»Liegenbleiben, mein Bester, nur ja liegenbleiben!« sagte Xa- veri Gruschin noch auf der Schwelle, als Fandorin in seiner Verlegenheit die Beine vom harten Diwan nehmen und auf den Boden stellen wollte. »Was hat der Doktor Ihnen befohlen? Ich weiß es, ich habe mich erkundigt. Nach der Entlassung zwei Wochen strengste Bettruhe, damit der Schnitt ordentlich verheilen und das erschütterte Gehirn wieder an Ort und Stelle rutschen kann. Und Sie liegen noch keine zehn Tage!«
Er setzte sich und rieb mit einem karierten Taschentuch seine puterrote Glatze trocken.
»Uff, die Sonne brennt, brennt wirklich ganz hübsch. Schauen Sie, ich habe Ihnen Marzipan mitgebracht und Kirschen, ganz frisch, wohl bekomm’s! Wo soll ich es hinlegen?«
Der Kriminalamtsvorsteher sah sich suchend in dem winzigen Kämmerchen um, in dem der Kollegienregistrator logierte. Für das Bündel mit den Mitbringseln war nirgends Platz: Auf dem Diwan lag der Mieter, auf dem Stuhl saß Xa- veri Gruschin selbst, auf dem Tisch türmten sich Bücher. Andere Möbel gab es nicht - auch keinen Kleiderschrank. Was dort hineingehört hätte, hing samt und sonders an Nägeln, die Fandorin in die Wand geschlagen hatte.
»Tut’s denn noch weh?«
»Kein bißchen!« erwiderte Fandorin, was ein wenig geflunkert war. »Von mir aus können die Fäden morgen schon raus. Es ist ja nur ein bißchen über die Rippen geschlittert, mehr nicht. Und der Kopf ist auch ganz in Ordnung.«
»Na, na, nehmen Sie sich Zeit mit dem Gesundwerden, das Gehalt läuft ja weiter.« Gruschin zog ein reuiges Gesicht. »Seien Sie mir nicht böse, mein Bester, daß ich erst so spät aufkreuze. Bestimmt haben Sie schon schlecht gedacht von dem Alten - zum Rapportschreiben kommt er gleich ins Krankenhaus gerannt, und nachher, wenn alle Schuldigkeit getan ist, läßt er sich kein zweites Mal blicken. Beim Arzt habe ich Erkundigungen einholen lassen, das schon, aber für einen Besuch war einfach keine Zeit. Wenn Sie wüßten, was im Amt derzeit für ein Trubel ist! Tag und Nacht, ohne Übertreibung.« Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf und senkte vertraulich die Stimme: »Ihr Achtyrzew war nicht irgendwer, er war der leibliche Enkel Seiner Durchlaucht Kanzler Korschakow.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Der Vater ist Botschafter in Holland, verheiratet in zweiter Ehe, so daß Ihr Intimus in Moskau bei der Tante gewohnt hat, der Fürstin Kortschakowa, im eigenen Palazzo an der Gontscharnaja. Die Fürstin ist voriges Jahr dahingegangen, er hat alles geerbt, dabei stand er sich vorher schon gut, von der seligen Frau Mutter her. Ach, hat das einen Wind gegeben bei uns, ich kann Ihnen sagen. Zuallererst sollte der Vorgang dem Generalgouverneur unterstellt werden, Fürst Dolgo- ruki persönlich, aber leider war da gar kein Vorgang, man wußte überhaupt nicht, wie man