Die Verwandlung

20. Juli.»… plötzlich zu flüstern beginnt, aufsteht, singt und ein paar eckige Tanzbewegungen macht, dazu der Glanz in ihren Augen. Oder wenn sie zur Toilette geht, mitten in der Nacht, nach draußen tappt, in den Flur, und dabei die Arme in die Luft reckt und leise schnippt mit ihren langen Fingern, schnipp, schnapp, schnipp, wie Schritte in der Luft … Ich meine, sie macht das nicht für mich, nicht, damit ich es sehe. Manchmal waren wir gerade sehr still und … Wie soll ich es sagen? Ich glaube, es hat nichts mit mir zu tun und vielleicht nichts mit uns, nur mit ihr.«

«Gut möglich, Ed.«

«Ich bin nie auf diese Weise fröhlich gewesen.«

«Du bist anders fröhlich.«

«Seit G. nicht mehr, alter Racker.«

«Du hast Kruso gefunden. Du hast mich gefunden. Du bist nicht vollkommen allein auf der Welt.«

«Etwas habe ich dir verschwiegen.«

«Bitte, Ed. Du weißt, ich liege einfach hier, in dieser gemütlichen Höhle am Meer, und werde langsam eins mit den Gezeiten. Und du kommst mich besuchen und erzählst, ich meine, das ist das Beste, was mir passieren konnte, Gott, ich meine, ein Fuchs in meiner Lage …«

«Es war an unserem ersten Morgen. C. wie eine Erscheinung auf meinem Bett. Wie ausgedacht. Wenn sie das Haar hinters Ohr streicht und aufs Meer hinaus sieht … Vollkommen souverän, verstehst du? Sie sagt, sie macht nichts mit ihren Haaren, keine Frisur oder so, nur Haare, wie Fransen, die sie selbst abschneidet, wahrscheinlich mit ihrem Taschenmesser. Sie schaut also zum Fenster, und ihr Gesicht hat diesen vorweihnachtlichen Glanz, und alles glänzt mit, der Horizont, die Kiefern, alles. Und plötzlich fragt sie mich, ob ich es so lieber habe. «Ed errötete.

«Du hast geschlafen, als sie zu dir ins Zimmer kam, oder? Alles war ein Traum, und alles, was du getan hast, war …«

«Ein Traum. Trotzdem dachte ich, sie wäre deshalb nicht wiedergekommen.«

«Ich verstehe.«

«Ja, du verstehst.«

«Gewissermaßen war sie die Erste.«

«Ja, verdammt.«

«Also wirst du an sie denken, bei allem, was noch kommt, mein Freund. Sie ist dein Debüt, die Konfirmation und das Album dazu, in dem du in Zukunft deine Bilder sammelst.«

«Mit G. hat das alles nichts zu tun.«

«Nein, Ed, gar nichts.«

«Alles mit ihr bleibt …«

«Unberührt.«

«Gestern waren wir am Strand. C. hat gezeichnet. Sie hat immer einen kleinen Skizzenblock dabei und ihr winziges Taschenmesser, mit dem sie ihren Bleistift anspitzt — er muss immer ganz spitz sein, weshalb sie dauernd spitzt …«

«Erzähls mir, Ed.«

«Irgendwann wollte C. ins Inselkino. An jedem Nachmittag läuft dort Lütt Matten und die weiße Muschel, am Abend Einer trage des anderen Last und als Spätvorstellung Bis daß der Tod euch scheidet

«Wir leben in biblischen Zeiten.«

«Und die erste Plage ist schon da. Eine ganze Kompanie von Kammerjägern räuchert den Klausner aus. Nur deshalb kann ich jetzt hier sein, bei dir.«

«Den Kakis sei Dank.«

«Als C. und ich vom Kino zurückkamen, war das Gelände schon evakuiert. Ein paar haben an den geweihten Plätzen geschlafen, ein paar auch in Krusos Verteiler. Uns hatte die Nachricht einfach nicht erreicht. Nichts war abgesperrt, alles schien unverändert. Vielleicht hat uns die Hitze auch blind gemacht.«

«Wem sagst du das, Ed.«

Erst jetzt bemerkte Ed die Unruhe, mit der sein Fuchs ihn ansah. Am Grund seiner kleinen knochigen Augenhöhlen war eine Art Grießbrei, der sich selbst umrührte.

«Ach, du alter Racker, ach verdammt, entschuldige bitte …«Ed eilte ans Wasser und schöpfte eine Hand voll Sand zwischen den Ufersteinen.

«Sandmann, lieber Sandmann …«

«Bitte um Vergebung, Herr Fuchs!«, versuchte Ed zu scherzen, während er den Sand sehr vorsichtig in die Augenhöhlen rinnen ließ, erst links, dann rechts. Sein Freund seufzte erleichtert.

«Vierzig Grad in der Sonne, und ich hatte mein Fenster geschlossen, wegen der Unwetter, vor denen Viola ständig gewarnt hat. Stündlich kam irgendetwas über Stürme aus Nordwest und Flüchtlinge in den Botschaften, aber niemand hört ihr wirklich zu. Als lägen wir außerhalb der Nachrichten, und ich glaube, so ist es, alter Racker, wir sind nicht wirklich von dieser Welt. In meinem Zimmer dürften es am Ende fünfzig, sechzig Grad gewesen sein. Schon auf der Treppe hörte ich eine Art Rascheln, wie von Seide, oder als ob jemand heimlich ein Geschenk auspackt. Ich sagte noch irgendetwas von Lüften, Fenster auf, Frischluft, die ganze Vorfreude im Herzen. Ich mache also das Licht an, und …«

«Was?«

«Etwas, das du nicht begreifst, bloß weil du es siehst. Zuerst die Explosion, lautlos, ohne Zentrum. Du siehst nur, wie dieses fette Braun nach allen Seiten Wellen schlägt, alles fließt, die Wand als Welle würde ich sagen, und du siehst, wie es anschlägt in den Ecken und sich staut, ein glänzender, wimmelnder Schaum, irgendwie knisternd … Du weißt, ich habe keine Angst vor Kakerlaken. Und ich glaube, auch C. hatte sie nicht. Trotzdem haben wir geschrien, beide, wie am Spieß. Ich also los, mit dem Arm vorm Gesicht, wie im Krieg. Ich hatte Wut, echte Wut, und plötzlich mein großes Notizbuch in der Hand. Ich schlug einfach zu, ohne Ende, der Schweiß lief mir nur so, und als ich mich umsah …«

«Was, Ed?«

«Keine Ahnung, ob ich das …«

«Das kannst du, Ed, du kannst.«

«Lieber nicht.«

«Mach es wie die Erzähler. Wenn sie sich etwas vom Leib halten müssen, benutzen sie einfach eine andere Person — er, du, sie, es.«

«Du meinst, weil sie das Ganze zu sehr mitnimmt?«

«Nicht unbedingt.«

«Vom Leib halten.«

«Was sieht er also, unser Freund?«

«Er dreht sich um und sieht, dass auch C. wie verrückt durch die Gegend hämmert. Sie benutzt dazu ihre Jesuslatschen. Bei jedem ihrer ungelenken Schläge stößt sie einen kleinen kompakten Kriegsschrei aus, mit diesem Druck in der Stimme, wie Tennisspielerinnen beim Aufschlag; es klingt immer ein wenig verzweifelt, andererseits ist es der reinste Ausdruck ihres Willens, verstehst du?«

