5 Ein anderer Tanz

Der ›Goldene Hirsch‹ machte seinem Namen mehr oder weniger Ehre. Auf Hochglanz polierte Tische und Bänke, in deren Beine Rosenmuster geschnitzt waren, standen in dem geräumigen Schankraum. Ein Mädchen mit weißer Schürze hatte nichts weiter zu tun, als den weißen Steinboden zu fegen. Gleich unter den mächtigen Balken der hohen Decke zog sich ein Fries mit blauen und goldenen Verzierungen rund um die weißgetünchten Wände. Die Kamine waren aus sauber behauenen Steinen gemauert, und unter den Simsen waren sie mit einigen Zweigen immergrüner Pflanzen dekoriert. Genau über der Mitte jedes Kamins war ein Hirsch in den Stein gemeißelt, der zwischen den Geweihstangen einen Weinbecher hielt. Auf einem der Simse befand sich eine hohe Standuhr, die sogar ein wenig vergoldet war. Auf einem kleinen Podest im Hintergrund spielte eine Musikgruppe auf. Zwei schwitzende Männer in Hemdsärmeln brachten klagende Laute auf ihren Flöten hervor, ein Pärchen zupfte an den neun Saiten ihrer Zithern, und eine Frau mit rotem Gesicht und — einem blaugestreiften Kleid hackte mit kleinen Holzschlegeln auf ein Hackbrett ein, das auf einem Gestell mit dünnen Holzbeinen lag. Mehr als ein Dutzend Serviererinnen in hellblauen Kleidern und weißen Schürzen eilte mit schnellen Schritten geschäftig herein und hinaus. Die meisten von ihnen waren hübsch, obwohl ein paar nahezu genauso viele Jahre auf dem Buckel hatten wie Frau Daelvin, die rundliche kleine Wirtin mit ihrem dünnen grauen Haar, das sie im Nacken zu einem Dutt zusammengebunden hatte. Das war genau die Art von Schenke, wie Mat sie mochte. Sie strömte irgendwie Gemütlichkeit aus und den Duft nach Geld. Er hatte sie wohl ausgewählt, weil sie sich fast genau in der Mitte der Stadt befand, aber das andere konnte ja nicht schaden.

Natürlich war auch in der zweitbesten Schenke von Maerone nicht alles zum besten. Aus der Küche roch es auch hier wieder nach Hammelfleisch und Zwiebeln und der unvermeidlichen, scharf gewürzten Graupensuppe, und das vermischte sich mit dem Staub und dem Gestank der Pferde von draußen. Nun, Lebensmittel stellten eben ein Problem dar in einer Stadt, die mit Flüchtlingen und Soldaten vollgestopft war. Auch rundherum befanden sich noch weitere Lager. Männerstimmen, die laute Marschlieder grölten, erklangen immer wieder von der Straße her und verklangen in der Entfernung, dazu das Stampfen von Stiefeln, das Klappern von Pferdehufen und das Fluchen von Männern, die diese Hitze kaum ertragen konnten. Auch hier im Schankraum war es heiß. Kein Lufthauch machte sich bemerkbar. Wären die Fenster geöffnet worden, dann hätte bald der Staub die gesamte Einrichtung bedeckt, aber an der Hitze hätte das auch nichts geändert. Maerone war ein einziges Backblech in einem Glutofen. Soweit Mat feststellen konnte, trocknete die ganze verdammte Welt aus, und über den Grund dafür wollte er gar nicht erst nachdenken. Er wünschte sich, die Hitze einfach vergessen zu können, vergessen zu können, daß er sich in Maerone befand, und überhaupt alles. Seine gute grüne Jacke mit der Goldstickerei an Kragen und Ärmeln war aufgeknöpft, sein feines Leinenhemd aufgebunden, und doch schwitzte er wie ein Ackergaul. Es hätte vielleicht geholfen, wenn er den schwarzen Seidenschal abgenommen hätte, den er sich um den Hals gebunden hatte, aber das tat er nur höchst selten in Gegenwart anderer. Er kippte seinen letzten Rest Wein herunter, stellte den glänzenden Zinnbecher neben sich auf den Tisch und nahm den breitkrempigen Hut in die Hand, um sich damit Luft zuzufächeln. Was er auch trank, kam im nächsten Moment gleich wieder in Form von Schweiß heraus.

Als er sich entschloß, im ›Goldenen Hirsch‹ zu wohnen, folgten die Lords und Offiziere der Bande der Roten Hand seinem Beispiel, während sich natürlich die anderen Soldaten der Schenke fernhielten. Das war Frau Daelvin durchaus recht. Sie hätte jedes Bett gleich fünfmal ausschließlich an die Lords und kleineren Edelmänner der Bande vermieten können, und die zahlten auch noch gut, machten nur selten Krawall und trugen die handgreiflichen Streitigkeiten meist außerhalb der Schenke aus. Heute mittag jedoch saßen nur neun oder zehn Männer an den Tischen, und gelegentlich blickte sie die leeren Bänke bedauernd an, strich sich über den Dutt und seufzte. Vor dem Abend würde sie nicht mehr viel Wein loswerden. Ein großer Teil ihres Gewinns rührte vom Ausschank des Weines her. Aber wenigstens spielten die Musiker äußerst lebhaft. Eine Handvoll Lords, denen die Musik gefiel — und soweit es sie betraf, redeten sie gern jeden mit »mein Lord« an, der genug Gold besaß —, konnte großzügiger sein als ein ganzer Schankraum voller einfacher Soldaten.

Unglücklicherweise, was die Geldbeutel der Musiker betraf, war Mat der einzige Mann, der ihnen lauschte, und er verzog schmerzhaft bei jeder dritten Note das Gesicht. Es war eigentlich ja nicht ihre Schuld, denn die Melodie klang nicht schlecht, solange man sie nicht kannte. Mat kannte sie allerdings und hatte sie ihnen beigebracht, hatte ihnen den Rhythmus vorgegeben und die Melodie gesummt, aber ansonsten hatte in den letzten zweitausend Jahren niemand dieses Lied gehört. Das Beste, was man von ihnen behaupten konnte, war, daß sie wenigstens den Rhythmus einigermaßen trafen.

Bruchstücke einer Unterhaltung drangen ihm ins Bewußtsein. Er warf den Hut wieder auf den Tisch, winkte mit seinem Becher, um neuen Wein zu bekommen und beugte sich ein wenig über die Tischfläche, um den drei Männern näher zu kommen, die am Nebentisch tranken. »Wie war das noch mal?«

»Wir versuchen, einen Weg zu finden, um einiges von unserem Geld von Euch zurückzugewinnen«, sagte Talmanes mit ernsthafter Miene, ohne von seinem Becher aufzublicken. Ihm machte es nichts aus, so ertappt zu werden. Talmanes war nur wenige Jahre älter als Mat mit seinen zwanzig Jahren, einen Kopf kleiner, und er lächelte selten. Der Mann erinnerte Mat immer an eine zusammengedrückte Spiralfeder. »Niemand kann Euch im Kartenspiel schlagen.« Er befehligte die Hälfte der Kavallerie der Bande und führte hier in Cairhien den Rang eines Lords. Aber den vorderen Teil seines Schädels hatte er wie die einfachen Soldaten kahlgeschoren und gepudert, wenn auch der Schweiß den Puder verschmieren ließ. Eine Menge der jüngeren Lords von Cairhien hatte diese Mode von den Soldaten übernommen. Auch Talmanes Kurzmantel war ganz schlicht. Die Farbstreifen, die den Rang des Adligen andeuteten, fehlten bei ihm, obwohl er Anspruch auf einige davon gehabt hätte.

»Keineswegs«, protestierte Mat. Sicher, wenn sein Glück hielt, dann war es vollkommen, aber es kam in Zyklen, besonders in Fällen, wo die Dinge sich nach so festen Gesetzmäßigkeiten richteten wie ein Kartenspiel. »Blut und Asche! Letzte Woche habt Ihr mir fünfzig Kronen abgeknöpft.« Fünfzig Kronen: Vor einem Jahr oder so hätte er sich vor Freude überschlagen, wenn er auch nur eine Krone gewonnen hätte, und beim Gedanken daran, eine zu verlieren, hätte er wohl geweint. Vor etwa einem Jahr hatte er aber noch keine, die er hätte verlieren können.

»Um wieviel hundert Kronen bin ich damit nur noch im Hintertreffen?« fragte Talmanes trocken. »Ich möchte eine Gelegenheit bekommen, etwas davon zurückzugewinnen.« Wenn er jemals begann, einigermaßen konstant gegen Mat zu gewinnen, würde er sich jedoch auch Gedanken machen. Wie für die meisten Mitglieder der Bande stellte auch für ihn Mats Glück eine Art von Talisman dar »Würfel nützen verdammt noch mal gar nichts«, sagte Daerid, der kommandierende Offizier der Infanterie ihres kleinen Heeres. Er trank gierig und beachtete die angeekelte Grimasse nicht, die Nalesean hinter seinem pomadisierten Bart nicht ganz verbergen konnte. Die meisten Adligen, die Mat kennengelernt hatte, hielten Würfelspiele für gewöhnlich und lediglich für Bauern geeignet. »Ich habe noch nie erlebt, daß Ihr den Tag beim Würfelspiel mit einem Rückstand beendet habt. Es muß an etwas liegen, das Ihr selbst nicht in der Hand habt, das unbewußt kommt, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

Daerid — nur wenig größer als sein Landsmann aus Cairhien, Talmanes — war gut fünfzehn Jahre älter. Seine Nase war mehr als einmal gebrochen worden, und drei weiße Narben überschnitten sich auf seinem Gesicht. Er war der einzige dieser drei, der nicht von adliger Herkunft war, und auch er hatte sich das Vorderteil seines Schädels geschoren und gepudert. Daerid war sein ganzes Leben lang Soldat gewesen.

»Wir haben an Pferde gedacht«, warf Nalesean ein und gestikulierte mit seinem Zinnbecher. Er war ein stämmiger Mann, größer als die beiden aus Cairhien, und er kommandierte die andere Hälfte der Kavallerie der Bande. Mat wunderte sich manchmal, warum er bei dieser Hitze noch den vollen schwarzen Bart trug, aber er pflegte und trimmte ihn jeden Morgen, damit er immer spitz blieb. Und obwohl Daerid und Talmanes ihre schlichten grauen Kurzmäntel geöffnet hatten, hatte Nalesean seinen — grüne Seide mit typisch tairenischen gestreiften Puffärmeln und Aufschlägen aus Goldsatin an den Ärmeln — bis zum Hals zugeknöpft. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, was er aber ignorierte. »Seng meine Seele, aber Euer Glück hält an, sowohl in der Schlacht wie beim Kartenspiel. Und beim Würfeln«, fügte er noch mit einer Grimasse in Daerids Richtung hinzu. »Doch beim Pferderennen hängt alles am Pferd.«

Mat lächelte und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Sucht Euch ein gutes Pferd, und dann werden wir ja sehen.« Sein Glück würde vielleicht ein Pferderennen nicht beeinflussen, denn von Würfeln und Karten und ähnlichem abgesehen, wußte er nie im voraus, was es wohl beeinflussen werde oder wann, aber er war mit einem Vater aufgewachsen, der Pferdehändler war, und er hatte ein sehr gutes Auge für Pferde.

»Wollt Ihr nun diesen Wein oder nicht? Ich kann nicht eingießen, wenn ich Euren Becher nicht erreiche.«

Mat blickte sich nach hinten um. Die Serviererin hinter ihm hielt einen auf Hochglanz polierten Zinnkrug in der Hand. Sie war klein und schlank und bildhübsch mit ihren dunklen Augen, den blassen Wangen und den ihr bis auf die Schulter herab fallenden schwarzen Locken. Und diese für Cairhien so typische präzise und dabei musikalische Aussprache ließ ihre Stimme wie Glockenklang erscheinen. Er hatte schon seit dem ersten Tag, als er den ›Goldenen Hirsch‹ betrat, ein Auge auf Betse Silvin geworfen, doch dies jetzt war die erste Gelegenheit, sich mit ihr zu unterhalten. Ansonsten gab es immer fünf Dinge, die sofort erledigt werden mußten, und zehn andere, die sie gestern schon erledigt haben sollte. Die anderen Männer hatten ihre Nasen in ihren Bechern vergraben, damit er sich so allein mit ihr wie eben möglich fühlen konnte. Hinausmarschieren konnten sie ja wohl schlecht. Aber sie hatten gute Manieren; sogar die beiden Adligen.

Grinsend schwang Mat seine Beine über die Bank nach hinten und hielt ihr den Becher hin, damit sie ihn auffüllen konnte. »Dankeschön, Betse«, sagte er, und sie knickste leicht. Als er sie dann allerdings fragte, ob sie sich nicht selbst eingießen und mit ihm trinken wolle, stellte sie den Krug auf den Tisch, verschränkte die Arme und hielt den Kopf ein wenig schief, damit sie ihn von Kopf bis Fuß mustern konnte.