der Sache beikommen sollte. Den Mörder hat außer Ihnen keiner gesehen. Die Be- shezkaja, sagte ich Ihnen letztens schon, ist wie vom Erdboden verschwunden. Das Haus leer. Keine Diener, keine Papiere. Da kann man lange suchen: Weder weiß einer, woher sie kommt, noch, wer sie eigentlich ist. Dem Paß nach eine Adlige aus Wilna. Wir haben angefragt - sie ist dort nicht gemeldet. So sieht’s aus. Vorige Woche ruft mich Seine Exzellenz zu sich. >Nimm’s mir nicht krumm, Xaveri<, sagt er, >ich kenne dich seit langem und weiß deine Gewissenhaftigkeit zu schätzen, aber der Fall ist eine Nummer zu groß für dich. Aus Petersburg kommt ein Sonderermittler, zur besonderen Verfügung des Gendarmeriechefs und Vorstehers der Dritten Abteilung, Seiner Exzellenz Generaladjutant La- wrenti Arkadjewitsch Misinow. Was das für ein Vögelchen ist, kannst du dir denken! Einer vom neuen Schlag, Intellektueller, Mann der Zukunft. Geht streng nach der Wissenschaft vor. Ein Meister in kniffligen Fällen, will uns beiden was vormachen.<« Xaveri Gruschin grunzte böse. »Ein Mann der Zukunft also, während Gruschin nun mal ein Mann der Vergangenheit ist. So sieht’s aus. Vor drei Tagen ist er eingetroffen in aller Frühe, das war wohl der Mittwoch, der Zweiundzwanzigste. Iwan Franzewitsch Brilling heißt er, seines Zeichens Staatsrat. Und das mit dreißig Jahren! Seither geht’s rund bei uns. Heute haben wir Sonnabend, und trotzdem bin ich seit neun im Dienst. Und gestern haben wir bis elf in der Nacht gesessen und sogenannte Schemata gekritzelt. Das Zimmer, wo wir immer unseren Tee getrunken haben, wissen Sie noch? Anstelle des Samowars steht da jetzt ein Telegrafenapparat, und ein Telegrafist sitzt davor und schiebt rund um die Uhr Dienst. Da kann man eine Depesche bis nach Wladiwostok schicken oder meinetwegen nach Berlin, Antwort sofort. Die bestallten Agenten hat er zur Hälfte davongejagt, hat seine Leute aus Petersburg mitgebracht, die hören nur auf ihn. Mich hat er hochnotpeinlich ausgefragt und die Ohren dabei gespitzt. Erst dachte ich, er schickt mich in den Ruhestand, aber nein, Kriminalvorsteher Gruschin darf sich einstweilen noch nützlich machen. Ach, übrigens bin ich ja ... bin ich ja an sich auch gekommen, mein Lieber, weil nämlich ...«, Gruschin fing an zu drucksen, »ja, weil ich Sie vorwarnen wollte. Er hat nämlich die Absicht, heute noch hier aufzutauchen, zur persönlichen Befragung. Da braucht Ihnen aber nicht bange zu sein, man wirft Ihnen nichts vor. Sie haben ja sogar in Erfüllung Ihrer Pflichten eine Verwundung davongetragen. Nur, seien Sie so lieb, hauen Sie den Alten nicht in die Pfanne. Wer konnte denn ahnen, daß die Sache so ausgehen würde .«
Fandorin maß seine ärmliche Behausung mit einem traurigen Blick. Einen schönen Eindruck würde diese Petersburger Persönlichkeit von ihm bekommen!