«Und?«

«Und dann begann unsere, ähm, ich meine, ihre gemeinsame Jagd. Sie hämmerten sich so durch die Gegend, schossen sich quasi den Weg frei. Ihr feines Peng-peng und sein großes Patsch-patsch, kleines und großes Kaliber, fast wie Musik, als wären sie Bonnie und Clyde. Und plötzlich begann sie zu lachen. Sie lag auf dem Bett und starrte mich an und lachte … Entschuldige, ich sag jetzt wieder ich, ich bekomme es nicht anders zusammen. Ich sag ich, und vielleicht könntest du er denken?«

«Ich ist ein anderer.«

«Rimbaud sagt, dass stimme nur auf Französisch. Und nur für eine frühere Zeit, als man noch wusste, was ein Anderer ist.«

«Auf Französisch?«

«Ja, du kleiner verfaulter Hellseher, darum geht es.«

«Dachte ich mir.«

«Das Lachen brach nur so aus ihr heraus. Sie lag da, im Bett, ruderte mit den Armen und schlug die Fersen an den Hintern, ihr ganzer Körper hob und senkte sich, und ihre Schultern zuckten, das heißt, sie lachte und schrie zugleich, sie schrie» Ja, jaaa!«und» Wahnsinn!«und» Aaah!«, und dann begann ihr Schluckauf. Ein mörderischer Schluckauf. Ein Schluckauf, wie du ihn noch nie gesehen hast.«

Eds Schultern zuckten jetzt ebenfalls.

«Wahrscheinlich war es der Schock. Irgendwann japste sie nur noch. Ihre Augen wurden immer größer, sie sah aus wie ein Clown, die Augenbrauen ganz weit oben, und langsam begann ich mir Sorgen zu machen.«

«Kein Wunder, Ed.«

«Du weißt, ich habe Kakerlakenerfahrung. Von meiner Armeezeit her. Achtzehn Monate mit den Biestern im Zimmer. Sie kamen die Fernheizungsrohre entlang, direkt aus den Leunawerken in die Kaserne. Die Alten waren wirklich fett, Mutanten wahrscheinlich, chemisch gestählt, über Generationen. Aber nach ein paar Wochen wusste ich, wie sie sich verhalten, ich kannte sie, fast würde ich sagen, ich wusste, wie sie denken. Zum Beispiel weiß ich, dass ihre kleinen komplizierten Leiber auf Luftdruck reagieren, ich meine, auf minimalste Veränderungen. Schon wenn ich das Notizbuch hebe, wissen sie das. Wenn ich nur eine Seite umschlage, spüren sie das in ihren Verstecken, und ich bin sicher, sie registrieren jedes Wort, das ich schreibe, Wort für Wort, übersetzt in feinste Frequenzen. In gewissem Sinne waren sie wie Leser. Sie kannten nicht nur meine Schokolade oder die schmutzige Wäsche in meinem Schrank aus dem Effeff, sie kannten auch meine Briefe nach Hause und auch meine euphorischen Versuche, Gedichte zu verfassen, Wort für Wort …«

«Du hast deine Leser erschlagen.«

«Das Geheimnis ist: Du schlägst nie dorthin, wo sie sich befinden. Nein, du hämmerst immer gleich in ihre Fluchtwege hinein. Und C. hat das begriffen, als sie mich sah bei meiner Jagd. Und als ich begriff, wie sie es begriffen hatte, meine Erfahrung, meine Sicherheit, spürte ich plötzlich keinen Ekel mehr, im Gegenteil, es war ein Rausch. Durch C. waren wir irgendwie Verbündete geworden, das Viehzeug und ich, Jäger und Gejagter, die alte Schicksalsgemeinschaft.«

Ed holte Luft. In den Augen seines Fuchses regte es sich — wie Interesse, dachte Ed.

«Natürlich ist das alles mit den drei, vier Kakerlaken in meinem Armeespind nicht zu vergleichen. Sie waren immer da, obwohl ich im Speisefach schon lange nichts Essbares mehr aufbewahrte. Manchmal dachte ich, es sind immer dieselben, und wurde ein bisschen sentimental, eine Folge des Eingesperrtseins wahrscheinlich. Dabei hatte ich schon Hunderte erschlagen. Das gehörte praktisch zum Frühsport. Bevor wir in den Urlaub entlassen wurden, mussten wir alle noch einmal auf den Appellplatz. Zwei Schritt vor, Tasche auf und Wäsche ausschütteln.»Schütteln, schütteln, ihr Säcke!«, das war der Spieß, Unterfeld Zwaika, ein verquollenes Etwas. Er konnte kaum reden und kaum aus den Augen sehen, er presste alles durch die Nase. Ich glaube, es war seine eigene Idee. Es gab keine Dienstanweisung dazu oder sonst etwas.»Wolln doch nich, dass die Frau inn Herzschlach kriecht«— vor jedem Urlaub dieser Satz, so hingenuschelt. Wahrscheinlich meinte er es gut.«

«Jetzt weichst du aus.«

«Bei Schluckauf hält man die Luft an, hebt den Arm und so weiter. Aber C. zuckte ja nur noch und brachte keinen einzigen Ton mehr heraus. Deshalb war es ein Notfall, würde ich sagen.«

«Ein Notfall?«

«Ja, als griffe sie nach dem nächstbesten Rettungsanker.«

Sein Fuchs stöhnte leise.

«Ich sagte, jemand denkt wohl sehr an dich. Ich meine, ich war vollkommen hilflos.

›Ja-hck‹, sagte sie und zog mich vors Bett. Um meine Füße ein Geräusch wie von tausend fressenden Raupen, aber langsam versickerte die Flut, und nach und nach wurde es still, und irgendwann war da nur noch C., ihr leises Schmatzen, wirklich leise, nur das, sonst nichts. Alles war sanft um mich her, weich wie Samt, und plötzlich, keine Ahnung — plötzlich konnte ich es. Plötzlich konnte ich ihr in die Augen sehen dabei.«

Ed schwieg.

Das Meer hatte wieder begonnen zu atmen, mit seinem dunklen Grund und den leisen Obertönen. Es war jetzt fast kühl. Ed sah C. Seine Hand auf ihrem Kopf. Ihre Augen, ihre hohe, verschwitzte, irgendwie eiförmige Stirn und ihre Haare, mit denen sie nichts machte, nichts anderes als seine Schenkel zu streicheln, nichts anderes als ihn anzuschließen an ihren Stromkreis. Ein paar Haarspitzen blieben haften an seinem Schwanz und übernahmen die Versorgung. Ein feiner Schwindel, als hätte sie ihn angehoben, ganz leicht, über die Grenze.

