6 Schattengewebe

Vorsichtig trat Sammael auf die Seidenteppiche mit ihrem Blumenmuster und ließ das Tor geöffnet für den Fall, daß er sich schnell zurückziehen mußte. So hielt er auch Saidin beinahe krampfhaft fest. Gewöhnlich mied er ja alle Konferenzen, die nicht auf neutralem Boden oder bei ihm selbst stattfanden, aber dies war bereits das zweite Mal, daß er hierher kam. Ein klarer Fall von Notwendigkeit. Er war nie ein Mann gewesen, der anderen leicht Vertrauen schenkte, und das hatte sich gewiß nicht geändert, seit er erfahren hatte, was sich zwischen Demandred und den drei Frauen abgespielt hatte und Graendal hatte ihm auch nur soviel anvertraut, wie nötig gewesen war, um ihm klarzumachen, inwieweit sie selbst ihre Position verbessert hatte. Er verstand das ja nur zu gut, denn auch er hatte Pläne, von denen er die anderen Auserwählten nichts wissen ließ. Es würde nur einen Nae'blis geben, und das allein war fast genausoviel wert wie die Unsterblichkeit selbst.

Er stand auf einem breiten Podest, der an einem Ende eine Marmorbrüstung aufwies, und hier hatte man Tische und Stühle — vergoldet und teils aus Elfenbein geschnitzt, wobei einige ziemlich ekelhafte Motive zeigten — so aufgestellt, daß man von ihnen aus den Rest des langen, von Säulen gestützten Saales zehn Fuß unter ihnen gut übersehen konnte. Es führten keine Stufen dort hinunter. Der Saal war wie eine riesige, extravagant ausgestaltete Grube, in der man Vorführungen zur Unterhaltung derer auf dein Podest veranstalten konnte. Sonnenschein fiel durch hohe Fenster herein, deren bunte Glasscheiben komplizierte Lichtmuster auf den Boden warfen. Die brütende Hitze, die von der Sonne ausging, war hier nicht zu spüren; die Luft war kühl, auch wenn er das nur am Rande wahrnahm. Graendal mußte sich deswegen genausowenig Mühe machen wie er, aber sie tat es natürlich. Es war ein Wunder, daß sie das Netz der Einen Macht nicht über den ganzen Palast ausgedehnt hatte.

Es war etwas anders geworden an diesem tiefergelegenen Teil des Saales, seit er das letzte Mal hierhergekommen war. Er wußte aber nicht zu sagen, worin der Unterschied lag. Drei langgestreckte, seichte Wasserbecken, jedes aus einem Brunnen gespeist, zogen sich durch die Mitte des Saales. Die Brunnenfiguren waren schlanke Gestalten, die wie eingefrorene Bewegung wirkten. Das Wasser sprang aus diesen Fontänen hoch bis fast an die aus Marmor gehauenen Rippen des Deckengewölbes. In den Becken tummelten sich Männer und Frauen, die höchstens einen Fetzen Seide oder noch weniger trugen, während an den Seiten andere, kaum mehr bekleidet, ihre Künste vollführten: Akrobaten und Jongleure, Tänzer ganz unterschiedlicher Stilrichtungen und Musiker mit Flöten und Hörnern, Trommeln und allen Arten von Saiteninstrumenten. Jede Größe war vertreten, jede Hautfarbe und Haarfarbe und Augenfarbe, und einer war körperlich vollkommener als der andere. All das sollte diejenigen unterhalten, die sich auf dem Podest befanden. Es war idiotisch. Zeit- und Energieverschwendung. Typisch für Graendal.

Bis auf ihn war das Podest leer gewesen, als er aus dem Tor getreten war, aber so von Saidin erfüllt und mit geschärften Sinnen roch er Graendals süßes Parfüm, wie eine Brise, die von einem Blumengarten her kam, und er hörte ihre Pantoffeln über den Teppich streifen, bevor sie ihn von hinten her ansprach: »Sind meine Schätzchen nicht wunderschön?«

Sie trat neben ihn an die Brüstung und lächelte auf das Schauspiel unter ihnen herab. Ihr dünnes Domanikleid klebte beinahe an ihrer Haut und zeigte mehr, als es andeutete. Wie immer trug sie an jedem Finger einen Ring mit einem anderen Edelstein, dazu vier oder fünf über und über mit Gemmen besetzte Armreife an jedem Handgelenk, und um den Stehkragen des Abendkleides schmiegte sich ein breites Kollier aus enorm großen Saphiren. Er verstand nicht viel von solchen Dingen, aber er vermutete, es habe Stunden gedauert, um diese sonnengoldenen Locken zu frisieren, die ihr auf die Schultern fielen. Scheinbar wahllos verstreut hingen dazwischen Mondperlen, aber es war etwas an dieser scheinbaren Unordnung, das auf eine ganz präzise geplante Ordnung hindeutete.

Sammael staunte manchmal über sie. Er hatte sie erst kennengelernt, als er sich entschloß, eine verlorene Sache aufzugeben und statt dessen dem Großen Herrn zu folgen, aber jeder schien sie zu kennen, berühmt und geehrt, eine hingebungsvoll arbeitende Asketin, die jene behandelte, deren verstörten Hirnen die normale Heilkunst nicht mehr helfen konnte. Bei diesem ersten Zusammentreffen, als sie ihm die ersten Gefolgschaftseide für den Großen Herrn abnahm, war jede Spur der enthaltsamen Wohltäterin aus ihr gewichen, als habe sie sich absichtlich allem zugewandt, was im völligen Gegensatz zu ihren früheren Zielen stand. Oberflächlich betrachtet, war sie ausschließlich auf ihr eigenes Vergnügen fixiert, und ihr Wunsch, jeden vom Thron zu stoßen, der auch nur ein wenig Macht besaß, wurde dadurch verschleiert. Und dahinter wiederum verbarg sich ihr eigener Machthunger, den sie nur selten nach außen hin zeigte. Graendal hatte es schon immer sehr gut verstanden, Dinge zu verbergen, die doch ganz klar ersichtlich waren. Er glaubte, sie besser zu kennen als jeder der anderen Auserwählten —sie hatte ihn sogar zum Schayol Ghul begleitet, als er dort seinen Antrittsbesuch machte —, aber selbst er kannte nicht alle Schichten ihrer vielschichtigen Persönlichkeit. An ihr entdeckte man so viele Schattierungen, wie ein Jegal Schuppen aufwies, und sie schlüpfte blitzschnell von einer in die andere Rolle. Damals war sie die Herrin gewesen und er ihr Anhänger, trotz all seiner Verdienste als General. Diese Lage hatte sich geändert.

Keiner der in den Becken Watenden oder der Akrobaten blickte hoch, und doch wurden ihre Bewegungen mit ihrer Ankunft energischer und noch graziöser, falls überhaupt möglich. Jeder versuchte, sich so gut wie möglich herauszustreichen. Sie existierten lediglich, um ihr zu gefallen. Dafür sorgte Graendal ganz gewiß.

Sie deutete auf vier Akrobaten, einen dunkelhaarigen Mann, der drei schlanke Frauen stützte. Ihre kupferfarbene Haut war eingeölt und schimmerte im Licht. »Ich glaube, das sind meine Lieblinge. Ramsid ist der Bruder des Königs von Arad Doman. Die Frau auf seinen Schultern ist Ramsids Ehefrau; die anderen beiden sind die jüngste Schwester und die älteste Tochter des Königs. Findest du es nicht auch bemerkenswert, was Menschen alles erlernen können, wenn man sie nur richtig motiviert? Denk einmal an all diese Talente, die nur verschwendet werden.« Das gehörte zu ihren Lieblingsthemen. Ein Platz für jeden und jeder an seinem Platz, der ihm auf Grund seiner Talente und der gesellschaftlichen Notwendigkeiten zugeteilt wurde. Diese Notwendigkeiten schienen allerdings immer auf ihre eigenen Wünsche herauszulaufen. Das Ganze langweilte Sammael. Hätte sie ihr Konzept auch auf ihn angewandt, dann hätte sich überhaupt nichts an seiner Stellung im Leben geändert.

Der männliche Akrobat drehte sich langsam um die eigene Achse, damit sie alles gut beobachten konnten. Er hielt nach jeder Seite eine Frau am ausgestreckten Arm hinaus, während diese sich jeweils mit einer Hand an der Frau auf seinen Schultern festhielten. Graendals Aufmerksamkeit hatte sich jedoch bereits wieder den nächsten zugewandt, einem Mann und einer Frau mit sehr dunkler Haut und gekräuselten Haaren, die beide ausgesprochen schön aussahen. Das schlanke Paar spielte auf seltsam langgezogenen Harfen mit Glöckchen daran, die beim Mitschwingen mit den gezupften Saiten kristallklare Echos warfen. »Meine neuesten Erwerbungen, aus den Ländern jenseits der Aiel-Wüste. Sie sollten mir dankbar dafür sein, daß ich sie errettet habe. Chiape war Sh'boan, eine Art von Kaiserin, und gerade Witwe geworden, und Shaofan war auserkoren, sie zu heiraten und damit Sh'botay zu werden. Sieben Jahre lang hätte sie als absolute Herrscherin regiert, und dann wäre sie gestorben. Daraufhin hätte er dann eine neue Sh'boan auserwählt und bis zu seinem Tod nach weiteren sieben Jahren als absoluter Herrscher regiert. Diesen Zyklus haben sie fast dreitausend Jahre lang ohne Pause eingehalten.« Sie lachte ein wenig und schüttelte staunend den Kopf. »Shaofan und Chiape behaupten steif und fest, ihr Tod sei eine ganz natürliche Sache. Der Wille des Musters, so nennen sie das. Für sie geschieht alles nach dem Willen des Musters.«

Sammael behielt die Menschen drunten im Blick. Graendal schwatzte töricht dahin, doch nur ein wirklicher Narr hätte sie auch für töricht gehalten. Was ihr während ihrer Quatscherei manchmal zu entschlüpfen schien, war oft so sorgfältig eingeplant wie der Stich einer Conjenadel. Der Schlüssel lag immer in der Antwort auf die Frage nach dem Warum. Was wollte sie damit erreichen? Warum hatte sie sich ihre Schätzchen plötzlich aus so weit entfernten Ländern geholt? Sie wich doch nur selten von ihren ausgetretenen Pfaden ab. Wollte sie seine Aufmerksamkeit auf die Länder jenseits der Wüste lenken, indem sie ihn glauben machte, sie interessiere sich besonders dafür? War es ein Ablenkungsmanöver? Das Schlachtfeld lag schließlich hier.