»Vielleicht sollte ich selber zu ihm ins Amt fahren? Mir geht es schon ganz fabelhaft, ehrlich!«
»Unterstehen Sie sich!« Der Kriminalamtsvorsteher wedelte abwehrend mit den Händen. »Soll denn der Chef gleich wissen, daß ich hier war, Sie zu alarmieren? Schön liegenbleiben. Er hat Ihre Adresse notiert, bestimmt taucht er heute noch hier auf.«
Der »Mann der Zukunft« kam am Abend, zwischen sechs und sieben, so daß Fandorin Zeit gehabt hatte, sich gründlich vorzubereiten. Zur Wirtin, Agrafena Kondratjewna, hatte er gesagt, ein General rücke an, Malaschka solle also den Fußboden im Flur wischen, die morsche Truhe entfernen und sich vor allem unterstehen, Kohlsuppe zu kochen. Seinem eigenen Zimmer verlieh der Rekonvaleszent einigen Aufputz: Die Kleider an den Nägeln wurden vorteilhafter drapiert, die Bücher kamen unters Bett, einzig ein französischer Roman sowie David Humes »Untersuchung über den menschlichen Verstand« im Original und die »Aufzeichnungen eines Pariser Ermittlers« von Jean Debray blieben auf dem Tisch liegen, später tauschte Fandorin noch den De- bray gegen eine »Anleitung zum richtigen Atmen durch den echten indischen Brahmanen Herrn Chandra Johnson« aus, nach dessen Maßgaben er allmorgendlich eine den Geist stärkende Gymnastik betrieb. Sollte der Meisterdetektiv sehen, daß hier einer wohnte, der zwar arm, aber nicht liederlich war. Um die Schwere seiner Verletzung hervorzuheben, entlieh er sich aus Agrafena Kondratjewnas Vorräten ein Fläschchen mit irgendeiner Mixtur, das er neben dem Diwan auf den Stuhl stellte, wickelte sich einen weißen Schal um den Kopf und streckte sich so auf seinem Krankenlager aus. Leidgeprüft und tapfer wollte er wirken - dafür schien nun alles im Lot zu sein.
Endlich, als er des Herumliegens schon müde war, klopfte es kurz an die Tür, und herein kam, ohne eine Antwort abzuwarten, ein energischer Herr in leichtem Jackett, hellen Hosen, ohne Kopfbedeckung. Die akkurat gescheitelten rotblonden Haare ließen eine hohe Stirn frei, zwei Lachfältchen saßen in den Winkeln eines Mundes, der von Willensstärke geprägt schien, so wie das glattrasierte Kinn mit dem Grübchen Selbstsicherheit ausstrahlte. Die grauen, durchdringend blickenden Augen hatten das Zimmer in Blitzesschnelle gemustert und ruhten nun auf Fandorin.
»Wie ich sehe, muß ich mich nicht erst vorstellen«, sagte der Gast fröhlich. »Das Wichtigste über mich ist Ihnen bereits bekannt, wenn auch vielleicht in etwas ungünstigem Licht. Hat Gruschin sich über den Telegrafen beschwert?«
Fandorin klapperte mit den Augen und wußte nicht, was er sagen sollte.
»Das ist die deduktive Methode, mein lieber Fandorin. Die Rekonstruktion des Gesamtbildes aus einigen beiläufigen Details. Hierbei kommt es darauf an, sich nicht zu weit vorzuwagen, keine unkorrekten Schlüsse zu ziehen, solange die vorhandene Information mehrere Deutungen zuläßt. Aber darüber sprechen wir noch, das hat Zeit. Was Gruschin betrifft, so liegen die Dinge sehr einfach. Ihre Wirtin hat sich fast bis zum Boden vor mir verneigt und mich mit >Exzel- lenz< angesprochen - Punkt eins. Äußerlich sehe ich, wie Sie unschwer bemerken, einer Exzellenz wenig ähnlich, bin bislang auch keine solche, mein Rang ließe allenfalls ein >Hoch- wohlgeboren< zu - Punkt zwei. Zu keinem außer Gruschin habe ich von meiner Absicht, Sie zu besuchen, gesprochen - Punkt drei. Daß des Herrn Kriminalvorstehers Äußerungen zu meiner Tätigkeit nicht eben schmeichelhaft sind, ist klar - Punkt vier. Na, und der Telegrafenapparat, ohne den es, wie Sie gewiß zustimmen werden, im modernen Kriminalwesen nicht mehr geht . den kann unser lieber, betulicher Xaveri Feofilaktowitsch Gruschin unmöglich verschwiegen haben - Punkt fünf. Korrekt?«
»Korrekt!« entfuhr es Fandorin, womit er, beschämt und hochbeeindruckt, dem guten Gruschin die Treue aufkündigte.