«Diese Käfer, Ed …«

«Ich glaube, es war der einzige Weg, ich meine, in diesem Moment …«

«… haben dich verwandelt, oder?«



Die Kruso-Energie

In ihrer von Gedichten gestifteten Vertrautheit hatten Kruso und Ed zueinander gefunden, und Tag für Tag festigte sich ihre Gemeinschaft. Kruso beteiligte sich jetzt an der Feierabendreinigung des Abwaschs, und öfter übernahm er es sogar selbst, die Tonne mit den Speiseabfällen nach draußen zu rollen, all jene Handgriffe, die Ed als Dienstjüngstem des Klausners auf selbstverständliche Weise zugefallen waren. Spritzte Kruso den Abwasch aus, sprang Ed wie ein Derwisch hin und her, den stumpfen Schrubber in den Fäusten. Auf eine Weise, wie es nur Ed gelingen konnte, blieb er dem in Schwüngen über die Fliesen fegenden Wasserstrahl auf den Fersen — es war eine Art Tanz, ein Vorspiel für den Abend. Am Ende wischte Ed mit dem Lappen den Boden trocken; Losch rollte den Schlauch ein. Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte er einen Fuß auf Eds Kopf, aber ganz ohne Schwere. Ed griff nach dem Fuß und gab ihm Gewicht.

Im Ganzen war es mehr als Vertrautheit und mehr als Vertrauen. Im Grunde war es eine gemeinsame Fremdheit, die ihre Freundschaft begründete. Dass es beiden unmöglich war, über das zu sprechen, was ihnen am schwersten auf der Seele lag, schien sie enger aneinanderzubinden als jedes Geständnis. Es gab die Worte eben nicht, und Verstehen bedeutete, sich nicht zu täuschen darüber. Ohnehin wäre nichts wiedergutzumachen. Woraus ihr Unglück bestand (und was ihr Handeln bestimmte), war besser aufgehoben in einem Gedicht. Sie hatten sich Trakls Sonja vorgetragen, und Losch hatte ihm das Foto geschenkt, das schöne Lächeln in der abgewetzten Hülle, in dem Ed auch G. erkannte. Über Gebühr oft hatte er das Bild zur Hand genommen und sich berührt dabei. Wenn er seinen Blick in den Augen des Mädchens versenkte, wuchsen seine und Krusos Geschichte aufeinander zu.»Dass du nicht vollkommen allein bist auf der Welt«, flüsterte Ed und küsste die fahle Hülle des Fotos. Sogleich schämte er sich und spürte, wie ihn die Gefühle verließen. Er konnte G. nicht allzu sehr geliebt haben, wenn er sich schon jetzt nicht genauer erinnerte an ihr Gesicht. Dafür war es möglich geworden, wieder an sie zu denken, ohne Straßenbahn. Er sah, wie sie in ihrem Sessel saß. Sie redete mit ihm. Ihr Mund bewegte sich, aber er konnte sie nicht hören. Sie war ernst, und was sie ihm mitteilen wollte, schien wichtig zu sein. Mitten im Satz und ohne ihn aus den Augen zu lassen, griff sie nach hinten und rieb mit der Hand an einem Blatt ihrer Zitronenpelargonie. Das Zimmer füllte sich mit Zitronengeruch, und Eds Herz begann sich zu verkrampfen. Er stand im kühlen Abgrund eines Brunnens, umgeben von Wänden aus toten Beständen, riesige, dicht beschriebene Grabsteine, die seinen Schmerz verzehrt und verwandelt hatten: in Distanz.

Durch das verschmierte Fenster sah Ed, wie Kruso die Futtertonne noch einmal inspizierte und dabei ab und zu auch mit der Hand hineinfuhr. Obwohl (oder weil) er kaum noch zum Schlafen kam, seitdem C. bei ihm Quartier genommen hatte, und obwohl (oder weil) ihm in diesem Moment Tränen in den Augen standen und Trauer einkehren durfte, fühlte er sich wie geborgen im Abwasch. Er betrachtete, was von den Waschungen am Beckenrand zurückgeblieben war. Ein paar Zopfgummis, ein Kiefernnadelbad, die Verpackung eines Palasthotel-Seifenstückchens. Die Waschlappen auf der Leine zwischen den Topfregalen waren noch feucht; nur mit Mühe widerstand Ed der Versuchung, sein Gesicht in einen der Lappen zu pressen.

Wenn Ed vom Duschen heraufkam, lag einer der alten Klausner-Kopfbögen auf seinem Bett. Nach und nach hatte er jene Texte kennengelernt, die Kruso, wie er es gern wiederholte, endlich einmal zusammenstellen wollte zu einem Band.»Es gibt nichts Schöneres, als einen Band zusammenzustellen!«Anfangs hatte Ed das Gedicht zuverlässig am Fußende vorgefunden, später auf seinem Kissen, genau in der Mulde, die sein schlafender Kopf dort hinterließ — an Stelle meines Kopfes, dachte Ed.

Schon beim Duschen konnte er es sehen: das vergilbte Papier, die nach links oder rechts verrutschten Zeilen und die Schrift mit den blutigen Mützen. Er sah, wie Kruso sein Zimmer betrat. Es war eine Art Ehrenbezeigung, die Ed sich vorstellte; als ob sein Freund sich verneigte beim Ablegen des Gedichts — so weit konnte er sich gehenlassen, während ihm das Wasser über die Ohren rauschte und sein Körper sich vorbehaltlos dem Glück überließ, dort zu sein, wo er war.

Møn war zu sehen. Ed probierte Speiches Brille, die noch immer auf dem Waschbecken lag; er hätte nicht begründen können, warum. Er spülte die Gläser und rieb sie am Handtuch sauber. Das erste Mal erkannte er den feinen weißen Brandungsstrich vor dem Kreidekliff. Und den Wald an der Küste, ein dunkler Streifen, fünfzig Kilometer entfernt.

«Ah, Speiche«, rief Kruso. Plötzlich stand er im Zimmer. Er hatte seinen Weißwein dabei. Er bot Ed davon an, trank selbst einen Schluck und zog die Wangen nach innen — sein Augenlid hing fest, auf halber Höhe. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als sei er schon müde, aber es war nur der Anfang seiner Rede.

«Du arbeitest im Abwasch. Du sprichst alles hundert Mal ins Becken, so lange, bis es stimmt. Eigentlich möchtest du ganz versinken dabei, abtauchen, aber inzwischen genügt dir das kleine Kreisen deiner Hände im Wasser. Dazu das Gedämpfte, kaum hörbar, die Unterwassergeräusche. Die nach links und rechts schwenkende Schwebe, wenn ein Teller zu Boden trudelt, versenkt wird wie ein Schiff. Davon die Stellung deiner Zeilen. Oder der dumpfe Klang, wenn etwas rasch zu Grunde geht, stapelweise. Du kannst das alles retten, reinigen, bergen, trocknen — jedes Geräusch ist eine Höhle, ist eine Sprache, Ed. Du verstehst das, denn du wohnst im Geräusch. Und nur von dort her fragst du, das heißt: Du musst alles hundert Mal sprechen, ins eigene Ohr. Du kannst vergessen, was die Worte bedeuten. Nennen wir es: das semiotische Dreieck zerschlagen. Anfangs ist es kaum zu ertragen; das Klirren der Gläser, der Tassen, das Scheppern der Teller, das Rasseln des Bestecks, dann die unausstehliche Hitze, die Schwüle, der Dreck, das Fett, der Schwindel und die Übelkeit … Ein einziger Verlust, so kommt es dir vor. Aber nichts ist wirklich verloren und niemand, Ed, niemand. Du sprichst einfach weiter leise vor dich hin, mit deiner Stimme, bei den Worten selber klopfst du an, mit deiner Stimme. Hunderte Male, ins eigene Ohr. Und irgendwann kannst du es hören …«

Loschs Unschuldston. Vor der Karte der Wahrheit hatte es kaum anders geklungen — biblisch, singend. Ed begann zu begreifen, worum es gehen könnte, im Innersten seiner Bestände. Poesie war Widerstand. Und ein Weg zur Erlösung. Eine ungeheure Möglichkeit. Kruso zeigte ihm Bücher. Die Sammlung von höchstens zwanzig Titeln nannte er seine» Bibliothek«. Darunter Autoren wie Lew Schestow und Gennadi Vorsterberg, von denen Ed nie gehört hatte, und andere wie Babeuf, Bloch, Castaneda.