»Ich glaube kaum, daß so etwas Frau Daelvin gefallen würde. O nein, das würde ihr bestimmt nicht passen. Seid Ihr ein Lord? Sie scheinen alle nach Eurer Pfeife zu tanzen, aber keiner redet Euch mit »mein Lord« an. Sie verbeugen sich ja kaum — höchstens die Gemeinen.«

Mat zog die Augenbrauen hoch. »Nein«, sagte er kürzer angebunden als beabsichtigt, »ich bin kein Lord.« Rand sollte ruhig die Leute herumlaufen und ihn mit Lord Drache oder so ähnlich anreden lassen. Das war nichts für Matrim Cauthon. Ganz bestimmt nicht. Er holte tief Luft, und sein Grinsen kehrte zurück. Manche Frauen versuchten ständig, einen Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber seine Stärke lag im Tanzen. »Redet mich nur mit Mat an, Betse. Ich bin sicher, daß Frau Daelvin nichts dagegen hat, wenn ihr euch eine Weile zu mir setzt.«

»O doch, sie hätte was dagegen. Aber ich schätze, ich kann mich ein bißchen mit Euch unterhalten. Ihr seid ja wohl beinahe ein Lord. Warum tragt Ihr das bei der Hitze?« Sie beugte sich vor und schob mit einer Fingerspitze sein Halstuch ein Stück hinunter. Er hatte nicht aufgepaßt und es etwas herunterrutschen lassen. »Was ist denn das?« Sie fuhr mit dem Finger die dicke, blasse Narbe nach, die sich rund um seinen Hals zog. »Hat jemand versucht. Euch aufzuhängen? Warum denn? Ihr seid zu jung, um ein solch ausgekochter Halunke zu sein, den man aufhängen müßte.« Er nahm den Kopf zurück und zog das Halstuch ganz schnell wieder so zusammen, daß es die Narbe verdeckte, doch Betse ließ sich nicht so leicht ablenken. Ihre Hand schlüpfte vorn in sein Hemd hinein, dessen Bändel er offen gelassen hatte, und zog das Medaillon in Form eines silbernen Fuchskopfes heraus, das an einer Lederschnur um seinen Hals hing. »Hat man Euch aufhängen wollen, weil Ihr das gestohlen habt? Es sieht wertvoll aus. Ist es wertvoll?« Mat schnappte sich das Medaillon aus ihrer Hand und schob es zurück, wo es hingehörte. Die Frau holte ja kaum Luft, jedenfalls nicht lange genug, um ihn auch zu Wort kommen zu lassen. Er hörte, wie hinter ihm Nalesean und Daerid leise lachten, und sein Gesicht lief dunkel an. Manchmal verkehrte sich sein Glück im Spiel bei Frauen ins genaue Gegenteil, aber die fanden das immer erheiternd. »Nein, sie hätten es Euch nicht gelassen, wenn Ihr es gestohlen hättet, oder?« Betse plapperte eifrig weiter. »Und da Ihr ja beinahe ein Lord seid, könnt Ihr euch wohl Dinge wie das leisten. Vielleicht wollten sie Euch hängen, weil Ihr zuviel wußtet? Ihr wirkt wie ein junger Mann, der eine ganze Menge weiß. Oder es zumindest glaubt.« Sie lächelte ein wenig auf jene typische, verwirrende Art und Weise, wie es Frauen tun, wenn sie einen Mann um den Finger wickeln wollen. Das bedeutete nur in seltenen Fällen, daß sie wirklich etwas wußten, aber sie ließen einen glauben, sie hätten eine Ahnung. »Haben sie versucht, Euch aufzuhängen, weil Ihr glaubtet, zuviel zu wissen? Oder weil Ihr so getan habt, als wärt Ihr ein Lord? Seid Ihr sicher, daß Ihr wirklich kein Lord seid?«

Daerid und Nalesean lachten jetzt ganz unverhohlen, und sogar Talmanes schmunzelte, obwohl sie sich Mühe gaben, so zu tun, als habe es einen anderen Grund. Daerid warf immer wieder keuchend vor Lachen etwas dazwischen über einen Mann, der vom Pferd gefallen sei, allerdings nur, wenn er gerade zum Luftholen gekommen war, aber an den Bruchstücken, die Mat davon wahrnahm, war nichts Lustiges.

Er grinste trotzdem weiter. Er würde sich nicht in die Flucht schlagen lassen, auch wenn sie schneller sprach, als er laufen konnte. Sie war nun einmal sehr hübsch, und er hatte die letzten Wochen unter Männern wie Daerid und noch schlimmeren verbracht, verschwitzten Kerlen, die manchesmal vergaßen, sich zu rasieren, und die viel zu oft keine Möglichkeit fanden, ein Bad zu nehmen. Auch auf Betses Wangen stand der Schweiß, und doch duftete sie schwach nach Lavendelseife. »In Wirklichkeit habe ich das abbekommen, weil ich zu wenig wußte«, sagte er leichthin. Frauen gefiel es doch immer, wenn man seine alten Verwundungen herunterspielte. Das Licht mochte wissen, wie viele davon er noch empfangen würde. »Heute weiß ich zuviel, aber damals wußte ich zu wenig. Man könnte durchaus sagen, ich wurde meiner Kenntnisse wegen aufgehängt.«

Betse schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. »Das klingt, als solle es irgendwie geistreich sein, Mat. Kleine Lords machen die ganze Zeit über äußerst geistreiche Bemerkungen, aber Ihr behauptet doch, Ihr wärt kein Lord. Außerdem bin ich eine einfache Frau, und geistreiche Dinge sind mir einfach zu hoch. Für mich sind einfache Worte die besten. Da Ihr kein Lord seid, solltet Ihr euch einfach ausdrücken, sonst könnte jemand vermuten, Ihr spielt gern den Lord. Keine Frau mag einen Mann, der angibt und so tut, als sei er jemand, der er nicht ist. Vielleicht würdet Ihr mir erklären, was Ihr mir eigentlich sagen wolltet?«

Immer noch das Lächeln zu wahren kostete ihn einige Mühe. Dieses Wortgeplänkel mit ihr verlief ganz anders, als von ihm beabsichtigt. Er konnte nicht entscheiden, ob sie nun ein kompletter Schwachkopf sei oder es einfach fertigbrachte, daß er über die eigenen Ohren stolperte, um mit ihr mithalten zu können. Wie auch immer, war sie eben verdammt hübsch und roch nach Lavendelseife anstatt nach Schweiß, Daerid und Nalesean schienen mittlerweile am eigenen Gelächter zu ersticken. Talmanes summte ›Ein Frosch auf dem Eis‹ vor sich hin. Also schien er wohl mit den Füßen in der Luft durch die Gegend zu schliddern.

Mat stellte seinen Becher weg, erhob sich und beugte sich über Betses Hand. »Ich bin, wer ich bin, und nicht mehr, aber Euer Gesicht vertreibt mir die Worte aus dem Kopf.« Nun riß sie die Augen auf; blumige Komplimente gefielen eben jeder Frau. »Würdet Ihr mit mir tanzen?«

Er wartete gar nicht erst auf ihre Antwort, sondern führte sie in die Mitte des Saales, wo zwischen den Tischen der Länge nach ein freier Raum ausgespart worden war. Wenn er Glück hatte, würde das Tanzen ihre flinke Zunge vielleicht zum Verstummen bringen, und schließlich hatte er doch immer Glück! Außerdem hatte er noch nie von einer Frau gehört, die man durch ein Tänzchen nicht weich bekam. Tanze mit ihr, und sie wird dir viel vergeben; tanze gut mit ihr, und sie vergibt Dir alles! Das war ein sehr altes Sprichwort.

Sehr, sehr alt.

Betse hielt sich etwas zurück, biß sich auf die Lippen und sah sich nach Frau Daelvin um, doch die mollige kleine Wirtin lächelte nur und winkte Betse ermutigend zu. Dann bemühte sie sich erfolglos, einige unfolgsame Strähnen in ihren Dutt zurückzustecken, und schließlich begann sie, die anderen Serviererinnen herumzuscheuchen, als sei der ganze Schankraum voller Gäste. Frau Daelvin würde jeden Mann zusammenstauchen, dessen Benehmen sie für unanständig hielt. Trotz des friedfertigen Eindrucks, den sie erweckte, trug sie in einer Rocktasche stets einen Totschläger mit sich herum und benützte ihn gelegentlich auch. Nalesean beäugte sie immer noch mißtrauisch, wenn sie in seine Nähe kam. Doch wenn ein freigebiger Mann gern tanzen wollte, was konnte das schon schaden? Mat hielt Betses Hände, so daß ihre Arme nach beiden Seiten ausgestreckt waren. Der Platz zwischen den Tischen sollte gerade ausreichen. Die Musiker begannen, lauter zu spielen, allerdings nicht besser.

»Laßt Euch von mir führen«, sagte er zu ihr. »Die Schritte sind ganz einfach zu lernen.« Im Rhythmus der Musik begann er mit einer leichten Verbeugung, dann einen gleitenden Schritt nach rechts, den linken Fuß nachholen. Verbeugung und Schritt und Fuß nachgleiten lassen, immer mit ausgestreckten Armen.

Betse lernte schnell und war sehr leichtfüßig. Als sie die Musiker erreichten, hob er mit einer flüssigen Bewegung ihre Hände weit nach oben und wirbelte sie und sich selbst herum, daß sie Rücken an Rücken standen. Dann wieder Verbeugung, Ausfallschritt seitwärts, Fuß nachholen, herumwirbeln, ein ums andere Mal, bis sie wieder am Ausgangspunkt zurück waren. Sie paßte sich seinem Tanz geschwind an und lächelte zu ihm auf, wann immer die Drehungen ihr das gestatteten. Sie war wirklich hübsch.

»Jetzt wird's ein wenig komplizierter«, murmelte er und wandte sich so, daß sie Seite an Seite den Musikern gegenüberstanden, die Hände vor sich überkreuzt. Rechtes Knie hoch, ein leichter Kick nach rechts, dann nach rechts vorwärtsgleiten. Linkes Knie hoch, wieder ein leichter Kick nach links, dann nach links vorwärtsgleiten. Betse lachte hingerissen, als sie sich auf diese Art wieder den Musikern näherten. Mit jedem Durchlauf wurden die Schritte komplizierter, doch er mußte es ihr jeweils nur einmal zeigen, und dann tat sie es ihm gleich, lag leicht wie eine Feder bei jeder Drehung, jeder Wendung, jedem Herumwirbeln in seinen Armen. Und das Beste überhaupt war, daß sie kein Wort sagte. Die Musik packte ihn trotz der gelegentlichen Mißtöne, die Musik und das Gewebe der Tanzschritte, und Erinnerungen durchströmten ihn, als sie so über den Tanzboden vor- und zurückglitten. In diesen Erinnerungen war er einen Kopf größer, hatte einen langen, goldenen Schnurrbart und blaue Augen. Er trug einen Kurzmantel aus bernsteinfarbener Seide mit einer roten Schärpe, Manschetten aus feinsten barsinischen Spitzen und Knöpfe aus gelben Sapphiren auf der Brust, die aus Aramaelle stammten. Er tanzte mit einer dunkelhäutigen Schönheit, der Botschafterin der Atha'an Miere, des Meervolkes. An der dünnen Goldkette, die ihren Nasenring mit einem der vielen Ohrringe verband, hingen winzige Medaillons, die sie als Wogenherrin des Clans Schodin auswiesen. Es war ihm gleich, wie mächtig sie auch sein mochte; darüber sollte sich der König Gedanken machen. Einen Lord mittleren Ranges ging das nichts an. Sie war schön und lag federleicht in seinen Armen, und sie tanzten unter der großen Kristallkuppel des Hofes in Shaemal, in jener Zeit, als alle Welt neidisch auf die Pracht und die Macht Coremandas war. Andere Erinnerungen huschten am Rande vorbei und schlugen Funken aus diesem Tanz, den er so deutlich vor sich sah. Der nächste Morgen würde Nachrichten über sich ständig verstärkende Trolloc-Überfälle aus der Großen Fäule heraus bringen, und einen Monat später würde sich die Nachricht verbreiten, daß Barsine mit seinen goldenen Türmchen zerstört und gebrandschatzt worden war und daß die Horden der Trollocs weiter nach Süden stürmten. So würde die Zeit beginnen, die man später als die Trolloc-Kriege bezeichnete, wenn auch anfangs niemand an diese Bezeichnung dachte: dreihundert Jahre und mehr ununterbrochener Kämpfe, Blut, Feuersbrünste und Ruin, bis man die Trollocs zurücktrieb und die Schattenlords einen nach dem anderen tötete. So würde der Fall von Coremanda seinen Anfang nehmen, trotz allen Reichtums und aller Macht, und der von Essenia mit seinen Philosophen und den berühmten Stätten des Lernens, der Fall von Manetheren und Eharon und allen anderen der Zehn Nationen, die trotz des letztendlichen Sieges zu Trümmern zerschmettert wurden, aus denen sich später neue Länder erhoben, Länder, in denen man der Zehn Nationen nur als bloße Mythen aus einer glücklicheren Zeit gedachte. Doch das lag in der Zukunft, und während er die Gegenwart und diesen Tanz genoß, verdrängte er die Gedanken daran. Heute abend tanzte er den Tanz des Großen Musters mit...

Er blinzelte, weil ihn einen Augenblick lang der Sonnenschein überraschte, der durch die Fenster hereinfiel, und das helle, strahlende Gesicht unter einer glänzenden Schweißschicht, das zu ihm aufblickte. Beinahe wäre er bei den komplizierten Schritten mit Betses Füßen durcheinandergekommen, als sie so über den Boden wirbelten, doch er fing sich gerade so eben, bevor er sie auch noch ins Stolpern brachte. Zum Glück flogen ihm die Schritte ganz instinktiv zu. Dieser Tanz gehörte zu ihm, genau wie jene Erinnerungen, ob sie nun geborgt oder gestohlen waren, doch sie waren so übergangslos in seine eigenen, echten Erinnerungen verwoben, daß er ohne Nachzudenken keinen Unterschied mehr bemerkte. Jetzt waren es jedenfalls seine Erinnerungen, die Lücken in seinem Gedächtnis ausfüllten. Es war so, als habe er sie wirklich alle erlebt.