»Nanu, in Ihrem zarten Alter schon Hämorrhoiden?« fragte der muntere Gast, während er die Mixtur vom Stuhl auf den Tisch stellte und Platz nahm.
»Nicht doch!« Fandorin wurde flammend rot und im selben Moment auch Agrafena Kondratjewna untreu. »Das . das hat die Wirtin verwechselt. Sie verwechselt immerzu etwas, Euer Hochwohlgeboren. Wo diese Frau nur ihren Kopf hat!«
»Verstehe. Aber sagen Sie Iwan Franzewitsch oder, noch besser, einfach Chef zu mir, wir werden ja miteinander das Vergnügen haben. Ich las übrigens Ihren Rapport.« Brilling kam ohne Umschweife zum Thema. »Der hat Hand und
Fuß. Gut beobachtet. Gut geschlußfolgert. Und ich bin angenehm überrascht von Ihrer Intuition - das ist in unserem Geschäft das Allerwertvollste. Bevor man weiß, wie die Dinge sich entwickeln, muß einem der Instinkt schon sagen, was zu tun ist. Wie kamen Sie eigentlich darauf, daß der Besuch bei der Beshezkaja gefährlich für Sie werden könnte? So daß Sie Vorsorge trafen und ein Schutzkorsett anlegten? Alle Achtung!«
Die Röte in Fandorins Gesicht nahm immer mehr zu.
»Doch, das war ein großartiger Einfall. Vor Kugeln kann so etwas zwar nicht schützen, aber gegen Hieb- und Stichwaffen ist es bestens geeignet. Ich werde dafür sorgen, daß eine Partie solcher Korsetts für Agenten in riskanten Einsätzen angeschafft wird. Wie heißt die Marke?«
»Lord Byron«, gab Fandorin verschämt Auskunft.
»Lord Byron«, wiederholte Brilling und notierte es in ein kleines, in Leder gebundenes Büchlein. »Und jetzt sagen Sie mir, wann Sie wieder anfangen können? Ich habe mit Ihnen so einiges vor.«
»Von mir aus schon morgen!« rief Fandorin emphatisch und sah seinen neuen Vorgesetzten respektive Chef verliebt an. »Gleich früh gehe ich zum Doktor und lasse mir die Fäden ziehen, dann stehe ich zu Ihrer Verfügung!«
»Großartig. Wie würden Sie übrigens die Beshezkaja charakterisieren?«
Fandorin wurde von neuem verlegen; holpernd, unter Zuhilfenahme vieler Gesten, begann er: »Das ist . wie soll ich sagen . eine seltene Erscheinung. Eine Kleopatra. Oder Carmen . Sie ist unbeschreiblich schön, aber darum geht es gar nicht. Ihr Blick ist wie ein Magnet, aber darum geht es auch nicht. Ich hab’s, die Hauptsache ist etwas anderes: Man spürt in ihr eine gewaltige Kraft. Eine Kraft, bei der man das
Gefühl hat, sie spielt mit allem und jedem. Und das Spiel hat unbegreifliche Regeln, es ist ein grausames Spiel. Diese Frau ist meiner Meinung nach durchaus lasterhaft, aber zugleich ... absolut unschuldig. Als wäre sie nur falsch erzogen worden in ihrer Kindheit. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll . « Fandorin, da er merkte, daß er Unsinn redete, wurde schon wieder rot, brachte seinen Vortrag jedoch zu einem Ende. »Mir scheint, sie ist nicht so schlecht, wie es scheinen will.«
Der Staatssekretär sah den jungen Mann forschend an und stieß einen leisen, übermütigen Pfiff aus.
»Ach, so läuft der Hase. Das dachte ich mir. Ich sehe, diese Amalia Beshezkaja ist ein geradezu hochgefährliches Wesen. Insbesondere für junge Romantiker in der sexuellen Reifephase.«
Zufrieden mit der Wirkung seines Scherzes, stand Iwan Brilling auf und ließ noch einen Blick durch das Zimmer gehen.