«Das Denken macht die Dinge lächerlich, Ed. Alles wird zur Anekdote. Ins Innere der Poesie kommen wir nie. Auch die Surrealisten sind lächerlich, weil sie das Problem technisch zu umgehen versuchen, von den Dadaisten ganz zu schweigen, die alles zerschlagen und dann darauf lauern, dass irgendjemand kommt und behauptet, das Ganze hätte Sinn. Was wir aber brauchen, ist unsere Stimme, sie ist die Musik, sie lauscht den Worten die Welt ab. Was wir brauchen, ist unsere Stimme und einen Raum voller Abwesenheit — ein Ort zur Gewinnung von Zeit.«— Krusos große flache Hand deutete auf den Boden des Zimmers: Der Boden öffnete sich, ein paar Wände blätterten beiseite, und Ed sah den Abwasch. Er sah zwei Dichter, nebeneinander, an ihren Becken. Einen großen Dichter, der zukünftig in den besten Verlagen dieser Welt aus und ein gehen würde, und einen zweiten, mit einem Römer bekleidet und etwas Aluminiumbesteck in der Hand, mit dem er tatsächlich zu schreiben verstand und unverwandt Notizen machte, an der Seite des Großen.

Ed genoss das Zutrauen Krusos, der ihn vielleicht ab und zu vergaß beim Reden, aber das machte ihm nichts, er hätte stundenlang zuhören können. Seine Stimme tauchte die Welt in ein anderes Licht. Im Kern war alles Haltung, nicht mehr und nicht weniger, eine komplizierte Form der Existenz, zugleich die einzig mögliche. Krusos Wesen war Haltung, und das alles war Kruso — eine seltsame Mischung aus Strenge, Keuschheit fast und Selbstbeherrschung einerseits, und auf der anderen Seite gab es Entschlossenheit, Fanatismus beinah und einen Hang zum Phantastischen und Unerlaubten. Ein keuscher Fanatismus, falls das möglich war, eine beeindruckende Mischung aus Unschuld und Unbedingtheit, mit der Losch wohl auch die Esskaas für sich gewonnen hatte. Dazu sein heiliger Ernst, eine still vibrierende Aura, oder wie sollte man es nennen — die Kruso-Energie.

Alles konnte wertvoll, alles von Bedeutung sein. Als ginge es nur darum, zu hören, zu sehen, zu leben, und zwar von nun an. Überall verbarg sich die Möglichkeit einer Zeile, eines Worts, das stimmte. Selbst die Arbeit im Abwasch und ihre Ödnis erlangten ein vollkommen neues Gewicht. Das Treibholz, der Ofen, die Schweinetonne, die trivialsten Zusammenhänge der Gastronomie, alles konnte teilnehmen am Gedicht. Die eigene Stimme, der eigene Ton — ein Licht war das, ein Leuchtturm, an dem Ed von nun an seine Position bestimmte. Erobern, flog es ihm durch den Kopf.

Für einen Augenblick fragte er sich, ob Kruso bei den Waschungen anwesend war. Er fragte sich, ob er sie alle gesehen hatte, alle berührt, ob er sie wusch mit seinen geschickten Händen und ob er die Lappen benutzte dafür. Er sah, wie C. in seinem Becken hockte, dem Becken fürs Grobe. Er sah ihren langen makellosen Rücken, die endlose Reihe der Wirbel. Er sah die weißen spitzen Knie vor der Brust, die Hände gestützt auf den Grund des Beckens. Und er sah Kruso, der von Becken zu Becken ging und kleine frische Stücke Palasthotel-Seife verteilte.



Das Konzert

Am Bunker war niemand. Ed hatte allein gehen wollen, um etwas klarer zu werden im Kopf, aber schon nach wenigen Schritten deklamierte er den Wellen vor seinen Füßen.»Dies ist der Herbst, der — bricht dir noch das Herz «oder» Don't cry for me Argentina«, Schlagertexte von den Magnettonbändern seiner Eltern.

Anfangs hatte sein Vater sich bemüht, das Palaver von Jauch oder Gottschalk herauszuschneiden; die unsägliche Angewohnheit der» Radioshow«-Moderatoren auf den bereits laufenden Titel zu sprechen — sein Vater litt darunter, und nichts konnte dieses Leiden lindern. Er kniete vor dem Tonband, einen Finger auf» Play «und einen zweiten, längst verkrampften, auf der feuerwehrroten Aufnahmetaste. Sein Oberkörper war in die Schrankwand gebeugt und das Universum über ihm gekrümmt von der Anspannung seiner beiden Zeigefinger. Beide Tasten mussten im exakt gleichen Augenblick in die Tiefe ihres unendlich kostbaren B 56 (später B 100) gestoßen werden, aber Jauch fiel gerade noch etwas ein.»Schnauze!«, brüllte sein Vater, er hielt das Geschwätz für reine Schikane. Dann, endlich, feines Schnappen, das Band ruckte an, mit der ihm eigenen Verzögerung, weshalb nicht selten eine weitere Sekunde verloren ging:»… cry for me Argentina«.

Der Eingang existierte nicht mehr, nur ein Spalt, durch den Ed in einen kleineren, mit Kot und Zeitungspapier übersäten Zwischenraum gelangte. Noch bevor er daraus wieder auftauchte, hörte er die Stimme. Es war Cavallo, der auf der Steilküste über ihm stand. Ob er ihm gefolgt sein könnte, fragte sich Ed, verwarf den Gedanken aber. Cavallo führte ihn quer über das Grasland zur Deponie, die so dicht von Möwen besetzt war, dass man ihre Gestalt nur ahnen konnte. Als sie über die Zufahrt in die Senke einbogen, erhoben sich die Tiere träge und mit ihnen ein atemversetzender Gestank, dicht und dumpf von Verwesung.

Inzwischen hörte Ed ein Rumoren. Dazu eine Art Gesang, ohne Stimme, eher ein Krächzen, den Möwen ähnlich und ihrem erbärmlichen Geschrei.

«Sie haben sogar eine Spielerlaubnis«, erklärte Cavallo,»vom Rat der Gemeinde. «Vor ihnen, durch eine Schneise zwischen den Moränen, die Ed an keltische Königsgräber erinnerten, glänzte das Meer. Die Sonne war eingeschwenkt und begann ihr tägliches Schauspiel vom Untergang.

Von verschiedenen Leuten, die Ed kaum kannte, wurden sie überschwänglich begrüßt, Wange an Wange. Dann auch Krusos Wange.

«Wo warst du?«

«Weshalb?«

«Warum kommt ihr so spät?«

Ed wollte einen Scherz machen über seine absolute Orientierungslosigkeit, aber Kruso unterbrach ihn sofort.