Die erste Berührung durch den Großen Herrn, wenn er endlich freikam, würde diese Länder hier treffen. Der Rest der Welt würde am Rande der Stürme liegen, vielleicht auch von ihnen mit einbezogen werden, aber diese Stürme würden hier an Ort und Stelle entstehen.

»Da so viele aus der Familie des Domanikönigs deine Zustimmung fanden«, sagte er trocken, »bin ich überrascht, daß nicht noch mehr von ihnen hier landeten.« Falls sie ihn ablenken wollte, würde sie schon einen Weg finden, die entsprechende Bemerkung wieder einzuflechten. Sie konnte nie glauben, daß andere sie so gut kannten und ihre Tricks durchschauten.

Eine geschmeidige, dunkelhaarige Frau, nicht mehr jung, aber von einer Art blasser Schönheit und Eleganz, die sie bis zum Ende ihres Lebens auszeichnen würden, erschien neben seinem Ellbogen und trug einen Kristallkelch mit rotem, gewürztem Wein in beiden Händen. Er nahm ihn ihr ab, obwohl er nicht die Absicht hatte, zu trinken. Anfänger hielten gewöhnlich nach einem Frontalangriff Ausschau, bis ihnen die Augen tränten, aber einen einzelnen Attentäter ließen sie von hinten an sich herankommen, ohne ihn zu bemerken. Bündnisse, auch zeitlich begrenzte, waren ja schön und gut, aber je weniger von den Auserwählten am Tag der Wiederkehr noch am Leben waren, desto größer die Chance für einen der Überlebenden, zum Nae'blis ernannt zu werden. Der Große Herr hatte solche ... Rivalitäten immer gefördert, denn nur die cleversten waren es wert, ihm dienen zu dürfen. Manchmal glaubte Sammael, daß einfach der letzte Überlebende unter den Auserwählten schließlich die Herrschaft über die Welt für alle Zeiten erhalten werde.

Die Frau wandte sich wieder einem muskulösen jungen Mann zu, der ein goldenes Tablett mit einem weiteren Kelch und einer hohen, dazu passenden Karaffe in Händen trug. Beide hatten durchscheinende lange Gewänder an, und keines von beiden zuckte auch nur mit der Wimper des Tors wegen, durch das man seine Gemächer in Illian erblickte. Als sie Graendal bediente, zeigte sich auf dem Gesicht der Frau ungeteilte Anbetung. Es gab nie irgendwelche Schwierigkeiten mit ihren Dienern und anderen ihrer Lieblinge. Man konnte ganz offen vor ihnen sprechen, obwohl sich unter ihnen kein einziger Freund der Dunkelheit befand. Sie mißtraute den Freunden der Dunkelheit, behauptete stets, man könne sie ganz leicht umdrehen, doch die Stärke des inneren Zwangs, den sie in ihren persönlichen Bediensteten hervorrief, ließ wenig Raum für etwas anderes als eben totale Bewunderung und Anbetung.

»Ich hätte beinahe erwartet, daß der König selbst hier sei und Wein ausschenkt«, fuhr er fort.

»Wie du weißt, wähle ich nur die allerschönsten aus. Alsalam entspricht meinen Anforderungen nicht.« Graendal nahm ihren Wein von der Frau entgegen, ohne auch nur richtig hinzusehen, und nicht zum erstenmal fragte sich Sammael, ob auch ihre Schätzchen genau wie ihr Geschwätz lediglich ein Ablenkungsmanöver darstellten. Vielleicht konnte er mit ein wenig Stichelei etwas aus ihr herausholen?

»Früher oder später wird dir ein Ausrutscher passieren, Graendal. Einer deiner Besucher wird jemanden von denen erkennen, die ihm den Wein servieren oder sein Bett machen, und er wird schlau genug sein, den Mund zu halten, bis er weg ist. Was machst du, wenn jemand mit einem ganzen Heer diesen Palast überfällt, um einen Ehemann oder eine Schwester zu befreien? Ein Pfeil mag ja nicht so wirkungsvoll sein wie eine Schocklanze, aber er kann dich trotzdem töten.«

Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte, ein heiteres, vergnügtes Lachen, offensichtlich zu unschuldig, um zu bemerken, daß dieses Lachen ihn vielleicht beleidigte. Offensichtlich — wenn man sie nicht genau kannte. »Oh, Sammael, warum sollte ich sie etwas anderes sehen lassen, als ich ihnen zeigen will? Ich stelle ihnen bestimmt meine Lieblinge nicht als Bedienung zur Verfügung. Alsalams Anhänger und auch seine Gegner, selbst die Drachenverschworenen, gehen von hier weg im Glauben, ich unterstütze sie und nur sie allein. Und außerdem wollen sie eine so gebrechliche Person nicht unnötig aufregen.« Seine Haut prickelte ein wenig, als sie einen Strang der Macht verwob, und einen Augenblick lang veränderte sich ihre äußere Erscheinung. Ihre Haut färbte sich wie Kupfer, doch fehlte ihr nun der Glanz. Haar und Augen wurden dunkel und stumpf. Sie erschien hager und gebrechlich, das Bild einer einstmals schönen Domanifrau, die nun langsam aber sicher im Kampf gegen eine Krankheit unterlag. Er konnte sich gerade noch davon abhalten, die Lippen verächtlich zu schürzen. Eine Berührung würde bereits zeigen, daß die kantigen Umrisse ihres Gesichts nicht die ihres eigenen waren. Nur die subtilste Art von Illusionsgewebe würde einer solchen Prüfung widerstehen. Aber Graendal liebte es eben, so richtig aufzufallen. Im nächsten Moment war sie wieder sie selbst und lächelte lakonisch. »Du würdest nicht glauben, wie sie mir alle vertrauen und auf mich hören.«

Es erstaunte ihn ohne Ende, daß sie sich entschlossen hatte, hier in einem Schloß zu verbleiben, das man in ganz Arad Doman kannte, obwohl um sie herum der Bürgerkrieg tobte und Anarchie herrschte. Selbstverständlich nahm er nicht an, sie habe noch jemand anderen unter den Auserwählten wissen lassen, wo sie sich häuslich niedergelassen hatte. Daß sie gerade ihm dieses Wissen anvertraute, machte ihn mißtrauisch. Sie liebte ein bequemes Leben und wollte sich nicht besonders anstrengen müssen, um sich das zu erhalten, doch dieses Schloß befand sich in Sichtweite der Verschleierten Berge, und es bereitete doch erhebliche Mühe, den ganzen Aufruhr von ihr fernzuhalten. Sie mußte Fragen nach dem Verbleib der vorherigen Besitzer mitsamt ihrer Familie und Dienerschaft aus dem Weg gehen. Sammael wäre nicht überrascht gewesen, hätte jeder Domani, der zu Besuch hier verweilt hatte, hinterher geglaubt, dieses Land habe sich seit der Zerstörung der Welt im Besitz ihrer Familie befunden. Sie gebrauchte die Technik der Erzeugung eines inneren Zwangs so oft wie einen Schmiedehammer, daß man fast darüber vergaß, mit welchem Feingefühl sie auch schwächere Formen dieses inneren Zwangs benützte, wie sie einen Verstand so subtil beeinflußte, daß selbst bei der eingehendsten Befragung keine Spur von ihrem Wirken zu entdecken war. Darin war sie möglicherweise die größte Künstlerin, die es je gegeben hatte.

Er ließ das Tor verschwinden, hielt aber an Saidin fest. Solche Tricks wirkten nicht bei jemand, der in die Ausstrahlung der Wahren Quelle gehüllt war. Und in Wirklichkeit genoß er ja sogar diesen ständigen Überlebenskampf, auch wenn er mittlerweile ganz unbewußt stattfand. Nur die stärksten verdienten es, am Leben zu bleiben, und er bewies sich jeden Tag in dieser Auseinandersetzung aufs Neue, daß er es wert war. Es gab keine Möglichkeit, daß sie spüren konnte, wie er immer noch an Saidin festhielt, aber sie lächelte kurz in ihren Kelch hinein, als wisse sie Bescheid. Es paßte ihm beinahe genausowenig, wenn Leute vorgaben, etwas zu wissen, wie wenn Leute Dinge wußten, die er nicht kannte. »Was hast du mir zu berichten?« fragte er etwas grober, als er beabsichtigt hatte.