»Dieser Stall wird Sie um die zehn Rubel kosten, nehme ich an?«
»Zwölf«, entgegnete Fandorin mit Würde.
»Die Dekoration kommt mir bekannt vor. Ich habe seinerzeit genauso gehaust. Als Gymnasiast im ruhmreichen Charkow. Mir ging es nämlich wie Ihnen - schon als Kind stand ich ohne Eltern da. Aber das kann für die Herausbildung der Persönlichkeit nur von Nutzen sein. Fünfunddreißig Rubel Gehalt, gemäß Rangliste?« erkundigte sich der Staatssekretär so übergangslos wie zuvor.
»Plus Quartalszulage für Überstunden.«
»Ich werde anweisen, daß man Ihnen fünfzig Rubel Prämie aus dem Sonderfonds auszahlt. Für Gewissenhaftigkeit im Dienst und als Schmerzensgeld. Dann also bis morgen.
Wenn Sie da sind, arbeiten wir an den möglichen Versionen des Hergangs.«
Worauf sich die Tür hinter dem erstaunlichen Besucher schloß.
Das Kriminalamt war in der Tat nicht wiederzuerkennen. Nie gesehene Herren mit Ordnern unter dem Arm fegten geschäftig über die Gänge, und auch die Bediensteten, die Fan- dorin kannte, liefen zügiger, disziplinierter, nicht mehr so watschelnd wie früher. Im Raucherzimmer war - o Wunder! - keine Menschenseele. Aus purer Neugier schaute Fandorin in den Erfrischungsraum, wo auch wirklich anstelle von Samowar und Teegeschirr ein Baudot-Telegraf auf dem Tisch stand; der Telegrafist - in schmucker Uniformjacke mit doppelter Knopfleiste - sah den Eingetretenen streng und fragend an.
Der Kommissionsstab hatte im Kabinett des Amtsvorstehers seinen Platz gefunden, da der Herr Oberst seit dem gestrigen Tage beurlaubt war. Fandorin, noch etwas blaß von der schmerzhaften Prozedur des Fädenziehens, klopfte an und lugte durch den Türspalt. Das Kabinett hatte sich gleichfalls verändert: Die ehrwürdigen Ledersessel waren verschwunden, an ihrer Statt gab es drei Reihen einfacher Stühle, und zwei Schultafeln standen an der Wand, über und über mit irgendwelchen Schemata bekritzelt. Wahrscheinlich hatte hier gerade eine Konferenz stattgefunden - Brilling säuberte sich mit einem Lappen die kreidebeschmutzten Hände, während die Agenten und Staatsdiener, besorgt miteinander tuschelnd, auf die Tür zukamen.
»Treten Sie ein, Fandorin, was stehen Sie da auf der Schwelle herum!« forderte der neue Herr des Kabinetts den verschüchterten Fandorin auf. »Geflickt und verarztet? Prima! Sie sind mir direkt unterstellt. Einen Tisch muß ich
Ihnen nicht zuweisen - zum Sitzen werden Sie ohnehin nicht kommen. Schade, daß Sie die Konferenz verpaßt haben, wir hatten eine interessante Diskussion über diesen Asasel aus Ihrem Rapport.«
»Ach!« Fandorin horchte auf. »Gibt es den wirklich? Hab ich mich nicht verhört? Ich hatte schon an eine Täuschung geglaubt.«
»Nein, keine Täuschung. Asasel, so heißt ein gefallener Engel. Was hatten Sie für eine Note in Religion? Sagen Ihnen die Sündenböcke noch etwas? Von denen gab es, falls Sie sich entsinnen, zwei. Der eine war für Gott bestimmt, der andere für Asasel, um ihn zu besänftigen. Bei den Juden im Buch Henoch lehrt Asasel die Menschen allerlei unnütze Dinge: die Männer das Kriegführen und Waffenbauen, die Frauen das Schminken und Abtreiben. Mit einem Wort, ein rebellierender Dämon, ein Geist der Geächteten.«
»Und was kann das bedeuten?«
»Ein Kollegienassessor, einer von euch Moskauern, hat gleich eine ganze Verschwörungstheorie entwickelt, von wegen jüdischer Geheimbund und so weiter. Vom Synednum der Juden hat er gefaselt und vom Blut der Christenkinder. Mit der Beshezkaja als Tochter der Israeliten und Achtyrzew als Lamm, geopfert auf dem Altar des jüdischen Gottes. Kompletter Schwachsinn. Diese judeophoben Wahnvorstellungen kenne ich aus Petersburg nur zu gut. Sowie ein Unglück geschieht und die Gründe nicht gleich klar sind, kommt die Rede auf das Synednum.«
»Und was ist Ihre Ansicht, Chef?« Fandorin gebrauchte die ungewohnte Anrede nicht ohne einen heiligen Schauer.
