schlürfte er die perlende Flüssigkeit in sich hinein, matt tauschte er den Bruderkuß mit dem Grafen, den er von nun an Ippolit nennen sollte. Alles ringsum lärmte und lachte, doch vermochte Fandorin die Stimmen nicht auseinanderzuhalten. Der Champagner stieg ihm prickelnd in die Nase, die Augen füllten sich mit Tränen.

»Was sagst du zu meinem Jean?« Der Graf kicherte. »Ruck, zuck hat er die Patronen aus dem Magazin geholt. Das nenn ich fingerfertig, oder etwa nicht, sag doch mal?«

»Fingerfertig«, stimmte Fandorin teilnahmslos zu.

»Kann man wohl sagen. Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?«

»Erast.«

»Na, dann komm, Erast von Rotterdam, laß uns auf einen Cognac in mein Arbeitszimmer gehen, ich hab die Nase voll von diesen Visagen.«

»Erasmus«, korrigierte Fandorin mechanisch.

»Was?«

»Erasmus, nicht Erast.«

»Entschuldigung, ich hatte mich verhört. Gehen wir, Erasmus.«

Gehorsam stand Fandorin auf und folgte dem Gastgeber. Sie gingen durch eine Flucht von Räumen ohne Licht und landeten in einem runden Zimmer, wo bemerkenswerte Unordnung herrschte: Jede Menge Tabakspfeifen und leere Flaschen lagen umher, auf dem Tisch erblickte er ein Paar bildschöne silberne Sporen und in einer Ecke gar einen übertrieben schicken englischen Sattel. Was daran ein Arbeitszimmer sein sollte, war Fandorin schleierhaft - es gab weder Bücher, noch Schreibutensilien zu entdecken.

»Hübsches Sattelchen, was?« prahlte Surow. »Hab ich gestern bei einer Wette gewonnen.«

Er goß Branntwein aus einer bauchigen Flasche in zwei Gläser, setzte sich neben Fandorin und sagte in plötzlich sehr ernstem, ja, innigem Ton: »Verzeih mir Rindvieh den dummen Scherz. Erasmus, ich langweile mich. Eine Menge Leute kommen zu mir, nur keine Menschen. Ich bin achtundzwanzig, Fandorin, und fühle mich wie sechzig. Vor allem morgens, nach dem Aufwachen. Abends und nachts, da geht es noch - da drehe ich auf, spiele den Hanswurst. Aber das ist widerlich. Früher fand ich es nicht übel, heute widert es mich immer mehr an. Ob du’s glaubst oder nicht, vorhin, als wir alles auf eine Karte setzten, da kam mir der Gedanke: Eigentlich sollte man sich wirklich erschießen. Es war plötzlich richtig verlockend . Warum sagst du nichts? Komm, Fandorin, sei mir nicht böse. Ich wäre sehr froh, wenn du mir die Sache nicht nachtrügst. Was kann ich tun, damit du mir vergibst, Erasmus, sag?«

Und da antwortete Fandorin mit etwas knarrender, doch vernehmlicher Stimme: »Erzähl mir von ihr. Von der Be- shezkaja.«

Surow warf sich eine lockige Strähne aus der Stirn.

»Ach, stimmt ja. Du gehörst zur Schleppe.«

»Zur was?«

»Das ist so mein Wort dafür. Amalia ist die Königin, sie braucht eine Schleppe, aus Männern. Je länger, desto besser. Hör auf meinen Rat und schlag sie dir aus dem Kopf, sonst gehst du unter. Vergiß sie.«

»Das kann ich nicht«, antwortete Fandorin aufrichtig.

»Du bist noch ein junger Dachs, Amalia zieht dich unweigerlich in den Strudel, das hat sie schon mit vielen getan. Vielleicht hat sie gerade darum einen Narren an mir gefressen, weil ich nicht darauf aus war, mich in ihren Strudel ziehen zu lassen. Kein Bedarf, ich hab meinen eigenen. Der ist nicht so tief wie ihrer, aber für mich langt er allemal.«

»Liebst du sie?« Fandorin kühlte sein Mütchen mit einer dreisten Frage.