»Von Lews Therin? Du scheinst dich auch nie für etwas anderes zu interessieren. Also, das wäre ein tolles Schätzchen für mich. Ich würde ihn in den Mittelpunkt jeder Vorführung stellen. Normalerweise sieht er dafür ja nicht gut genug aus, aber das würde seine Person und ihre Bedeutung wiedergutmachen.« Wieder lächelte sie in ihren Kelch hinein und fügte so leise hinzu, daß es ohne die Hilfe Saidins auch für ihn nicht hörbar gewesen wäre: »Und ich mag hochgewachsene Männer.«

Es kostete ihn Mühe, sich daraufhin nicht kerzengerade aufzurichten. Er war wohl nicht klein, aber es ärgerte ihn doch, daß seine Körpergröße keineswegs seinen Fähigkeiten entsprach. Lews Therin war einen Kopf größer gewesen als er, und al'Thor ebenfalls. Man nahm einfach immer an, der größere Mann sei auch der bessere. Es kostete ihn nochmals Mühe, die Narbe nicht zu berühren, die sich schräg über sein Gesicht vom Haaransatz bis zum kantig gestutzten Bart hinunterzog. Die verdankte er Lews Therin, und er behielt sie bei, damit er immer daran erinnert wurde. Er vermutete, sie habe seine Frage absichtlich mißverstanden, um ihn zu ködern. »Lews Therin ist schon lange tot«, sagte er grob. »Rand al'Thor ist ein Emporkömmling von einem Bauernjungen, ein Opportunist, der einfach Glück hatte.«

Graendal riß die Augen auf, als sei sie überrascht. »Glaubst du das wirklich? Er hat wohl etwas mehr als nur Glück gehabt. Glück allein hätte ihn niemals in so kurzer Zeit so weit gebracht.«

Sammael war nicht gekommen, um über al'Thor zu diskutieren, aber er spürte nun doch, wie sich an seinem Rückgrat ein Eisklumpen bildete. Gedanken, die er mit Gewalt aus seinem Kopf verbannt hatte, drängten nun wieder in seinen Verstand hinein. Al'Thor war nicht Lews Therin, aber in al'Thor war Lews Therins Seele wiedergeboren worden, so wie einst auch Lews Therin selbst die Wiedergeburt dieser Seele gewesen war. Sammael war weder ein Philosoph noch ein Theologe, aber Ishamael war beides gewesen, und der hatte behauptet, in dieser Tatsache verborgene Bedeutungen enträtselt zu haben. Ishamael war im Wahnsinn verstorben, sicher, aber selbst zu der Zeit, als er noch geistig gesund gewesen war, damals, als es so sicher erschienen war, daß sie Lews Therin Telamon besiegen würden, hatte er behauptet, diese Auseinandersetzung habe sich seit der Schöpfung abgespielt, ein endloser Krieg, in dem der Große Herr und der Schöpfer Menschen als ihre Vertreter benutzten. Darüber hinaus hatte er geschworen, daß der Große Herr beinahe Lews Therin für den Schatten gewonnen hätte. Er sei daran genauso knapp gescheitert wie an seinem eigenen Ausbruch. Vielleicht war Ishamael auch damals bereits ein wenig verrückt gewesen, aber es hatte tatsächlich Bemühungen gegeben, Lews Therin zum Überlaufen zu veranlassen. Und Ishamael hatte gesagt, es sei auch in der Vergangenheit schon geschehen, daß der Kämpfer, den der Schöpfer für sich selbst ausgewählt hatte, am Ende für den Schatten stritt.

Diese Behauptungen führten zu einigen beunruhigenden Folgerungen, Komplikationen, die Sammael lieber gar nicht erst erwägen wollte, aber am meisten drängte sich ihm die Vorstellung auf, daß der Große Herr möglicherweise wirklich al'Thor zum Nae'blis machen könne. Das konnte nicht so einfach im luftleeren Raum geschehen. Al'Thor würde Hilfe benötigen, Hilfe — das konnte eine Erklärung für sein angebliches Glück sein, das ihm bisher zur Seite gestanden hatte. »Hast du erfahren, wo al'Thor Asmodean versteckt hält? Oder wo sich Lanfear aufhält? Oder Moghedien?« Natürlich versteckte sich Moghedien ohnehin immer. Die Spinne tauchte immer dann wieder auf, wenn man sie endgültig für tot gehalten hatte.

»Du weißt genausoviel wie ich«, sagte Graendal unbekümmert und nahm dann einen Schluck aus ihrem Kelch. »Was mich betrifft, so glaube ich, daß Lews Therin sie umgebracht hat. Ach, verzieh dein Gesicht nicht so. Ja, al'Thor, wenn du darauf bestehst.« Der Gedanke schien sie nicht weiter zu beunruhigen, aber sie würde niemals in offenen Konflikt mit al'Thor treten. Das war noch nie ihre Art gewesen. Falls al'Thor sie jemals entdeckte, würde sie einfach alles hier im Stich lassen und sich woanders neu einrichten — oder sie würde sich ihm ergeben, bevor er zuschlagen konnte, um ihn dann allmählich davon zu überzeugen, daß sie für ihn unentbehrlich sei. »Es gibt Gerüchte in Cairhien, daß Lanfear am gleichen Tag von Lews Thenns Hand getötet wurde wie Rahvin.«

»Gerüchte! Lanfear hat al'Thor von Anfang an unterstützt, wenn du mich fragst. Ich hätte seinen Kopf im Stein von Tear bekommen, hätte nicht irgend jemand Myrddraal und Trollocs hingesandt, um ihn zu retten! Das war Lanfear, da bin ich sicher. Ich bin jedenfalls mit ihr fertig. Beim nächsten Mal, wenn ich sie treffe, werde ich sie töten! Und warum sollte er Asmodean umbringen? Ich würde es ja tun, könnte ich ihn finden, aber er ist zu al'Thor übergelaufen. Er unterrichtet ihn sogar!«

»Du findest auch immer eine Ausrede für dein Versagen« flüsterte sie in ihren Punsch hinein, wiederum so leise, daß er es nur mit Hilfe Saidins verstehen konnte. Mit lauterer Stimme sagte sie dann: »Suche dir deine eigenen Erklärungen heraus, wenn du willst. Vielleicht hast du sogar recht damit. Alles, was ich weiß, ist die Tatsache, daß Lews Therin uns einen nach dem anderen aus dem Spiel zieht.«

Sammaels Hände zitterten vor Zorn, und beinahe wäre ihm Wein aus dem Kelch geschwappt, hätte er sich nicht gerade noch beherrscht. Rand al'Thor war nicht Lews Therin. Er selbst hatte den großen Lews Therin Telamon überlebt, der den Ruhm für Siege einstrich, die er selbst gar nicht hätte erringen können, und der von anderen erwartete, daß sie ihm alles glaubten. Er bedauerte nur, daß der Mann kein Grab hinterlassen hatte, auf das er hätte spucken können.

Graendal klopfte mit ihren beringten Fingern den Rhythmus einer Melodie mit, die von unten her zu ihnen drang, und sagte dann geistesabwesend, als sei ihre Aufmerksamkeit eigentlich dem Lied gewidmet: »So viele von uns sind bereits gestorben, weil sie sich ihm zum Kampf stellten. Aginor und Balthamel. Ishamael, Be'lal und Rahvin. Und Lanfear und Asmodean, was du auch glauben magst. Vielleicht auch Moghedien, vielleicht verbirgt sie sich aber auch in den Schatten und wartet darauf, daß der Rest von uns fällt — sie wäre töricht genug für so etwas. Ich hoffe sehr, du hast irgendein Versteck vorbereitet, wohin du flüchten kannst. Es scheint überhaupt keinen Zweifel daran zu geben, daß er sich als nächstes dich vorknöpft. Bald, würde ich sagen. Ich werde hier kein Heer gegen mich erwarten, aber Lews Therin ist dabei, ein ziemlich starkes Heer zu sammeln und gegen dich auszusenden. Das ist der Preis, den du zahlen mußt, weil du nicht nur Macht ausübst, sondern dabei auch gesehen werden willst.«

Ganz zufällig hatte er tatsächlich Fluchtwege vorbereitet, denn das war ja nur empfehlenswert, aber in ihrer Stimme die feste Überzeugung zu erkennen, daß er sie benötigen werde, ließ in ihm doch den Zorn aufkochen. »Und wenn ich al'Thor vernichte, wird es keinem Befehl des Großen Herrn widersprechen.« Er verstand ohnehin nichts; doch es war überflüssig, den Großen Herrn zu verstehen. Man mußte ihm lediglich gehorchen. »Soweit du sie an mich weitergegeben hast. Falls du mir etwas verschweigst...«

Graendals Blick verhärtete sich zu blauem Eis. Sie mochte ja am liebsten Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen, doch Drohungen konnte sie für den Tod nicht leiden. Im nächsten Moment lächelte sie jedoch schon wieder töricht. So wetterwendisch wie der Himmel über M'jinn. »Was Demandred mir über die Befehle des Großen Herrn berichtete, habe ich an dich weitergegeben, Sammael. Jedes einzelne Wort. Ich bezweifle, daß selbst er es wagen würde, im Namen des Großen Herrn zu lügen.«

»Aber du hast mir verdammt wenig darüber berichtet, was er eigentlich zu unternehmen gedenkt«, sagte Sammael leise, »sowohl er wie Semirhage oder Mesaana. Praktisch gar nichts.«

»Ich habe dir gesagt, was ich weiß.« Sie seufzte gereizt. Vielleicht sagte sie ja die Wahrheit. Sie schien es zu bedauern, daß sie selbst nicht mehr erfahren hatte. Vielleicht. Bei ihr konnte alles aber auch nur erlogen sein. »Was den Rest betrifft... Erinnere dich, Sammael. Wir haben untereinander genauso energisch intrigiert, wie wir Lews Therin bekämpften, und doch hatten wir diesen Kampf beinahe schon gewonnen, bis er uns alle zusammen am Schayol Ghul erwischt hat.« Sie schauderte, und einen Augenblick lang wirkte ihr Gesicht ausgezehrt. Auch Sammael wollte lieber nicht an diesen Tag zurückdenken oder an das, was danach folgte: ein traumloser Schlaf, während dessen sich die Welt jenseits allen Wiedererkennens veränderte und alles verschwand, was er geschaffen hatte. »Nun sind wir in einer Welt erwacht, wo wir so hoch über den gewöhnlichen Sterblichen stehen, daß wir beinahe eine andere, überlegene Rasse sein könnten — und wir sterben einer nach dem anderen. Vergiß einmal für den Augenblick die Frage, wer Nae'blis werden wird. Al'Thor — wenn du ihn schon bei diesem Namen nennen mußt — al'Thor war so hilflos wie ein Neugeborenes, als wir erwachten.«

»Ishamael hat ihn aber nicht für so hilflos gehalten«, sagte er. Aber natürlich war Ishamael damals bereits wahnsinnig gewesen. Sie fuhr fort, als habe sie seinen Einwand nicht vernommen: »Wir verhalten uns, als sei dies die Welt, die wir kennen, obwohl in Wirklichkeit nichts mehr so ist wie damals. Wir sterben einer nach dem anderen, und al'Thor wird immer stärker. Länder und Völker sammeln sich unter seiner Führung. Und wir sterben. Die Unsterblichkeit ist mein. Ich will nicht doch noch sterben.«

»Wenn du dich vor ihm fürchtest, dann töte ihn doch.« Bevor die Worte noch ganz ausgesprochen waren, hätte er sie am liebsten zurückgerufen.