»Wenn Sie bitte herschauen wollen!« Brilling war vor eine der Tafeln getreten. »Die vier Kreise da oben - das sind die vier in Frage kommenden Versionen. Der erste Kreis wie
Sie sehen, mit Fragezeichen, es ist die unwahrscheinlichste Version: der Mörder ein manisch verwirrter Einzelgänger, irgendeinem Dämonismus anhängend, Achtyrzew und Sie als seine zufälligen Opfer. Hier kommen wir so lange nicht weiter, wie keine neuen, vergleichbaren Verbrechen geschehen. Ich habe telegrafisch in allen Gouvernements angefragt, ob ähnliche Fälle bekannt sind. Was ich stark bezweifle. Wenn ein Täter dieser Sorte schon mal aufgetaucht wäre, wüßte ich davon. Der zweite Kreis mit den Buchstaben AB - das ist Amalia Beshezkaja. Sie ist zweifellos verdächtig. Von ihrem Haus aus hätte man Ihnen und Achtyrzew leicht bis ins >Krim< folgen können. Außerdem ist die Verdächtige flüchtig. Das Motiv für den Mord wäre allerdings unklar.«
»Sie ist geflohen, also steckt sie in der Sache drin«, tat Fan- dorin eifrig seine Meinung kund. »Das heißt, der Weißäugige kann kein Einzeltäter sein.«
»Das ist nicht gesagt, durchaus nicht. Wir wissen inzwischen, daß die Beshezkaja unter falschem Namen und mit falschem Paß hier gewohnt hat. Vermutlich eine Abenteurerin. Auf Kosten wohlhabender Gönner lebend. Aber ein Mord, und noch dazu von derart geübter Hand? Ihrem Bericht zufolge haben wir es mit keinem Dilletanten, sondern mit einem hochprofessionellen Mörder zu tun. Dieser Stich in die Leber - das war Maßarbeit, präzise wie von einem Uhrmacher ausgeführt. Ich war im Leichenschauhaus, hab mir den toten Achtyrzew angesehen. Wäre das Korsett nicht gewesen, lägen Sie jetzt neben ihm, und die Polizei glaubte an einen Raubmord oder eine Messerstecherei unter Betrunkenen. Doch zurück zur Beshezkaja. Jemand aus der Clique könnte sie genausogut nachträglich von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt haben, das >Krim< ist ja nur ein paar Minuten zu Fuß von ihrem Haus entfernt. Es gab Aufsehen: jede
Menge Polizei, aufgescheuchte Gaffer. Jemand aus der Dienerschaft, oder von mir aus der Hausknecht, hat den Toten gesehen, in ihm den Abendgast der Beshezkaja erkannt und sie benachrichtigt. Und sie, klug genug, ein polizeiliches Verhör und die unweigerliche Enttarnung abzusehen, taucht sofort unter. Zeit genug hatte sie dafür - Ihr guter Gruschin ist mit der Vorladung erst am nächsten Nachmittag bei ihr aufgetaucht. Ja, ja, ich weiß, Sie hatten die Gehirnerschütterung, sind nicht gleich wieder bei Bewußtsein gewesen. Bis dann der Bericht diktiert war und der Herr Amtsvorsteher sich am Kopf gekratzt hatte . Natürlich habe ich die Beshez- kaja inzwischen zur Fahndung ausschreiben lassen. In Moskau wird sie nicht mehr sein. Ich denke, auch in Rußland nicht mehr - die Sache ist zehn Tage her, das dürfte reichen. Wir sind dabei, eine Liste ihrer Gäste an jenem Abend aufzustellen, doch da es sich hier zumeist um sehr reputierliche Herrschaften handelt, müssen wir diskret vorgehen. Ernsthaft verdächtig erscheint mir nur einer.«
Brilling wies mit seinem Stock in den dritten Kreis, wo die Buchstaben GS standen.