»Ich fürchte sie!« Surow grinste trübselig. »Mehr, als daß ich sie liebe. Und im Grunde ist es überhaupt gar keine Liebe. Hast du schon mal Opium geraucht?«

Fandorin schüttelte den Kopf.

»Wer es einmal probiert hat, kommt sein Leben lang nicht davon los. Genauso ist es mit ihr. Sie läßt mir einfach keine in Ruhe! Dabei sehe ich, daß sie mich verachtet, ich bin ihr keinen Heller wert, auch wenn sie irgend etwas an mir zu finden scheint. Zu meinem Unglück! Wenn du wüßtest, wie froh ich bin, daß sie fort ist, bei Gott! Ich hatte schon daran gedacht, sie umzubringen, die Hexe. Sie eigenhändig zu erwürgen, damit die Qual ein Ende hat. Und das hat sie sehr genau gespürt. Sie ist klug, mein Lieber! Es gefiel ihr an mir, es war für sie wie ein Spiel mit dem Feuer: Mal bläst sie hinein, es zu schüren, mal pustet sie es aus, immer auf der Hut, daß kein Brand ausbricht, der ihr gefährlich werden könnte. Wozu soll sie mich sonst nötig gehabt haben?«

Neiderfüllt konstatierte Fandorin, daß Ippolit Surow irrte: Sein hübscher Wirrkopf war durchaus der Liebe wert. So einer konnte sich gewiß vor Frauen kaum retten. Daß manche ein solches Glück hatten! Doch gehörte diese Erwägung nicht zur Sache. Und in dieser Sache waren noch einige Fragen offen.

»Wer ist sie, woher kommt sie?«

»Das weiß ich nicht. Über sich selbst schweigt sie sich aus. Ich weiß nur so viel, daß sie irgendwo in der Fremde aufgewachsen ist. Anscheinend in der Schweiz, in irgendeinem Pensionat.«

»Und wo ist sie jetzt?« fragte Fandorin, ohne eine Auskunft von Wert zu erhoffen.

Surow aber zögerte so sichtlich mit einer Antwort, daß Fandorin hellwach wurde.

»Pressiert wohl sehr?« brummte der Graf, und eine hämische Grimasse entstellte für einen Moment sein schönes, launisches Gesicht.

»Ja!«

»Na, schön. Wenn es die Motte zur Kerze zieht, verbrennt sie früher oder später sowieso.«

Surow wühlte in dem Berg von Spielkarten, zerknüllten Taschentüchern und Rechnungen auf seinem Tisch.

»Wo hab ich ihn zum Teufel noch mal? Ah, ich weiß .«

Er öffnete eine kleine japanische Schatulle - lackiert, mit einem Schmetterling aus Perlmutt auf dem Deckel. »Da hast du ihn! Kam mit der städtischen Post.«

Mit bebenden Fingern nahm Fandorin das schmale Kuvert entgegen, auf dem in flüssiger, fliehender Handschrift stand:

An Seine Durchlaucht den Grafen Ippolit Surow, Jakowo- Apostolski-Gasse, im Hause desselben.

Dem Stempel nach zu urteilen, war der Brief am 16. Mai abgeschickt worden - der Tag, an dem die Beshezkaja verschwunden war.

In dem Kuvert steckte ein Blatt mit kurzer Notiz auf französisch, ohne Unterschrift: Mußte abreisen, ohne Gelegenheit zum Abschied. Schreib mir nach London, Gray Street, Hotel Winter Queen, für Miss Olsen. Ich warte. Wage es ja nicht, mich zu vergessen.