Es stimmte tatsächlich, was er ihr über die Narbe um seinen Hals gesagt hatte. Seines Wissens wegen aufgehängt, und gleichzeitig, weil er nicht genug wußte. Zweimal war er wie ein kompletter Narr durch einen Ter'Angreal gegangen, wie ein Dorftrottel, der das für genauso problemlos hielt, wie über eine Wiese zu laufen. Nun, für fast genauso problemlos. Die Ergebnisse hatten ihn in seinem Mißtrauen allem gegenüber, was mit der Einen Macht zu tun hatte, nur noch bestärkt. Beim erstenmal hatte man ihm erklärt, es sei sein Schicksal, zu sterben und wieder zu neuem Leben zu erwachen, und dann noch einiges, was er gar nicht hatte hören wollen. Ein paar dieser anderen Hinweise hatten ihn letztendlich zu jenem zweiten Durchschreiten eines Ter'Angreals verleitet, und das hatte ihm ein Seil um den Hals beschert.

Eine Reihe von Schritten, jeder aus gutem Grund oder auch aus purer Notwendigkeit unternommen, jeder war ihm zu dieser Zeit vollkommen vernünftig vorgekommen, und doch führte jeder zu irgendwelchen Dingen, wie er sie sich nie vorgestellt hatte. Er schien sich immer und immer wieder in dieser Art von Tanz zu drehen. Er war ganz sicher tot gewesen, als Rand ihn abschnitt und wiederbelebte. Zum hundertstenmal faßte er nun einen ganz festen Vorsatz: Von nun an würde er genau aufpassen, wohin er ging. Kein blindes Herumtappen mehr, das ihn nur über Hindernisse stolpern ließ, ohne überhaupt daran zu denken, was daraus entstehen könnte.

In Wirklichkeit hatte er an jenem Tag mehr als nur die Narbe erhalten. Beispielsweise das silberne Medaillon in Form eines Fuchskopfes mit einem einzigen, teilweise getrübten Auge, das auf diese Art wie jenes uralte Kennzeichen der Aes Sedai aussah. Manchmal lachte er derart schallend, wenn er an das Medaillon dachte, daß ihm hinterher die Rippen schmerzten. Er traute keiner Aes Sedai über den Weg, und so badete und schlief er sogar mit diesem Ding um den Hals. Die Welt war schon ein komischer Ort, und verdammt eigenartig zumeist.

Ein weiterer Gewinn, den ihm die ganze Sache gebracht hatte, war Wissen, Kenntnisse, wenn auch unerwünschte. Bruchstücke der Leben anderer Männer steckten nun in seinem Kopf; Tausende! Manchmal ging es nur um wenige Stunden dabei, manchmal auch um Jahre, wenn auch auf einzelne Erinnerungsfetzen aufgeteilt, Erinnerungen an Königshöfe und Kämpfe, die sich über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren erstreckten, aus der Zeit lange vor den Trolloc-Kriegen bis zur entscheidenden Schlacht, die den Aufstieg Artur Falkenflügels besiegelte. Alles das gehörte nun ihm, oder jedenfalls waren sie auf gewisse Weise sein. Nalesean, Daerid und Talmanes klatschten den Rhythmus der Musik mit, und die anderen Männer an den übrigen Tischen taten es ihnen gleich. Männer der Bande der Roten Hand, die ihren Oberbefehlshaber beim Tanzen anfeuerten. Licht, aber diese Bezeichnung verursachte Mat Magenbeschwerden. So hatte eine legendäre Truppe von Helden geheißen, die beim Versuch, Manetheren zu retten, ums Leben gekommen waren. Kein einziger Mann, der hinter der Flagge ihrer Bande herritt oder —marschierte, dachte auch nur im Entferntesten daran, daß auch sie selbst zum Stoff von Legenden werden könnten. Auch Frau Daelvin klatschte mit, und die übrigen Serviererinnen waren stehengeblieben und sahen zu.

Es lag an den Erinnerungen dieser anderen Männer, daß die Bande sich Mats Führung anvertraute, obwohl ihnen das nicht klar war. Denn in seinem Kopf waren die Erinnerungen an mehr Schlachten und Kriegszüge gespeichert, als hundert Männer erlebt haben konnten. Gleich, ob er auf Seiten der Gewinner oder der Verlierer gestanden hatte, wußte er doch immer, wie diese Schlachten im einzelnen gewonnen oder verloren worden waren, und er mußte nur seinen Verstand gebrauchen, um das in Siege für die Bande umzumünzen. Bisher zumindest war ihm das gelungen. Wenn er keine Möglichkeit mehr sah, einen Kampf zu vermeiden.

Mehr als einmal hatte er sich gewünscht, diese Bruchstücke anderer Männer aus seinem Kopf loszuwerden. Ohne sie befände er sich nicht da, wo er war, würde er nicht fast sechstausend Soldaten befehligen, zu denen täglich neue stießen, wäre er nicht auf dem Weg nach Süden, um das Kommando über eine verdammte Invasion in einem Land zu übernehmen, das von einem der verfluchten Verlorenen beherrscht wurde. Er war kein Held und wollte auch gar keiner sein. Helden standen im Ruf, ziemlich leicht zu sterben. Wenn man ein Held war, gab es zwei Möglichkeiten: entweder dem Hund einen Knochen zuwerfen und ihn aus dem Weg in eine Ecke zu schieben, oder ihm einen Knochen versprechen und ihn hinausschicken, damit er jagen ging. Dasselbe galt halt auch für Soldaten...

Andersherum betrachtet, wäre er allerdings auch nicht von sechstausend Soldaten umgeben gewesen. Er stünde ganz allein da, ein Ta'veren und an den Wiedergeborenen Drachen gefesselt als nacktes Ziel, und die Verlorenen kannten ihn sehr wohl. Einige von ihnen wußten offensichtlich entschieden zuviel über Mat Cauthon. Moiraine hatte behauptet, er spiele eine wichtige Rolle, daß Rand sowohl ihn wie auch Perrin benötige, um die Letzte Schlacht zu gewinnen. Falls sie recht gehabt hatte, würde er alles tun, was sein mußte — das würde er tatsächlich, nur mußte er sich erst an diesen Gedanken gewöhnen —, aber er hatte nicht vor, den verdammten Helden zu spielen. Wenn ihm nur einfiele, was er mit diesem verfluchten Horn von Valere anstellen sollte... So betete er im stillen für Moiraines Seele und hoffte, sie werde nicht recht behalten.

Er und Betse kamen zum letztenmal an das Ende der freien Fläche und sie ließ sich atemlos an seine Brust fallen, als er stehenblieb. »Oh, das war wundervoll! Ich habe mich gefühlt, als sei ich irgendwo in einem Königspalast. Können wir das noch mal tanzen? Ach, bitte? Ja?« Frau Daelvin klatschte einen Moment lang Beifall, aber als ihr dann bewußt wurde, daß ihre anderen Serviererinnen tatenlos herumstanden, fuhr sie die Mädchen an und schickte sie wie verängstigte Hühner in allen Richtungen an die Arbeit, wobei sie lebhaft mit den Armen fuchtelte.

»Bedeutet ›Tochter der Neun Monde‹ irgend etwas für Euch?« platzte er heraus. Er dachte an jene Ter'Angreal, die alle seine Probleme verursacht hatten. Wo immer er auch die Tochter der Neun Monde finden mochte —Bitte, Licht, laß es noch lange dauern! dachte er fieberhaft —, wo immer er also auf sie stieß, würde es bestimmt nicht der Schankraum einer Schenke in einer Kleinstadt sein, vollgestopft mit Soldaten und Flüchtlingen, die von ihr bedient wurden. Wer aber wußte schon so etwas vorauszusagen, wenn es um eine Weissagung ging? Auf gewisse Weise war es ja eine Prophezeiung gewesen. Sterben und wieder leben. Die Tochter der Neun Monde heiraten. Die Hälfte des Lichts der Welt aufgeben, um die Welt zu retten, was das auch bedeuten mochte. Er war tatsächlich gestorben, als er an jenem Strick baumelte. Und wenn das stimmte, stimmte auch der Rest. Daran führte kein Weg vorbei.

»Tochter der Neun Monde?« fragte Betse atemlos. Doch die Atemlosigkeit konnte sie nicht bremsen. »Ist das eine Schenke? Eine Taverne? Hier in Maerone jedenfalls liegt sie nicht, das weiß ich bestimmt. Vielleicht über dem Fluß, drüben in Aringill? Ich bin noch nie dort...«

Mat legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Es spielt keine Rolle. Tanzen wir lieber noch einmal.« Diesmal wählte er einen ländlichen Tanz aus der Gegenwart und aus dieser Gegend, an dem keine anderen Erinnerungen als seine eigenen klebten. Aber mittlerweile mußte er wirklich nachdenken, um die eigenen Erinnerungen von den fremden zu unterscheiden.

Ein Räuspern ließ ihn umblicken, und er seufzte beim Anblick Edorions, der an der Tür stand, die stahlverstärkten Handschuhe hinter den Schwertgurt gesteckt und den Helm unter dem Arm. Der junge tairenische Lord war ein molliger, weichlicher Mann mit rosa Wangen gewesen, als Mat im Stein von Tear mit ihm Karten spielte, doch seit er in den Norden gegangen war, war er härter geworden und von der Sonne verbrannt. An dem geränderten Helm steckten keine Federn mehr, und die einst so kunstvolle Vergoldung an seinem Brustharnisch wies nun Risse und Beulen auf. Sein Kurzmantel mit den typischen Puffärmeln war blau mit schwarzen Streifen, wirkte aber bereits etwas abgetragen.

»Ihr hattet mir befohlen, Euch um diese Stunde an Eure fällige Runde zu erinnern.« Edorion hustete hinter vorgehaltener Hand und blickte auffällig an Betse vorbei. »Aber ich kann auch später wiederkommen, wenn Ihr wünscht.«

»Ich komme schon«, sagte Mat zu ihm. Es war wichtig, jeden Tag seine Runden zu drehen, jeden Tag etwas anderes zu inspizieren, das sagten ihm die Erinnerungen jener anderen Männer, und er war mittlerweile soweit, daß er ihnen traute. Wenn er schon diese Aufgabe nicht mehr los wurde, konnte er genausogut versuchen, alles richtig zu machen. Es richtig zu machen konnte ja auch das eigene Leben bewahren. Außerdem war Betse von ihm zurückgetreten und bemühte sich gerade, mit ihrem Schürzenzipfel den Schweiß vom Gesicht zu tupfen und auch noch gleichzeitig ihr Haar zu ordnen. Die überschwengliche Freude wich langsam von ihren Zügen. Es spielte keine Rolle. Sie würde daran denken. Tanze gut mit einer Frau, dachte er selbstzufrieden, und sie ist schon halbwegs dein.

»Gebt die den Musikern«, sagte er zu ihr und drückte ihr drei Goldmark in die Hand. So schlecht sie auch spielten, hatte ihn doch ihr Spiel eine Zeitlang von Maerone und der unmittelbaren Zukunft abgelenkt. Und Frauen gefiel doch gewöhnlich solche Großzügigkeit. Das entwickelte sich alles sehr gut. Mit einer Verbeugung, die knapp über ihrem Handrücken endete, fügte er noch hinzu: »Bis später, Betse. Wenn ich zurückkomme, tanzen wir wieder.«

Zu seiner Überraschung fuchtelte sie mit erhobenem Zeigefinger vor seinem Gesicht herum und schüttelte mißbilligend den Kopf, als habe sie seine Gedanken gelesen. Nun, er hatte ja auch noch nie behauptet, Frauen wirklich zu verstehen.

So setzte er den Hut auf und nahm den Speer mit dem schwarzen Schaft von seinem Platz neben der Tür. Das war ein weiteres Geschenk von der anderen Seite jenes Ter'Angreal, mit seiner Inschrift in der Alten Sprache am Schaft und der eigenartigen Spitze in Form einer kurzen Schwertklinge, die mit zwei Raben gezeichnet war.

»Heute inspizieren wir die Schankräume«, sagte er zu Edorion, und sie schritten in die Mittagshitze hinaus und in den Lärm und das Gedränge von Maerone.

Es war eine kleine Stadt ohne schützende Mauer, wenn auch fünfzigmal so groß wie jede, die er gesehen hatte, bevor er die Zwei Flüsse verließ. Eigentlich mehr ein großes Dorf. Nur wenige der meist aus Backstein oder Naturstein erbauten Häuser wiesen mehr als ein einziges Stockwerk auf und nur die Schenken zeigten stolze drei Stockwerke. Die Dächer in Sicht waren etwa zu gleicher Zahl mit Holzschindeln, Stroh, Schiefer oder Ziegeln gedeckt. Auf den meist ausgetretenen Lehmstraßen drängten sich jetzt Menschenmengen. Die Bewohner der Stadt kamen aus aller Herren Länder; die überwiegende Zahl allerdings aus Cairhien und Andor. Obwohl es auf der Seite Cairhiens am Erinin lag, gehörte Maerone nun keiner Nation mehr an, sondern vollführte einen Balanceakt zwischen beiden Ländern, und Menschen aus mindestens einem halben Dutzend Ländern wohnten hier oder kamen durch. Man hatte sogar drei oder vier Aes Sedai gesichtet, seit Mat angekommen war. Trotz des Medaillons, das er immer um den Hals trug, machte er einen weiten Bogen um sie, denn er wollte keine Schwierigkeiten heraufbeschwören, aber sie reisten genauso schnell weiter, wie sie angekommen waren. Sein Glück hielt ihm die Treue, wenn es darauf ankam. Bisher jedenfalls.