»Graf Surow, Ippolit Alexandrowitsch. Anscheinend ein Geliebter der Beshezkaja. Ein Mann ohne alle moralischen Grundsätze, ein Spieler, Renommist, Possenreißer. Es gibt indirekte Indizien. Er hat das Haus nach dem Streit mit dem später Ermordeten in starker Erregung verlassen - Punkt eins. Er hatte so die Möglichkeit, dem Opfer aufzulauern, zu folgen, den Mörder zu schicken - Punkt zwei. Der Hausknecht hat ausgesagt, Surow sei erst gegen Morgen nach Hause gekommen - Punkt drei. Ein Motiv, wenn auch ein wackliges, wäre ebenso vorhanden: Eifersucht oder krankhafte Rachsucht. Vielleicht kommt noch irgend etwas hinzu. Was hauptsächlich dagegen spricht: Surow ist nicht der
Mann, der für sich morden läßt. Übrigens halten sich laut übereinstimmender Aussagen diverser Detektive immer irgendwelche obskuren Personen in seiner Nähe auf, was die Stichhaltigkeit der Version erhöht. Sie, Fandorin, werden sich also in erster Linie um ihn kümmern. Es gibt eine ganze Gruppe von Agenten, die gegen ihn ermitteln, aber Sie sollen getrost alleine vorgehen, das können Sie gut. Die Einzelheiten Ihrer Mission besprechen wir später, kommen wir erst einmal zum letzten Kreis. Den nehme ich mir persönlich vor.«
Fandorin runzelte die Stirn - er kam nicht darauf, was die Buchstaben NO bedeuten konnten.
»Nihilistische Organisation«, löste der Chef das Rätsel. »Es gibt in dieser Sache einige Anzeichen für eine Verschwörung, nur keine jüdische, sondern etwas viel Handfesteres. Deswegen bin ich im Grunde hierher abkommandiert worden. Wobei freilich auch Fürst Korschakow darum gebeten hat - wie Sie wissen, war Nikolai Achtyrzew der Sohn seiner verstorbenen Tochter. Aber es kann sein, daß die Sache viel komplizierter ist als angenommen. Unsere russischen Revolutionäre stehen vor der Spaltung. Der entschlossenste und ungeduldigste Teil dieser Robespierres ist es leid, den Mitbürger ewig nur aufzuklären - eine mühselige Angelegenheit, und langwierig, ein Leben reicht nicht aus dafür. Bomben, Stiletts und Revolver sind da doch viel spannender. Ich rechne in absehbarer Zeit mit einem Blutvergießen größeren Ausmaßes. Dagegen ist alles Bisherige nur ein Kinderspiel. Der Terror gegen die herrschende Klasse könnte die Massen ergreifen. Seit längerem bin ich in der Dritten Abteilung mit der Aufklärung besonders radikal und konspirativ vorgehender terroristischer Gruppen befaßt. Von meinem Patron, Lawrenti Arkadjewitsch Misinow, der der Dritten Abteilung wie auch der Gendarmerie vorsteht, bekam ich darum den Auftrag zu erkunden, was es mit dem in Moskau aufgetauchten Asasel auf sich hat. Denn der Dämon ist ein äußerst revolutionäres Symbol. Hier steht Rußlands Schicksal auf dem Spiel, mein lieber Fandorin!« Von Brillings bisheriger Spottlust war nichts mehr übrig, Erbitterung schwang in seiner Stimme. »Wenn man das Geschwür nicht schon im Keim extrahiert, zetteln uns diese Romantiker in dreißig Jahren oder früher eine revolution an, gegen die die französische Guillotine ein harmloses Späßchen ist. Die lassen Sie und mich gewiß nicht in Ruhe alt werden, denken Sie an meine Prophezeiung. Haben Sie die >Dämonen< des Herrn Dostojewski gelesen? Das sollten Sie aber. Eine anschauliche Prognose.«
»Vier Versionen also?« fragte Erast Fandorin unschlüssig.