»Und ich wage es doch!« fuhr Surow hitzig auf, um gleich darauf in sich zusammenzusinken. »Jedenfalls will ich es versuchen. Nimm ihn mit, Erasmus. Tu damit, was du magst. Wo willst du hin?«

»Ich gehe«, sagte Fandorin, während er das Kuvert in seine Tasche steckte. »Es eilt.«

»O je!« Der Graf nickte mitleidig. »Dann troll dich, flieg schnell hin zum Feuer. Es ist dein Leben, nicht meines.«

Auf dem Hof wurde Fandorin von Jean eingeholt, der ein Päckchen in der Hand hielt.

»Hier, mein Herr, Sie haben es vergessen.«

»Was ist das?« fragte Fandorin, sich unwillig umdrehend.

»Sie machen mir Spaß. Ihr Gewinn natürlich. Seine Durchlaucht befahlen, ihn nachzutragen und auszuhändigen.«

Fandorin hatte einen wundersamen Traum.

Er saß in seiner Schulbank im Klassenzimmer des Gouvernementsgymnasiums. Träume dieser Art, meist aufregend und unbehaglich, hatte er nicht selten: Plötzlich war er wieder der Gymnasiast, der in der Physik- oder Algebrastunde an die Tafel gerufen worden war und »schwamm«. Diesmal aber war es nicht nur prekär, sondern richtig zum Fürchten. Und Fandorin begriff nicht, wieso. Er stand ja nicht an der Tafel, er saß auf seinem Platz, die Mitschüler um sich: Iwan Brilling, Achtyrzew, außerdem ein reizender Knabe mit hoher, blasser Stirn und herausfordernden braunen Augen (Fandorin wußte, daß es Kokorin war), zwei Mädchen in weißen Schürzen und noch einer, der mit dem Rücken zu ihm saß. Der war es, vor dem Fandorin sich fürchtete, er bemühte sich, ihn zu übersehen, drehte den Hals statt dessen immerfort nach den Mädchen, von denen die eine schwarz, die andere blond war. Brav die schmalen Hände vor sich gelegt, saßen sie in ihrer Bank. Jetzt sah er: Es waren Amalia und Lisanka. Erstere sandte einen sengenden Blick aus ihren schwarzen Augen, streckte die Zunge heraus; Li- sanka hingegen lächelte verschämt und senkte die dichten Wimpern. Nun erst sah Fandorin Lady Aster an der Tafel stehen, den Zeigestock in der Hand, und alles war klar: Hier praktizierte man die neueste englische Erziehungsmethode, bei der Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden. Und das ging sehr gut. Doch als hätte Lady Aster diesen Gedanken gehört, lächelte sie bitter und sagte: »Nein, von wegen Koedukation, ihr seid meine Waisenklasse. Ihr alle seid arme Waisenkinder, und ich muß euch auf den rechten Weg führen.« - »Aber erlauben Sie, Mylady«, widersprach Fandorin, »ich weiß aus sicherer Quelle, daß Lisanka keine Waise ist, sie ist die Tochter eines Wirklichen Geheimrats.« - »»Oh, my sweet boy«, sagte die Lady und wurde noch trauriger dabei, »sie ist ein unschuldiges Opfer, und das ist dasselbe wie ein Waisenkind.« Der furchterregende Jemand, welcher vor ihm saß, wandte sich nun langsam um, starrte ihn mit glasig weißen Augen an und flüsterte: »Ich, Asasel, bin auch ein Waisenkind!« Er zwinkerte verschwörerisch, dann fügte er - da hört sich doch alles auf! - mit Brillings Stimme hinzu: »Und darum, junger Freund, muß ich Sie töten, was ich zutiefst bedauere . He, Fandorin, was sitzen Sie da wie ein Ölgötze! Fandorin!«

Jemand rüttelte den alptraumgeplagten Kollegienregistrator an der Schulter. »Wachen Sie auf, der Morgen ist da!«

Fandorin zuckte zusammen, fuhr hoch, wandte den Kopf: Er befand sich im Kabinett des Chefs, mußte, am Tisch sitzend, eingeschlafen sein. Die Vorhänge waren zurückgezogen, freundliches Morgenlicht drang herein, neben ihm stand Brilling in merkwürdigem Aufzug, als Spießbürger verkleidet: Kaftan mit Aufschlag, Schirmmütze und dreckige Ziehharmonikastiefel.