Ungläubigkeit und Verachtung verzerrten Graendals Gesicht. »Ich diene dem Großen Herrn und gehorche, Sammael.«

»So wie ich. So wie wir alle.«

»Wie großherzig von dir, es über dich zu bringen, vor unserem Herrn niederzuknien.« Ihre Stimme klang genauso eisig, wie ihr Lächeln wirkte, und sein Gesicht lief dunkel an. »Alles, was ich damit sagen will, ist: Lews Therin ist heutzutage genauso gefährlich wie damals in unserer Zeit. Ihn fürchten? Ja, ich fürchte ihn. Ich habe vor, für alle Ewigkeit weiterzuleben, anstatt Rahvins Schicksal zu teilen!«

»Tsag!« Diese obszöne Bezeichnung brachte sie endlich dazu, die Augen aufzureißen und ihn richtig anzusehen. »Al'Thor — al'Thor, Graendal! Ein ignoranter Junge, was Asdmodean ihm auch beibringen mag! Ein primitiver Kerl, der vermutlich immer noch glaubt, neun Zehntel von dem, was du und ich als selbstverständlich betrachten, sei in Wirklichkeit unmöglich! Al'Thor bringt ein paar Lords dazu, daß sie vor ihm das Knie beugen, und er glaubt, er habe ein ganzes Land erobert. Er hat gar nicht die Willensstärke, die Faust zu schließen und sie wirklich zu unterwerfen. Nur die Aiel — Bajad drovja! Wer hätte gedacht, daß sie sich so ändern würden?« Er mußte sich beherrschen; sonst fluchte er nie auf diese Weise; das war eine Schwäche. »Nur sie gehorchen ihm wirklich, und nicht einmal alle von ihnen. Er hängt an einem seidenen Faden, und er wird stürzen, entweder so oder so.«

»Tatsächlich? Und was ist, wenn er...?« Sie hielt inne und hob ihren Kelch so schnell an den Mund, daß Wein auf ihren Unterarm spritzte. Dann kippte sie das Getränk so hastig hinunter, bis der Kelch fast leer war. Die elegante Dienerin kam mit ihrer Kristallkanne herbeigeeilt. Graendal hielt ihr den Kelch zum Nachfüllen hin und fuhr in hastigem Tonfall fort: »Wie viele von uns werden sterben, bevor alles vorüber ist?

Wir müssen zusammenhalten wie noch niemals zuvor!«

Das war nicht, was sie ursprünglich sagen wollte. Er beachtete das Eis nicht, das erneut nach seinem Rückgrat griff. Al'Thor würde nicht zum Nae'blis erwählt werden. Ganz gewiß nicht! Also wollte sie, daß sie alle zusammenhielten, oder? »Dann verknüpfe dich mit mir. Wir beide miteinander verknüpft wären al'Thor mehr als nur gleichwertig. Nimm das als Beginn unserer neuen Gemeinschaft.« Seine Narbe spannte sich, als er die plötzliche Ausdruckslosigkeit ihrer Miene belächelte. Die Verknüpfung mußte von ihr her ausgelöst werden, aber da sie nur zu zweit waren, würde sie ihm die Kontrolle anvertrauen müssen und auch die Entscheidung darüber, wann das Band wieder aufgelöst wurde. »Na also. Wie es scheint, machen wir genauso weiter wie vorher.« Da hatte es auch zuvor kaum einen Zweifel gegeben, denn Vertrauen gehörte einfach nicht zu ihrem Persönlichkeitsmuster. »Was hast du mir noch zu berichten?« Aus diesem Grund befand er sich ja letzten Endes hier, und nicht, um ihrem Geschwätz über Rand al'Thor zu lauschen. Mit al'Thor würde man schon fertig. Auf direktem oder auf indirektem Wege.

Sie sah ihn mit großen Augen an, riß sich sichtlich zusammen, aber in ihrem Blick stand nun eindeutige Feindseligkeit. Schließlich sagte sie: »Wenig genug.« Sie würde nie vergessen, daß er beobachtete hatte, wie sie die Selbstbeherrschung verlor. Nichts von ihrem Zorn schwang allerdings in ihrer Stimme mit; die war so kühl und beherrscht wie immer. Es klang sogar etwas nach Plauderton: »Semirhage war nicht bei der letzten Versammlung anwesend. Ich weiß nicht, warum. Ich glaube auch nicht, daß Mesaana oder Demandred den Grund kennen. Besonders Mesaana war verstört deshalb, obwohl sie versucht hat, es zu verbergen. Sie glaubt, Lews Therin werde sich schon bald in unseren Händen befinden, aber das hat sie andererseits ja schon immer behauptet. Sie war sicher, daß Be'lal ihn in Tear töten oder gefangennehmen würde. Sie war so stolz auf diese Falle. Demandred läßt dir ausrichten, du solltest dich gut in acht nehmen.«

»Also weiß Demandred, daß wir beide uns treffen«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. Wieso hatte er eigentlich je erwartet, mehr als die anderen für sie zu sein?

»Natürlich weiß er das. Nicht, wieviel ich dir sage, aber daß ich dir einiges berichte. Ich versuche, uns alle zusammenzuführen, Sammael, bevor es zu...«

Er unterbrach sie in scharfem Tonfall: »Dann überbringe Demandred eine Botschaft von mir. Sag ihm, ich wisse genau, was er plant.« Gewisse Ereignisse im Süden zeigten deutlich Demandreds Handschrift. Demandred hatte immer gern seine Marionetten benützt. »Richte ihm aus, er solle vorsichtig sein. Ich werde nicht zulassen, daß er oder seine Freunde sich in meine Plane einmischen.« Vielleicht sollte er al'Thors Aufmerksamkeit darauf lenken. Das wäre dann vermutlich dessen Ende. Falls andere Mittel versagten. »Solange sie sich von mir fernhalten, können seine Lakaien anstellen, was sie wollen, aber sie werden sich aus meinen Plänen heraushalten, sonst bekommt er die Folgen zu spüren.« Es war ein langer Kampf gewesen, nachdem der Stollen in das Gefängnis des Großen Herrn fertiggestellt war, viele Jahre lang, bis sie stark genug gewesen waren, um offen aufzutreten. Diesmal würde er dem Großen Herrn beim Brechen des letzten Siegels ganze Nationen übergeben, die bereit waren, ihm zu folgen. Und wenn sie auch nicht wußten, wem sie da eigentlich gehorchten, spielte das überhaupt keine Rolle. Er würde nicht versagen, so wie Be'lal und Rahvin. Der Große Herr würde schon merken, wer ihm am besten diente. »Richte ihm das aus!«

»Wie du wünschst«, sagte sie und verzog zweifelnd das Gesicht. Einen Augenblick später überzog dieses träge Lächeln wieder ihre Züge. Anpassungsfähig. »All diese Bedrohungen ermüden mich. Komm. Lausche der Musik und entspanne dich.« Er wollte ihr schon sagen, daß er sich nicht für Musik interessiere, wie sie sehr wohl wußte, aber sie wandte sich bereits wieder der Brüstung zu. »Hier sind sie. Hör zu.«

Das so sehr dunkelhäutige Paar stand jetzt am Fuße des Podestes. Sie hatten diese eigenartigen Harfen vor sich auf den Boden gestellt. Sammael vermutete, daß vor allem die Glöckchen ihrem Spiel die besondere Note verliehen, konnte den Unterschied aber nicht genau definieren. Sie strahlten hingebungsvoll zu Graendal hinauf, als sie bemerkten, daß sie beobachtet wurden.

Graendal befolgte ihren eigenen Rat, ihnen zu lauschen, jedoch nicht und fuhr statt dessen fort: »Sie kommen aus einer wirklich seltsamen Gegend. Dort verlangt man von Frauen, die mit der Macht umgehen können, daß sie die Söhne anderer Frauen heiraten, die dieses Talent ebenfalls besitzen, und das Zeichen für ihre Abstammung wird ihnen bei ihrer Geburt auf das Gesicht tätowiert. Niemand mit einer dementsprechenden Tätowierung darf jemanden ohne eine solche heiraten, und jedes aus einer verbotenen Verbindung stammende Kind wird getötet. Männer mit der Tätowierung werden ohnehin in ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr getötet, nachdem man sie vorher von der Welt abgeschieden aufgezogen hat, wo sie nicht einmal Schreiben und Lesen lernten.«

Also war sie doch wieder auf dieses Thema zurückgekommen. Sie mußte ihn wirklich für einfältig halten. So beschloß er, selbst einen kleinen Köder auszuwerfen. »Müssen sie sich wie Kriminelle verschwören, aneinanderbinden?«

Erstaunen überflog ihr Gesicht einen Moment lang und wurde schnell wieder unterdrückt. Offensichtlich hatte sie darüber gar nicht nachgedacht, und es gab ja an sich auch keinen Grund dafür. Nur wenige Menschen ihrer Zeit hatten je ein Gewaltverbrechen begangen, geschweige denn mehrere. Zumindest vor der Zeit der Bohrung. Natürlich gab sie ihre Unkenntnis nicht zu. Es gab Zeiten, da es am besten war, einen Mangel an Kenntnissen zu verbergen, doch Graendal trieb das schon bis zum Exzeß. Deshalb hatte er seine Bemerkung losgelassen. Er wußte, es würde an ihr nagen, und das geschah ihr recht, wenn sie nur solche nutzlosen Kleinigkeiten von sich geben konnte.