»Zu wenig? Haben wir etwas nicht bedacht? Reden Sie, reden Sie, bei der Arbeit gibt es für mich keine Rangordnungen«, ermunterte ihn der Chef. »Und haben Sie bloß keine Angst, sich lächerlich zu machen - das kommt Ihnen nur aufgrund Ihres Alters so vor. Besser, eine Dummheit zu sagen, als etwas Entscheidendes zu übersehen.«
Fandorin begann verlegen, legte jedoch bald an Inbrunst zu: »Mir scheint, Euer Hoch-. Chef, daß Sie Lady Aster zu früh ausgeklammert haben. Sie ist zwar eine äußerst ehrenwerte und angesehene Person, nur - es geht doch um ein Millionenerbe! Die Beshezkaja hat davon nichts, Graf Surow auch nicht und der Nihilistenklüngel höchstens insofern, daß es dem Gemeinwohl zugute kommt. Ich weiß nicht, was Lady Aster für eine Rolle spielt, vielleicht gar keine, aber der Ordnung halber müßte man . Es gibt doch dieses kriminalistische Grundprinzip: Is fecit, cui prodest - getan hat es der, dem es nützt.«
»Besten Dank für die Übersetzung«, sagte Brilling mit einer Verbeugung, was Fandorin erneut verlegen machte. »Die Anmerkung ist vollkommen korrekt, jedoch hat Ach- tyrzews Darstellung, wie Ihr Bericht sie wiedergibt, alle diesbezüglichen Unklarheiten beseitigt. Der Name der Baronesse Aster ist zufällig ins Spiel gekommen. Ich habe sie in die Liste der Verdächtigen nicht aufgenommen, um erstens kostbare Zeit zu sparen und weil ich zweitens das Glück hatte, dieser Dame hin und wieder zu begegnen, sie also ein wenig kenne.« Brilling zeigte ein freundliches Lächeln. »Aber im Grunde haben Sie recht, Fandorin. Ich will Ihnen meine Schlüsse keinesfalls aufzwingen. Sie haben selbst einen Kopf zum Denken und müssen niemandem unbesehen glauben. Statten Sie der Baronesse einen Besuch ab, fragen Sie sie, was immer Sie für nötig erachten. Ich bin sicher, daß die Bekanntschaft Ihnen zu alledem auch einiges Vergnügen bereiten wird. Im Munizipal-Amt erfahren Sie Lady Asters Moskauer Adresse. Noch etwas: Lassen Sie sich, bevor Sie nach Hause gehen, in der Kleiderkammer Maß nehmen. Ich möchte, daß Sie nicht länger in Uniform zum Dienst erscheinen. Der Baronesse meine Empfehlung. Und wenn Sie dann um einiges klüger zurückkommen, machen wir uns an die Arbeit. Graf Surow wartet auf Sie.«