»Ist Ihnen das Warten zu lang geworden?« fragte der Chef auf seine übermütige Art. »Entschuldigen Sie die Maskerade, ich komme eben von einer dringenden Nachtpartie. Genug große Augen gemacht, waschen Sie sich erst mal! Abmarsch!«

Während Fandorin sich waschen ging, kamen ihm die Ereignisse der letzten Nacht allmählich wieder zu Bewußtsein: auch, wie er zuletzt Surows Haus verlassen, Hals über Kopf das Weite gesucht, eine wartende Droschke bestiegen und dem dösenden Kutscher befohlen hatte, in die Mjasnizkaja zu fahren. Er konnte es kaum erwarten, dem Chef seinen Erfolg zu melden, doch als er eintraf, war Brilling nicht da. Als erstes hatte Fandorin einem dringenden Bedürfnis nachgegeben, sich dann ins Kabinett gesetzt, gewartet und nicht gemerkt, wie der Schlaf ihn übermannte.

Als er ins Kabinett zurückkam, saß Brilling schon wieder in seinem hellen Sommeranzug am Tisch und trank Tee mit Zitrone. Ein zweites Glas im silbernen Untersatz dampfte an der gegenüberliegenden Seite des Tisches; Kringel und Brötchen lagen auf einem Tablett.

»Frühstücken wir erst mal«, schlug der Chef vor, »und erzählen uns was. Zwar bin ich über Ihre nächtlichen Abenteuer im großen ganzen unterrichtet, aber ein paar Fragen hätte ich noch.«

»Wieso unterrichtet?« fragte Fandorin voller Enttäuschung, da er sich auf den Bericht gefreut und, nun ja, mit der Absicht getragen hatte, ein paar Details zu verschweigen.

»Einer meiner Detektive ist bei Surow zugegen gewesen. Ich bin schon seit einer Stunde zurück, habe es nur nicht übers Herz gebracht, Sie zu wecken. Da konnte ich in aller

Ruhe den Rapport lesen. Eine spannende Lektüre. Vor lauter Spannung bin ich nicht dazu gekommen, mich umzuziehen.«

Er klopfte mit der flachen Hand auf einige dicht beschriebene Zettel.

»Kein übler Detektiv, nur leider furchtbar blumig in seiner Ausdrucksweise. Er hält sich für einen angehenden Literaten, schreibt Zeitungskolumnen unter dem Pseudonym Maximus Argus und träumt von einer Karriere als Zensor. Hören Sie zu, das interessiert Sie bestimmt. Wo haben wir die Stelle? Ah, hier.

Beschreibung des Objekts. Name: Erasmus von Dorn oder von Doren (dem Hören nach). Alter: kaum über Zwanzig. Porträt in Worten: zwei Arschin, acht Werschok groß; magerer Körperbau; Haare glatt, schwarz; Bart: keiner, wohl noch vor der ersten Rasur; Augen hellblau, engstehend, zu den Winkeln hin etwas geschlitzt; Haut reinweiß; Nase schmal, gerade; Ohren anliegend, klein, mit kurzen Läppchen. Besonderes Kennzeichen: anhaltende Wangenröte. Persönlicher Gesamteindruck: typischer Vertreter der verderbten und zügellosen Jeunesse doree mit ausgeprägtem Hang zur Aufschneiderei. Im Anschluß an die oben dargestellten Geschehnisse entfernte sich die Person gemeinsam mit dem Spieler in das Arbeitszimmer des letzteren. Die Unterredung währte zweiundzwanzig Minuten. Gesprochen wurde leise, mit Pausen. Durch die Tür war so gut wie nichts zu verstehen, nur das Wort Opium vernahm ich deutlich, und von einem Feuer war die Rede. Ich hielt es für geraten, von Doren weiter zu observieren, wurde jedoch offenbar von ihm enttarnt, denn er hängte mich äußerst geschickt ab und entkam in einer Droschke. Ich schlage vor ... Na, das weitere ist nicht so interessant.« Gespannt blickte der Chef Fandorin an. »Was brachte denn die Opiumdiskussion für