»Nein«, antwortete sie, als habe sie alles verstanden. »Die Ayyad, wie sie sich nennen, wohnen für sich in ihren kleinen Städten und meiden alle anderen. Angeblich gebrauchen sie die Macht niemals ohne Erlaubnis oder direkten Befehl des Sh'botay oder der Sh'boan. Diese stellen die eigentliche Macht im Lande dar, und deshalb läßt man den Sh'botay und die Sh'boan auch nur jeweils sieben Jahre lang regieren.« Einen Augenblick lang mußte sie herzlich lachen. Sie hatte immer nur die heimliche Macht hinter der offiziellen sein wollen. »Ja, ein faszinierendes Land. Natürlich liegt es zu weit vom Mittelpunkt der Ereignisse entfernt und wird deshalb auf viele Jahre hinaus noch keine Bedeutung erlangen.« Sie winkte mit ihren beringten Finger leicht ab. »Es wird nach dem Tag der Wiederkehr noch genug Zeit sein, um zu sehen, was man aus ihnen machen kann.«

Ja, sie wollte ihn offensichtlich davon überzeugen, daß ihr einiges daran lag. Wäre das wirklich der Fall gewesen, hätte sie dieses Land aber niemals auch nur erwähnt. Er stellte seinen unberührten Kelch auf das Tablett, das der muskulöse Bursche ihm blitzschnell hinhielt, bevor er die Bewegung noch vollendet hatte. Graendal bildete ihre Diener wirklich gut aus. »Ich bin sicher, daß ihre Musik faszinierend wirkt...« — falls man etwas dafür übrig hatte —, »aber ich muß nun einige Vorbereitungen treffen.«

Graendal legte eine Hand auf seinen Arm. »Sorgfältige Vorbereitungen, wie ich hoffe? Der Große Herr wird nicht erfreut sein, wenn du seine Pläne durcheinanderbringst.«

Sammaels Mundpartie spannte sich an. »Ich habe alles mögliche getan, außer natürlich mich zu ergeben, um al'Thor zu überzeugen, daß ich keine Gefahr für ihn darstelle, aber der Mann verfolgt mich wie ein Besessener.«

»Du könntest Illian ja aufgeben und woanders neu anfangen.«

»Nein!« Er war nie vor Lews Hierin geflohen, und er würde auch vor diesem provinziellen Emporkömmling nicht fliehen. Der Große Herr konnte doch wohl nicht vorhaben, einen wie den über die Auserwählten zu stellen! Über ihn! »Du hast mir also alle Befehle des Großen Herrn wiedergegeben?«

»Ich hasse es, mich wiederholen zu müssen, Sammael.« In ihrer Stimme lag eine Andeutung von Verbitterung und in ihrem Blick eine Spur von Zorn. »Wenn du mir beim erstenmal nicht geglaubt hast, wirst du mir auch jetzt nicht glauben.«

Er blickte sie noch einen Augenblick länger an und rückte dann abrupt. Höchstwahrscheinlich hatte sie die Wahrheit gesagt, denn eine Lüge in bezug auf den Großen Herrn würde mit tödlicher Sicherheit auf sie zurückfallen. »Ich sehe keinen Grund, uns wiederzutreffen, bis du mir etwas Wichtigeres mitzuteilen hast als die Tatsache, ob Semirhage zum Treffen kam oder nicht.« Ein kurzes Stirnrunzeln bei einem letzten Blick auf die Harfner sollte reichen, sie davon zu überzeugen, daß ihr Ablenkungsmanöver erfolgreich gewesen sei. Dann wanderte sein Blick mißbilligend über die Gestalten, die in den Becken herumplanschten, die Akrobaten und alle anderen, damit seine Absicht den anderen gegenüber nicht zu offensichtlich wurde. All diese verschwendete Mühe, diese Zurschaustellung von Haut, ekelte ihn wirklich an. »Das nächstemal kannst du ja nach Illian kommen.«

Sie zuckte die Achseln, als sei es unwichtig, aber ihre Lippen bewegten sich leicht und seine durch Saidin geschärften Sinne hörten ein leise gehauchtes »Falls es dich dann noch gibt« heraus.

In eisiger Stimmung öffnete Sammael ein Tor zurück nach Illian. Der muskulöse junge Mann reagierte nicht schnell genug, um sich in Sicherheit zu bringen. Er hatte nicht einmal mehr die Zeit zum Schreien, bis er mittendurch entzweigeschnitten wurde, er, sowie das Tablett und die Kristallkaraffe. Der Kante eines Tores gegenüber erschien jede Rasierklinge stumpf. Graendal schürzte mürrisch die Lippen ob des Verlustes eines ihrer Schoßtierchen.

»Wenn du uns beim Überleben helfen willst«, sagte Sammael noch zu ihr, »dann finde heraus, auf welche Weise Demandred und die anderen die Anweisungen des Großen Herrn zu befolgen gedenken.« Damit trat er durch das Tor, allerdings ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden.

Graendal behielt ihren bedrückten Gesichtsausdruck bei, bis sich das Tor hinter Sammael geschlossen hatte, und dann gestattete sie sich, mit den Fingernägeln auf die Marmorbrüstung zu klopfen. Mit seinem goldenen Haar mochte Sammael beinahe gut genug aussehen, um unter ihre speziellen Lieblinge eingereiht zu werden, wenn er nur Semirhage erlauben würde, diese über sein ganzes Gesicht eingebrannte Furche zu entfernen. Sie war die einzige, die noch die Fertigkeiten aufwies, etwas zu tun, was früher als ganz einfache Angelegenheit gegolten hätte. Es war natürlich ein völlig nebensächlicher Gedankengang. Die eigentliche Frage war, ob sich ihre Mühe ausgezahlt hatte.

Shaofan und Chiape spielten ihre fremdartige atonale Musik, voll von komplexen Harmonien und seltsamen Dissonanzen. Irgendwie klang es trotzdem schön. Ihre Gesichter strahlten vor Freude darüber, daß es ihr gefallen könnte. Sie nickte und spürte ihr Entzücken beinahe körperlich. Sie waren jetzt um so vieles glücklicher, als sie gewesen wären, hätte sie die beiden sich selbst überlassen. Soviel Mühe, sie zu finden und herzubringen, und das alles ausschließlich für diese paar Minuten mit Sammael. Natürlich hätte sie sich weniger Mühe machen können — jeder andere aus ihrem Land hätte es auch getan —, aber sie hatte ihre Qualitätsmaßstäbe, selbst wenn es nur um ein augenblickliches Manöver ging. Vor langer Zeit hatte sie sich entschlossen, jede Art von Vergnügen auszukosten, nichts auszulassen, solange es ihren Rang beim Großen Herrn nicht gefährdete.

Ihr Blick fiel auf die Eingeweide, die ihren Teppich beschmutzten, und ihre Nase rümpfte sich gereizt. Das Gewebe konnte man wohl noch retten, aber es ärgerte sie, daß sie das Blut selbst würde entfernen müssen. Sie erteilte einige kurze Befehle, und dann eilte Osana und beaufsichtigte die Leute, die den Teppich hinaustrugen. Und die Rashans Überreste beseitigten.

Sammael war wirklich ein leicht durchschaubarer Narr. Nein, kein Narr. Er war tödlich, wenn er direkt gegen etwas kämpfen konnte, etwas, das er ganz klar vor sich sah, aber wenn es um subtilere Dinge ging, hätte er genausogut blind sein können. Sehr wahrscheinlich glaubte er nun, ihr Ablenkungsmanöver habe dem Zweck gedient, das zu kaschieren, was sie und die anderen vorhatten. Etwas, das er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, war die Tatsache, daß sie jeden Winkel seines Verstandes kannte, jede Wendung seiner Gedanken vorausahnte. Schließlich hatte sie ja mehr als vierhundert Jahre damit verbracht, die Arbeitsweise von Gehirnen zu erforschen, die viel verschlungener und krankhafter waren als seines. Man konnte ihn so einfach durchschauen. So sehr er sich auch bemühte, es zu verbergen: er war ziemlich verzweifelt. Er war gefangen in einer Falle, die er selbst entworfen hatte, einer Falle, die er bis zum Tod verteidigen würde, anstatt wegzulaufen, einer Falle, in der er vermutlich ums Leben kommen würde.

Sie nippte an ihrem Wein, und ihre Stirn runzelte sich leicht. Möglich, daß sie bereits ihren Zweck bei ihm erreicht hatte, wenn sie an sich auch erwartete, sie werde dafür vier oder fünf Besuche benötigen. Sie mußte einen Grund finden, ihn in Illian zu besuchen. Es war am besten, einen Patienten sorgfältig zu beobachten, und zwar auch nach dem Zeitpunkt, an dem man ihn anscheinend auf den richtigen Weg gebracht hatte.

Ob der Junge nun ein einfacher Bauernlümmel war oder wirklich der wiedergekehrte Lews Therin — und da konnte sie sich noch nicht entscheiden —, so hatte er sich in jedem Fall doch als entschieden zu gefährlich erwiesen. Sie diente dem Großen Herrn der Dunkelheit, aber sie hatte nicht vor, zu sterben, nicht einmal für den Großen Herrn. Sie würde für immer weiterleben. Selbstverständlich handelte man nicht gegen auch nur die unbedeutendsten Wünsche des Großen Herrn, wenn man nicht eine Ewigkeit damit verbringen wollte, qualvoll zu sterben, und eine weitere Ewigkeit, in der man sich nach dieser noch immer weniger schlimmen Agonie des langen Sterbens zurücksehnte. Dennoch, Rand al'Thor mußte beseitigt werden, aber Sammael sollte dafür büßen. Falls ihm klar würde, daß er auf Rand al'Thor angesetzt worden war wie ein Dornat auf die Jagdbeute, wäre sie schon sehr überrascht. Nein, er war kein Mann, der solche Feinheiten durchschaute.

Aber er war keineswegs dumm. Es wäre interessant, herauszufinden, woher er von der Verschwörung bei diesen Kriminellen erfahren hatte. Sie selbst hätte das nie herausbekommen, wäre Mesaana nicht etwas im Zorn entschlüpft, weil sie ihrer Wut der Abwesenheit Semirhages wegen Luft machen mußte. Ihr Zorn war so heftig gewesen, daß ihr überhaupt nicht klar geworden war, wieviel sie verraten hatte. Wie lange hatte Mesaana in der Weißen Burg gesteckt? Allein schon die Tatsache, daß sie sich dort befunden hatte, löste einige interessante Gedankengänge aus. Gäbe es eine Möglichkeit, zu entdecken, wo sich Demandred und Semirhage eingenistet hatten, dann war es vielleicht auch möglich, nachzuvollziehen, was sie zu tun vorhatten. Das hatten sie ihr nicht anvertraut. Oh, nein. Diese drei hatten schon seit der Zeit vor dem Krieg um die Macht zusammengearbeitet. Zumindest an der Oberfläche. Sie war sicher, daß sie auch untereinander genauso fleißig intrigiert hatten wie die anderen Auserwählten, aber ob nun Mesaana Semirhage das Wasser abgrub oder Semirhage Demandred, hatte sie doch nie einen Spalt gefunden, in den sie einen Keil zwischen die drei treiben könnte.

