13 Unter dem Staub

Nynaeve fragte sich, ob sie ihren Zopf ausflechten solle, während sie unter einem rotgestreiften Handtuch hervor ihr Kleid und den Unterrock anschaute, die über Stuhllehnen hingen und auf die sauber gefegten Bohlen des Fußbodens tropften. Ein weiteres um sie gewickeltes Handruch, grün und weiß gestreift und um einiges größer als das andere, diente ihr im Moment als Bekleidung. »Jetzt wissen wir also, daß auch ein Schock nichts hilft«, grollte sie Theodrin an, und sofort mußte sie aufstöhnen. Ihr Unterkiefer schmerzte, und ihre Wange brannte noch immer. Theodrin hatte schnelle Reflexe und einen kräftigen Arm. »Ich kann jetzt gerade die Macht lenken, aber für einen Augenblick war vorhin Saidar das allerletzte, was ich im Sinn hatte.« In jenem durchnäßten Moment des Nach-Luft-Schnappens, als sie die Gedanken flohen und der reine Instinkt durchbrach.

»Dann benützt die Macht, um Eure Sachen zu trocknen«, knurrte Theodrin.

Nynaeves Kinn schmerzte gleich nicht mehr so sehr, als sie beobachtete, wie Theodrin in eine dreieckige Spiegelscherbe blickte und nach ihrem Auge fühlte.

Die Haut wirkte bereits leicht geschwollen, und Nynaeve erwartete, daß sich dies zu einem ausgesprochen auffallenden Blauen Auge entwickeln werde, falls es nicht behandelt wurde. Ihr Arm war keineswegs so schwächlich, und ein Blaues Auge hatte Theodrin allemal verdient!

Vielleicht war die Domani der gleichen Ansicht, denn sie seufzte: »Das versuche ich nicht noch einmal. Aber wie auch immer, ich werde Euch beibringen, Euch Saidar zu öffnen, ohne vorher so wütend zu sein, daß Ihr statt dessen die Macht beißen könntet.«

Nynaeve blickte mit finsterer Miene auf ihre durchnäßte Kleidung und überlegte eine Weile. Sie hatte noch nie so etwas unternommen. Ihre Hemmung, Alltagsarbeiten mit Hilfe der Macht zu erledigen, war sehr stark ausgeprägt, und das aus gutem Grund. Saidar war verführerisch. Je mehr man die Macht benützte, desto häufiger wollte man sie benützen, und desto größer war die Gefahr, eines Tages zuviel an sich zu reißen und sich damit umzubringen oder auszubrennen. Die Süße der Wahren Quelle erfüllte sie mittlerweile ganz und gar. Dafür hatte Theodrins Eimer Wasser gesorgt, obwohl die restliche Arbeit des Vormittags vergebens gewesen war. Ein simples Gewebe aus dem Element Wasser zog alle Feuchtigkeit aus ihrer Kleidung und ließ sie auf den Boden plätschern, wo sie sich in Form einer immer größer werdenden Pfütze ausbreitete und das ergänzte, was von Theodrins Eimerladung noch übrig war.

»Ich ergebe mich eben nicht so schnell«, sagte sie.

Es sei denn, ein Kampf wäre aussichtslos. Nur ein Narr machte weiter, wenn er gar keine Chance mehr hatte. Sie konnte unter Wasser nicht atmen, sie konnte nicht fliegen, indem sie mit den Armen ruderte, und sie konnte die Macht nicht benützen, wenn sie nicht wütend war.

Theodrin wandte ihren finsteren Blick von der Pfütze ab und Nynaeve zu und stemmte die Fäuste entschlossen in die schmalen Hüften. »Das ist mir nur zu bewußt«, sagte sie in etwas zu ruhigem Tonfall. »Allen Lehrmeinungen nach solltet Ihr überhaupt nicht in der Lage sein, die Macht zu lenken. Mir hat man beigebracht, ich müsse ruhig sein, um mit der Macht zu arbeiten, innerlich kühl und ernst, offen und absolut empfangsbereit.« Das Glühen Saidars umgab sie und Stränge aus Wasser zogen die Pfütze zu einer Wasserkugel zusammen, die völlig deplaziert auf dem Boden lag. »Ihr müßt Euch der Macht ergeben, bevor Ihr sie lenken könnt. Aber bei Euch, Nynaeve... So sehr Ihr Euch auch bemüht, Euch hinzugeben — und ich habe wohl bemerkt, daß Ehr Euch bemüht —klammert Ihr Euch doch fest, bis Ihr wütend genug seid, um Euren Instinkt zu überwinden,« Stränge aus Luft hoben die wabbelnde Wasserkugel hoch. Einen Augenblick lang glaubte Nynaeve, die Frau wolle die Kugel nach ihr werfen, doch dann schwebte sie quer durch das Zimmer und zu dem geöffneten Fenster hinaus. Es gab ein gewaltiges Platschen, als sie auf dem Boden aufschlug, und eine Katze jaulte überrascht auf. Vielleicht galten alle Einschränkungen nicht mehr, wenn man sich auf Theodrins Stufe befand.

»Warum belaßt Ihr es nicht einfach dabei?« Nynaeve bemühte sich, in heiterem Plauderton zu sprechen, aber das klang auch in ihren Ohren nicht ganz echt. Sie wollte schließlich die Macht gebrauchen können, wann immer sie es wünschte. Aber wie schon das Sprichwort sagt: ›Wenn Wünsche Flügel wären, könnten auch Schweine fliegen. ‹ »Es ist überflüssig, soviel Energie zu verschwenden...«

»Hört auf damit«, sagte Theodrin, als Nynaeve versuchte, das Wassergewebe bei ihrem Haar anzuwenden, um es zu trocknen. »Laßt Saidar fahren und es auf natürliche Art trocknen. Und zieht Euch wieder an,«

Nynaeve kniff die Augen zusammen. »Ihr habt doch wohl nicht noch eine Überraschung für mich, oder?«

»Nein. Nun fangt an, Euren Geist vorzubereiten. Ihr seid eine Blütenknospe, die die Wärme der Quelle spürt und sich bereitmacht, sich der Quelle zu öffnen. Saidar ist der Fluß, und Ihr seid das Ufer. Der Fluß ist mächtiger als das Ufer, doch das Ufer hält und leitet ihn. Entleert Euren Geist bis auf die Knospe. Nichts ist mehr in Euren Gedanken als diese Knospe. Ihr seid die Knospe...«

Nynaeve zog den Unterrock über den Kopf und seufzte, als Theodrins Stimme mit ihrem hypnotischen Gemurmel fortfuhr. Übungen für Novizinnen. Falls die bei ihr irgendwelche Wirkung hätten, wäre sie schon lange in der Lage, die Macht nach Belieben zu benützen. Sie sollte damit aufhören und lieber das tun, wozu sie in der Lage war, wie beispielsweise Elayne zu überzeugen, daß sie nach Caemlyn mußten. Aber andererseits wünschte sie sich, daß Theodrin recht behalten werde, und wenn sie dazu auch zehn Eimer voll Wasser benötigte. Aufgenommene liefen nicht davon und widerstrebten auch nicht. Sie haßte es noch mehr, wenn man ihr sagte, was sie nicht vollbringen konnte, als zu hören, was sie zu tun habe.

Stunden vergingen. Mittlerweile saßen sie sich an einem Tisch gegenüber, der wirkte, als entstamme er der Ruine eines Bauernhauses. In diesen Stunden hatten sie endlose Übungen absolviert, die vermutlich zur gleichen Zeit von Novizinnen vollbracht wurden. Die Blütenknospe und das Ufer. Die Sommerbrise und der plätschernde Bach. Nynaeve versuchte, sich in einen Löwenzahnsamen zu versetzen, der im Wind umhertrieb, in die Erde, die den Frühlingsregen in sich aufsog, und in eine Wurzel, die sich durch den Boden grub. Alles ohne Wirkung, jedenfalls ohne die Wirkung, auf die Theodrin hoffte. Sie schlug sogar vor, Nynaeve solle sich vorstellen, in den Armen eines Liebhabers zu liegen, was sich als katastrophal herausstellte, da sie wieder an Lan denken mußte, und wie konnte er es wagen, auf diese Weise zu verschwinden! Doch jedesmal, wenn die Verbitterung den Zorn auslöste wie eine heiße Kohle das Feuer im trockenen Gras und damit Saidar für sie erreichbar machte, befahl Theodrin ihr loszulassen, und dann begann sie erneut auf ihre beruhigende, kühle Art. Die sture Weise, auf die diese Frau ihrem Ziel zustrebte, machte sie verrückt. Nynaeve hatte das Gefühl, sie könne selbst Mauleseln noch lehren, störrisch zu sein. Sie zeigte niemals Unwillen und ihre ernste Würde war schon eine Kunstform für sich. Nynaeve hätte gern einen Eimer Wasser über ihren Kopf geleert, um zu sehen, wie ihr das gefiel. Allerdings mußte sie dabei an den Schmerz in ihrem Kiefer denken, und dann kam ihr die Idee doch nicht mehr so gut vor.