Ergebnisse? Spannen Sie mich nicht auf die Folter, ich brenne vor Neugier.«

Fandorin gab den Inhalt des Gesprächs in knappen Worten wieder und zeigte den Brief. Brilling hörte konzentriert zu, stellte ein paar präzisierende Fragen und schwieg dann, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Das Schweigen währte lange, annähernd eine Minute. Fandorin saß und rührte sich nicht, er mochte den Denkprozeß nicht stören, obwohl auch er ein paar Vermutungen in petto hatte.

»Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen, Fandorin«, begann der Chef, als er wieder zum Leben erwacht war. »Sie haben ausgezeichnete Ergebnisse vorzuweisen. Erstens steht nun vollkommen außer Frage, daß Surow mit dem Mord nichts zu tun hat und von Ihrer Tätigkeit nichts ahnt. Sonst hätte er Ihnen wohl kaum Amalias Adresse gegeben. Damit können wir Version drei begraben. Zweitens sind Sie ein gutes Stück bei der Bearbeitung der Version Beshezkaja vorangekommen. Wir wissen jetzt, wo wir die Dame zu suchen haben. Bravo. Ich beabsichtige nunmehr, alle verfügbaren Detektive einschließlich Ihrer Person auf Version vier zu konzentrieren, die mir als die wesentliche erscheint.« Er wies mit dem Finger zur Tafel, wo im vierten Kreidekreis die Buchstaben NO standen.

»Wie bitte?« Fandorin glaubte sich verhört zu haben. »Erlauben Sie, Chef, aber .«

»Vorige Nacht bin ich auf eine sehr verheißungsvolle Spur gestoßen, die zu einem Landhaus vor den Toren Moskaus führt«, teilte Brilling mit unverhohlener Befriedigung mit. Über den Dreck an seinen Stiefeln mußte man sich nun nicht mehr wundern. »Dort versammeln sich die Revolutionäre, und zwar die von der extrem gefährlichen Sorte. Achtyrzew scheint mit ihnen in Verbindung gestanden zu haben. Hier müssen wir aktiv werden. Dazu benötige ich sämtliche Leute. Und die Version Beshezkaja scheint mir aussichtslos zu sein. Jedenfalls eilt es damit nicht. Wir schicken den Engländern eine diplomatische Anfrage, bitten sie, diese Miss Olsen bis zur Klärung des Sachverhalts festzusetzen, das dürfte reichen.«

»Aber das wäre doch das Falscheste, was man tun kann!« rief Fandorin, er rief es so vehement, daß Brilling verdutzt war.

»Wieso?«

»Sehen Sie denn nicht, wie alles zusammenpaßt?« Fandorin sprach sehr schnell, weil er Angst hatte, unterbrochen zu werden. »Von den Nihilisten weiß ich nichts, das kann alles gut sein und ist bestimmt von großer Wichtigkeit, aber das andere ist auch von Wichtigkeit, von staatstragender Wichtigkeit! Sehen Sie doch, Chef, welches Bild sich ergibt. Die Beshezkaja ist in London untergetaucht - Punkt eins.« Fandorin merkte nicht, wie er Brillings Ausdrucksweise übernahm. »Ihr Butler ist Engländer, ein äußerst verdächtiger noch dazu, der mordet garantiert, ohne mit der Wimper zu zucken - Punkt zwei. Der Weißäugige, der Achtyrzew erstochen hat, sprach mit Akzent, könnte gut ebenfalls ein Engländer sein - Punkt drei. Lady Aster ist Engländerin, wenn auch eine sehr ehrenwerte Person, und Kokorins Hinterlassenschaft ist ihr zugefallen, da kann man sagen, was man will - Punkt vier! Es ist doch sonnenklar, daß die Be- shezkaja ihre Verehrer in Schwulitäten gebracht hat, damit sie ihr Testament zugunsten der Engländerin aufsetzen!«