Ein Schaben von Stiefelsohlen kündete von einem Neuankömmling, aber es waren nicht die Männer, die den Teppich ersetzen und die Überreste Rashans entfernen sollten. Ebram war ein hochgewachsener, gut gebauter Domanijüngling in engen, roten Hosen und einem weiten, weißen Hemd. Er hätte durchaus in ihre Sammlung von Lieblingstierchen passen können, wäre er nicht lediglich der Sohn eines Kaufmannes gewesen. Seine dunklen, schimmernden Augen blickten sie eindringlich an, als er niederkniete. »Lord Ituralde ist angekommen, Große Herrin.«

Graendal stellte den Kelch auf einen Tisch, der auf den ersten Blick wirkte, als sei er mit den Elfenbeinfiguren von Tänzern eingelegt. »Dann soll er mit Lady Basene sprechen.«

Ebram erhob sich geschmeidig und bot der gebrechlichen Domanifrau, die er nun vor sich sah, seinen Arm an. Er wußte, wer hinter dieser geschickt gewobenen Illusion steckte, aber trotzdem schwand der Ausdruck der Verehrung auf seiner Miene ein wenig. Sie wußte:

es war Graendal und nicht Basene, die er anbetete. Im Augenblick war ihr das gleichgültig. Sammael war zumindest einmal auf Rand al'Thor angesetzt, vielleicht auch schon auf ihn fixiert. Was Demandred und Semirhage und Mesaana betraf... Nur sie selbst wußte davon, daß auch sie allein eine Reise zum Schayol Ghul und hinunter zu dem Feuersee unternommen hatte. Nur sie wußte davon, daß ihr der Große Herr fast schon den Rang des Nae'blis versprochen hatte, und dieses Versprechen würde er sicherlich halten, war erst einmal Rand al'Thor aus dem Weg geräumt. Sie würde des Großen Herrn gehorsamste Dienerin sein. Sie würde Chaos sähen, bis Demandreds Lunge bei der Ernte explodierte.

Semirhage ließ die eisenbeschlagene Tür hinter sich zufallen. Eine der Glühbirnen, der Große Herr allein mochte wissen, aus welchen Überresten sie stammte, flackerte ständig, warf aber immer noch ein helleres Licht als die Kerzen und Öllampen, mit denen sie sich in diesem Zeitalter abfinden mußte. Vom Lichtschein abgesehen, machte dieser Ort den beklemmenden Eindruck eines Gefängnisses, mit seinen raunen Steinwänden und dem blanken Fußboden. Nur ein kleiner, grob gezimmerter Holztisch stand in der einen Ecke. Das war nicht ihr Einfall gewesen. Ware es nach ihr gegangen, dann wäre hier alles fleckenlos weiß gewesen und hätte vor Cueran nur so geschimmert, glattgeleckt und steril. Dieser Ort war vorbereitet worden, bevor sie von der Notwendigkeit dazu erfahren hatte. Eine in Seide gekleidete Frau mit blassem Haar hing mitten im Raum an gespreizten Armen und Beinen offensichtlich im Leeren und blickte sie trotzig an. Eine Aes Sedai. Semirhage haßte die Aes Sedai.

»Wer seid Ihr?« wollte die ›Patientin‹ wissen. »Gehört Ihr zu den Schattenfreunden? Oder seid Ihr eine Schwarze Schwester?«

Semirhage beachtete den Lärm gar nicht, sondern überprüfte nur kurz den Puffer, der zwischen der Frau und Saidar lag. Sollte er versagen, konnte sie dieses erbärmliche Bündel wohl problemlos abschirmen — es war schon ein deutliches Anzeichen für die Schwäche einer Frau, wenn sie sich leisten konnte, den verknoteten Puffer unbeobachtet zurückzulassen —, aber die Vorsicht war ihr zur zweiten Natur geworden, und so tat sie stets nur einen Schritt nach dem anderen. Nun zur Kleidung dieser Frau. Angezogen fühlte man sich für gewöhnlich sicherer als ohne jede Bekleidung. Sie verwob ganz feine Stränge aus Feuer und Wind und schnitt damit das Kleid und das Unterhemd und jeden Fetzen Kleidung bis hinunter zu den Schuhen der Patientin vorsichtig ab. Sie ließ alles in Sichthöhe der Frau zusammenrutschen, bis ein festes Bündel daraus geworden war, und dann gebrauchte sie die Macht erneut, Feuer und Erde diesmal, mit dem Resultat, daß feiner Staub auf den Steinboden herabrieselte.

Die blauen Augen der Frau quollen beinahe heraus. Semirhage bezweifelte, daß sie diese einfachen Dinge hätte nachmachen können, selbst wenn sie fähig gewesen wäre, das Gewebe zu durchschauen.

»Wer seid Ihr?« Diesmal klang die Aufforderung bereits reichlich nervös. Vielleicht lag es an ihrer Furcht. Es war immer gut, wenn die sich bereits in diesem frühen Stadium bemerkbar machte.

Semirhage machte ganz genau die Zentren im Hirn der Frau aus, die Botschaften des Schmerzes aus ihrem Körper empfangen würden, und dann fing sie methodisch damit an, diese Schmerzzentren mit Hilfe von Geist und Feuer zu reizen. Anfangs nur ein klein wenig, dann steigerte sie den Reiz. Zuviel auf einmal konnte einen Patienten innerhalb weniger Augenblicke töten, aber es war schon bemerkenswert, wie weit man die Schmerzempfindung steigern konnte, wenn man in ganz winzigen Schritten vorwärtsging. An etwas zu arbeiten, was sie nicht sehen konnte, war eine schwierige Aufgabe, selbst aus dieser Nähe, doch sie verstand soviel von den Reaktionen eines menschlichen Körpers wie wohl kaum jemand vor ihr.

Die mit abgespreizten Gliedmaßen dahängende Patientin bewegte den Kopf, als wolle sie den beginnenden Schmerz abschütteln, doch dann wurde ihr bewußt, daß es nicht möglich war, und sie starrte Semirhage mit großen Augen an. Semirhage dagegen beobachtete nur und behielt ihr Gewebe bei. Selbst bei der hier gebotenen Eile konnte sie sich doch ein wenig Geduld leisten.

Wie sie all jene haßte, die sich als Aes Sedai bezeichneten! Sie war selbst eine gewesen, eine echte Aes Sedai und nicht so eine ignorante Närrin wie dieser Einfaltspinsel, der da vor ihr hing. Sie war bekannt gewesen, sogar berühmt, war in jede Ecke der Welt gerufen worden, weil sie die Fähigkeit besaß, jede Verletzung zu heilen, selbst Menschen vom Rande des Todes zurückzuholen, wo jede andere behauptete, es gebe keine Rettung mehr. Und eine Delegation vom Saal der Dienerinnen hatte ihr etwas angeboten, was man nicht mehr als freie Wahl bezeichnen konnte: sich entweder binden zu lassen und damit auf ihre ganze Freude zu verzichten, und durch diese Bindung wahrnehmen zu können, wenn sich das Ende ihres Lebens näherte, oder von der Macht abgeschnitten und von den Aes Sedai ausgestoßen zu werden. Sie hatten von ihr erwartet, daß sie die Bindung akzeptierte, denn das war nur logisch und folgerichtig gedacht, und es waren ja alles vernünftige, gesetzte Männer und Frauen. Sie hätten nie gedacht, daß sie fliehen werde. Sie war eine der ersten gewesen, die zum Schayol Ghul kamen.

Dicke Schweißtropfen rollten über das blasse Gesicht der Patientin. Ihr Kinn verkrampfte sich, und ihre Nasenflügel bebten, als sie die Luft heftig einsaugte. Von Zeit zu Zeit stöhnte sie leicht auf. Geduld. Bald war es soweit.

Es war aus Eifersucht geschehen, der Eifersucht jener, die nicht vollbringen konnten, was sie schaffte. Hatte sich jemals einer von denen beklagt, die sie dem Tod wieder aus dem Griff gerissen hatte, daß er lieber gestorben wäre, als ihr die kleine Zugabe zu verwehren, die sie ihm dafür abgenommen hatte? Und die anderen? Es gab immer welche, die es verdient hatten, leiden zu müssen.

Was machte es schon aus, wenn es ihr Freude bereitet hatte, ihnen das zu geben, was sie verdienten? Der Saal und das scheinheilige Gewinsel über Legalität und Persönlichkeitsrechte. Sie hatte das Recht darauf verdient, zu tun, was sie eben getan hatte; sie hatte es sich wirklich und wahrhaftig verdient. Sie war viel wertvoller für die ganze Welt gewesen als all jene zusammengenommen, die sie mit ihren Schmerzensschreien unterhalten hatten. Und von Eifersucht und Neid getrieben, hatte der Saal versucht, statt dessen

sie zu verstoßen!

Nun, während des Krieges waren ihr einige von denen in die Hände gefallen. Wenn sie genügend Zeit hatte, konnte sie auch den stärksten Mann zerbrechen, die stolzeste Frau, und sie genau zu dem umformen, was sie in ihnen sah. Dieser Prozeß war vielleicht langsamer, als sie durch inneren Zwang umzuerziehen, aber er bereitete ihr unendlich mehr Genuß, und sie glaubte nicht, daß selbst Graendal wiederherstellen konnte, was sie zerstört hatte. Die Stränge, mit denen man den inneren Zwang erzeugte, konnte man auflösen. Aber ihre Patienten... Auf den Knien hatten sie sie angebettelt, ihre Seelen dem Schatten zu geben, und sie hatte ihrem Wunsch folgsam entsprochen, bis sie gestorben waren. Jedesmal war Demandred des Lobes voll gewesen, weil wieder ein anderer Ratgeber des Saales sich öffentlich zum Großen Herrn bekannt hatte, aber für sie war das Schönste immer der Moment gewesen, in dem ihre Gesichter erbleichten, sogar noch Jahre später, wenn sie ihrer gewahr wurden, und wenn sie sich beinahe überschlugen, um ihr zu versichern, daß sie treu zu dem standen, was sie aus ihnen gemacht hatte.