Theodrin heilte den Kiefer mit Hilfe der Macht, bevor Nynaeve ging. Das war annähernd die Obergrenze der Heilerfähigkeiten der Aes Sedai. Einen Moment später half Nynaeve dann auch ihr. Theodrins Auge hatte sich leuchtend rotblau verfärbt, und eigentlich hätte sie ihr das lieber als Warnung gelassen, damit sie sich in Zukunft überlegte, was sie tat, aber nun mußte sie sich wohl oder übel revanchieren. Theodrins Aufstöhnen, als die Stränge aus Geist, Luft und Wasser ihren Körper durchdrangen, war durchaus eine Genugtuung. Schließlich hatte sie ganz gewaltig nach Luft schnappen müssen, als die Domani ihr den Eimer Wasser über den Kopf geleert hatte. Natürlich durchlief auch sie ein Schauder während der Heilung, aber man konnte eben nicht alles haben.

Draußen war die Sonne bereits auf halbem Weg zum westlichen Horizont. Ein Stück weit die Straße hinunter durchlief eine Welle von Verbeugungen und Knicksen die Menge der Passanten, und dann öffnete sich das gedrängte Durcheinander, und Tarna Feir erschien.

Sie glitt dahin wie eine Königin durch einen Schweinestall und hatte die rotgefranste Stola wie ein leuchtendes Banner um die Oberarme geschlungen. Selbst auf fünfzig Schritt Entfernung war ihre Haltung eindeutig zu erkennen, so, wie sie den Kopf hielt und ihren Rock hochraffte, damit er den Straßenstaub nicht berührte, und wie sie sogar jene nicht beachtete, die vor ihr knicksten, als sie vorbeischritt. Am ersten Tag waren es noch viel weniger Knickse gewesen und viel mehr feindselige Blicke, doch eine Aes Sedai war eine Aes Sedai, jedenfalls bei den Schwestern in Salidar. Um das zu unterstreichen, waren mittlerweile zwei Aufgenommene, fünf Novizinnen und beinahe ein Dutzend Diener und Dienerinnen in ihrer Freizeit bei der Arbeit, Küchenabfälle und die Inhalte von Nachttöpfen zum Wald hinauszukarren und dort zu vergraben.

Als sich Nynaeve wegschlich, um von Tarna nicht gesehen zu werden, grollte ihr Magen so laut, daß ihr ein vorbeischreitender Kerl mit einem Korb Zwiebeln auf dem Rücken einen erstaunten Blick zuwarf. Sie hatten das Frühstück versäumt, als Elayne versucht hatte, das Wachgewebe zu durchdringen, und das Mittagessen war nach Theodrins Übungen längst vorüber. Und die Frau hatte ihr heute noch nicht genug angetan. Nach Theodrins Anweisungen durfte sie nämlich heute nacht nicht schlafen. Vielleicht würde die Erschöpfung das vollbringen, was ein plötzlicher Schreck nicht ausgelöst hatte. Jeder Block kann durchbrochen werden, hatte Theodrin mit ungebrochenem Selbstvertrauen in der Stimme verkündet, und ich werde Euren durchbrechen. Es muß nur ein einziges Mal geschehen. Nur einmal ohne Zorn mit Saidar arbeiten, und die Macht ist Euer!

Im Augenblick jedoch wollte Nynaeve nur eines, nämlich etwas zum Essen. Die Küchenmägde waren bereits beim Aufräumen und beinahe fertig, doch der Duft nach Hammeleintopf und Schweinebraten, der noch in den Küchenräumen hing, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie mußte sich allerdings mit zwei armseligen Äpfeln, einem Brocken Ziegenkäse und einem harten Stück Brot zufriedengeben. Der Tag wurde auch nicht besser.

In ihr Zimmer zurückgekehrt, fand sie Elayne vor, die der Länge nach ausgestreckt auf ihrem Bett lag. Die jüngere Frau blickte sie an, ohne den Kopf zu heben, rollte kurz mit den Augen und sah wieder zu dem rissigen Verputz der Decke hoch. »Ich habe einen furchtbaren Tag hinter mir, Nynaeve«, seufzte sie. »Escaralde besteht darauf, einen Ter'Angreal herstellen zu wollen, obwohl sie nicht die Kraft dazu hat, und Varilin hat irgend etwas angestellt — ich weiß nicht, was — und der Stein, mit dem sie arbeitete, verwandelte sich in eine ... nun, man kann es nicht ganz als Flammenkugel bezeichnen, aber ... und das in ihren Händen. Wäre Dagdara nicht gewesen, wäre sie meiner Meinung nach gestorben, denn niemand sonst unter uns Anwesenden konnte sie heilen, und die Zeit reichte nicht aus, um jemanden herbeizurufen. Und dann habe ich über Marigan nachgedacht. Wenn wir schon nicht lernen können, festzustellen, ob ein Mann die Macht benützt hat, können wir vielleicht aufspüren, was er getan hat! Ich glaube mich erinnern zu können, daß Moiraine diese Möglichkeit erwähnt hat. Ich bilde es mir zumindest ein. Jedenfalls habe ich darüber nachgegrübelt, und dann berührte mich jemand an der Schulter und ich schrie, als habe man mich mit einer Nadel gestochen. Dabei war es nur irgendein armer Fuhrmann, der mich wegen eines dieser törichten Gerüchte fragen wollte. Ich habe ihn so erschreckt, daß er fast weggerannt wäre.«

Endlich holte sie Luft, und Nynaeve gab die Absicht auf, der Frau ihren letzten Apfelbutzen an den Kopf zu werfen; statt dessen fragte sie schnell in die momentane Stille hinein: »Wo steckt Marigan?«

»Sie war mit Putzen und Aufräumen fertig — hat sich ganz schön Zeit damit gelassen — und ich habe sie auf ihr Zimmer geschickt. Ich trage schließlich noch das Armband. Schau!« Sie hob ihren Arm kurz und ließ ihn wieder auf die Matratze fallen, doch ihr Redeschwall verringerte sich keineswegs. »Sie hat wieder so furchtbar gewinselt, wir müßten unbedingt nach Caemlyn gehen, und das konnte ich keine Minute länger ertragen, schon gar nicht nach all den anderen Strapazen. Mein Unterricht bei den Novizinnen war eine einzige Katastrophe. Diese furchtbare Keatlin — die mit der langen Nase — hat immer wieder gemeckert, zu Hause habe sie sich niemals von einem Mädchen herumkommandieren lassen, und Faolain kam herbeistolziert und wollte wissen, wieso Nicola in meinem Unterricht sei — wie konnte ich denn ahnen, daß Nicola für sie Botengänge machen sollte? — und dann entschloß sich Ibrella, auszuprobieren, wieviel Feuer sie bereits erzeugen könne, und beinahe hätte sie die ganze Gruppe versengt, und Faolain hat mich vor versammelter Klasse heruntergeputzt, daß ich bei meinen Schülerinnen keine Disziplin halten könne, und Nicola sagte daraufhin, sie...«

Nynaeve gab die Versuche auf, auch einmal etwas einzuwerfen — vielleicht hätte sie doch den Apfelbutzen werfen sollen — und schrie einfach nur: »Ich denke, Moghedien hat recht!«

Dieser Name verschloß augenblicklich den Mund. Sie setzte sich mit weit aufgerissenen Augen auf. Nynaeve sah sich unwillkürlich um, ob auch niemand gelauscht hatte, obwohl sie sich in ihrem Zimmer befanden.