»Stopp, stopp!« Brilling zog die Stirn in Falten. »Worauf wollen Sie hinaus? Spionage?«

»Aber natürlich!« Fandorin schlug die Hände zusammen. »Englische Intrigen! Sie wissen doch selbst, wie es um unser

Verhältnis zu England momentan steht. Ich will Lady Aster nichts Übles nachsagen, sie hat davon gewiß keine Ahnung, aber ihr Institut läßt sich gut als Deckmantel gebrauchen, als trojanisches Pferd, um in Rußland Fuß zu fassen!«

»Oha.« Der Chef lächelte ironisch. »Königin Victoria und ihr Herr Disraeli sind natürlich unzufrieden mit den Goldausbeuten in Afrika und den indischen Diamanten, da brauchen sie unbedingt noch die Tuchfabrik eines Peter Kokorin und Achtyrzews dreitausend Desjatinen in Nikolenka.«

Jetzt spielte Fandorin seinen großen Trumpf aus: »Es geht nicht so sehr um die Fabrik, nicht einmal um das Geld! Erinnern Sie sich an die Liste der Besitztümer? Ich habe auch nicht gleich darauf achtgegeben. Kokorin besaß unter anderem eine Werft in Libau, dort läßt die Kriegsmarine ihre Schiffe bauen - ich habe mich erkundigt.«

»Ach ja, wann denn?«

»Während ich auf Sie gewartet habe. Telegrafische Anfrage an das Heeres- und Marineministerium. Dort gibt es auch einen Nachtdienst.«

»Soso. Und weiter?«

»Achtyrzew gehörte außer dem Landgut, den Häusern und dem Geld ein Erdölvorkommen in Baku, das hatte er von der Tante geerbt. In der Zeitung war zu lesen, wie sehr die Engländer davon träumen, an kaspisches Öl heranzukommen. Und so hätten sie es - auf ganz legitime Weise! Die Sache war tadellos eingefädelt: entweder das Werk in Libau, oder das Öl - eines von beiden mußte den Engländern zufallen! Sie müssen es natürlich am besten wissen, Chef«, ereiferte sich Fandorin, »aber ich für mein Teil mag nicht davon ablassen. Ich werde all ihren Anweisungen Folge leisten, aber nach Dienstschluß gehe ich dieser Spur nach. Und werde unter Garantie fündig!«

Der Chef sah wieder aus dem Fenster. Diesmal schwieg er noch länger als zuvor. Fandorin zappelte vor Nervosität, doch hatte er genug Charakter, um sich zu zügeln.

Endlich seufzte Brilling und begann zu sprechen - langsam und stockend, er mußte wohl noch etwas zu Ende denken.