«Bitte nicht noch einmal, Ed.«

Der Abend war ein einziges Chaos aus verschiedenen Darbietungen, Getränken und nervösem Herumgehüpfe. Im Zentrum stand eine vierköpfige Band, die Gitarre und Elektro-Orgel mit einer ausrangierten Autobatterie betrieben. Die Elektro-Orgel lag auf einem alten Hartschalenkoffer, vor dem ein schmaler blasser Junge kniete, der durch seine starke, übergroße Brille scheinbar teilnahmslos vor sich hin stierte. Im Dünengras glänzten die Flaschen: Stralsunder, Stierblut, Würger, auch Kali und Kiwi, soviel Ed erkennen konnte. Das Schlagzeug war halb eingegraben in den Sand und eine Blechkarre zur Fußtrommel umgebaut. Ed erkannte Koch-Mikes Stern-Recorder, er wurde als Gitarrenverstärker benutzt. Nicht weit von der Band entfernt brannte ein Feuer, das einige der Esskaas mit Holz versorgten, so eifrig und gewissenhaft, als bestünde genau darin die wichtigste Aufgabe, die ihnen in diesem Leben zufallen konnte.

Ed spürte Abneigung und einen Anflug von Verachtung. Er wünschte sich zurück in sein Zimmer. Dort wollte er warten, nichts als warten, warten auf C. Vielleicht würden sie diesmal draußen schlafen, zwischen den Moränen, eine oder zwei Nächte, so lange, bis das Gift der Kammerjäger … Cavallo drückte Ed eine Flasche» Stierblut «in die Hand.

Der Sänger der Band hatte begonnen, einen wilden, rätselhaften Vortrag zu halten. Er schob eine Hiddensee-Handkarre im Kreis, die er die» Maschine «nannte. Dabei stieß er sie mehrmals wie einen Rammbock in die kleine Schar der rundum versammelten Esskaas, die schreiend beiseitesprangen und lachten. Ab und zu kippte einer (der gut getroffen worden war) in die Karre, sprang aber rasch wieder heraus.»Die Maschine, die Maschine, iss mitm Jott des Meers im Bunde …«, krächzte der Sänger, ihm schien die Sache ernster zu sein. Er trug eine braune, abgewetzte Lederhose, sein Oberkörper war frei bis auf ein Tuch um den Hals und ein Kraftband am linken Handgelenk. Ed verstand ihn kaum. Meist schien es um einen Drink zu gehen, den jemand für ihn mixen sollte,»Mix mir einen Drink, der mich woanders hinbringt«, es war mehr ein Krächzen und Quäken, ohne Rhythmus, ohne Melodie. Ed stand im Halbdunkel jenseits der Peripherie aus gelbrotem Licht, das auf den Tänzern flackerte, als wären sie Teil des Feuers. Es roch nach Schweiß. Ed roch Kakerlaken. Die Schwüle war zurück, und die Tänzer entledigten sich ihrer Kleidung.

Als die Band verstummt und die Punks und Blueser unter den Esskaas ihren müden Beifall zu Ende gegrölt hatten, trat scheu ein Mann mit asiatischem Aussehen in ihre Mitte. Umständlich platzierte er eine Kassette in Koch-Mikes Recorder und begann zu tanzen.»Tänze der Khmer«, flüsterte ihm Cavallo ins Ohr, der an seine Seite zurückgekehrt war.»Szenen des Apsara-Tanzes«, ergänzte ein Esskaa, der hinter Ed stand und ihm seinen Atem ins Genick blies,»aus Kamm-bood-scha, capito?«

Wie alle war der Kambodschaner barfuß, und ähnlich wie die Blueser es taten, schwenkte er sein langes schwarzlockiges Haar, nur wirkte er dabei weniger verzweifelt. Sein Tanz war ein Tanz des Stolzes und der Sinnlichkeit. Noch mitten im Lied trat Kruso vor und wollte den Tänzer umarmen, der daraufhin für einen Moment das Gleichgewicht verlor und stolperte, direkt in die dampfende Schar der Esskaas, die seinen kleinen schmalen Körper auffingen und augenblicklich in die Luft stemmten, wie einen Sieger. Begeisterter Beifall, auch von Ed. Die großen weißen Zähne des kleinen Kambodschaners blitzten über ihren Köpfen. Bis Kruso ein Zeichen gab und seine Lesung begann, in schleppenden Rhythmen und mit der ganzen unfassbaren Spannung, die seinem kräftigen, breitschultrigen Körper innewohnte. Das Buch trug den Titel Die Nacht aus Blei; es war dieselbe bleierne Dunkelheit, die sich in diesen Minuten über den Versammlungsplatz senkte.

Krusos Stimme, Krusos Ton.

Die Hypnose dauerte noch an, als er das Buch längst wieder geschlossen hatte. Vorsichtig und leise rauschte das Meer:»Du kannst meinen Ton übernehmen. «Eine Zeile wie aus dem Jenseits. Dem Rauschen wuchs ein Kern, und augenblicklich entstanden Ordnung und Disziplin. Eds Herz pumpte Blut, seine Augen glänzten, er trat ein ins Stadium der Verheißung.

Kruso zog ein kleines Bündel Zettel aus der Tasche, dass er Ed in die Hand gab.»Das Programm zum Tag der Insel. «Er brauchte kaum die Stimme zu heben, so still war es geworden. Und als wäre das schon immer seine Aufgabe gewesen, verteilte Ed die handgeschriebenen Blättchen unter den Esskaas.

«Was solln schon sein, wer iss uns prophezeit?«, krächzte der Sänger, und erneut setzte die Band ein. Das Lied schien bekannt.»Die Tau-fe, die Tau-fe, die Tau-oau-oau-fe!«, wurde gerufen, erst vereinzelt, dann im Chor, woraufhin der Sänger den Blechkarren (die Maschine) in die Mitte des Platzes schob:

«Ju-gend voran, Ju-gend pack an,

brich dir sel-ber die Baa-haahan,

kein Zwang und kein Drill, der eigene Will,

bestimme dein Leben fortaa-haahan …«

Ed erschauerte. Eine Weile dauerte es, bis sich jemand bereitfand. Ed sah, wie ein Mädchen ihn zurückzuhalten versuchte, aber der Lederhosen-Krächzer legte dem Opfer (Ed dachte Opfer) augenblicklich seine Hand auf die Schulter, und damit war es besiegelt.

«Ju-gend voran, Ju-gend voran,

blicke frei in das Licht,

das dir niemals gebricht …«

Die Band begann einen furios hämmernden Rhythmus zu spielen. Bereitwillig ließ sich das Opfer, das nicht mehr als eine Badehose trug, von Helfern auf die Maschine binden, die Arme nach hinten gebogen. Die Beine wurden über Kreuz mit einem Gürtel an die Deichsel geschnallt. Abschließend schob ihm jener Esskaa, der die ganze Zeit als eine Art Assistent bereitstand und nur mit einem Schurz bekleidet war (wie ein Azteke oder Arbeiter der Antike hatte er das Tuch fest zwischen die Beine geschlungen, das Geschlecht wie nach oben gezogen und zu einem unförmigen Etwas gepresst), einen Schlauch in den Mund, an dessen Ende ein kleiner roter Blechtrichter glänzte. Langsam ging er damit im Kreis umher.