»Das ist töricht, Nynaeve!«

Nynaeve wußte nicht, ob Elayne ihren Vorschlag meinte oder die Tatsache, daß sie Moghediens Namen laut ausgesprochen hatte. Sie hatte auch nicht vor nachzufragen. So setzte sie sich Elayne gegenüber auf ihr eigenes Bett und zupfte ihren Rock zurecht. »Nein, ist es nicht. Jeden Tag könnten Jaril und Seve bei jemandem ausplaudern, daß Marigan gar nicht ihre Mutter ist, falls das nicht schon geschehen ist. Bist du bereit, die Fragen zu beantworten, die daraufhin kommen werden? Ich nicht. Jeden Tag könnte es geschehen, daß irgendeine Aes Sedai Nachforschungen anstellt wieso ich etwas entdecken oder erfinden kann, ohne von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang wütend zu sein. Jede zweite Aes Sedai, mit der ich spreche, erwähnt das, und Dagdara hat mich in letzter Zeit so eigenartig angesehen. Außerdem werden sie gar nichts unternehmen! Sie haben lediglich vor, hier herumzusitzen. Außer, sie entschließen sich, zur Burg zurückzukehren. Ich habe mich angeschlichen und belauscht, wie Tarna mit Sheriam sprach .„«

»Was hast du?«

»Ich habe mich angeschlichen und gelauscht«, sagte Nynaeve gelassen. »Die Botschaft an Elaida lautet, sie benötigten mehr Zeit, um es sich zu überlegen. Das heißt, sie überlegen es sich zumindest, ob sie die Sache mit Logain und den Roten Ajah vergessen sollen. Wie sie das fertigbringen, weiß ich nicht, aber es muß wohl so sein. Wenn wir noch länger hierbleiben, kann es sein, daß sie uns Elaida als Geschenkpaket schicken. Wenn wir jetzt gehen, können wir Rand wenigstens sagen, er soll nicht damit rechnen, daß ihn irgendwelche Aes Sedai unterstützen werden. Wir können ihm raten, keiner Aes Sedai zu trauen.«

Elayne legte die hübsche Stirn in Falten und setzte sich auf dem Bett zurecht. »Wenn sie es sich noch überlegen, bedeutet das, sie haben sich noch nicht entschieden. Ich bin der Meinung, wir sollten bleiben. Möglicherweise können wir mithelfen, sie auf den richtigen Weg zu fuhren. Und außerdem, falls du Theodrin nicht zum Mitkommen überreden willst, verschenkst du die Chance, deinen Block jemals zu brechen.«

Nynaeve ignorierte das letztere. Toll, was Theodrin bisher vollbracht hatte. Eimer voll Wasser. Kein Schlaf heute nacht. Was würde als nächstes kommen? Die Frau hatte doch bereits zugegeben, daß sie alles, aber auch alles ausprobieren werde, bis sie das Mittel fand, das zum Erfolg führte. Alles, aber auch alles, schloß für Nynaeves Geschmack ein wenig zuviel ein. »Auf den richtigen Weg führen? Sie werden nicht auf uns hören. Selbst Siuan hört kaum auf uns, und wenn sie uns auch am Wickel hat, haben wir sie wenigstens ein Stückchen zu packen bekommen.«

»Ich bin aber immer noch der Meinung, wir müssen bleiben! Wenigstens so lange, bis der Saal die Entscheidung fällt. Wenn wirklich das Schlimmste eintrifft, können wir Rand eine Tatsache mitteilen und keine bloße Vermutung.«

»Und wie sollen wir das herausfinden? Wir können nicht damit rechnen, daß ich ein zweites Mal das richtige Fenster zum Lauschen finde. Sollten wir warten, bis sie ihre Entscheidung bekanntgeben, stehen wir vielleicht schon unter Bewachung. Jedenfalls ich. Es gibt keine Aes Sedai, die nicht wüßte, daß Rand und ich aus Emondsfeld stammen.«

»Siuan sagt uns Bescheid, bevor irgend etwas verkündet wird«, sagte Elayne ruhig. »Du glaubst doch wohl nicht, sie und Leane würden demütig zu Elaida zurückkriechen, oder?«

Das war ein Argument. Elaida würde Siuan und Leane enthaupten lassen, bevor sie auch nur knicksen konnten. »Wir müssen trotzdem Jaril und Seve beachten«, beharrte sie.

»Wir lassen uns etwas einfallen. Auf jeden Fall sind sie nicht die ersten Flüchtlingskinder, die von jemandem betreut werden, die nicht mit ihnen verwandt ist.« Elayne hielt ihr durch Grübchen gekennzeichnetes Lächeln vermutlich für beruhigend. »Wir müssen uns lediglich darauf konzentrieren. Und wir sollten in jedem Fall warten, bis Thom aus Amadicia zurück ist. Ich kann ihn nicht zurücklassen.«

Nynaeve hob resigniert beide Hände. Falls das Aussehen ein Spiegelbild des Charakters wäre, müßte Elayne wie ein in Stein gehauener Maulesel aussehen. Das Mädchen hatte aus Thom Merrilin einen Ersatz für den Vater gemacht, den sie verloren hatte, als sie noch klein war. Manchmal schien sie außerdem zu glauben, er könne nicht einmal den Eßtisch finden, wenn sie ihn nicht bei der Hand nahm.

Die einzige Vorwarnung, die Nynaeve erhielt, war das Gefühl, in ihrer Nähe werde Saidar benützt, dann schlug die Tür vor einem Strang aus Luft auf, und Tarna Feir trat in das Zimmer. Nynaeve und Elayne sprangen auf. Eine Aes Sedai war nun einmal eine Aes Sedai, und einige von denen, die draußen die Abfälle vergruben, taten das ausschließlich auf Tarnas Geheiß.

Die blonde Rote Schwester musterte sie eingehend. Ihr Gesicht wirkte arrogant wie Marmor im Winter. »Aha. Ehe Königin von Andor und die verkrüppelte Wilde.«

»Noch nicht, Aes Sedai«, erwiderte Elayne in kühler Höflichkeit. »Nicht vor meiner Krönung im Großen Saal. Und auch dann nur, falls meine Mutter tot ist«, fügte sie hinzu.

Tarnas Lächeln hätte einen Schneesturm zum Gefrieren gebracht. »Selbstverständlich. Sie haben sich bemüht, Eure Anwesenheit geheimzuhalten, aber die Gerüchte breiten sich doch aus.« Ihr Blick überflog die schmalen Betten und den schiefen Hocker, die Kleider an den Wandhaken und den rissigen Verputz. »Ich dachte aber doch, Ihr hättet ein besseres Quartier, wenn man bedenkt, welch wundervolle Dinge Ihr vollbracht habt. Wärt Ihr in der Weißen Burg, wo Ihr hingehört, würde es mich nicht überraschen, wenn man Euch mittlerweile die Prüfung für die Stola ablegen ließe.«

»Dankeschön«, sagte Nynaeve, um zu zeigen, daß sie genauso höflich sein konnte wie Elayne. Tarna blickte sie an. Gegen diese blauen Augen wirkte der Rest dieses Gesichts geradezu warm. »Aes Sedai«, fügte Nynaeve hastig hinzu.

Tarna wandte sich wieder Elayne zu. »Die Amyrlin hat Euch und Andor ganz besonders ins Herz geschlossen. Sie hat eine solch ausgedehnte Suchaktion nach Euch befohlen, daß Ihr es kaum glauben würdet. Ich weiß, daß es ihr große Freude bereitete, kämt Ihr mit mir nach Tar Valon zurück.«

»Mein Platz ist hier, Aes Sedai.« Elaynes Stimme klang immer noch freundlich, aber sie hatte das Kinn oben, als wolle sie Tarnas Unnahbarkeit nachahmen. »Ich werde zur Burg zurückkehren, wenn es die anderen tun.«

»So, so«, sagte die Rote teilnahmslos. »Also gut. Verlaßt uns jetzt. Ich wünsche, mit der Wilden unter vier Augen zu sprechen.«

Nynaeve und Elayne tauschten einen Blick, doch es blieb Elayne nichts anderes übrig, als zu knicksen und hinauszugehen.

Als sich die Tür schloß, überkam Tarna eine eigenartige Wandlung. Sie setzte sich auf Elaynes Bett, zog die Beine hoch und schlug sie übereinander, lehnte sich an das splittrige Kopfbrett und faltete die Hände im Schoß. Ihre Miene taute auf und sie lächelte sogar ein wenig. »Ihr wirkt nervös. Das ist nicht notwendig. Ich beiße Euch nicht.«

Nynaeve hätte das eher glauben können, hätten auch die Augen der Frau ihren Ausdruck verändert. Das Lächeln berührte sie nicht im geringsten, und der Kontrast ließ sie nun noch härter erscheinen, hundertmal so kalt. Diese Kombination jagte ihr einen Schauer den Rücken hinab. »Ich bin nicht nervös«, sagte sie tapfer und stellte die Füße fest auf den Boden, damit ihre Knie nicht zitterten.