»Wahrscheinlich ist das alles Unsinn. Edgar Allan Poe, Eugene Sue. Pure Zufälligkeiten. Aber in einem mögen Sie recht haben: Die Anfrage an die Engländer lassen wir lieber sein. Auch nicht über unseren Residenten an der Londoner Botschaft. Sollten Sie mit Ihren Vermutungen fehlgehen - und das tun Sie bestimmt -, dann stellten wir uns als Hornochsen bloß. Und angenommen, Sie behielten recht, könnte die Botschaft ohnehin nichts ausrichten - die Engländer würden die Beshezkaja verstecken oder uns irgend etwas vormachen. Außerdem sind unseren Gesandten die Hände gebunden - sie stehen viel zu sehr in der Öffentlichkeit ... Also gut!« Brilling hieb energisch mit der Faust durch die Luft. »Ich könnte Sie zwar auch hier ganz gut gebrauchen, Fan- dorin, aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich, wie der Volksmund sagt. Ich habe in Ihrer Akte gelesen, daß Sie außer Deutsch und Französisch auch ganz gut Englisch können. Fahren Sie mit Gott nach London zu Ihrer Femme fatale! Instruktionen dränge ich Ihnen keine auf, vertraue ganz auf Ihre Intuition. Ich gebe Ihnen einen Mann von der Botschaft an die Seite, Pyshow mit Namen. Er tut dort als einfacher Schriftführer Dienst, so wie Sie hier, ist aber mit anderen Dingen befaßt. Beim Außenministerium wird er als Gouvernementssekretär geführt, bei uns hat er einen noch höheren Rang. Ein vielseitig begabter Mann. Fahren Sie am besten gleich nach Ihrer Ankunft zu ihm. Er ist sehr findig. Im übrigen bin ich mir sicher, daß die Reise umsonst ist. Aber schließlich haben Sie sich das Recht auf einen Irrtum verdient. Schauen Sie sich Europa an. Exkursion auf Staatskosten! Wobei Sie derzeit, vermute ich, ganz gut bei Kasse sind?« Der Chef schielte nach dem Bündel, das herrenlos auf einem Stuhl herumlag.

Noch ganz perplex von dem, was er eben gehört hatte, fuhr Fandorin zusammen.

»Ach ja, Pardon, das ist mein Gewinn. Neuntausendsechshundert Rubel, ist nachgezählt. Ich wollte es im Kontor abliefern, aber es war zu.«

»Ach, hören Sie auf!« Brilling winkte ab. »Sind Sie bei Trost? Was soll denn der Kontorist Ihrer Meinung nach in sein Kassenbuch schreiben? Eingang Spielgewinn Kollegienregistrator Fandorin? Apropos, warten Sie mal. So einen kleinen Registratur auf Dienstreise ins Ausland zu schicken macht keinen seriösen Eindruck.«

Er setzte sich an den Tisch, tauchte die Feder ins Tintenfaß und fing, sich selbst diktierend, zu schreiben an:

»»Also. Blitztelegramm. An Fürst Michail Alexandrowitsch Kortschakow, persönlich. Abschrift an Generaladjutant La- wrenti Arkadjewitsch Misinow. Euer Hochwohlgeboren, im Interesse Ihnen bekannter Angelegenheit sowie in Anerkennung hervorragender Verdienste bitte ich den Kollegienregistrator Erast Petrowitsch Fandorin extra ordinem und in Außerachtlassung des Dienstalters zum ... ach, was soll’s, am besten gleich zum Titularrat. Ist auch kein sonstwie hohes Tier, aber immerhin ... zum Titularrat zu befördern. Ferner bitte ich, Fandorin zeitweise in das Amt des diplomatischen Kuriers erster Kategorie beim Außenministerium zu erheben. Damit Sie nicht unnötig an der Grenze aufgehalten werden!« erläuterte Brilling. »So. Datum, Unterschrift. Übrigens werden Sie tatsächlich gleich ein bißchen diplomatische Post befördern: Berlin, Wien, Paris, liegt alles am Weg. Der Konspiration halber, damit keiner Verdacht schöpft. Irgendwelche Einwände?« Brillings Augen blitzten schelmisch.

»Nein, nein«, stammelte Fandorin, der Mühe hatte, den sich überschlagenden Ereignissen mit den Gedanken zu folgen.

»Und dann reisen Sie von Paris aus inkognito weiter nach London. Wie hieß das Hotel gleich noch mal?«

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