Das erste Schluchzen entrang sich der hilflos in der Luft hängenden Frau und wurde sofort unterdrückt. Semirhage wartete tatenlos. Es mochte wohl in dieser Situation Eile angebracht sein, doch zuviel Eile würde ihr alles verderben. Die Patientin schluchzte nun wieder und wieder. Ihre Bemühungen, das zu unterdrücken, hatten keinen Erfolg mehr. Es wurde lauter, lauter, und schwoll schließlich zu einem Heulen an. Semirhage wartete ab. Die Frau glänzte vor Schweiß. Sie warf den Kopf von einer Seite auf die andere. Ihr Haar flog. Sie zuckte hilflos und verkrampft in ihren unsichtbaren Fesseln. Ohrenbetäubende Schreie aus vollem Hals hielten an, bis sie um Luft ringen mußte, und sie begannen erneut, sobald ihre Lunge wieder gefüllt war. Diese weit auf gerissenen, hervorquellenden blauen Augen sahen nichts. Sie wirkten bereits glasig. Nun fing es an.

Semirhage unterbrach abrupt ihre Stränge von Saidar, aber es dauerte doch Minuten, bis die Schreie sich beruhigten und lediglich noch schweres Atmen zu hören war. »Wie heißt Ihr?« fragte sie sanft. Die Frage spielte an sich keine Rolle, nur mußte es eine sein, die von der Frau auch beantwortet wurde. Sie härte auch fragen können: »Wollt Ihr mir immer noch widerstehen?« Es war oft recht vergnüglich, gerade mit dieser Frage fortzufahren, bis sie darum bettelten, beweisen zu dürfen, daß sie ihr nun willfährig seien. Doch diesmal zählte tatsächlich jede einzelne Frage.

Ein unfreiwilliges Schaudern nach dem anderen durchlief den Körper der in der Luft hängenden Frau. Sie warf Semirhage einen mißtrauischen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu, leckte sich die Lippen, hustete und stieß schließlich heiser hervor: »Cabriana Mecandes.«

Semirhage lächelte. »Es ist gut wenn Ihr mir die Wahrheit sagt.« Es gab Schmerzzentren im Gehirn, aber auch Zentren des Wohlbefindens. Sie reizte eines der letzteren, nur ein paar Augenblicke lang, aber sehr energisch, während sie näher herantrat. Der Schock ließ Cabriana die Augen soweit aufreißen, wie sie nur konnte. Sie schnappte nach Luft und zitterte. Semirhage zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel, hob das staunende Gesicht der Frau mit einem Finger unter dem Kinn an und tupfte zart den Schweiß weg. »Ich weiß, daß dies sehr schwer für Euch ist, Cabriana«, sagte sie mit warmer Stimme, »und deshalb müßt Ihr euch Mühe geben, um es mir nicht noch schwerer zu machen.« Mit einer sanften Berührung wischte sie eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn der Frau. »Hättet Ihr gern etwas zu trinken?« Sie wartete nicht erst auf eine Antwort, sondern gebrauchte die Macht, und eine verbeulte Metallflasche schwebte von dem kleinen Tisch in der Ecke hoch und direkt in ihre Hand. Die Aes Sedai wandte den Blick nicht von Semirhage, aber sie trank gierig. Nach ein paar Schlucken nahm Semirhage die Flasche weg und ließ sie auf den Tisch zurückschweben. »Ja, das ist besser, nicht wahr? Denkt daran, macht es Euch nicht selbst zu schwer.« Als sie sich abwandte, sprach die Frau wieder mit rauher Stimme: »Ich spucke in die Milch Eurer Mutter, Schattenanbeterin! Hört Ihr mich? Ich...«

Semirhage hörte nicht mehr hin. Zu jeder anderen Zeit hätte das ein warmes, angenehmes Gefühl in ihr ausgelöst, weil sie nun wußte, daß der Widerstand der Patientin noch nicht ganz gebrochen war. Die reinste, erhebendste Freude bereitete es ihr, wenn sie Trotz und Würde in ganz hauchdünnen Scheibchen abschneiden konnte, und dann zu beobachten, wie dies dem Patienten bewußt wurde und er oder sie verzweifelt und umsonst versuchte, sich noch an die kümmerlichen Reste zu klammern. Jetzt blieb aber keine Zeit dafür. Sorgfältig legte sie noch einmal ihr Gewebe um die Schmerzzentren in Cabrianas Gehirn und band es ab. Normalerweise wollte sie persönlich darüber wachen, doch diesmal war Eile geboten. So löste sie die Wirkung ihres Gewebes aus, gebrauchte die Macht, um das Licht zu löschen, und dann ging sie und schloß die Tür hinter sich. Die Dunkelheit würde auch einen Teil zum Erfolg beitragen. Allein, im Dunklen und dann diese Schmerzen...

Unwillkürlich gab Semirhage draußen einen enttäuschten Laut von sich. In dieser Art der Behandlung lag einfach keine Perfektion; es fehlten alle Feinheiten. Sie haßte es, so hetzen zu müssen. Und dann auch noch die ihr anvertraute Patientin alleinlassen zu müssen! Das Mädchen war willensstark und verstockt, die Umstände waren schwierig.

Der Korridor war beinahe genauso trostlos wie die gerade verlassene Zelle, einfach ein breiter, schattendüsterer, in den Stein gehauener Stollen, dessen in der Düsternis verschwimmende Seitengänge sie gar nicht erst erkunden wollte. Nur zwei andere Türen waren in Sicht, von denen die eine in ihr augenblickliches Quartier führte. Die Gemächer waren bequem genug, soweit sie sich darin aufhalten mußte, aber sie ging jetzt trotzdem nicht dorthin. Shaidar Haran stand nämlich vor dieser Tür, schwarz gekleidet und in Dämmerung gehüllt wie in eine Rauchwolke, und so unbeweglich, daß es wie ein Schock wirkte, als er zu sprechen begann. Seine Stimme klang wie das langsame Zermahlen von Knochen: »Was habt Ihr erfahren?«

Der Ruf zum Schayol Ghul hatte in einer Warnung des Großen Herrn gegipfelt: WENN DU SHAIDAR HARAN GEHORCHST, GEHORCHST DU MIR. WENN DU SHAIDAR HARAN NICHT GEHORCHST... So sehr sie diese Warnung auch ärgerte, war es nicht notwendig gewesen, ihr mehr zu sagen. »Ihren Namen. Cabriana Mecandes. Ich konnte in dieser Eile wohl kaum mehr in Erfahrung bringen.«

Er glitt auf diese augenverzerrende Art durch den Gang, der ebenholzfarbene Umhang starr wie immer herabhängend. Er wirkte wie die Materie gewordene Verneinung aller Bewegung. Im ersten Augenblick stand er wie eine Statue zehn Schritt entfernt, und im nächsten ragte er über ihr auf, so daß sie nur entweder zurückweichen oder sich den Hals verdrehen konnte, um in dieses leichenblasse, augenlose Gesicht hochzublicken. Zurückweichen kam überhaupt nicht in Frage. »Ihr werdet ihr alles Wissen vollständig entringen, Semirhage. Ihr werdet sie ausquetschen — ohne jede Verzögerung —und mir dann jede Kleinigkeit berichten, die Ihr erfahren habt.«

»Ich habe dem Großen Herrn versprochen, daß ich das tun würde«, sagte sie ihm mit kalter Stimme.

Blutleere Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Das war seine einzige Antwort. Er wandte sich ruckartig um, glitt durch Zonen tieferen Schattens im Gang und war dann mit einemmal verschwunden.

Semirhage wünschte sich, sie wisse, wie die Myrddraal das anstellten. Es hatte nichts mit der Macht zu tun, aber am diffusen Rand eines Schattens, wo das Licht sich zu Dunkelheit wandelte, war ein Myrddraal in der Lage, zu verschwinden und plötzlich in einem anderen Schatten ein ganzes Stück entfernt wieder aufzutauchen. Vor langer Zeit hatte Aginor mehr als hundert von ihnen untersucht, bis hin zu ihrer Zerstörung, und sich umsonst bemüht, herauszufinden, wie sie das bewerkstelligten. Die Myrddraal wußten es selbst nicht; das hatte auch sie bereits überprüft.

Mit einemmal wurde ihr bewußt, daß sie beide Hände verkrampft auf ihre Magengegend gepreßt hatte. Drinnen schien sich eine Eiskugel zu befinden. Es war schon viele Jahre her, daß sie zuletzt einmal Angst empfunden hatte, außer natürlich, wenn sie dem Großen Herrn im Krater des Verderbens gegenüberstand. Der Eisklumpen begann zu schmelzen, als sie sich zur Tür der zweiten Gefängniszelle begab. Später würde sie ganz leidenschaftslos die eigenen Gefühle analysieren. Shaidar Haran mochte sich wohl von jedem anderen Myrddraal unterscheiden, den sie bisher erlebt hatte, doch letzten Endes war er immer noch ein Myrddraal. Ihr zweiter Patient der wie der erste mitten in der Luft hing, war ein stämmiger Mann mit kantigem Gesicht in grünem Kurzmantel und ebensolcher Hose. Seine Kleidung hätte ihm gut und gern in einem Wald zur Tarnung dienen können. Die Hälfte aller Glühbirnen hier schimmerte so trübe, daß sie wohl bald versagen würden. Es war ja schon ein Wunder, wenn sie eine so lange Zeit überstanden hatten. Aber Cabrianas Behüter war an sich unwichtig. Was benötigt wurde, gleich zu welchem Zweck, ruhte im Gehirn der Aes Sedai, doch man hatte den Myrddraal offensichtlich aufgetragen, eine Aes Sedai gefangenzunehmen, und aus irgendeinem undurchschaubaren Grund waren für sie die Aes Sedai und ihre Behüter eine untrennbare Einheit. Es war aber schon gut, daß sie auch ihn gefangen hatten. Sie hatte noch niemals zuvor eine Gelegenheit gehabt, einen dieser legendären Kämpfer zu zerbrechen.