»Ach. Beleidigt, oder? Warum? Weil ich Euch als ›Wilde‹ bezeichnet habe? Ihr müßt wissen, daß auch ich eine Wilde war. Galina Casban persönlich hat meinen Block gebrochen. Sie kannte meine künftige Ajah lange vor mir selbst und hat sich für mich eingesetzt. Das tut sie immer, wenn sie glaubt, eine Frau werde die Roten Ajah erwählen.« Sie schüttelte lachend den Kopf, doch ihre Augen stachen wie gefrorene Messer. »Die Stunden, in denen ich heulte und weinte, bevor ich Saidar berühren konnte, ohne die Augen zu schließen. Man kann nicht weben, wenn man die Stränge nicht sieht. Wie ich hörte, gebraucht Theodrin bei Euch sanftere Methoden.«

Nynaeve trat unwillkürlich von einem Fuß auf den anderen. Theodrin würde doch sicher nicht zu solchen Maßnahmen greifen? Bestimmt nicht. Sie versteifte ihre Knie, aber das ließ das Flattern in ihrem Bauch nicht erlahmen. Also durfte sie nicht beleidigt sein, oder? Sollte sie auch das ›Verkrüppelt‹ unbeachtet lassen? »Worüber wolltet Ihr mit mir sprechen, Aes Sedai?«

»Die Amyrlin möchte Elayne in Sicherheit wissen, aber in gewisser Weise seid Ihr genauso wichtig. Vielleicht noch wichtiger Was in Eurem Kopf in bezug auf Rand al'Thor schlummert, könnte sich als unschätzbar erweisen. Und das, was Egwene al'Vere weiß. Habt Ihr eine Ahnung, wo sie sich aufhält?«

Nynaeve hätte sich gern den Schweiß vom Gesicht gewischt, doch sie zwang ihre Hände zur Ruhe. »Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen, Aes Sedai.« Es war schon Monate her, seit sie sich zum letzten Mal in Tel'aran'rhiod getroffen hatten. »Darf ich fragen, was...« Niemand in Salidar bezeichnete Elaida als die Amyrlin, aber sie sollte wohl dieser Frau gegenüber die Höflichkeit wahren. »...die Amyrlin in bezug auf Rand zu unternehmen gedenkt?«

»Gedenkt, Kind? Er ist der Wiedergeborene Drache. Das weiß die Amyrlin auch, und sie gedenkt, ihm alle Ehren zuteil werden zu lassen, die ihm gebühren.« Eine Andeutung von Eindringlichkeit schlich sich in Tarnas Stimmen. »Denkt doch nach, Kind. Die hier werden zur Herde zurückkehren, sobald ihnen einmal dämmert, was sie da wirklich tun, doch inzwischen könnte sich jeder Tag als lebenswichtig herausstellen. Dreitausend Jahre lang hat die Burg Herrscher angeleitet; ohne sie hätte es mehr und noch schlimmere Kriege gegeben. Wenn al'Thor diese Führung nicht erhalt, steht die Welt vor einer großen Katastrophe. Aber man kann nicht führen, was man gar nicht kennt, genausowenig, wie ich die Macht gebrauchen kann, wenn ich die Augen schließe. Das Beste für ihn wäre, wenn Ihr mit mir zurückreist und Eure Kenntnisse über ihn der Amyrlin zuteil werden laßt, und zwar jetzt — nicht erst in Wochen oder Monaten. Das wäre auch für Euch selbst das beste. Hier könnt Ihr nicht zur Aes Sedai erhoben werden. Die Eidesrute befindet sich in der Burg. Die Prüfung kann nur in der Burg stattfinden.«

Der Schweiß rann Nynaeve in die Augen, doch sie widerstand dem Drang zu blinzeln. Glaubte die Frau etwa, sie ließe sich bestechen? »Um die Wahrheit zu sagen, habe ich nie viel Zeit mit ihm verbracht. Seht Ihr, ich habe im Dorf gewohnt und er auf einem Bauernhof im Westwald. Er machte den Eindruck eines Jungen, der niemals auf Vernunft hören wollte. Man mußte ihn zu dem drängen, was er tun sollte, oder ihn aber dazu herschleifen. Sicher, damals war er nur ein Junge. Nach alledem zu schließen, was ich weiß, könnte er sich geändert haben. Die meisten Männer sind wohl nur übergroße Jungen, aber er könnte sich geändert haben.«

Eine Weile lang sah Tarna sie lediglich an, und das mit diesem eisigen Blick. »Aha«, sagte sie schließlich und stand mit einer so geschmeidigen Bewegung auf, daß Nynaeve beinahe zurückgetreten wäre, obwohl in dieser winzigen Kammer gar kein Platz war, um auch nur einen Schritt rückwärts zu tun. Dieses beunruhigende Lächeln lag immer noch auf den Zügen der anderen Frau. »Welche eigenartige Gruppe von Menschen, die hier versammelt ist. Ich habe keine von beiden zu Gesicht bekommen, aber wie ich hörte, beehren Siuan Sanche und Leane Sharif Salidar mit ihrer Anwesenheit. Nicht gerade die Sorte von Mensch, mit der eine weise Frau verkehren sollte. Und dann vielleicht auch noch andere außergewöhnliche Leute? Es wäre wirklich besser für Euch, Ihr kämt mit mir. Ich reise am Morgen ab. Laßt mich heute abend wissen, ob ich Euch an der Straße erwarten soll.«

»Ich fürchte... «

»Denkt darüber nach, Kind. Dies könnte sich als die wichtigste Entscheidung Eures Lebens erweisen. Überlegt es Euch sehr genau.« Die liebenswürdige Maske verschwand, und Tarna rauschte aus dem Zimmer.

Nynaeve gaben die Knie nach, und sie sank auf ihr Bett. Die Frau löste einen derartigen Sturm der Gefühle in ihr aus, daß sie nicht wußte, wie sie all das bewältigen sollte. Nervosität und Zorn rangen in ihr mit einer überschäumenden Freude. Sie wünschte, die Rote habe Gelegenheit, sich irgendwie mit den Aes Sedai in der Burg zu verständigen, die nach Rand suchten. Oh, wie gern wäre sie eine Fliege an der Wand, wenn sie versuchten, ihre angebliche Einschätzung Rands gegen ihn zu benützen. Versuchte doch glatt, sie zu bestechen! Versuchte auch noch, sie einzuschüchtern! Und hatte auch noch recht guten Erfolg damit gehabt. Tarna war sich so sicher, daß die Aes Sedai schließlich vor Elaida die Knie beugen würden. Für sie schien das beschlossene Sache, und nur der Zeitpunkt stellte eine Unsicherheit dar. Und war das eine Andeutung in bezug auf Logain gewesen? Nynaeve vermutete, Tarna wisse erheblich mehr über Salidar, als die Burg oder Sheriam ahnten. Möglicherweise besaß Elaida hier Anhänger.

Nynaeve erwartete jeden Moment Elaynes Rückkehr, doch als eine halbe Stunde vorüber war, ohne daß sie erschien, machte sie sich auf die Suche nach ihr. Zuerst schritt sie die Straßen ruhig ab, doch bald trabte sie voran, brach aber gelegentlich ab, um auf die Deichsel eines Karrens zu steigen oder auf ein umgestülptes Faß oder einen steinernen Begrenzungspfosten, und spähte über die Köpfe der Menge hinweg. Die Sonne war schon so tief gesunken, daß sie bereits dicht über den Baumwipfeln stand, als sie schließlich unter mürrischen Selbstgesprächen zu ihrem Zimmer zurückstolzierte. Dort fand sie Elayne vor, die offensichtlich gerade angekommen war.

»Wo bist du gewesen? Ich habe schon geglaubt, Tarna hätte dich irgendwo verschnürt hinterlassen!«

»Ich habe die hier von Siuan geholt.« Elayne öffnete die Faust. Zwei der verdrehten Steinringe lagen in ihrer Hand.

»Ist einer davon der echte? Es war eine gute Idee, sie zu holen, aber du hättest versuchen sollen, den echten mitzubringen.«

»Ich habe meine Meinung nicht geändert, Nynaeve. Ich bin immer noch der Meinung, wir sollten hierbleiben.«

»Tarna...«

»Hat mich nur um so mehr darin bestärkt. Sollten wir gehen, dann werden Sheriam und der Saal mit Gewißheit die Einheit der Burg über Rand stellen. Ich weiß das einfach.« Sie legte die Hände auf Nynaeves Schultern, und Nynaeve ließ sich von ihr auf das Bett hinunterdrücken. Elayne setzte sich ihr gegenüber und beugte sich eindringlich nach vorn. »Erinnerst du dich daran, was du mir gesagt hast, wenn man ein starkes Bedürfnis benutzt, um in Tel'aran'rhiod etwas Bestimmtes aufzuspüren? Was wir brauchen, ist eine Methode, den Saal davon zu überzeugen, daß sie nicht zu Elaida zurückkehren dürfen.«

»Aber wie? Wenn Logain dazu nicht ausreicht...«

»Wir werden wissen, was es ist, wenn wir es finden«, sagte Elayne mit Entschlossenheit in der Stimme.