«Milde Spende, milde Spende«, murmelte er, worauf die Umstehenden die Hälse ihrer Flaschen neigten; er selbst gab jeweils einen Schluck Sekt hinzu.»Langsam, langsam, ihr Freunde«, mahnte der Schurzträger, nach jeder Spende reckte er den Trichter zu einer Art Siegeszeichen in die Luft.

Währenddessen wurde die Karre mit dem Mann von vier anderen Esskaas angehoben und fallengelassen, in einem schnellen, wie abgemessenen Rhythmus. Trotz des sandigen Untergrunds sprang das Gefährt mit seinen großen Rädern und den dünnen Fahrradreifen nach jedem Aufprall hoch in die Luft. Die Freundin des Opfers wimmerte und kicherte abwechselnd, sie schien betrunken zu sein. Ed hatte den Mann inzwischen erkannt, er war Abwäscher im Norderende, jener Esskaa, der ihm an seinem allerersten Tag auf der Insel das Wort Crusoe wie einen Kassiber hinterhergeflüstert hatte.

Lange blieb die Maschine nicht in Betrieb. Mit großer Prozession wurde der Abwäscher hinunter ans Ufer gekarrt. Ed spürte, wie sich sein Magen zusammenschnürte.

So weit, wie es die Zeremonie offensichtlich gebot, schob man den Wagen ins Meer — Gejohle, Schaumkronen, der Körper des Abwäschers war bereits nass und schimmerte dunkel, als das Gefährt auf einen Stein stieß und kippte.

Mit jeder neuen Welle geriet jetzt der Kopf des Mannes unter Wasser; die Esskaas, die an der Deichsel gewesen waren, konnten sich kaum noch halten vor Lachen. Der Abwäscher schien ebenfalls zu lachen, lauthals, oder er brüllte um Hilfe, im Rauschen der Brandung war das nicht zu unterscheiden. In seinem Übermut begann der Schurzträger, den restlichen Sekt in die Gischt zu kippen,»Jugend voran, Jugend voraa-haaahn …«

Mit zwei, drei Sprüngen, jedenfalls schneller als Ed oder irgendwer begreifen konnte, was geschah, hatte Kruso den Strand überquert. Mit der flachen Hand schlug er dem Schurzträger so kräftig ins Gesicht, dass dieser sofort hinschlug und dumm liegen blieb. Dann packte er die Karre, aber ihr Gestell war schon eingesunken in den Sand. Ein paar der Esskaas, die gerade noch gelacht hatten, sprangen ihm bei; sie griffen in die seitlich herunterhängenden Fesseln und Riemen.»Nie-mand, nie-mand …«, brüllte Kruso und gab damit den Rhythmus vor.

«So hast du es dir sicher nicht vorgestellt, dein Leben auf der Insel?«

«Vieles hat sich verändert«, entgegnete Ed.

Wahrscheinlich hatte Kruso ihn bereits am Schritt erkannt. Oder er war einfach sicher, dass es Ed sein musste, der ihm nacheilte. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Sein mutiger Freund wirkte vollkommen ruhig. Er hatte das Buch in der Hand, und Ed fragte sich, wo es die ganze Zeit gewesen sein konnte.

Ein salziger Sprühnebel flog ihnen ins Gesicht; auf den Steinen am Ufer glänzte das Mondlicht. Ein paar Sätze kreisten in Eds Kopf, plötzlich hatte er ein gutes Gefühl. Aber noch ehe er über C. (und vielleicht sogar G.) sprechen konnte, begann Kruso mit seiner Erklärung.

«Sie nennen es das Slamern. Wenn die Maschine auf den Boden knallt, explodiert das Gemisch — Schnaps und Sekt, geht direkt in den Schädel, ist wie ein Schuss in eine andere Welt. Man braucht nicht besonders viel Alkohol dazu, die Wirkung liegt in der Physik, nicht in der Chemie, verstehst du, Ed?«

«Ich war noch nie gut in Physik«, erwiderte Ed, beschämt von der Innigkeit seines Wunsches, mit Kruso zu reden.

«Früher nannten sie es den Gottesdienst. Sie machen es einmal in der Woche. Irgendwie endet die Sache immer im Wasser. Es geht ihnen ums Meer, das sie verehren, anbeten und so weiter. Primitiv, aber verständlich. Ihrem alten Sänger ging es beim Slamern noch um Schaltvorgänge, Schaltkreise im Kopf, bewusstseinserweiternde Gehirnprogrammierung und solche Dinge, aber er ist ausgereist, letztes Jahr. Seitdem ist die Sache heruntergekommen. Sogar der buddhistische Baum …«

«Der buddhistische Baum?«

«Ja. Ein Baum mit hundert Armen, Ästen genau genommen. Ein unvergleichlicher, großartiger Baum. Manche sagen auch Traumzauberbaum. Er steht am Capriweg, unmittelbar an der Küste. Sie benutzen ihn für ihr Aufnahmeritual. Dann sitzen sie dort oben — sie trinken und warten, wer zuerst herunterfällt. Fast jeder wird aufgefangen, nichts passiert. Es heißt, der Baum bringt jedem Glück, der es nötig hat. Aber ich möchte dir wirklich abraten, Ed. Du brauchst das nicht, sie kennen dich inzwischen, und sie akzeptieren dich.«

Krusos Fürsorge. Ed war gerührt.

«Vieles hat sich verändert«, begann er noch einmal.

«Du hast recht. Wir kommen immer seltener zu den Gedichten, nicht wahr?«

«Unser Heiliges!«

Eds Antwort kam zu schnell. Eine irrsinnige Mischung aus Auflehnung und Zuneigung.

«Ich weiß, warum du hier bist, Ed.«

Ed schwieg. Dann verschleierte sich sein Blick, er war einfach übermüdet. Die schlaflosen Nächte hatten ihn dünnhäutig gemacht; aber der Wind trocknete die Augen, und das Sprechen begann wie von selbst.

«Das Foto deiner Schwester, Losch. Es erinnert mich an G., meine Freundin, die überfahren wurde, von der Straßenbahn, vor einem Jahr. Ich weiß, das ist verrückt, aber manchmal kommt es mir so vor, als hätten wir denselben Menschen verloren.«

Kruso erstarrte, soweit das im Gehen an einem Strand voller Steine möglich war.

«Du bist kein Schiffbrüchiger, Ed.«

«Nicht?«

«Nein. Zwei Nächte vor deiner Ankunft habe ich geträumt, dass du kommst. Ich habe dich kommen sehen. Wie schon geschrieben steht: Dass jetzt die Zeit sei, mir einen Diener und ihm zugleich einen hilfreichen Freund zu verschaffen. «Kruso drehte sein Gesicht in den Wind und legte eine Hand auf Eds Schulter. Er lachte leise, aber vielleicht hatte Ed sich verhört, und es war ein Seufzen oder gar nichts gewesen.