Die Menschen eilten ihren Geschäften nach und ignorierten zumeist die abgerissenen Männer, Frauen und Kinder, die müßig umherwanderten. Alle stammten aus Cairhien, und die letzteren schlenderten gewöhnlich bis zum Flußufer hinunter, bevor sie wieder in die Flüchtlingslager zurückkehrten, die rund um die Stadt errichtet worden waren. Allerdings gingen nur wenige ganz weg, um nach Hause zurückzukehren. Der Bürgerkrieg in Cairhien mochte wohl beendet sein, doch es gab immer noch Räuberbanden, und außerdem hatten sie Angst vor den Aiel. Es konnte gut sein, so hatte Mat bereits überlegt, daß sie fürchteten, dem Wiedergeborenen Drachen zu begegnen. Zugrunde lag aber eigentlich eine Tatsache: Sie waren soweit gelaufen, wie sie nur konnten. Kaum einer von ihnen besaß noch die Energie, weiter zu gehen als bis zum Fluß. Dort standen sie dann und blickten nach Andor hinüber.

Die Soldaten der Bande ließen die Menschenmenge noch weiter anschwellen. Allein oder in kleinen Gruppen schlenderten sie an Läden und Tavernen vorbei. Dazwischen marschierten ganze Truppenteile in strenger Formation, Armbrust- und Bogenschützen in Lederwesten, auf die sie Stahlscheiben genäht hatten, Pikeure mit verbeulten Harnischen, die wirkten, als hätten irgendwelche Adligen sie weggeworfen oder als habe man sie einfach den Gefallenen abgezogen. Überall dazwischen sah man gerüstete Reiter, tairenische Lanzenträger mit ihren geränderten Helmen und Kavalleriesoldaten aus Cairhien mit den typischen glockenförmigen Helmen. Sogar ein paar Andoraner waren dabei, gut an ihren kegelförmigen Helmen mit den Gittervisieren erkennbar. Rahvin hatte eine ganze Menge Männer aus der königlichen Garde verwiesen, Männer, die loyal zu Morgase gehalten hatten, und einige davon hatten sich der Bande angeschlossen. Fliegende Händler wanderten mit ihren Bauchläden durch die Menge und schrien über die Köpfe hinweg, was sie an Waren zu bieten hätten: Nadel und Faden, Tinkturen, die angeblich bei jeder Art von Wunde helfen sollten, und Medikamente, die alles heilten, von Abschürfungen bis zu Wasserblasen bis zum Lagerkoller, dazu Seife, Blechtöpfe und —tassen, die garantiert nie rosteten, Wollstrümpfe, Messer und Dolche aus feinstem andoranischen Stahl — darauf gaben die Verkäufer ihr Wort — und überhaupt alles, was ein Soldat benötigte oder wovon die Händler glaubten, sie könnten den Soldaten einen Bedarf einreden. Der Lärm war so stark, daß selbst das Geschrei der Händler drei Schritte weiter bereits davon verschluckt wurde.

Die Soldaten erkannten Mat natürlich sofort, und viele jubelten ihm zu, sogar solche Männer, die zu weit entfernt waren, um mehr als seinen breitkrempigen Hut und den eigenartigen Speer erkennen zu können. Diese Zeichen jedoch machten ihn genauso schnell erkennbar wie die Wimpel die Adligen. Alle möglichen Gerüchte waren ihm zu Ohren gekommen, warum er Rüstung und Helm verschmähte. Das ging von übertriebener Tapferkeit und Leichtsinn bis hin zu der Behauptung, nur eine solche Waffe könne ihn töten, die vom Dunklen König selbst geschmiedet worden sei. Manche meinten, der Hut sei ihm von den Aes Sedai verliehen worden, und solange er ihn trug, könne ihn überhaupt nichts töten. Tatsächlich war es nur ein völlig normaler Hut, den er aufsetzte, weil die breite Krempe seinem Gesicht Schatten spendete. Und weil er ihn immer daran erinnerte, daß er sich von jeder Gelegenheit fernhalten mußte, bei der er vielleicht Helm und Rüstung benötigen würde. Die Gerüchte, die über seinen Speer mit dieser Inschrift im Umlauf waren, die sogar unter seinen Adligen Offizieren kaum einer lesen konnte, waren allerdings noch viel ausschweifender. Aber keines kam der Wahrheit auch nur im Entferntesten nahe. Die mit den Raben gekennzeichnete Klinge war während des Schattenkriegs von Aes Sedai angefertigt worden, noch vor der Zerstörung der Welt, und sie mußte niemals geschliffen werden. Außerdem bezweifelte er, daß er sie zerbrechen könne, und wenn er sich noch so sehr anstrengte.

Er winkte dankend auf solche Rufe hin, wie: »Das Licht leuchte Lord Matrim!« und »Mit Lord Matrim zum Sieg!« und ähnlichem Unsinn. So bahnte er sich mit Edorion zusammen den Weg durch die Menge. Wenigstens mußte er sich nicht hindurchdrängen, da die Menschen ihm Platz machten, sobald sie seiner gewahr wurden. Er wünschte sich, die Flüchtlinge würden ihn nicht mit solchen Blicken anstarren, als trage er ihre gesamte Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der Rocktasche. Er wußte einfach nicht, was er für sie tun konnte, abgesehen davon, daß er selbstverständlich dafür sorgte, sie mit Lebensmitteln aus den Wagenzügen von Tear zu versorgen. Viele waren nicht nur abgerissen, sondern auch noch ziemlich schmutzig.

»Ist die Seife überhaupt in den Lagern angekommen?« brummte er.

Edorion hörte es trotz all des Lärms. »Ist sie. Die meisten tauschen sie aber bei den Händlern wieder gegen billigen Wein um. Sie wollen keine Seife. Sie wollen entweder über den Fluß oder den eigenen Kummer im Wein ertränken.«

Mat knurrte mürrisch. Den Übergang nach Aringill konnte er ihnen auch nicht verschaffen.

Bis der Bürgerkrieg und noch Schlimmeres Cairhien zerriß, war Maerone ein Knotenpunkt für den Handel zwischen Cairhien und Tear gewesen, und das bedeutete, daß es hier fast genausoviele Schenken und Tavernen gab wie Wohnhäuser. Die ersten fünf, in die er seine Nase steckte, unterschieden sich kaum voneinander, von der ›Fuchs und Gans‹-Schenke bis zur ›Kutscherpeitsche‹: alles Steingebäude mit vollen Tischen und gelegentlich aufflammenden Raufereien, die Mat gar nicht weiter beachtete. Immerhin gab es keine Betrunkenen.

Das ›Flußtor‹ ganz am anderen Ende der Stadt war Maerones beste Schenke gewesen, doch schwere Bretter, die man über die mit Sonnenscheiben beschnitzten Türen genagelt hatte, sollten die Wirte und Schankkellner dazu ermahnen, die Soldaten der Bande nicht betrunken zu machen. Trotzdem schlugen sich sogar nüchterne Soldaten gelegentlich — Tear gegen Cairhien und gegen Andor, Infanterie gegen Kavallerie, selbst die Männer eines Lords gegen die eines anderen, Veteranen gegen Grünschnäbel, Soldaten gegen Zivilisten. Die Raufereien wurden aber niedergeschlagen, bevor sie außer Kontrolle gerieten. Soldaten mit Knüppeln und breiten roten Stoffbahnen an den Unterarmen sorgten dafür. Jede Einheit kam an die Reihe, Rotarme für diesen Zweck abzustellen, jeden Tag andere Männer, und die Rotarme mußten alle Schäden bezahlen, die an einem Tag angerichtet wurden, an dem sie Dienst hatten. Das führte dazu, daß sie äußerst eifrig den Frieden zu wahren versuchten.

In der ›Fuchs und Gans‹-Schenke jonglierte ein Gaukler mit Flammenstäben, ein kräftiger Mann von mittleren Jahren, während in der Erinin Schenke ein anderer, hager und mit Halbglatze, die Harfe in den Händen hatte und einen Teil der Großen Jagd nach dem Horn rezitierte. Trotz der Hitze trugen beide ihren typischen Umhang mit Flicken in hundert verschiedenen Farben, die bei jeder Bewegung flatterten. Ein Gaukler würde eher seine Hand hergeben als seinen Umhang. Sie hatten ein durchaus aufmerksames Publikum, denn viele ihrer Zuschauer stammten aus Dörfern, in denen man den Besuch eines Gauklers noch freudig begrüßte, und ihre Zuschauermengen waren entschieden größer als die eines Mädchens, das in einer Taverne mit dem hochtrabenden Namen ›Zu den drei Türmen‹ auf einem Tisch stand und sang. Sie war ziemlich hübsch, hatte lange, dunkle Locken, aber ein Lied über die wahre Liebe konnte diese lärmenden und grölenden Männer nicht reizen, die dort an den Tischen tranken. In den übrigen Lokalen gab es bis auf ein oder zwei Musikanten keine Unterhaltung, aber dort waren die Gäste dafür noch lauter, und die vielen Würfelspiele an fast der Hälfte aller Tische ließen Mats Finger jucken. Doch er gewann ja wirklich beinahe jedes Spiel, vor allem mit Würfeln, und es wäre nicht recht, den eigenen Soldaten das Geld auf diese Weise wieder abzunehmen. Und die bildeten ja den größten Teil der Gaste an den Tischen. Nur wenige Flüchtlinge besaßen noch Geld genug, um ihre Zeit in Schankräumen zu verbringen.

Eine Handvoll anderer hatte sich unter die Mitglieder der Bande gemischt. Hier saß ein hagerer Mann aus Kandor mit einem in zwei Spitzen gespaltenen Bart und einer Mondperle von der Größe seines Daumennagels am Ohr. Über die Brust seines roten Rocks hingen silberne Ketten. Dort saß eine Domanifrau mit kupferfarbenem Teint in einem für eine Domani züchtigen blauen Kleid. Ihr Blick huschte schnell von einem zum anderen. An allen Fingern trug sie Ringe mit Edelsteinen. Anderswo erblickte er einen Mann aus Tarabon mit einer kegelförmigen und oben abgeflachten blauen Kappe, der den dicken Schnauzbart hinter einem, transparenten Schleier verborgen hatte. Anderswo dickliche Männer in tairenischen Kurzmänteln, die sich eng um ihre Hüften spannten, oder knochige Kerle in Mänteln aus Murandy, die ihnen bis zu den Knien reichten, Frauen mit harten Augen in hochgeschlossenen, manchmal auch knöchellangen Kleidern, immer aus Wolle feiner Qualität, von gutem Zuschnitt und in düsteren, nüchternen Farben gehalten... Alles Kaufleute, bereit, sofort zuzuschlagen, sobald der Handel zwischen Andor und Cairhien wieder eröffnet wurde. Und in jedem Schankraum saßen zwei oder drei Männer abseits von den anderen, gewöhnlich ganz für sich, zumeist Burschen mit harten Augen, ein paar gut gekleidet, andere aber nicht viel besser als die Flüchtlinge, und jeder von ihnen wirkte, als wisse er mit dem Schwert an seiner Hüfte oder auf seinem Rücken gut umzugehen. Mat entdeckte sogar zwei Frauen unter diesen Außenseitern, wenn auch bei beiden keine Waffe sichtbar war. Die eine hatte allerdings einen langen Wanderstab neben sich an den Tisch gelehnt, während er bei der anderen vermutete, sie habe in ihrem Reitkleid Messer verborgen. Er trug ja auch immer ein paar Wurfmesser versteckt bei sich. Er war sicher, zu wissen, was sie und die anderen zu tun gedachten, und sie wäre töricht würde sie das unbewaffnet unternehmen. Als er und Edorion aus der ›Kutscherpeitsche‹ traten, blieb Mat stehen und beobachtete, wie eine stämmige Frau in einem braunen Hosenrock sich den Weg durch die Menge bahnte. Der scharfe Blick, mit dem sie alles auf der Straße wahrnahm, wollte so gar nicht zu dem Ausdruck von Ruhe und Freundlichkeit auf ihrem runden Gesicht passen, genausowenig wie der mit Dornen ausgestattete kurze Knüppel an ihrem Gürtel und der schwere Dolch, der eher zu einem Aielmann zu gehören schien. Das war nun schon die dritte Frau dieser Art in der Menge. Jäger des Horns waren sie alle, des legendären Horns von Valere, das tote Helden aus den Gräbern zurückrufen würde, damit sie in der Letzten Schlacht kämpften. Wer immer es aufspürte, hatte sich einen Platz in der Weltgeschichte gesichert. Falls noch jemand übrig ist, um ein verdammtes Geschichtsbuch zu schreiben, dachte Mat trocken.

Einige glaubten, das Horn werde dort auftauchen, wo Aufruhr und Rivalität herrschten. Es war vierhundert Jahre her, daß zum letztenmal zur Jagd nach dem Horn aufgerufen worden war, und diesmal hatte es schon fast Leute geregnet, die bereit waren, den Eid abzulegen. Er hatte ganze Scharen von Jägern in den Straßen Cairhiens gesehen, und er erwartete noch mehr Anblicke dieser Art, wenn er Tear erreichte. Zweifellos würden sie mittlerweile auch nach Caemlyn strömen. Er wünschte, einer von denen hätte das Ding gefunden. Nach bestem Wissen lag das Horn von Valere irgendwo tief in der Weißen Burg verborgen, und da er die Aes Sedai kannte, hätte es ihn überrascht, wenn mehr als ein Dutzend von ihnen überhaupt des Horns gewahr wären.