Nynaeve fühlte geistesabwesend nach ihrem unterarmdicken Zopf. »Bist du bereit wegzugehen, falls wir nichts finden? Mir gefällt der Gedanke daran nicht gerade, hier herumzusitzen, bis sie sich entschließen, uns unter Bewachung zu stellen.«

»Ich bin einverstanden, daß wir abreisen, vorausgesetzt du bist einverstanden, daß wir hierbleiben, falls wir etwas Nützliches finden. Nynaeve, so gern ich ihn auch Wiedersehen möchte — wir können hier mehr ausrichten!«

Nynaeve zögerte, bevor sie schließlich knurrte: »Einverstanden.« Es schien kein großes Risiko zu sein. Ohne die geringste Ahnung, was sie eigentlich suchen sollten, konnte sie sich nicht vorstellen, etwas zu finden.

Wenn der Tag zuvor bereits voranzuschleichen schien, dann kroch er jetzt nur noch vorwärts. Sie stellten sich an einer der öffentlichen Küchen an, um Teller mit Schinkenscheiben, Zwiebeln und Erbsen zu erhalten. Es schien ihnen, als ruhe die Sonne stundenlang auf den Baumwipfeln. Die meisten Einwohner Salidars gingen mit der Sonne ins Bert, doch in den Fenstern leuchteten ein paar Lichter auf, vor allem in denen des größten Gebäudes. Der Saal gab heute abend ein Festbankett für Tarna. Fetzen von Harfenklängen trieben gelegentlich von der früheren Schenke herüber. Die Aes Sedai hatten unter den Soldaten einen mehr oder weniger guten Harfner aufgetrieben, ihn rasieren lassen und in eine Art Livree gesteckt. Menschen, die an der Schenke vorüberschritten, warfen kurze Blicke hinüber, bevor sie weiterhasteten, oder sie ignorierten das Gebäude so betont, daß sie vor Anstrengung fast schon bebten. Wieder einmal stellte Gareth Bryne die große Ausnahme dar. Er nahm seine Mahlzeit im Sitzen auf einer Holzkiste mitten auf der Straße ein.

Jede aus dem Saal, die durch eines der Fenster blickte, mußte ihn sehen. Langsam, unendlich langsam glitt die Sonne hinter die Bäume. Die Dunkelheit kam plötzlich, fast ohne nennenswerte Dämmerung, und die Straßen leerten sich. Das Lied des Harfners begann wieder von vorn. Immer noch saß Gareth Bryne auf seiner Kiste im Lichtschein vom Bankettsaal her. Nynaeve schüttelte den Kopf. Sie wußte nicht, ob sie ihn für einen Draufgänger oder für einen Narren halten sollte. Er hatte wohl von beidem etwas an sich, wie sie vermutete.

Erst, als sie im Bett lag, mit dem gesprenkelten, steinernen Ter'Angreal an der gleichen Kordel am Hals wie den schweren, goldenen Siegelring Lans, und als die Kerze ausgeblasen war, erinnerte sie sich wieder an Theodrins Anweisungen. Na ja, dafür war es nun zu spät. Theodrin würde ohnehin nicht erfahren, ob sie schlief oder nicht. Wo mochte Lan nur stecken?

Elaynes Atmen verlangsamte sich. Nynaeve kuschelte sich mit einem leichten Seufzer an ihr kleines Kopfkissen, und...

...dann stand sie am Fuß ihres leeren Betts und erblickte eine durchscheinende Elayne im diffusen Lichtschein der Nacht in Tel'aran'rhiod. Keiner würde sie hier sehen. Sheriam oder eine aus ihrem Kreis könnte sich in der Welt der Träume aufhalten, oder auch Siuan oder Leane. Sicher, sie beide hatten ein Recht darauf, diese Welt zu besuchen, doch auf ihrer heutigen Suche wollten sie keine unangenehmen Fragen beantworten. Elayne betrachtete diesen Ausflug offensichtlich als Jagd. Bewußt oder nicht, jedenfalls hatte sie sich wie Birgitte gekleidet: grüner Umhang und weiße Hose. Sie blinzelte überrascht den silbernen Bogen in ihrer Hand an, und er verschwand, zusammen mit dem Köcher.

Nynaeve sah sich ihre eigene Kleidung an und seufzte: Ein blauseidenes Ballkleid, mit goldenen Blumen rund um die tiefen Ausschnitt herum bestickt. Die Stickereien zogen sich in Doppellinien den ganzen weiten Rock hinunter. An den Füßen spürte sie Tanzschuhe aus Samt. Es spielte eigentlich keine Rolle, was man in Tel'aran'rhiod anhatte, doch was hatte sie nur im Sinn gehabt, als ihr Unterbewußtsein ausgerechnet dieses Kleid erwählte? »Dir ist doch klar, daß dies vielleicht erfolglos bleiben wird?« sagte sie und änderte ihre Kleidung zu einem robusten Wollkleid mit festen Schuhen, wie es in den Zwei Flüssen üblich war. Elayne hatte kein Recht, so spöttisch zu lächeln. Ein silberner Bogen. Ha! »Wir sollten wirklich wissen, wonach wir suchen, oder zumindest einiges darüber.«

»Es muß ausreichen, Nynaeve. Du hast selbst gesagt, die Weisen Frauen behaupteten, der Schlüssel läge im Bedürfnis, je stärker, desto besser, und wir brauchen unbedingt etwas, sonst verpufft die versprochene Unterstützung für Rand wirkungslos, bis auf das, was Elaida beizutragen gewillt ist. Dazu lasse ich es nicht kommen, Nynaeve. Ganz gewiß nicht.«

»Nimm das Kinn herunter. Ich lasse es auch nicht soweit kommen, falls wir irgend etwas daran ändern können. Also können wir genausogut hier weitermachen.« Sie nahm Elayne an der Hand und schloß die Augen. Bedürfnis. Not. Sie hoffte, irgend etwas in ihr habe eine Ahnung, was eigentlich benötigt wurde. Vielleicht würde sich gar nichts ergeben. Bedürfnis. Mit einem Mal schien sich alles um sie herum zu verschieben. Sie spürte, wie Tel'aran'rhiod kippte und schwankte.

Augenblicklich riß sie die Augen auf. Jeder Schritt, der nur auf einem Bedürfnis beruhte, wurde zwangsläufig blind vollzogen, und während jeder sie wohl ihrem Ziel näher brachte, konnte er sie durchaus in eine Schlangengrube führen, oder ein Löwe, der bei der Jagd gestört wurde, biß ihr vielleicht ein Bein ab.

Löwen waren nicht zu sehen, aber was sie vorfand, war trotzdem beunruhigend. Es war heller Mittag, doch das störte sie nicht weiter. Die Zeit verlief hier anders. Sie und Elayne standen Hand in Hand auf einer gepflasterten Straße, umgeben von Backstein- und Natursteinbauten. Wohnhäuser und Geschäftsgebäude gleichermaßen waren mit kunstvollen Simsen und Friesen versehen. Verzierte Kuppeln schmückten Ziegeldächer, und über jede Straße hinweg zogen sich Brücken aus Stein oder Holz, und das manchmal im dritten oder gar vierten Stock. Müllhaufen — alte Kleidungsstücke und kaputte Möbel — waren an den Ecken aufgehäuft, und ganze Scharen von Ratten huschten dazwischen herum. Gelegentlich blieben die Tiere stehen und quiekten ihnen furchtlose Herausforderungen zu. Menschen, die im Traum die Randbezirke von Tel'aran'rhiod berührten, erschienen kurz und verschwanden ebenso schnell wieder. Ein Mann stürzte schreiend von einer der Brücken und war verschwunden, bevor er auf den Pflastersteinen aufschlug. Eine vor Angst heulende Frau in einem zerrissenen Kleid rannte ein Dutzend Schritte weit auf sie zu, bevor auch sie wieder verschwunden war. Abgehackte Schreie und Rufe warfen ihr Echo durch die Straßen, und ein paar Mal war wildes, rauhes Lachen zu hören, das klang, als sei der Lacher dem Wahnsinn nahe.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Elayne in besorgtem Tonfall.