Seine dunklen Augen bemühten sich, Löcher in ihren Kopf zu bohren, als sie seine Kleidung und die Stiefel entfernte und auf die gleiche Weise wie bei Cabriana vernichtete. Er war stark behaart — eine Masse großer, harter Muskelstränge und Narben. Er zuckte absolut nicht zusammen. Er sagte kein Wort. Sein Widerstand war anders als der dieser Frau. Ihrer war kühn, wurde ihr ins Gesicht geschleudert, während seiner in einer stillen Weigerung bestand, sich ihrem Willen zu beugen. Er war möglicherweise schwerer zu zerbrechen als seine Herrin. Normalerweise wäre er deshalb auch viel interessanter für sie gewesen.

Semirhage musterte ihn eine Weile. Es war etwas an ihm... Eine Anspannung, die sich in seiner Mundpartie und an seinen Augen zeigte. Als habe er bereits mit dem Schmerz zu kämpfen. Aber natürlich! Dieses seltsame Band zwischen der Aes Sedai und ihrem Behüter. Schon eigenartig, daß diese Primitivlinge etwas gefunden hatten, was keiner der Auserwählten verstand, aber es war tatsächlich so. Dem wenigen nach zu urteilen, was sie darüber wußte, empfand dieser Kerl womöglich zumindest einen Teil dessen mit, was die andere Patientin gerade erlebte. Zu jeder anderen Zeit hätte ihr das hochinteressante Möglichkeiten eröffnet. Jetzt bedeutete es lediglich, daß er wohl glaubte, er wisse, was auf ihn zukam.

»Eure Besitzerin paßt nicht gut auf Euch auf«, sagte sie. »Wäre sie mehr als eine primitive Wilde, wäre es nicht notwendig, Euch von all jenen Narben verunzieren zu lassen.« Sein Gesichtsausdruck änderte sich nur unwesentlich. Sie entdeckte einen Hauch von Verachtung darin. »Also dann.«

Diesmal legte sie ihr Gewebe über die Lustzentren und begann damit, den Reiz langsam zu intensivieren. Er war intelligent. Er runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf, und dann zogen sich seine Augen zusammen und richteten sich wie Splitter aus dunklem Eis auf sie. Ihm war klar, daß er dieses immer stärker werdende Glücksgefühl nicht empfinden dürfte, und obwohl er ihr Gewebe nicht wahrnehmen konnte, wußte er doch, daß es ihr Werk war. Deshalb machte er sich daran, dagegen anzukämpfen. Semirhage hätte beinahe gelächelt. Zweifellos glaubte er, viel leichter gegen Wohlbefinden ankämpfen zu können als gegen Schmerzen. Gelegentlich einmal hatte sie den Willen von Patienten ausschließlich dadurch gebrochen. Es machte ihr aber nur wenig Spaß, und hinterher konnten sie überhaupt nicht mehr zusammenhängend denken. Sie wollten dann nur immer noch mehr dieser Ekstase empfinden, die in ihren Köpfen erblühte, aber es ging schnell und sie taten dann uneingeschränkt alles, um mehr zu bekommen. Es lag an dem Mangel an zusammenhängenden Denkvorgängen, weshalb sie diese Methode bei der anderen Patientin nicht angewandt hatte, denn von ihr benötigte sie klare Antworten. Dieser Bursche hier würde den Unterschied früh genug erkennen.

Ein Unterschied. Sie legte nachdenklich einen Finger auf ihre Lippen. Warum unterschied sich Shaidar Haran von allen anderen Myrddraal? Ihr paßte der Gedanke an eine solche Abnormität gar nicht, ausgerechnet jetzt, wo alles zu ihren Gunsten zu verlaufen schien, aber ein Myrddraal, der sogar über die Auserwählten gestellt wurde, wenn auch vielleicht nur gelegentlich, war mehr als nur einfach ungewöhnlich. Al'Thor war geblendet; seine ganze Aufmerksamkeit galt Sammael, und Graendal ließ bei Sammael gerade genug durchblicken, daß er in seinem Stolz nicht alles wieder zu Fall brachte. Natürlich hatten auch Graendal und Sammael ihre geheimen Plänchen, um Vorteile zu erlangen, einzeln oder gemeinsam. Sammael war wie ein erhitztes Sofar mit verbogenen Steuerrudern, und auch Graendals Reaktionen waren nicht viel einfacher vorauszusehen. Sie hatten noch nie begreifen können, daß alle Macht ausschließlich vom Großen Herrn kam, daß er sie verteilte, wie es ihm beliebte und aus seinen eigenen Gründen. Ganz nach Laune — das konnte sie ja wenigstens in der Sicherheit ihres eigenen Verstandes noch denken.

Es war beunruhigender, daß einige der Verlorenen verschwunden waren. Demandred bestand darauf, sie seien tot, aber sie selbst und Mesaana waren da nicht so sicher. Lanfear. Wenn es noch etwas wie Gerechtigkeit gab, würde die Zeit ihr schließlich Lanfear in die Hände spielen. Die Frau tauchte immer dann auf, wenn man es am wenigsten erwartete, benahm sich immer, als hätte sie ein Recht dazu, sich in die Pläne anderer einzumischen, und brachte sich schnell immer wieder in Sicherheit, wenn ihr dilettantisches Eingreifen alles zu Fall gebracht hatte. Moghedien. Sie drückte sich immer wieder außer Sichtweite herum, doch sie war noch niemals zuvor so lange weggeblieben, ohne sich zu rühren, um wenigstens dem Rest von ihnen ins Gedächtnis zu rufen, daß auch sie letzten Endes zu den Auserwählten zählte. Asmodean. Ein Verräter und deshalb auch zum Untergang verurteilt, aber er war tatsächlich verschwunden, und die Existenz Shaidar Harans und ihre eigenen Aufträge hier zusammengenommen, erinnerte sie nur zu deutlich daran, daß der Große Herr auf seine eigene Weise auf die Erfüllung seiner Ziele hinarbeitete.

Die Auserwählten waren für ihn nicht mehr als Figuren auf einem Spielbrett. Sie mochten vielleicht als Ratgeber und Unterführer dienen, aber trotzdem waren sie nur Spielfiguren. Wenn der Große Herr sie insgeheim hierhergebracht hatte, konnte er dann nicht auch Moghedien oder Lanfear oder sogar Asmodean mit Geheimaufträgen weggesandt haben? Würde er nicht vielleicht Shaidar Haran mit Geheimbefehlen zu Graendal oder Sammael schicken? Oder, wenn sie diesen Gedanken schon verfolgte, vielleicht auch zu Demandred oder Mesaana? Ihr unsicheres Bündnis, falls man es wirklich als solches bezeichnen konnte, hatte eine lange Zeitspanne überdauert, aber keiner der anderen würde ihr etwas davon erzählen, sollte er oder sie geheime Aufträge vom Großen Herrn empfangen haben, und genauso würde sie ihnen einen Hinweis darauf geben, warum sie hierhergebracht worden war, oder warum sie damals Myrddraal und Trollocs in den Stein von Tear geschickt hatte, um die von Sammael gesandten Truppen zu bekämpfen.

Falls der Große Herr vorhatte, al'Thor zum Nae'blis zu ernennen, würde sie auch vor ihm das Knie beugen — und auf einen Fehler warten, um ihn in die Hände zu bekommen. Unsterblichkeit bedeutete auch, daß man unendlich viel Zeit zum Abwarten hatte. Es gab immer genügend andere Patienten, mit denen sie sich in der Zwischenzeit vergnügen konnte. Was ihr Kopfzerbrechen machte, war Shaidar Haran. Sie war immer nur eine mittelmäßige Tscheranspielerin gewesen, doch Shaidar Haran war eine neue Figur auf dem Spielbrett, eine, deren Stärke und Zweck sie nicht kannte. Und eine kühne Methode, den Hochrat des Gegners in die Hände zu bekommen und zum Überlaufen auf die eigene Seite zu bringen, war die, die eigenen Türme, die Unterführer also, in einem Scheinangriff zu opfern. Sie würde das Knie beugen, falls es notwendig war und solange es notwendig war, aber opfern lassen würde sie sich nicht.

Ein eigenartiges Gefühl in ihrem Gewebe brachte ihre Gedanken zur augenblicklichen Lage zurück. Sie warf einen Blick auf den Patienten und schnalzte enttäuscht mit der Zunge. Sein Kopf hing zur Seite, das Kinn war vom Blut dunkel verfärbt, weil er seine eigene Zunge zerbissen hatte, und die Augen waren glasig und blickten starr. Unaufmerksamkeit. Sie hatte die Intensität des Reizes zu schnell und zu weit gesteigert. Ihre Gereiztheit zeigte sich nicht auf ihrer Miene, als sie das Gewebe auflöste. Es hatte ja wohl keinen Zweck, das Gehirn einer Leiche zu stimulieren.

Ihr kam ein plötzlicher Gedanke. Wenn der Behüter das mitempfand, was die Aes Sedai fühlte, würde das dann auch umgekehrt stattfinden? Sie betrachtete noch einmal die Narben, die den Körper des Mannes bedeckten, und hielt das für unmöglich. Selbst diese Einfaltspinsel hätten doch wohl die Bindung aneinander geändert, falls man durch sie sogar dies miteinander teilte. Trotzdem ließ sie den Kadaver hängen und schritt eilends durch den Korridor.

Die Schreie, die sie hörte, noch bevor sie die eisenbeschlagene Tür ins Dunkle öffnete, ließen sie tief und erleichtert aufatmen. Hätte sie die Frau umgebracht, ohne ihr zuvor jedes bißchen Wissen zu entringen, dann hätte sie womöglich so lange hierbleiben müssen, bis eine andere Aes Sedai gefangen wurde. Mindestens solange.

Aus den kehlenzerfetzenden Schreien konnte sie kaum verständliche Worte heraushören, Worte, in die diese Patientin die ganze Kraft ihrer Seele hineingelegt zu haben schien. »Biiiiiteeeee! Oh, Licht, biiiittteeeeee!«

Semirhage lächelte schwach. Also würde sie doch noch ein wenig Spaß an der Sache haben.

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