Ein Zug Infanteristen hinter einem berittenen Offizier mit verbeultem Harnisch und einem Helm aus Cairhien marschierte zwischen ihm und der stämmigen Frau hindurch, beinahe zweihundert Pikeure, ihre Waffen ein hoher Wald von Lanzenspitzen, von fünfzig oder mehr Bogenschützen gefolgt, die an den Hüften volle Köcher trugen und sich die Bögen über die Schultern gehängt hatten. Es waren nicht die Langbögen von den Zwei Flüssen, mit denen Mat aufgewachsen war, aber doch ordentliche Waffen. Er mußte einfach genügend Armbrustschützen für Umgehungsmanöver auftreiben. Die Bogenschützen allerdings würden nicht freiwillig tauschen. Sie sangen beim Marschieren, und ihre vereinigten Stimmen waren laut genug, um den Lärm zu durchdringen.

Du lebst von Bohnen und dem, was der Bauer nicht mag, ein Hufeisen auf den Fuß bekommst du zum Namenstag. Du schwitzt und blutest und das Glück ist dir nie hold, und dein einziger Sold sind die Träume von Gold, bist du dumm genug und wirst Soldat, bist du dumm genug und wirst Soldat.

Ein dichtgedrängter Haufen von Zivilisten kam hinter ihnen her, Ortsansässige wie Flüchtlinge, alles junge Männer, die neugierig zuschauten und lauschten. Das erstaunte Mat ohne Ende. Je schlimmer das Lied den Soldatenstand darstellte, und dies jetzt war bei weitem nicht das schlimmste, desto größer diese Menge. So sicher, wie das Wasser naß war, würden noch vor dem Einbruch der Nacht einige dieser Männer mit einem Bannerträger verhandeln, und die meisten von ihnen würden dann auch unterschreiben oder ihr Zeichen auf die Urkunde kritzeln. Sie mußten das Lied für einen Versuch halten, sie abzuschrecken und den ganzen Ruhm und die Beute für sich zu behalten. Nun, wenigstens sangen die Pikeure nicht »Tanz mit dem Schwarzen Mann«. Mat haßte dieses Lied. Sobald den Jungen Burschen klar wurde, daß der Schwarze Mann gleichbedeutend mit dem Tod war, rannten sie los, um sich einzuschreiben.

Dein Mädchen nimmt sich einen anderen Mann.

Du liegst im Grab, damit er sie lieben kann.

Die Würmer wenigstens lieben dich,

und um dein Grab keiner kümmert sich,

bist du dumm genug und wirst Soldat, bist du dumm genug und wirst Soldat.

»Eine ganze Menge Leute fragen sich«, sagte Edorion im gelangweilten Plauderton, als sich die Truppe mit ihrer Nachhut aus Idioten die Straße hinunter entfernte, »wann wir endlich nach Süden aufbrechen werden. Es gibt Gerüchte.« Er sah Mat aus dem Augenwinkel an und versuchte wohl, Mats Laune zu taxieren. »Ich habe bemerkt, daß die Hufschmiede die Gespanne für die Proviantfahrzeuge inspiziert haben.«

»Wir rücken vor, wenn es soweit ist«, sagte Mat daraufhin. »Nicht nötig, Sammael wissen zu lassen, daß wir kommen.«

Edorion warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu. Dieser Tairener war kein Dummkopf. Nicht, daß Nalesean einer gewesen wäre. Er war eben nur manchmal übereifrig. Aber Edorion hatte einen scharfen Verstand.

Nalesean hätte die Hufschmiede überhaupt nicht bemerkt. Wie schade, daß das Haus Aldiaya höher im Rang stand als das Haus Selorna, sonst hätte Mat Edorion auf Naleseans Posten gesetzt. Diese törichten Adligen mit ihrer idiotischen Rangfolge. Nein, Edorion war kein Holzkopf. Er wußte, daß die Nachricht von ihrem Vorrücken sich blitzschnell mit dem gesamten Flußverkehr ausbreiten würde, und vermutlich würden Spione sie mit Brieftauben weitergeben. Mat hätte jedenfalls nicht einmal dann darauf gewettet, daß sich in Maerone keine Spione befänden, wenn sein Glück wie mit dem Holzhammer auf seinen Kopf eingeprügelt hätte.

»Es geht auch das Gerücht um«, sagte Edorion so leise es der Straßenlärm zuließ, »daß der Lord Drache sich gestern in der Stadt befunden habe.«

»Das Größte, was gestern passiert ist«, stellte Mat trocken fest, »war, daß ich zum erstenmal seit einer Woche ein Bad nehmen konnte. Jetzt kommt weiter. Wir werden sowieso noch den halben restlichen Tag brauchen, um unsere Runde zu beenden.«

Er hätte ja einiges dafür gegeben, herauszufinden, wie dieses Gerücht zustande gekommen war. Es lag nur um einen halben Tag falsch und es war doch niemand dabeigewesen, der sie hätte beobachten können. Es war in den ganz frühen Morgenstunden noch vor Sonnenaufgang gewesen, als plötzlich ein greller Lichtstreifen in seinem Zimmer im ›Goldenen Hirsch‹ erschienen war. Er war verzweifelt über das Himmelbett mit seinen vier Pfosten gehechtet, den einen Stiefel ganz und den anderen zur Hälfte ausgezogen, und hatte das Messer herausgerissen, das zwischen seinen Schulterblättern hing, bevor er erkannte, daß es sich um Rand handelte, der aus einem dieser verdammten Löcher ins Nichts herausstieg. Offensichtlich kam er aus dem Palast in Caemlyn, denn es waren noch ein paar Säulen im Hintergrund sichtbar gewesen, bevor die Öffnung verschwand. Es überraschte ihn schon sehr, daß er mitten in der Nacht ankam, ohne seine Aiel, und dann auch noch geradewegs in Mats Zimmer auftauchte. Diese Tatsache ließ Mat die Haare zu Berge stehen. Wenn er am falschen Fleck gestanden hätte, dann hätte ihn dieses Ding glatt in zwei Hälften zerschneiden können. Er konnte diese Tricks der Einen Macht einfach nicht leiden. Das Ganze war überhaupt schon sehr eigenartig gewesen.

»Eile mit Weile, Mat«, sagte Rand, wobei er im Zimmer auf und ab schritt. Er blickte nie in Mats Richtung. Sein Gesicht glänzte von Schweiß und sein Kinn wirkte trotzig. »Er muß es kommen sehen. Alles kommt darauf an.«

Im Sitzen auf dem Bett riß sich Mat den Stiefel ganz vom Fuß und ließ ihn auf den kleinen Bettvorleger fallen, den ihm Frau Daelvin zugestanden hatte. »Ich weiß«, sagte er mürrisch, und dann unterbrach er sich und rieb sich erst einmal den Knöchel, den er an einem Bettpfosten angeschlagen hatte. »Ich habe geholfen, diesen verdammten Plan zu entwerfen, oder erinnerst du dich nicht mehr daran?«

»Woran merkst du, daß du eine Frau liebst, Mat?« Rand hörte nicht mit dem Herumgetigere auf und seine Frage klang, als gehöre sie durchaus zu seinem vorherigen Gesprächsthema.

Mat riß die Augen auf. »Woher, beim Krater des Verderbens, soll ich das wissen? In diese Falle habe ich noch nie einen Fuß gesetzt. Wie kommst du denn auf sowas?« Aber Rand rollte nur seine Schultern, als streife er etwas ab. »Ich werde Sammael fertigmachen, Mat. Das habe ich versprochen, und ich schulde es den Toten. Aber wo halten sich die anderen auf? Ich muß sie alle erledigen.«

»Aber doch wohl einen nach dem anderen.« Beinahe wäre daraus eine Frage geworden; man konnte nie wissen, was sich Rand heutzutage vielleicht in den Kopf gesetzt hatte.

»Es befinden sich Drachenverschworene in Murandi, Mat. Und auch in Altara. Männer, die sich mir verschworen haben. Sobald Illian mein ist werden Altara und Murandy wie reife Pflaumen fallen. Ich werde Kontakt mit den Drachenverschworenen in Tarabon aufnehmen und in Arad Doman, und falls mich die Weißmäntel aus Amadicia fernhalten wollen, werde ich sie zerschmettern. Der Prophet hat Ghealdan bereits vorbereitet und Amadicia zumindest zum Teil, wie ich hörte. Kannst du dir Masema als Propheten vorstellen? Saldaea wird sich mir anschließen, wie mir Bashere versichert. Alle Grenzlande werden zu mir kommen. Sie müssen einfach! Ich werde es schaffen, Mat. Alle Länder vereint, bevor die Letzte Schlacht beginnt. Ich werde es schaffen!« Rands Stimme klang nun etwas fieberhaft.

»Sicher, Rand«, sagte Mat in beruhigendem Tonfall und stellte seinen anderen Stiefel neben den ersten. »Aber eins nach dem anderen, ja?«

»Kein Mann sollte die Stimme eines anderen Mannes im Kopf tragen«, murmelte Rand, und Mats Hände erstarrten, als er gerade einen Wollstrumpf herunterrollen wollte. Seltsamerweise ertappte er sich dabei, wie er sich fragte, ob er dieses Paar Strümpfe wohl noch einen weiteren Tag lang tragen könne. Rand wußte einiges von dem, was innerhalb jenes Ter'Angreal in Rhuidean geschehen war — wußte jedenfalls, daß er irgendwie weitreichende militärische Kenntnisse gewonnen hatte —, aber doch nicht alles. Bestimmt nicht alles, dachte sich Mat. Nicht das mit den Erinnerungen anderer Männer. Rand schien nichts Außergewöhnliches zu bemerken. Er strich sich lediglich mit den Fingern durchs Haar und fuhr fort: »Man kann ihn durchaus hinters Licht führen, Mat, weil Sammael so geradlinig denkt, aber gibt es irgendein Schlupfloch, durch das er entkommen könnte? Wenn wir nur einen einzigen Fehler begehen, werden Tausende sterben. Zehntausende. Hunderte werden sowieso sterben, aber ich will nicht, daß daraus tausende werden.«

Mat machte bei diesen Gedanken mit einemmal eine so böse Miene, daß ein Straßenhändler mit verschwitztem Gesicht, der ihm gerade einen Dolch aufschwatzen wollte, dessen Griff mit bunten gläsernen ›Edelsteinen‹ bedeckt war, diesen beinahe hätte fallen lassen und dann schnell in der Menge untertauchte. Es war immer so bei Rand, daß er vom Hundertsten ins Tausendste kam, von der Invasion in Illian auf die Verlorenen, dann auf Frauen — Licht, Rand war doch derjenige, der immer so gut bei Frauen ankam, er und Perrin —, von der Letzten Schlacht auf die Töchter des Speers und dann auf Dinge, die Mat kaum verstand, und er hörte Mat nur selten zu, wenn der ihm antwortete, und manchmal wartete er nicht einmal auf eine Antwort. Zu hören, wie Rand von Sammael sprach, als kenne er den Mann persönlich und gut, war auch mehr als nur beunruhigend. Er wußte, daß Rand irgendwann einmal wahnsinnig würde, aber falls der Wahnsinn sich bereits jetzt einschlich...

Und was war mit den anderen, diesen Narren, die Rand um sich versammelte, die doch tatsächlich mit der Macht arbeiten wollten, und mit diesem Burschen namens Taim, der das bereits konnte? Rand hatte das nur ganz nebenher erwähnt: Mazrim Taim, der falsche verdammte Drache, unterrichtete Rands verdammte Studenten oder was auch immer sie waren! Wenn sie alle auf einmal wahnsinnig wurden, wollte sich Mat nicht innerhalb von tausend Meilen im Umkreis aufhalten.

Nur konnte er sich seinen Platz genausowenig aussuchen wie ein Blatt im Wirbelsturm. Er war ein Ta'veren, doch Rand war eindeutig der stärkere. In den Prophezeiungen des Drachen stand nichts von Mat Cauthon, aber er war gefangen wie ein Wiesel unter dem Gartenzaun. Licht, wie er sich wünschte, niemals das Horn von Valere erblickt zu haben!

So stolzierte er mit grimmiger Miene durch das nächste Dutzend Tavernen und Schankraume, in immer weiteren Kreisen um den ›Goldenen Hirsch‹ herum. Sie unterschieden sich wirklich kaum von der ersten: Tische, an denen sich die Männer drängten, tranken, Würfel rollen ließen oder sich mit Fingerhakeln vergnügten, Musiker, die man über den Lärm hinweg in mehr als der Hälfte aller Fälle kaum mehr hörte, Rotarme, die jede Rauferei im Keim zu ersticken versuchten, ein Gaukler, der in einem davon Die Große Jagd rezitierte, denn der Zyklus war äußerst populär, selbst wenn sich keine Jäger des Horns in der Nähe befanden, und in einer anderen Taverne eine kleine junge Frau mit hellem Haar, die ein etwas unzüchtiges Lied von sich gab, das durch ihr rundes Gesicht mit den großen, unschuldigen Augen noch unzüchtiger wirkte.