In einiger Entfernung ragte ein kalkigweißer Pfeiler hoch über die anderen Türme auf, von denen viele durch Brücken verbunden waren, gegenüber denen die in ihrer unmittelbaren Umgebung niedrig wirkten. Sie befanden sich in Tar Valon, und zwar in jenem Teil der Stadt, in dem Nynaeve beim letzten Mal einen kurzen Blick auf Leane erhascht hatte. Leane war nicht gerade gesprächig gewesen; deshalb wußten sie nicht was die Frau dort getan hatte. Sie hatte lediglich lächelnd festgestellt, sie wolle das Geheimnis und die Legenden um die Aes Sedai damit vertiefen.

»Es spielt keine Rolle«, sagte Nynaeve tapfer. »Niemand in Tar Valon hat auch nur eine Ahnung von der Welt der Träume. Wir werden niemanden antreffen.« Dann drehte es ihr fast den Magen um, als plötzlich ein Mann mit blutüberströmtem Gesicht erschien und auf sie zu taumelte. Er hatte keine Hände, und aus den Stümpfen spritzte Blut.

»Das hatte ich nicht im Sinn«, meinte Elayne kleinlaut.

»Laß uns weitersuchen.« Nynaeve schloß die Augen. Not.

Verschiebung.

Sie befanden sich in der Burg in einem der mit Wandteppichen geschmückten, kurvenreichen Gänge. Ein molliges Mädchen in Novizinnenkleidung tauchte mit einem Mal keine drei Schritt von ihnen entfernt aus dem Nichts auf. Sie riß die großen Augen noch weiter auf, als sie ihrer ansichtig wurde. »Bitte«, wimmerte sie. »Bitte?« Und war verschwunden.

Plötzlich keuchte Elayne aufgeregt: »Egwene!«

Nynaeve wirbelte herum, doch der Gang war menschenleer.

»Ich habe sie gesehen«, beharrte Elayne. »Ganz bestimmt!«

»Ich denke, sie kann Tel'aran'rhiod wie jeder andere auf ganz normalem Weg berühren«, erklärte ihr Nynaeve. »Laß uns damit weitermachen, weswegen wir hier hergekommen sind.« Sie fühlte sich immer nervöser. Wieder gaben sie sich die Hände. Not.

Verschiebung.

Es war kein gewöhnlicher Abstellraum. Sämtliche Wände waren mit Regalbrettern behängt, und zwei kurze Stellregale standen in der Mitte des Raums. Sauber angeordnet standen Reihen von Schachteln und Kästen verschiedenster Größen und Formen, einige davon beschnitzt oder lackiert, und darin lagen in Stoff gehüllte Gegenstände, dazu Skulpturen und Figurinen, eigenartige Gebilde, die anscheinend aus Metall oder Glas gefertigt waren, aus Kristall oder Stein oder glasiertem Porzellan. Nynaeve mußte gar nicht mehr sehen, um zu wissen, daß es sich um Objekte handelte, die mit der Einen Macht zu tun hatten, höchstwahrscheinlich Ter'Angreal, vielleicht auch einige Angreal und Sa'Angreal. Eine solche Sammlung der verschiedenartigsten Gegenstände, so sorgfältig eingepackt und aufbewahrt, und das mitten in der Burg, konnte aus nichts anderem bestehen.

»Ich glaube nicht, daß es einen Zweck hat, hier noch weiterzugehen«, sagte Elayne enttäuscht. »Ich weiß nicht, wie wir jemals etwas aus diesem Raum herausbekommen könnten.«

Nynaeve zupfte kurz an ihrem Zopf. Falls es hier wirklich etwas gab, was sie gebrauchen konnten — und daran bestand kein Zweifel, sofern die Weisen Frauen nicht gelogen hatten — dann mußte es auch einen Weg geben, das in der wachenden Welt zu erreichen. Angreal und ähnliche Gegenstände wurden gewöhnlich nicht so streng bewacht. Als sie noch in der Burg wohnte, hatte man lediglich ein Schloß an einer solchen Tür angebracht und eine Novizin davorgestellt Diese Tür hier bestand aus schweren Brettern mit einem mächtigen schwarzen Eisenschloß. Zweifellos war es abgeschlossen, aber im Geist stellte sie es sich unverschlossen und geöffnet vor.

Die Tür schwang auf, und dahinter erblickten sie einen Wachraum. An einer Wand standen schmale Stockbetten, an einer weiteren ein Gestell mit Hellebarden. Hinter einem schweren, abgewetzten Tisch, um den herum Hocker angeordnet waren, befand sich eine weitere, eisenbeschlagene Tür mit einem kleinen Gitter in Kopfhöhe darin.

Als sie sich wieder Elayne zuwandte, wurde ihr mit einem Mal bewußt, daß sich die Tür wieder geschlossen hatte. »Wenn wir hier nicht an das gelangen, was wir benötigen, dann vielleicht irgendwo anders. Ich meine, vielleicht wird etwas anderes dieselbe Wirkung haben. Wenigstens haben wir jetzt einen Hinweis bekommen. Ich glaube, das sind alles Ter'Angreal, bei denen noch niemand herausgefunden hat, wie man sie benützt. Das ist der einzige vorstellbare Grund, warum man sie so bewacht. Es wäre gefährlich, in ihrer Nähe die Macht zu gebrauchen.«

Elayne warf ihr einen verschmitzten Blick zu. »Aber wenn wir es erneut versuchen, wird es uns dann nicht genau zum gleichen Ort zurückbringen? Außer ... außer die Weisen Frauen hätten dir eine Methode gezeigt wie man einen bestimmten Weg von der Suche ausschließt.«

Das hatten sie nicht. Sie hatten sich überhaupt nicht darum gerissen, ihr etwas beizubringen. Doch an einem Ort, wo es genügte, sich ein Schloß offen vorzustellen, damit es sich tatsächlich öffnete, sollte alles möglich sein. »Das ist genau das, was wir tun werden. Wir denken ganz fest daran, daß sich das, was wir suchen, nicht in Tar Valon befindet.« Sie blickte mit gefurchter Stirn die Regale an und fügte hinzu: »Und ich wette, es handelt sich um einen Ter'Angreal, den niemand zu benützen weiß.« Obwohl sie noch keine Ahnung hatte, wie dies den Saal davon überzeugen könne, Rand zu unterstützen.

»Wir brauchen einen Ter'Angreal, der sich nicht in Tar Valon befindet«, sagte Elayne, als habe sie Mühe, sich selbst von dieser Notwendigkeit zu überzeugen. »Also gut. Gehen wir weiter.«

Sie streckte die Hände aus, und einen Augenblick später ergriff Nynaeve sie. Nynaeve war sich nicht sicher, wieso ausgerechnet sie diejenige war, die auf einer Weitersuche bestand. Sie wollte weg aus Salidar, anstatt einen Grund zum Bleiben zu finden. Aber wenn sie auf diese Weise sicherstellen könnte, daß die Aes Sedai in Salidar Rand unterstützten...

Not. Ein Ter'Angreal. Nicht in Tar Valon. Brennende Notwendigkeit.

Verschiebung.

Wo sie sich auch befinden mochten, diese von der Morgendämmerung erhellte Stadt war auf keinen Fall Tar Valon. Keine zwanzig Schritt entfernt verengte sich die breite Pflasterstraße zu einer weißen Steinbrücke, an deren beiden Enden Statuen standen, die sich über einen mit Mauern eingefaßten Kanal schwang. Fünfzig Schritt entfernt auf der anderen Seite befand sich eine weitere Brücke. Überall standen schmale Türmchen mit Rundbalkonen. Sie wirkten wie Spieße, die man durch runde, kunstvoll gegossene Pralinen gestoßen hatte. Jedes Gebäude war weiß. Die Türen und Fenster wiesen hohe Spitzbögen auf, manchmal sogar zwei oder drei Bögen übereinander. An den größeren Gebäuden erblickten sie lange Balkone mit weiß angestrichenen schmiedeeisernen Gittern und kunstvoll durchbrochenen Eisenornamenten, hinter denen sich die Bewohner leicht verbergen konnten. Von dort aus mußte man einen grandiosen Ausblick auf die Straßen und Kanäle haben. Auch weiße Kuppeln waren zu sehen, geschmückt mit roten oder goldenen Friesen, die oben genauso scharfe Spitzen hatten wie die Türme.