«Das ist nur Defoe, Ed, keine Angst. Für Robinson ist Freitag der Lotse, jedenfalls träumt er ihn so. Ein Lotse, der ihm hilft, herunterzukommen von seiner Insel, von seinem Unglück. Im Traum ist es Freitag, der ihm zeigt, welche Orte er meiden muss, um nicht gefressen zu werden, wohin er sich wagen darf und wohin nicht, oder wie er sich Lebensmittel beschaffen kann …«

«Aber die Geschichte verläuft anders. Das Buch erzählt, wie Crusoe Freitag rettet, sie erzählt komplett das Gegenteil.«

«Bist du sicher?«

«Vielleicht hast du mich gesehen, bei meiner Ankunft, im Hafen?«

«Nein Ed, nur geträumt. Anfangs hatte ich natürlich Zweifel. Aber die Gedichte haben alles bestätigt.«

Ed bemühte sich, so zu gehen, dass die Hand seines Freundes nicht von seiner Schulter rutschen konnte. Er dachte daran, dass es unmöglich war, von einem Fenster des Klausners aus hinunter auf den Strand zu blicken. Er hatte es erst vor ein paar Tagen bemerkt. Bis dahin musste er blind gewesen sein. Und er musste fantasiert haben, als er am Tag der Vergabe den Strand und die Kaserne gesehen hatte, durch Krusos Fernglas, unter Krusos Hand.

Sein Freund ging an der zur Küste gelegenen Seite, wodurch er noch größer wurde. Mit einer einfachen Drehung hätte Ed seinen Kopf an Krusos Brust legen können. Er bemerkte, dass auch Kruso versuchte, eine Art Gleichschritt zu halten, was schwierig war auf dem abschüssigen Strand. Eds Schuhe (Speiches Tramper, genau genommen, seit einigen Tagen trug er sie) waren längst durchnässt, weil er, statt auszuweichen, einige der sanft anrollenden Wellenränder geradewegs durchquert hatte.

Kruso sah ihn an.

Oder er sah an ihm vorbei, zu den Lichtern des Patrouillenboots, das sie in diesem Moment überholte.

Oder er sah zu den winzigen Lichtpunkten noch weiter draußen, in der Fahrrinne der Hochseeschiffe und Schwedenfähren, die vorüberzogen, so langsam wie Jahre. Ed spürte, wie sich die Hand auf seiner Schulter verkrampfte. Er drehte den Kopf, und im selben Moment hatte er Krusos Lippen im Gesicht.



Kobold-Marén

… still, so still, als lauschte nun allein das Haus ins Rauschen, von Kiefern angestimmt und von der Brandung aufgenommen, leise, verhalten, thematisch fortgeführt und variiert von den Becken aus Stein und verstärkt von denen aus Stahl, die unter dem fallenden Wasser wie Trommeln ertönten mit ihrem dunklen Gedröhn, jenes häusliche Geräusch, das Ed einsponn in Wohlsein und Behagen, weil es war wie einmal daheim; das dumpf in die Wanne stürzende Wasser und das Summen des Durchlauferhitzers, gehört von der Stube oder vom Kinderzimmer, Freitag 18 Uhr, tief im Rauschen.

Aber das war nicht der Badetag seiner Kindheit, jener schönste Abend in der Woche, es war einfach: diese Nacht. Angekündigt von den Trommeln der Waschung, denen die Schritte auf der Treppe folgten, selten ein Flüstern, nur leises feines Klappen von Türen, jeder kannte seinen Weg, und auch das zählte für Ed zu den Rätseln. Erst dann, nach und nach, tauchte Viola wieder auf, das» Konzert am Abend«, später die Stimme des Nachrichtensprechers, die in der Nacht anders beschaffen war als am Tag, da sie nun auch gegen den Schlaf und die Dunkelheit ansprechen musste, wozu der Mann im Nachrichtenstudio bestimmte Worte hervorhob und andere fast vollständig fallen ließ, dazwischen lange Pausen und die Geräusche von Papier, das umgeblättert wurde, vor und zurück, als ringe der Sprecher verzweifelt um den nächsten Satz oder wählte ihn erst in diesem Moment; ja, er ist allein in dieser Nacht, allein mit seiner Stimme, dachte Ed. Er dachte an C., und er dachte ich will, und er wusste, wie er es machen würde, und auch was dann und dann und dann.

Noch einmal trat er zur Tür und lauschte.

Den Nachrichten folgte das» Nachtradio«. Ein neuer Bericht über Flüchtlinge in Ungarn, tägliche Fluchten über die Grenze, bestimmte Worte wiederholten sich in einem fort, oder es waren nur die, die von den Schwankungen Violas besonders hervorgehoben wurden, die Botschaft, der Sondergesandte, hygienische Bedingungen. Ed zündete eine Kerze an, blies die Flamme aus und fluchte; seine Lippen hatten das Streichholz berührt.»Auf der Ostseite eines nahezu ortsfesten Hochs über dem Ostatlantik fließt mit einer nordwestlichen Strömung kühle Meeresluft nach Deutschland, darin eingelagerte Störungen gestalten das Wetter in den nächsten Tagen unbeständig. «Ed wurde übel. Viola liebte den Wetterbericht, der einzige Beitrag, den sie Satz für Satz aus dem Äther fischte.

Die Tür öffnete sich, fremd und leise. Im Flackern der Kerze glitt der Giebel seines Zimmers in die Tiefe, aber immer rutschte neue, fleckige Wand von oben nach, erst langsam, dann schneller. Hastig flog Eds Hand über den Schalter der Lampe.

«Wer bist du?«

«Ich bin Marén.«

Sie war klein; sie hatte kurzes, gelocktes Haar und das Gesicht eines Kobolds.

«Marén. Du hast dich in der Tür geirrt.«

«Ich glaube nicht. «Sie blickte zu Boden, dann aber doch zu Ed hin oder über ihn hinweg, zum Fenster, als wüsste sie schon, dass das der schwierigste Moment war.

«Wo ist C.?«, fragte Ed.

Er bildete sich den Kobold nur ein, und er hoffte, dass C. noch erscheinen oder sich plötzlich herausschälen würde aus seiner winzigen Gestalt.

Das Gesicht des Mädchens hellte sich auf.»Ja, am Nachmittag war sie noch da, im Wald, aber nicht mehr am Abend, zur Suppe. Sie war schon sehr lange bei uns im Quartier, ich glaube, länger als wir alle, ihre Zeit ist wohl abgelaufen.«

Gleitend wie im Traum wechselte Kobold-Marén auf sein Bett. Als handele sie in Übereinstimmung mit irgendeinem höheren Gesetz, an das auch Ed sich noch erinnern würde, früher oder später. Ebenso fließend und vorsichtig begann sie, ihr Kleid abzustreifen, wobei sie es vermied, ihn anzusehen.

«Und du bist Edgar, nicht wahr?«

Ed marschierte. Er spürte es auf den Armen, der Brust, überall auf der Haut — etwas wollte explodieren. Die Begierde war jetzt außen, und er marschierte geradewegs durch ihren wund leuchtenden Raum, so wund und empfindlich, dass alles schmerzte, was er berührte und alles, was er nicht berührte. Das Unterholz schlug ihm ins Gesicht. Geäst, das unter seinen Füßen zerbrach, der Wald roch faulig.

Zu dunkel, aber er konnte den Schlaf empfinden, von dem die Talsohle angefüllt war. Er trat näher und erkannte die Umrisse der Schläfer, den Schimmer einer Plastikplane, Schlafsäcke, Atemgeräusche, ein Zucken im Traum. Lebendig begraben, dachte Ed, und plötzlich erfasste ihn das Bild des Massengrabs. Wie unter Zwang machte Ed einen weiteren Schritt, als ihn jemand von hinten packte und zu Boden zog. Ed schmeckte Kruso. Krusos Creme, Krusos Hand in seinem Gesicht.