Seine düstere Stimmung hielt an, als er das ›Silberne Horn‹ — dämlicher Name! — und die Sängerin mit dem Unschuldsblick verließ. Vielleicht lief er deshalb so begierig auf Ablenkung in Richtung des Geschreis los, das plötzlich vor einer weiteren Schenke ein Stück die Straße herunter zu hören war. Die Rotarme würden sich darum kümmern, falls Soldaten darin verwickelt waren, aber trotzdem drängte sich Mat durch die Menschenmenge. Rand wurde verrückt und ließ ihn draußen im Sturm vor der Tür stehen. Taim und diese anderen Narren waren bereit, ihm in den Wahnsinn zu folgen. Sammael wartete in Illian, und der Rest der Verlorenen das Licht wußte, wo. Alle suchten vermutlich nach einer Möglichkeit, so nebenher auch noch Mat Cauthons Kopf zu bekommen. Und dabei berücksichtigte er nicht einmal, was ihm die Aes Sedai antun würden, sollten sie ihn wieder in die Finger bekommen — jedenfalls diejenigen, die zuviel wußten. Und jeder glaubte, er werde hinausmarschieren und den verdammten Helden spielen! Normalerweise bemühte er sich mit vielen guten Worten, eine Auseinandersetzung zu meiden, wenn er schon nicht in der Lage war, einen großen Bogen darum zu machen, aber gerade jetzt suchte er nach einer Ausrede, um irgend jemandem kräftig eins auf die Nase zu geben. Was er jedoch antraf, entsprach ganz und gar nicht seinen Erwartungen. Eine Ansammlung von Ortsansässigen, kleinen, unauffällig gekleideten Leuten aus Cairhien und dazwischen ein paar hochgewachsenere Andoraner in bunteren Farben bildete — ohne jede Beifalls- oder Unmutsäußerung —einen Kreis um zwei große, schlanke Männer mit gezwirbelten Schnurrbärten in langen Mänteln aus glänzender Seide im Stil Murandys. Sie trugen Schwerter mit kunstvoll vergoldeten Knäufen und Parierstangen. Der Kerl mit dem roten Mantel stand vor Vergnügen grinsend da und beobachtete den in Gelb, wie er einen Jungen, der Mat kaum bis zur Hüfte reichte, beim Kragen gepackt hielt und schüttelte, so wie ein Hund eine Ratte in den Zähnen hält und schüttelt.

Mat beherrschte sich. Er dachte daran, daß er ja überhaupt nicht wußte, wie die ganze Auseinandersetzung begonnen hatte. »Behandelt den Jungen nicht so grob«, sagte er und legte dem mit dem gelben Mantel mäßigend eine Hand auf den Arm. »Was hat er getan, daß Ihr...?«

»Er hat Pferd meiniges angefaßt!« fauchte der Mann im mindeanischen Dialekt und schüttelte Mats Hand ab. Die Mindeaner gaben damit an — sie gaben wirklich damit an! —, sie seien die unbeherrschtesten unter den verschiedenen Bewohnern Murandys. »Ich werden ihm seinen dünnen Bauernhals brechen! Ich drehen ihm seinen mageren...!«

Ohne ein weiteres Wort riß Mat den Schaft seines Speeres wuchtig hoch und traf mit dem Ende den Kerl genau zwischen die Beine. Der Mund des Burschen aus Murandy öffnete sich, doch es kam kein Laut heraus. Seine Augäpfel kippten hoch, bis fast nur noch Weiß zu sehen war. Der Junge löste sich blitzschnell aus dem Griff des Mannes, als dessen Beine nachgaben und er schließlich auf Knien und dem Gesicht im Schmutz der Straße lag. »Nein, das werdet Ihr nicht!« sagte Mat.

Das war natürlich noch nicht das Ende der Auseinandersetzung. Der Mann im roten Mantel riß nun an seinem Schwert. Er brachte die Klinge aber nur ein paar Fingerbreit heraus, und dann knallte ihm Mat den Speerschaft auf das Handgelenk. Stöhnend ließ der Mann das Heft los und griff mit der anderen Hand nach dem langen Messer an seinem Gürtel. Schnell hieb Mat ihm den Speer auf den Kopf über ein Ohr. Der Hieb war nicht einmal hart, doch der Kerl brach genau über dem anderen Mann zusammen. Verdammter Idiot! Mat war nicht ganz sicher, ob er damit den Rotmantel meinte oder sich selbst.

Endlich schob sich ein halbes Dutzend Rotarme durch den Ring der Zuschauer. Es waren tairenische Kavalleristen, die in ihren kniehohen Stiefeln ungeschickt einhermarschierten und deren rot- und goldfarbene Puffärmel von den roten Bändern abgeschnürt wurden. Edorion hielt den Jungen fest. Er war mager und blickte verstockt drein. Etwa sechs Jahre mochte er alt sein. Seine bloßen Zehen krümmten sich hin und wieder im Straßenstaub, wenn er ausprobierte, ob er eine Chance habe, aus Edorions Griff zu entkommen. Er war vielleicht das häßlichste Kind, das Mat je erblickt hatte — die Nase platt, der Mund zu breit, um in das Gesicht zu passen, und die Ohren standen wie die Henkel einer Tasse ab. Den Löchern in seiner Jacke und Hose nach zu schließen, gehörte er zu den Flüchtlingen. An ihm war wohl mehr Schmutz als irgend etwas anderes.

»Schlichtet diese Angelegenheit, Harnan«, sagte Mat. Das war ein Rotarm mit kantigem Kinn, ein Zugführer mit einem Gesichtsausdruck, als leide er andauernd, und mit einer ungeschickt gestochenen Tätowierung in Form eines Falken auf der linken Wange. Diese Mode schien sich in der Bande ständig auszubreiten, doch die meisten beschränkten sich dabei auf Körperteile, die normalerweise unter der Kleidung verborgen waren. »Findet heraus, was den Streit verursacht hat, und dann jagt diese beiden groben Kerle aus der Stadt.« Das hatten sie in jedem Fall verdient, wie auch immer sie provoziert worden sein mochten.

Ein knochiger Mann in einer Jacke vom typischen Schnitt aus Murandy wand sich zwischen den Zuschauern hindurch und fiel neben dem Paar auf die Knie. Der Gelbmantel hatte gerade damit begonnen, ersticktes Stöhnen von sich zu geben, während der Rotmantel sich mit beiden Händen an den Kopf faßte und etwas vor sich hin murmelte, was wie Verwünschungen klang. Der Neuankömmling veranstaltete mehr Aufhebens als beide zusammen. »Oh, meine Lords! Mein Lord Paers! Mein Lord Culen! Seid Ihr getötet worden?« Er streckte zitternde Hände in Mats Richtung aus. »Oh, tötet sie nicht, mein Lord! Nicht so hilflos, wie sie sind. Sie sind Jäger des Horns, mein Lord. Ich bin ihr Bursche, Padry. Sie sind Helden, mein Lord!«

»Ich werde überhaupt niemanden töten«, warf Mat angewidert ein. »Aber schafft diese Helden auf ihre Pferde und bis Sonnenuntergang aus Maerone fort! Ich mag keine erwachsenen Männer, die drohen, einem Kind den Hals umzudrehen. Bis Sonnenuntergang!«

»Aber, mein Lord, sie sind verwundet! Er ist doch bloß ein Bauernjunge, und er hat Lord Paers Pferd belästigt!«

»Ich habe mich nur draufgesetzt«, brach es aus dem Jungen heraus. »Es war nicht ... was Ihr behauptet habt!«

Mat nickte ernst. »Jungen dreht man nicht den Hals um, weil sie sich auf ein Pferd setzen, Padry. Nicht einmal Bauernjungen. Ihr sorgt dafür, daß diese beiden verschwinden, sonst könnte es passieren, daß ich ihnen die Hälse umdrehe.« Er gab Harnan einen Wink, der den anderen Rotarmen knapp zunickte, Zugführer taten niemals etwas persönlich, genausowenig wie die Bannerträger. Sie schnappten sich Paers und Culen, zerrten sie hoch und schleiften sie unter Stöhnen und Ächzen davon. Padry lief aufgeregt hinterher, rang die Hände und protestierte, seine Herren könnten in diesem Zustand nicht reiten und sie seien Jäger des Horns und Helden.

Edorion hielt immer noch die Quelle all dieser Unruhe am Arm fest, wie Mat jetzt bewußt wurde. Die Rotarme waren fort, und die Stadtbewohner liefen auseinander. Keiner widmete dem Jungen besondere Aufmerksamkeit; schließlich hatten sie für die eigenen Kinder zu sorgen, und das fiel ihnen schon schwer genug. Mat atmete schwer durch. »Ist dir denn nicht klar, daß man dir etwas tun könnte, wenn du dich so einfach auf ein fremdes Pferd setzt, Junge? Außerdem reitet ein Mann wie der möglicherweise einen Hengst, der einen kleinen Jungen glatt in den Boden seiner Box stampfen könnte, so daß niemand überhaupt wüßte, daß du dagewesen bist.«

»Ein Wallach.« Der Junge versuchte wieder, sich mit einem Ruck aus Edorions Griff zu befreien, und als er merkte, daß dieser sich kein bißchen gelockert hatte, machte er eine mürrische Miene. »Es war ein Wallach, und lammfromm; er hätte mir nichts getan. Pferde mögen mich. Ich bin auch kein kleiner Junge; ich bin neun. Und ich heiße Olver — nicht Junge.«

»Olver, ja?« Neun? Nun gut, vielleicht. Mat konnte so etwas schwer einschätzen, und besonders bei den Kindern aus Cairhien. »Also, Olver, wo sind deine Mutter und dein Vater?« Er sah sich um, aber die Flüchtlinge, die vorbeikamen, schritten genauso schnell weiter wie die Stadtbewohner. »Wo sind sie, Olver? Ich muß dich doch zu ihnen zurückbringen.«

Statt zu antworten, biß sich Olver auf die Lippe. Eine Träne rann ihm aus einem Auge und er rieb sie zornig weg. »Die Aiel haben meinen Papa getötet. Einer von diesen ... Schado. Mama hat gesagt, daß wir nach Andor gehen. Sie sagte, wir würden auf einem Bauernhof wohnen. Mit Pferden.«

»Und wo ist sie jetzt?« fragte Mat leise.

»Sie ist krank geworden. Ich — ich habe sie begraben, wo ein paar Blumen wuchsen.« Plötzlich trat Olver nach Edorion und begann, sich in seinem Griff zu winden. Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Laßt mich gehen! Ich kann auf mich selbst aufpassen. Laßt mich gehen!«

»Paßt auf ihn auf, bis wir jemanden für ihn finden«, sagte Mat zu Edorion, der ihn mit offenem Mund ansah, während er gleichzeitig den Jungen abwehrte und ihn dabei festzuhalten versuchte.

»Ich? Was soll ich denn mit diesem Leoparden von einer Teppichmaus anfangen?«

»Besorgt ihm beispielsweise eine Mahlzeit.« Mat rümpfte die Nase. Dem Gestank nach hatte Olver zumindest einige Zeit auf dem Stallboden zugebracht, wo der Wallach stand. »Und ein Bad. Er stinkt.«

»Sprecht gefälligst mit mir selbst!« rief Olver und rieb sich über das Gesicht. Die Tränen halfen ihm dabei, den Dreck kräftig zu verschmieren. »Sprecht mit mir und nicht über meinen Kopf hinweg!«

Mat riß die Augen auf und dann bückte er sich zu dem Jungen herunter. »Tut mir leid, Olver. Ich konnte es auch nie leiden, wenn die Leute das mit mir machten. Also, es ist so: Du riechst nicht gut, und deshalb wird dich Edorion hier zum ›Goldenen Hirsch‹ mitnehmen, und dort richtet Frau Daelvin dir ein Bad.« Olvers Miene wurde noch ein wenig mürrischer. »Sollte sie etwas dagegen haben, dann sagst du ihr, daß es in meinem Auftrag geschieht. Sie darf dich nicht davon abhalten.« Mat hielt sein Grinsen ob Olvers plötzlich stolzen Blickes zurück; das hätte alles verdorben. Vielleicht paßte dem Jungen der Gedanke an ein Bad nicht, aber wenn ihn jemand möglicherweise davon abhalten wollte... »Jetzt geh mit und tu, was Edorion dir sagt. Er ist ein wirklicher Lord aus Tear, und er wird dafür sorgen, daß du eine gute, warme Mahlzeit bekommst und ein paar Kleidungsstücke, die noch nicht durchlöchert sind. Und außerdem Schuhe,« Am besten fügte er nicht hinzu: »Jemanden, der auf dich achtgibt.« Frau Daelvin würde sich seiner schon annehmen. Ein wenig Gold dürfte ihren Widerstand wohl brechen.

»Ich mag keine Tairener«, murmelte Olver, wobei er zuerst Edorion und dann Mat mit finsterer Miene musterte. Edorion hatte die Augen geschlossen und fluchte leise vor sich hin. »Ist er ein wirklicher Lord? Seid Ihr auch ein Lord?«

Bevor Mat etwas erwidern konnte, kam Estean durch die Menschenmenge gerannt. Sein dickes Gesicht war stark gerötet und schweißüberströmt. Sein verbeulter Harnisch ließ die frühere vergoldete Pracht nur noch erahnen, und die roten Satinstreifen an seinen gelben Ärmeln waren ausgebleicht. Er wirkte absolut nicht wie der Sohn des reichsten Lords von Tear. Aber so hatte er schließlich noch nie gewirkt. »Mat«, schnaufte er und fuhr sich mit den Fingern durch das strähnige Haar, das ihm ständig über die Stirn hing. »Mat... Drunten am Fluß...«

»Was denn?« unterbrach ihn Mat unwillig. Er würde sich jetzt wohl eine Aufschrift auf sämtliche Jacken nähen lassen: ›Ich bin kein verdammter Lord! ‹ »Sammael? Die Shaido? Die königliche Garde? Die verfluchten Weißen Löwen? Was, verdammt noch mal?«

»Ein Schiff, Mat«, brachte Estean keuchend heraus. Wieder strich er sich durchs Haar. »Ein großes Schiff. Ich glaube, es sind Meerleute.«

Das klang unwahrscheinlich. Die Atha'an Miere entfernten sich mit ihren Schiffen nie weiter vom offenen Meer als höchstens bis zum nächstgelegenen Binnenhafen. Andererseits... Es gab im Süden nicht viele Dörfer am Erinin, und der Proviant, den sie auf den Wagen mitführen konnten, würde ziemlich knapp werden, bis die Bande nach Tear kam. Er hatte bereits ein paar Flußkähne gechartert, die neben der Bande her nach Süden fahren sollten, doch ein größeres Schiff wäre schon mehr als nützlich.