Not. Verschiebung.

Es konnte genausogut wiederum eine andere Stadt sein. Die Straße war eng und das Pflaster uneben. Zu beiden Seiten standen fünf- oder sechsstöckige Gebäude, deren weißer Verputz an vielen Stellen abgebröckelt war und den Blick auf die Backsteine freigab. Hier gab es keine Balkone. Fliegen summten umher, und es war schwierig festzustellen, ob es immer noch die Morgendämmerung war, die lange Schatten auf den Boden warf.

Sie tauschten Blicke. Es schien unwahrscheinlich, daß sie hier einen Ter'Angreal finden würden, aber sie waren nun zu weit gekommen, um aufzugeben. Notwendigkeit.

Verschiebung.

Nynaeve mußte niesen, bevor sie die Augen öffnete, und dann noch einmal. Jedes Verschieben ihrer Füße wirbelte Staubwolken auf. Dieser Abstellraum glich absolut nicht jenem in der Burg. Truhen, Kisten und Fässer standen in dem engen Raum herum, waren wie auch immer aufeinandergetürmt, so daß dazwischen kaum Platz verblieb, und über allem lag eine dicke Staubschicht. Nynaeve mußte so stark niesen, daß sie das Gefühl hatte, es zöge ihr die Schuhe aus — und der Staub war verschwunden. Jedes bißchen. Auf Elaynes Miene zeigte sich ein leichtes, selbstzufriedenes Lächeln. Nynaeve sagte nichts und stellte sich lediglich den Raum ohne Staub vor. Sie hätte daran denken sollen.

Als sie das Durcheinander überblickte, mußte sie unwillkürlich seufzen. Der Raum war nicht größer als jener, in dem ihre schlafenden Körper in Salidar ruhten, aber dies alles zu durchsuchen... »Das wird Wochen dauern.«

»Wir könnten es noch einmal versuchen. Dann wissen wir wenigstens, womit wir es zu tun haben.« Bei Elayne klang das genauso zweifelnd, wie sich Nynaeve fühlte.

Aber trotzdem war der Vorschlag genauso gut wie jeder andere. Nynaeve schloß also die Augen, und erneut wurde jene Verschiebung spürbar.

Als sie sich umsah, stand sie am von der Tür entfernten Ende des schmalen Durchgangs vor einer hüfthohen hölzernen Truhe, die aussah, als habe man sie mit Vorschlaghämmern bearbeitet. Die Eisenbeschläge schienen nur noch aus Rost zu bestehen. Nynaeve konnte sich keinen unwahrscheinlicheren Aufbewahrungsort für etwas Nützliches, besonders einen Ter'Angreal, vorstellen. Elayne stand neben ihr und sah die Truhe an.

Nynaeve legte eine Hand auf den Deckel — die Scharniere würden sich problemlos bewegen lassen —und hob ihn an. Sie hörte noch nicht einmal die Andeutung eines Quietschens. Drinnen lagen zwei stark verrostete Schwerter und ein braun verfärbter Brustharnisch mit einem großen Loch auf einem Durcheinander von in Lumpen gehüllten Paketen und einem Haufen von Unrat, der zum Teil von einer Kleiderpresse zum Bügeln zu stammen schienen, zum Teil geradewegs aus einigen Küchen.

Elayne tastete nach einem kleinen Kessel mit abgebrochenem Schnabel. »Vielleicht nicht Wochen, aber zumindest den Rest der Nacht.«

»Noch einmal?« schlug Nynaeve vor. »Es kann nicht schaden.« Elayne zuckte die Achseln. Augen zu. Not.

Nynaeve streckte die Hand aus und sie berührte etwas Hartes, Rundes, das in zerschlissenen Stoff gehüllt war. Als sie die Augen öffnete, sah sie, daß Elaynes Hand neben der ihren ruhte. Das Grinsen der jüngeren Frau war so breit, daß es ihr Gesicht in zwei Hälften zu teilen schien.

Es herauszuholen war nicht ganz einfach. Es war nicht klein, und sie mußten zerfledderte Mäntel und verbeulte Töpfe und Pakete beiseite räumen, die in ihren Händen zerfielen und Skulpturen, geschnitzte Tierfiguren und alle Arten von Schrott umhüllen. Sobald sie den Gegenstand freigelegt hatten, mußten sie ihn gemeinsam festhalten: eine breite, abgeflachte Scheibe, die in verrottetes Tuch gehüllt war. Als sie die Hülle beseitigt hatten, stellte es sich als eine flache Schale aus dickem Kristall heraus, die mehr als zwei Fuß im Durchmesser maß und innen am tiefsten Punkt mit etwas wie quellenden Wolken graviert war.

»Nynaeve«, sagte Elayne bedächtig, »ich glaube, das ist...«

Nynaeve fuhr zusammen und hätte beinahe die Schale fallen gelassen, als diese sich plötzlich wäßrig blau verfärbte und sich die eingravierten Wolken langsam verschoben. Einen Herzschlag später war das Kristall wieder klar, und die Wolken standen still. Aber sie war sicher, daß sich die Wolken nicht mehr am gleichen Fleck befanden wie zuvor.

»Es ist einer«, rief Elayne. »Es ist ein Ter'Angreal Und ich verwette alles darauf, daß er mit dem Wetter zu tun hat. Aber ich bin nicht stark genug, um allein mit ihm zu arbeiten.«

Nynaeve sog erst einmal tief Luft ein und bemühte sich, ihren Herzschlag zu beruhigen. »Mach das nicht! Ist dir nicht klar, daß du dich selbst ausbrennen könntest, wenn du mit einem Ter'Angreal arbeitest, von dem du nicht einmal weißt, wozu er dient?«

Das törichte Mädchen warf ihr doch tatsächlich einen überraschten Blick zu. »Wir sind schließlich genau deshalb hierhergekommen, Nynaeve. Und glaubst du, es gäbe irgend jemand, der mehr von Ter'Angreal versteht als ich?«

Nynaeve schnaubte. Nur weil die Frau recht hatte, hieß das nicht, daß man ihr nicht einen kleinen Warnschuß verpassen sollte. »Ich bestreite ja gar nicht, daß es wundervoll wäre, wenn dieses Ding hier etwas an dem Wetter ändern könnte — bestimmt kann es das —, aber ich sehe nicht ein, was es uns nützen könnte. Das wird den Saal in bezug auf Rand und seine notwendige Unterstützung auch nicht weiter beeinflussen.«

»Was man braucht, ist nicht immer das, was man haben möchte«, zitierte Elayne. »Lini hat das immer gesagt, wenn sie mich nicht zum Reiten wegließ oder wenn ich nicht auf Bäume klettern durfte, aber vielleicht kann man es auch hier anwenden.«

Nynaeve schnaubte erneut. Es mochte ja zutreffen, aber jetzt wollte sie einfach das haben, was sie wünschte. War das zuviel verlangt?

Die Schale verblich in ihren Händen, und nun war es an Elayne, überrascht zusammenzufahren und zu murren, daß sie sich niemals daran gewöhnen werde. Auch die Truhe war wieder geschlossen.

»Nynaeve, als ich die Macht in diese Schale lenkte, spürte ich... Nynaeve, das ist nicht der einzige Ter'Angreal in diesem Raum. Ich glaube, es sind auch Angreal hier, vielleicht sogar Sa'Angreal.«

»Hier?« fragte Nynaeve ungläubig und blickte sich in dem vollgestopften kleinen Raum um. Aber wenn schon einer da war, warum nicht auch zwei? Oder zehn, oder hundert? »Licht, benutze die Macht nicht noch einmal! Was geschieht, wenn du einen davon durch Zufall auslöst? Du könntest durchaus...«

»Ich weiß, was ich tue, Nynaeve. Ganz bestimmt. Das nächste, was wir tun müssen, ist, herauszufinden, wo genau sich dieser Raum befindet.«

Das stellte sich als nicht gerade leichte Aufgabe heraus. Obwohl die Scharniere festgerostet schienen, war die Tür kein Hindernis, nicht in Tel'aran'rhiod. Die Probleme kamen erst danach. Der düstere, enge Korridor wies nur ein einziges kleines Fenster auf, und aus dem konnte man lediglich eine weiß gestrichene Wand, deren Putz bereits abblätterte, auf der anderen Straßenseite erkennen. Es half auch nichts, daß sie steile und enge Wendeltreppen herunterstiegen. Die Straße war vielleicht die erste in diesem Stadtviertel, die sie zu Gesicht bekamen, wo sie sich auch befinden mochten, aber da alle Gebäude sich so ähnlich sahen, konnten sie nicht einmal das mit Bestimmtheit sagen. Über den winzigen Läden in der Straße hingen keine Schilder, und Schenken zeichneten sich lediglich durch blau gestrichene Türen aus. Rot schien dagegen für Tavernen zu stehen.

Nynaeve machte sich auf die Suche nach einem Anhaltspunkt, um feststellen zu können, wo sie sich befanden. Etwas, das ihr den Namen dieser Stadt verriet. Jede Straße, durch die sie kam, erschien ihr genau wie die vorherige. Doch dann fand sie schnell eine Brücke aus einfachem Naturstein und ohne die Statuen, die sie bei den anderen gesehen hatten. Unter dem Brückenbogen sah sie allerdings nur den Kanal, der sich in einiger Entfernung mit anderen kreuzte, sowie weitere Brücken und noch mehr Gebäude mit bröckelndem, weißen Verputz.

Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie allein war. »Elayne.« Stille, bis auf das Echo ihrer eigenen Stimme. »Elayne? Elayne!«

Die Frau mit dem goldenen Haar erschien plötzlich an einer Ecke nahe dem Fuß der Brücke. »Da bist du ja«, sagte Elayne. »Gegen diesen Ort wirkt ein Kaninchenbau sorgfältig geplant. Ich habe mich einen Augenblick lang umgedreht, und schon warst du weg. Hast du etwas gefunden?«

»Nichts.« Nynaeve blickte zu dem Kanal hinunter, bevor sie zu Elayne hinging. »Nichts, was uns weiterhelfen könnte.«

»Wenigstens können wir einigermaßen sicher sein, in welcher Stadt wir uns befinden: Ebou Dar. Es muß so sein.« Aus Elaynes Kurzmantel und der Pumphose wurde ein grünes Abendkleid aus Seide mit reichlich Spitzen an den Manschetten, einem hohen, kunstvoll bestickten Kragen und einem so tiefen Ausschnitt, daß man ziemlich viel von ihrem Busen sah. »Ich kann mich an keine andere Stadt mit so vielen Kanälen erinnern außer Illian, und das hier ist ganz bestimmt nicht Illian.«

»Ich hoffe nicht«, sagte Nynaeve mit schwacher Stimme. Es war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen, daß eine blinde Suche sie geradewegs in Sammaels Arme führen könnte. Auch ihr Kleid hatte sich verändert, wie sie erst jetzt bemerkte, und zwar zu einem dunkelblauen Seidenkleid, wie man es für eine Reise anzog. Dazu trug sie einen leinenen Umhang, der gegen den Staub schützte. Sie ließ den Umhang wieder verschwinden, den Rest aber so, wie er war.

»Ebou Dar würde dir gefallen, Nynaeve. Die weisen Frauen aus dieser Stadt wissen mehr über Kräuter als irgend jemand sonst. Sie können alles damit heilen. Das ist auch bitter nötig, denn die Ebou Dari duellieren sich schon eines Niesens wegen, ob Adlige oder Gemeine, Männer oder Frauen.« Elayne kicherte. »Thom sagt, es habe hier Leoparden gegeben, aber sie hätten die Gegend verlassen, weil sie unmöglich mit den Ebou Dari zusammenleben konnten.«

»Das ist alles schön und gut«, erwiderte Nynaeve, »aber sie können sich, was mich angeht, gern gegenseitig umbringen. Elayne, wir hätten genausogut die Ringe weglegen und schlafen können. Ich könnte den Weg zurück zu diesem Raum nicht finden, und wenn sie mir die Stola dafür anbieten würden. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, eine Karte zu zeichnen...« Sie verzog das Gesicht. Sie hätte sich auch für die wachende Welt Flügel wünschen können. Könnten sie eine Karte aus Tel'aran'rhiod mitnehmen, wäre es auch möglich, die Schale mitzuführen.

»Also müssen wir uns nach Ebou Dar begeben«, sagte Elayne entschlossen. »In der wirklichen Welt. Wenigstens wissen wir, in welchem Stadtteil wir suchen müssen.«

Nynaeves Miene erhellte sich. Ebou Dar lag nur ein paar hundert Meilen den Eldar hinab von Salidar entfernt. »Das mag ein sehr guter Vorschlag sein. Und wir können auch alles hinter uns lassen, bevor uns die Decke auf den Kopf fällt.«

»Also wirklich, Nynaeve. Hast du immer noch nichts anderes im Sinn?«

»Es ist aber wichtig. Fällt dir noch irgend etwas ein, was wir hier erledigen können?« Elayne schüttelte den Kopf. »Dann gehen wir zurück. Ich hätte gern heute nacht noch ein wenig geschlafen.« Sie konnten nicht feststellen, wieviel Zeit in der wachenden Welt vergangen war, während sie sich in Tel'aran'rhiod befanden. Manchmal entsprach eine Stunde hier auch einer Stunde dort, manchmal war aber auch ein Tag oder noch mehr vergangen. Glücklicherweise schien das andersherum nicht zu funktionieren, oder jedenfalls nicht in dem Maße, sonst wäre man womöglich im Schlaf verhungert.

Nynaeve trat aus dem Traum heraus...

...und schlug die Augen auf. Sie erblickte ihr Kopfkissen, das genauso schweißnaß war wie sie selbst. Kein noch so geringer Lufthauch kam vom offenen Fenster her. Über Salidar hatte sich Stille ausgebreitet. Das lauteste Geräusch waren die dünnen Schreie der Nachtreiher. Sie setzte sich auf und band die Kordel auf, die sie um den Hals trug. Dann nahm sie den verdrehten Steinring herunter und fühlte kurz nach Lans dickem Goldring. Elayne bewegte sich und setzte sich gähnend auf. Mit Hilfe der Macht entzündete sie einen Kerzenstummel.

»Glaubst du, es wird irgendwie helfen?« fragte Nynaeve leise.

»Ich weiß es nicht.« Elayne hielt inne und erstickte ein Gähnen hinter der vorgehaltenen Hand. Wie brachte es die Frau nur fertig, selbst beim Gähnen hübsch auszusehen, obwohl ihr Haar durcheinander hing und sich ein roter Abdruck, der vom Saum des Kopfkissens über eine Wange zog? Das war ein Geheimnis, das die Aes Sedai einmal untersuchen sollten. »Was ich gewiß weiß, ist, daß diese Schale in der Lage ist, etwas an dem Wetter zu ändern. Ich weiß, daß ein ganzes Arsenal von Ter'Angreal und Angreal in die richtigen Hände kommen muß. Es ist unsere Pflicht, sie dem Saal zu übergeben. Jedenfalls Sheriam. Und ich weiß, wenn sie das nicht dazu bringt, Rand ihre Unterstützung zu gewähren, werde ich weitersuchen und etwas anderes finden, das diesen Zweck erfüllt. Und ich weiß, daß ich jetzt schlafen möchte. Können wir uns am Morgen weiter darüber unterhalten?« Ohne auf eine Antwort zu warten, löschte sie die Kerze, rollte sich wieder zusammen und atmete in tiefen, langen Zügen, wie immer im Schlaf, kaum daß ihr Kopf das Kissen berührte.

Nynaeve streckte sich wieder aus und starrte durch die Dunkelheit zur Decke empor. Wenigstens würden sie bald nach Ebou Dar aufbrechen. Vielleicht schon morgen. Höchstens ein oder zwei Tage, um sich auf die Reise vorzubereiten und einen Platz auf einem Flußschiff zu bekommen. Wenigstens...

Plötzlich erinnerte sie sich an Theodrins Worte. Falls sie zwei Tage benötigten, um sich vorzubereiten, würde Theodrin sie auch mit zwei weiteren Sitzungen plagen, so sicher wie eine Ente Federn hatte. Und Theodrin erwartete, daß sie heute nacht nicht schlief. Es gab wohl keine Möglichkeit, sie zu überwachen, aber...

Schwer seufzend kletterte sie aus dem Bett. Sie hatte nicht viel Platz, um herumzutigern, doch sie nutzte allen vorhandenen Platz und wurde mit jeder Minute zorniger. Alles, was sie wollte, war, von hier zu entkommen. Sie hatte gesagt, daß sie es nicht gut beherrsche, sich zu ergeben, aber vielleicht entwickelte sie allmählich die Kunst des Weglaufens. Es wäre so wunderbar, die Macht gebrauchen zu können, wann immer sie es wünschte. Sie bemerkte nicht, daß ihr Tränen über die Wangen rannen.

Загрузка...