»Kümmert Euch um Olver, Edorion«, sagte er und beachtete die Grimasse des Mannes gar nicht. »Estean, zeigt mir dieses Schiff.« Estean nickte eifrig und wäre sofort wieder losgerannt, hätte ihn Mat nicht am Ärmel gepackt, damit er im Schritt weiterging. Estean war immer eifrig dabei, und er lernte nur schwerfällig; diese Kombination hatte dazu geführt, daß er jetzt bereits fünf Schrammen von Frau Daelvins Knüppel davongetragen hatte.

Die Anzahl der Flüchtlinge stieg, je mehr sich Mat dem Fluß näherte, sowohl jener, die zum Ufer schlenderten, wie auch jener, die lethargisch zurückschlichen. Ein halbes Dutzend breit ausladender Fährboote lag an den langen Pieren aus geteerten Balken festgezurrt, aber man hatte die Ruder weggetragen, und auf keinem davon war auch nur ein Fährmann zu sehen. Die einzigen Kähne, auf denen sich etwas regte, waren ein halbes Dutzend Flußschiffe, wuchtig wirkende ein- oder zweimastige Lastkähne, die auf dem Weg flußaufwärts oder flußabwärts hier kurz angelegt hatten. Auf den Schiffen, die Mat gechartert hatte, rührten sich die barfüßigen Matrosen kaum. Ihre Laderäume waren voll, und ihre Kapitäne hatten ihm versichert, sie seien zum Auslaufen bereit, sobald er den Befehl dazu gebe. Auf dem Erinin waren weitere Schiffe zu sehen, in der Strömung schlingernde Kähne mit breitem Bug und viereckigen Segeln, oder auch schnelle, schmale Schiffe mit dreieckigen Segeln, doch von Maerone nach Aringill, über dem der Weiße Löwe von Andor flatterte, oder umgekehrt, überquerte keines den Fluß.

Dieselbe Flagge wehte ursprünglich auch über Maerone, und die andoranischen Soldaten, die diese Stadt besetzt gehalten hatten, wollten die Bande der Roten Hand keineswegs hereinlassen. Rand hielt ja möglicherweise Caemlyn, aber seine Befehlsgewalt erstreckte sich nicht auf die Mitglieder der Königlichen Garde hier oder auf die von Gaebril aufgestellten Truppenteile wie beispielsweise die Weißen Löwen. Mittlerweile befanden sich die Weißen Löwen ein Stück weiter im Osten, oder jedenfalls waren sie in diese Richtung geflohen, und jedes zweite Gerücht aus dieser Richtung, in dem von Räuberbanden die Rede war, konnte sich durchaus auch auf sie beziehen, aber die anderen waren nach einigen harten Scharmützeln mit der Bande schnell zur anderen Seite übergesetzt. Seither hatte niemand mehr den Erinin überquert.

Das einzige, was Mat allerdings jetzt wahrnahm, war ein Schiff, das mitten in dem breiten Fluß Anker geworfen hatte. Es war wirklich ein Klipper der Meerleute, höher und länger als alle Flußschiffe, aber trotzdem noch windschnittig, mit zwei zum Heck zu geneigten Masten ausgestattet. Dunkle Gestalten kletterten in der Takelage herum; einige mit bloßem Oberkörper und Pumphosen, die auf diese Entfernung schwarz wirkten, einige aber auch mit bunten Blusen angetan, also offensichtlich Frauen. Etwa die Hälfte der Besatzung würde sowieso aus Frauen bestehen. Die großen, viereckigen Segel hatten sie bis an die Rahen hochgezogen, aber sie hingen lose dort oben, nicht wie üblich festgezurrt, damit man sie im Handumdrehen herunterlassen konnte.

»Sucht mir ein Boot«, sagte er zu Estean. »Und ein paar Ruderer.« Estean mußte man auf so etwas extra aufmerksam machen. Der Tairener sah ihn mit großen Augen an und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Beeilt Euch, Mann!« Estean nickte ruckartig und setzte sich schwerfällig in Bewegung.

Mat ging bis zum Ende des nächstgelegenen Piers, legte sich den Speer über die Schulter und holte sein Fernrohr aus der Manteltasche. Als er die Messingröhre an das Auge hielt, sprang das Schiff mit einemmal auf ihn zu und er erkannte Einzelheiten. Die Meerleute schienen auf etwas zu warten, aber worauf? Einige hielten in Richtung Maerone Ausschau, aber die meisten blickten in die entgegengesetzte Richtung, darunter alle, die sich auf dem hohen Achterdeck befanden. Dort würde sich die Segelherrin zusammen mit den anderen Schiffsoffizieren aufhalten. Er schwang das Fernrohr ein Stück herum und beobachtete das andere Flußufer.

Von dort her näherte sich ein langes, schmales Ruderboot. Dunkelhäutige Männer saßen an den Riemen und trieben das Boot schnell dem Schiff zu.

Es gab an den langen Anlegestegen Aringills so etwas wie einen Menschenauflauf, ganz ähnlich dem am Ufer Maerones. Rote Kurzmäntel mit weißen Kragen und glänzenden Harnischen deuteten auf Mitglieder der Königlichen Garde hin, die sich offensichtlich mit einer vom Schiff her gekommenen Gruppe trafen. Was Mat zu einem leisen Pfeifen veranlaßte, waren die beiden mit Fransen besetzten roten Sonnenschirme bei den Neuankömmlingen. Einer davon wies sogar zwei ›Stockwerke‹ auf. Manchmal waren diese uralten, geliehenen Erinnerungen wirklich nützlich: dieser zweistöckige Sonnenschirm gehörte zu einer Clan Wogenherrin, während der andere wohl ihren Schwertmeister kennzeichnete.

»Ich habe ein Boot, Mat«, verkündete Estean lauthals und atemlos an seiner Schulter. »Und ein paar Ruderer.«

Mat wandte sich mit seinem Fernrohr wieder dem Schiff zu. Der Unruhe an Deck zufolge waren sie gerade dabei, das kleine Boot auf der gegenüberliegenden Seite hochzuhieven, doch gleichzeitig harten andere Männer an der Ankerwinde damit begonnen, den Anker zu lichten, und die Segel wurden herabgelassen. »Sieht so aus, als brauchte ich es nicht mehr«, knurrte er.

An der anderen Seite des Flusses verschwand die Delegation der Atha'an Miere mit ihrer Eskorte von Gardesoldaten in Richtung Stadt. Das Ganze ergab irgendwie keinen Sinn. Meerleute neunhundert Meilen vom Meer entfernt. Nur die Herrin aller Schiffe war von höherem Rang als eine Wogenherrin, und nur der Meister aller Klingen stand über ihrem Schwertmeister. Nein, es ergab keinen Sinn, nicht einmal den Erinnerungen dieser anderen Männer nach. Aber diese waren natürlich auch uralt. Er ›erinnerte‹ sich daran, daß man von den Atha'an Miere weniger wußte als von irgendeinem anderen Volk, abgesehen von den Aiel. Er selbst wußte mehr aus eigener Erfahrung über die Aiel als aus diesen Erinnerungen, und auch das war noch ziemlich wenig. Vielleicht konnte sich jemand einen Reim drauf machen, der die Meerleute von heute gut kannte.

In kürzester Zeit blähten sich die Segel über dem Schiff des Meervolks, während der Anker tropfend auf dem Vorderdeck festgemacht wurde. Was sie auch zu solcher Eile antrieb, jedenfalls wollten sie nicht zum Meer zurück. Immer schneller glitt das Schiff flußaufwärts der langgezogenen Krümmung nach in Richtung der von Sümpfen gesäumten Mündung des Alguenya ein paar Meilen nördlich von Maerone.

Nun, es hatte jedenfalls nichts mit ihm zu tun. Nach einem letzten bedauernden Blick in Richtung des Schiffes, das bestimmt eine ebensolche Ladung hätte befördern können, wie all die kleinen gecharterten Flußkähne zusammen, steckte Mat des Fernrohr in die Tasche zurück und wandte dem Fluß den Rücken zu. Estean stand immer noch herum und starrte ihn an.

»Sagt den Ruderern, daß sie wieder gehen können, Estean«, seufzte Mat enttäuscht, und der Tairener stampfte unter Selbstgesprächen davon, wobei er sich schon wieder mit den Händen durchs Haar fuhr.

Es war mehr Schlamm an den Ufern sichtbar als beim lerztenmal, als er vor ein paar Tagen zum Fluß heruntergekommen war. Wohl nur ein matschiger Streifen weniger als eine Handbreit zwischen dem Wasserlauf und dem einen Schritt breiten Streifen getrockneten Schlamms daneben, aber eben doch der Beweis dafür, daß selbst ein Fluß wie der Erinin langsam austrocknete. Hatte nichts mit ihm zu tun. Er konnte sowieso nichts dagegen ausrichten. So ging er zurück und machte sich wieder an die Runde durch die Tavernen und Schankräume. Es war wichtig, daß heute niemand etwas Außergewöhnliches bemerkte.

Als die Sonne unterging, befand sich Mat wieder im ›Goldenen Hirsch‹ und tanzte mit Betse. Sie hatte nun keine Schürze mehr an, und die Musiker spielten, so laut sie nur konnten. Diesmal waren es ländliche Tanzmelodien. Die Tische und Bänke hatte man weggeschoben, um Platz für sechs oder acht Paare zu gewinnen. Die Dunkelheit brachte ein wenig Abkühlung mit sich, aber auch nur im Vergleich mit der Tageshitze. Alles schwitzte nach wie vor. Lachende und trinkende Männer füllten die Sitzbänke, und dazwischen eilten die Serviererinnen geschäftig einher, brachten Hammelfleisch, Zwiebeln und Graupensuppe an die Tische und füllten die Bierkrüge und Weinbecher nach.

Überraschenderweise schienen die Frauen gern zwischendurch zu tanzen. Sie betrachteten es wohl als willkommene Pause vom Herumschleppen der Tabletts und Krüge. Jedenfalls lächelte jede von ihnen geschmeichelt, wenn sie an der Reihe war, sich den Schweiß von der Stirn zu tupfen, die Schürze abzulegen und eine Runde zu tanzen, obwohl sie gleich wieder genauso schwitzte wie vorher, kaum daß der Tanz begonnen hatte. Vielleicht hatte Frau Daelvin eine Art Ablösung mit ihnen vereinbart. Sollte das der Fall sein, machte sie allerdings bei Betse eine Ausnahme. Diese schlanke junge Frau brachte niemandem außer Mat den Wein, tanzte ausschließlich mit Mat, und die Wirtin strahlte sie an wie eine Mutter bei der Hochzeit ihre Tochter. Das machte Mat nervös. Betse tanzte wirklich so lange mit ihm, bis ihm die Füße schmerzten und seine Waden verkrampften, doch sie lächelte immerzu und aus ihren Augen leuchtete das reine Vergnügen. Außer natürlich, wenn sie gerade eine Pause einlegten, um Luft zu schnappen. Zumindest er schöpfte Luft; sie schien das nicht nötig zu haben. Sobald ihre Füße zum Stehen kamen, galoppierte ihre Zunge los. Sie schwatzte selbst dann, wenn er sie zu küssen versuchte, und darüber hinaus drehte sie jedesmal den Kopf weg, weil sie gerade irgend etwas zu bestaunen hatte, und so küßte er dann ihr Ohr oder das Haar anstatt ihrer Lippen.

Das schien sie auch immer zu überraschen. Er wurde sich nicht klar darüber, ob sie nun einfach ein totaler Holzkopf war, oder unwahrscheinlich clever.

Der Zeiger der Uhr auf dem Kamin bewegte sich bereits auf die zweite Stunde nach Mitternacht zu, als er ihr schließlich sagte, er habe für heute genug. Enttäuschung überflog ihre Miene, und sie schmollte sogar ein wenig. Wie es schien, war sie bereit, bis zum Morgengrauen durchzutanzen. Damit stand sie nicht allein. Eine der älteren Serviererinnen stütze sich mit einer Hand an der Wand ab, um sich mit der anderen einen Fuß zu massieren, aber die meisten der anderen hatten genauso strahlende Augen und wirkten ebenso sprungbereit wie Betse. Die größere Zahl der Männer dagegen zeigte deutliche Abnützungserscheinungen. Das Lächeln derjenigen, die sich von ihren Bänken auf die Tanzfläche zerren ließen, war schon ziemlich starr, während eine Menge bereits nur noch abwinkte. Mat verstand das nicht. Es mußte wohl daher rühren, so entschied er schließlich, daß die Männer beim Tanzen die meiste Arbeit verrichteten. Sie hoben die Frauen hoch und wirbelten sie herum. Und die Frauen waren ja recht leicht. Einfach nur herumzuhüpfen, kostete sie bestimmt weniger Energie. Er sah erstaunt einer drallen Serviererin nach, die wohl eher Estean über den Tanzboden wirbelte als umgekehrt — und dabei konnte der Mann wirklich tanzen; das Talent hatte er! —, und drückte Betse ein Goldmünze in die Hand, eine dicke andoranische Krone, damit sie sich etwas Hübsches dafür kaufen konnte.

Sie betrachtete die Münze einen Augenblick lang und stellte sich dann auf Zehenspitzen, um ihn ganz leicht auf den Mund zu küssen. Es war wie die Berührung einer Feder. »Ich würde Euch niemals hängen, was Ihr auch anstellt. Tanzt Ihr morgen wieder mit mir?« Bevor er antworten konnte, kicherte sie und eilte davon, wobei sie ihn noch über die Schulter anblickte, obwohl sie bereits Edorion zur Tanzfläche zu zerren versuchte. Frau Daelvin fing das Paar allerdings ab und drückte Betse eine Schürze in die Hand. Dann deutete sie mit dem Daumen in Richtung der Küche.

Mat humpelte leicht, als er zu dem Tisch an der hinteren Wand hinüberschritt, an dem sich Talmanes, Daerid und Nalesean vergraben hatten. Talmanes starrte in seinen Becher, als erhoffe er sich von dem Wein tiefschürfende Erkenntnisse. Ein grinsender Daerid sah zu, wie Nalesean versuchte, sich eine dralle Serviererin mit grauen Augen und hellbraunem Haar vom Leib zu halten, ohne zuzugeben, daß er wunde Füße hatte. Mat stützte die Fäuste auf den Tisch. »Die Bande rückt beim ersten Tageslicht nach Süden ab. Ihr fangt besser gleich mit den Vorbereitungen an.« Die drei Männer starrten ihn mit offenen Mündern an.

»Das sind ja nur ein paar Stunden«, protestierte Talmanes, während gleichzeitig Nalesean sagte: »Es wird schon so lange dauern, sie auch nur aus den verschiedenen Tavernen herauszuzerren.«

Daerid, der kurz zusammengezuckt war, schüttelte nun den Kopf. »Heute nacht kommt keiner von uns zum Schlafen.«

»Ich schon«, sagte Mat. »Einer von Euch soll mich in zwei Stunden aufwecken. Beim ersten Tageslicht marschieren wir los.«

Und so fand er sich im grauen Schein der ersten Dämmerung auf Pips wieder, seinem kräftigen braunen Wallach, hatte den Speer vor sich über den Sattel gelegt und den unbespannten Langbogen unter die Halterung der Satteltaschen geschoben. In seinen Augen hätte man die Wirkung von Schlafmangel und Kopfschmerzen entdecken können, als er beobachtete, wie die Bande der Roten Hand Maerone verließ. Alle sechstausend. Die Hälfte zu Pferde, die Hälfte zu Fuß, und zusammen veranstalteten sie einen Lärm, um Tote in ihren Gräbern aufzuwecken. Trotz der frühen Stunde standen die Menschen am Straßenrand oder hingen staunend aus den Fenstern.

Die quadratische Flagge mit den roten Fransen und einer roten Hand auf weißem Grund wies ihnen den Weg. Unter der Hand war in hochroten Buchstaben der Wahlspruch der Bande aufgestickt: Dovie'andi se tovya sagain. »Es ist an der Zeit, die Würfel rollen zu lassen.« Nalesean, Daerid und Talmanes ritten neben dem Flaggenträger. Zehn berittene Männer trommelten auf messingbesetzte Kesselpauken mit roten Behängen ein, und genauso viele Trompeter vervollständigten die Marschmusik. Dahinter kam Naleseans Kavallerie, eine Mischung aus tairenischen Rittern und Verteidigern des Steins, dazu Lords aus Cairhien mit den Cons auf dem Rücken und ihren Dienstmannen auf den Fersen, und auch noch einige Andoraner. Jede Schwadron hatte ihre eigene lange Flagge mit der Roten Hand und einem Schwert, sowie einer Nummer darauf. Mat hatte sie auslosen lassen, wer welche Nummer erhielt.

Dieses Durcheinandermischen der Nationalitäten hatte einigen Groll ausgelöst; mehr als nur ein wenig, um bei der Wahrheit zu bleiben. Zu Anfang hatte die Kavallerie aus Cairhien nur Talmanes Befehl unterstanden, und die Tairener wurden von Nalesean angeführt. Die Infanterie war dagegen von Beginn an durcheinandergewürfelt worden. Es hatte auch Klagen darüber gegeben, daß er alle Truppenteile gleich stark gemacht hatte, genau wie über die Nummern auf den Flaggen und Abzeichen. Die Lords und Hauptleute hatten immer so viele Männer unter ihren Wimpeln versammelt, wie ihnen folgen wollten. Sie waren dann eben als Edorions oder Meresins oder Alhandrins Männer geführt worden. Das gab es wohl immer noch in gewissem Maße — beispielsweise bezeichneten sich die fünfhundert Mann Edorions als ›Edorions Hämmer‹ und nicht einfach als Erste Schwadron —, aber Mat hatte ihnen eingetrichtert, daß jedermann der Bande angehörte, gleich, in welchem Land er zufällig geboren war, und jeder, dem dies nicht paßte, könne ja gehen. Das Bemerkenswerte daran war, daß kein einziger die Bande verließ.

Warum sie blieben, war schwer zu verstehen. Sicher, sie gewannen, solange er sie anführte, doch es starben schließlich trotzdem einige. Er hatte Schwierigkeiten damit, sie alle zu ernähren und dafür zu sorgen, daß sie mehr oder weniger pünktlich ihren Sold erhielten, und die Reichtümer, mit denen sie angaben, sie würden sie als Beute erlangen, konnten sie durchaus vergessen. Niemand hatte bisher etwas davon zu sehen bekommen, und er sah kaum eine Möglichkeit, daß sie diese Reichtümer je zu sehen bekämen. Es war schon verrückt.

Die Erste Schwadron begann, im Chor zu jubeln, und die Vierte und Fünfte schlossen sich dem Geschrei im Vorüberziehen an. Sie bezeichneten sich als ›Carlomins Leoparden‹ und ›Reimons Adler‹. »Lord Matrim zum Sieg! Lord Matrim zum Sieg!«

Hätte Mat einen Stein zur Hand gehabt, er hätte ihn ihnen an den Kopf geworfen.

Die Infanterie kam als nächstes in einer langen, gewundenen Reihe, jede Kompanie hinter einer Trommel, die den Marschrhythmus angab, und ebenfalls angeführt von einem Bannerträger. Auf ihren genauso langen Flaggen war statt des Schwertes eine Pike über der Hand abgebildet. In zwanzig Reihen marschierten sie unter einem Stachelpelz aus Piken, und dahinter jeweils fünf Reihen von Bogen- oder Armbrustschützen. Mit jeder Kompanie marschierten auch ein oder zwei Pfeifer, und zu ihrer Melodie sangen die Soldaten:

Singen und Tanzen, und für unsren Sold sind uns die schönsten Mädchen hold. Wir ziehen weiter, wenn verbraucht das Gold, und dann tanzen wir wieder mit dem Schwarzen Mann.

Mat wartete ab, bis die ersten Reiter von Talmanes Kavallerie erschienen, und dann gab er Pips die Fersen zu spüren. Überflüssig, auf die Proviantwagen oder die lange Kette der Ersatzpferde am Ende der Kolonne zu warten. Zwischen hier und Tear würden eine Menge Pferde lahmen oder aus Gründen verenden, gegen die die Hufschmiede und Pferdepfleger machtlos waren. Ein Kavalleriesoldat ohne Pferd war nicht viel wert. Auf dem Fluß krochen sieben kleinere Kähne unter dreieckigen Segeln langsam voran, nur unwesentlich schneller als die Strömung. Auf jedem flatterte eine kleine weiße Flagge mit der Roten Hand. Auch andere Schiffe befanden sich im Aufbruch. Ein paar hatten jeden Fetzen Segel gesetzt, den sie nur setzen konnten, um schnell voranzukommen.

Als er die Spitze der Kolonne einholte, lugte die Sonne schließlich über den Horizont und sandte ihre ersten Strahlen über die wogenden Hügel und vereinzelten Waldstücke. Er zog die Krempe seines Hutes weit herunter, um seine Augen gegen die grelle Lichtsichel zu schützen. Nalesean hielt sich eine im Kampfhandschuh steckende Hand vor den Mund und unterdrückte ein gewaltiges Gähnen, während Daerid zusammengesunken im Sattel hing, mit schweren Lidern, als werde er jeden Moment gleich an Ort und Stelle einschlafen. Nur Talmanes saß aufrecht im Sattel, mit weit geöffneten Augen und aufmerksam. Mat empfand mehr Mitgefühl für Daerid.

Trotzdem erhob er die Stimme, damit sie über all die Trommeln und Trompeten hinweg hörbar war: »Sendet die Kundschafter aus, sobald wir außer Sicht der Stadt sind!« Weiter im Süden würden sie sowohl Wald wie auch offenes Land antreffen, doch eine recht ordentlich befahrbare Straße durchschnitt beides. Allerdings spielte sich der meiste Verkehr auf dem Wasser ab, aber es waren im Laufe der Zeit so viele Menschen zu Fuß und im Wagen hier durchgekommen, daß eine deutliche Fahrspur geblieben war. »Und macht Schluß mit diesem verdammten Lärm!«

»Die Kundschafter?« sagte Nalesean nachdenklich. »Seng meine Seele — es befindet sich doch niemand mit auch nur einem Speer in der Hand innerhalb von zehn Meilen im Umkreis, es sei denn, Ihr glaubt, die Weißen Löwen hätten ihre Flucht aufgegeben. Aber selbst dann werden sie sich hüten, sich uns auch nur auf fünfzig Meilen zu nähern, falls sie eine Ahnung davon haben, daß wir uns in der Gegend befinden.«

Mat beachtete ihn nicht. »Ich will heute fünfunddreißig Meilen weit vorankommen. Wenn wir dann soweit sind, daß wir jeden Tag fünfunddreißig Meilen schaffen, werden wir sehen, ob wir noch schneller vorankommen können.« Natürlich starrten sie ihn mit offenen Mündern an. Pferde konnten ein solches Tempo nicht sehr lange durchhalten, und jeder außer den Aiel betrachtete fünfundzwanzig Meilen als ausgezeichneten Tagesmarsch für die Infanterie. Doch er mußte seine Karten so ausspielen, wie sie verteilt worden waren. »Comadrin hat geschrieben: ›Greift am Boden an, wenn Euer Feind nicht damit rechnet; aus einer unerwarteten Richtung und zu einem unerwarteten Zeitpunkt. Verteidigt Euch, wenn der Feind nicht daran glaubt und wenn er denkt, ihr würdet fliehen. Überraschung ist der Schlüssel zum Sieg und Geschwindigkeit ist der Schlüssel zur Überraschung. Für den Soldaten ist Geschwindigkeit gleichbedeutend mit Überleben.««

»Wer ist Comadrin?« fragte Talmanes einen Augenblick später, und Mat mußte sich zusammenreißen, um ihm zu antworten: »Ein General. Ist schon lange tot. Ich habe sein Buch einmal gelesen.« Er erinnerte sich tatsächlich daran, das Buch mehr als einmal gelesen zu haben, aber er bezweifelte, daß sich heutzutage noch ein Exemplar davon irgendwo finden ließe. Außerdem erinnerte er sich daran, Comadrin kennengelernt zu haben, nachdem er eine Schlacht gegen ihn verloren hatte, etwa sechshundert Jahre vor der Zeit Artur Falkenflügels. Diese Erinnerungen schlichen sich eben immer wieder bei ihm ein. Wenigstens hatte er diese kleine Rede nicht in der Alten Sprache geschwungen. Mittlerweile mied er für gewöhnlich solche Ausrutscher.

Mat entspannte sich langsam, als er beobachtete, wie die berittenen Kundschafter über die sanft geschwungene Flußebene ausschwärmten. Sein Anteil an diesem Plan war nun eingeleitet, ganz wie vorgesehen. Ein hastiger Aufbruch, fast unvorbereitet, so, als wolle er sich nach Süden wegschleichen, aber doch auffällig genug, um sicherzugehen, daß er bemerkt wurde. Diese Kombination würde ihn sehr töricht wirken lassen, und auch das war nur zum besten. Der Bande das schnelle Vorrücken einzutrichtern war allein schon eine gute Sache — schnelles Vorrücken konnte einen aus dem eigentlichen Kampf fernhalten —, aber ihr Weg konnte sehr gut zumindest vom Fluß aus verfolgt werden. Er suchte den Himmel ab, konnte jedoch keine Raben oder Krähen entdecken. Das wollte allerdings nicht viel heißen. Es waren auch keine Tauben zu sehen, aber sollte diesen Morgen keine Maerone verlassen haben, würde er seinen eigenen Sattel essen.

In höchstenfalls ein paar Tagen würde Sammael erfahren, daß die Bande im Anrücken war und sich beeilte. Die Befehle, die Rand unterdessen in Tear ausgegeben hatte, würden deutlich werden lassen, daß Mats Ankunft die sofortige Invasion in Illian auslöste. Auch bei der höchsten Marschgeschwindigkeit, die er der Bande zumuten konnte, würden sie doch noch mehr als einen Monat bis Tear brauchen. Mit ein wenig Glück würde Sammael wie eine Laus zwischen zwei Steinen zerquetscht bevor Mat sich dem Mann auch nur auf hundert Meilen nähern mußte. Sammael war in der Lage, alles kommen zu sehen, oder zumindest fast alles, aber es würde ein anderer Tanz werden, als er ihn erwartete. Anders als jeder andere bis auf Rand, Mat und Bashere erwartete. Darin bestand der eigentliche Plan. Mat ertappte sich dabei, wie er gut gelaunt vor sich hin pfiff. Diesmal würden sich die Dinge genau so entwickeln, wie er es erwartete.

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