In der Senke blitzte der Kegel einer winzigen Lampe auf und erlosch. Ed stöhnte leise, und Kruso gab seinen Mund frei.

«Wo ist C.?«

«Dachtest du, sie kann ewig bleiben?«

«Ich will nur wissen, wo sie ist.«

«Sei nicht kindisch, Ed.«

«Und der Kobold soll verschwinden aus meinem Zimmer.«

«Dein Zimmer? Wofür hältst du dich? Das ist ein Zimmer des Klausners, eine seiner kostbarsten Kajüten, vergiss das nie. C. hatte fünf Tage, mehr als jeder hier, das scheint dir entgangen zu sein. Was glaubst du, wer sich dafür eingesetzt hat?«

«Ich will …«

«Ja, Ed, du willst. Und ja, ich muss sagen, wir waren überrascht, nach allem, was wir verstanden hatten von dir. Keine Vergaben an Edgar, so lautete die Weisung.«

«Man wählt seinen Schiffbrüchigen selbst, hast du gesagt.«

«Sicher, Ed. Beim ersten Mal

Kruso deutete auf das Grab der Schläfer.»Die Vergabe braucht Kriterien, sie braucht Gerechtigkeit und Disziplin, sonst macht es keinen Sinn, verstehst du? Freiheit und Ordnung schlagen immer wieder ineinander über auf unserem Weg. Vergiss nie, wie du selbst aufgenommen wurdest. Du hast hier deine Höhle gefunden. Du hast lange genug nur an dich gedacht.«

Ed schnürte es die Kehle zu. Er wollte sich auf Kruso stürzen und schämte sich sogleich dafür. Er konnte kaum atmen. Kein bester Freund mehr — von einer Sekunde auf die andere. Nur ein Geduldeter. Weniger als das.

«Natürlich steht es dir frei, zu gehen, jederzeit. Ich kann dich nicht hindern.«

In den Augen seines Freundes hatte Ed versagt; dabei hatte er immer alles getan, er war ein guter Gefährte gewesen, der beste. Es war, als hätte ihm Kruso das alles entrissen, mit einem einzigen Satz.

«Du hast mich geträumt.«

«Und jetzt bist du ein Teil des Klausners, ist das etwa kein Traum?«

Im Hof war es still. Kein Licht mehr im Abwasch, nur die kleine lila Neonröhre im Tresenregal. Sie saßen am Kellnertisch unter dem Fenster. Kruso kippte Kirsch-Whisky in eine Kaffeetasse. Er hatte einen Arm um Eds Schultern gelegt und ihn langsam, wie einen Verletzten, in den Klausner zurückgeführt. Ed zitterte und schlug mit den Zähnen ans Porzellan. Als reagiere sein Körper in diesem Moment auf den Entzug. Der Irrsinn flackerte noch in seinen Augen, aber sein Zorn war verraucht. Er atmete in kleinen Stößen in seine Tasse hinein. Als wäre es nur darum gegangen, Losch zu finden. Immer nur darum. Nicht C. Und auch nicht G.

«Du hättest in deinem Zimmer bleiben sollen.«

Loschs Stimme klang besorgt.

«Du bist gern dort, du bist derjenige von uns, der die meiste Zeit auf seinem Zimmer verbringt, und das kann so bleiben.«

Innerhalb des Kirsch-Whiskys war es warm und gut. Als hätte der Kirsch-Whisky ihn getrunken. Als er den Kopf hob, entdeckte er ein paar nackte, schmale Füße unter dem Nachbartisch. Jemand liegt dort und schläft, dachte Ed. Jeder braucht bloß einen Platz zum Schlafen, eine Unterbringung, ein Ouartier, wo …

«Ist C. in Sicherheit?«

«Es geht ihr gut, Ed. Sie hatte ihre Zeit.«

«Kommt sie wieder?«Mit einem Ruck sprang das Kühlaggregat an und brachte die Gläser im Tresen zum Klirren. Die Stahlkännchen glänzten im Halblicht, wie frisch poliert. Ed wusste, dass sie innen braun und verkrustet waren, manche fast schwarz.

«Sie ist nicht wirklich fort. Sie ist jetzt eine von uns. Die Erleuchteten stehen alle miteinander in Verbindung, jede Frau, jeder Mann.«

Ed atmete aus und schob seine Tasse in die Mitte des Tisches. Er hatte nicht genau verstanden. Er war dabei zu vergessen, was Sätze bedeuten. Er wohnte jetzt in einer Höhle, tief im Geräusch. Dort sprach man einfach leise vor sich hin, mit seiner Stimme. Dort tat es wundersam wohl, den Klang dieser Worte zu hören, Krusos Kraft und Energie zu spüren.

«Sie üben die Freiheit, Ed. Es gibt nichts, was irgendjemand tun muss, nichts, was du tun musst.«

«Denken sie nicht, ich meine …«

«Sie lernen, Ed. Für manche ist es nicht leicht. Manche sind verwirrt und überrascht. Das ist normal. Mit der Freiheit entdecken sie plötzlich so vieles, all ihre verschütteten Bedürfnisse, oft mit einem Schlag.«

Noch immer ging das Rauschen durch die Nacht. Ed war darin eingeschlossen. Das Rauschen verkleinerte ihn auf die Größe eines Eis, während das Draußen unablässig wuchs. Am Boden eines der Stahlkännchen hatte Ed eines Tages ein Zeichen entdeckt, das dort eingeritzt war. Es handelte sich um das verbotenste Zeichen der Welt. Im Eifer und gedankenlos hatte er seine Bürste mehrmals in den Stahlkolben gestoßen, und irgendwann war die Überlieferung schimmernd hervorgetreten unter der Kruste. Augenblicklich verstand Ed, welche Verantwortung auf ihnen, den Abwäschern, lastete. Es war kaum zu ertragen.

Das neue Mädchen bewegte ihren Arm, und Ed erwachte.»Zwei Uhr und vier Minuten. Meldungen zur Verkehrslage liegen nicht vor. «Noch immer ging das Rauschen durch die Nacht. Ed war darin eingeschlossen. Das Rauschen verkleinerte ihn auf die Größe eines Eis, während das Draußen …



Die Schiffbrüchigen II

Es gab kein Zeichen, kein Kennwort. Kurz vor Mitternacht betraten sie einfach sein Zimmer. Sie standen im Dunkeln, niemand machte Licht, Viola spielte die Nationalhymne.

Niemand, der das Licht einschaltete, als sei dies die Bedingung. Ein gewisser Schutz vielleicht, eine Regel Krusos. Ihre Konturen verschwammen und verwuchsen mit den Dingen, und so waren sie auch am Tag noch da, am Tisch, auf dem Bett, auf dem Boden; langsam nahm sein Zimmer die Gestalt des Schiffbruchs an. Fremder und vertrauter Schiffbruch, Schiffbruch eines ganzen Landes.

Niemand, der lange zum Lichtschalter tasten, niemand, der sich erniedrigen musste. Viele wollten etwas zurückgeben, hatte Kruso gesagt, aber es gäbe nichts, was irgendjemand tun müsse, und er müsse gar nichts tun.

Und so war es.

Alles geschah wie von selbst, ohne Gesicht.

Monika, die kleine Unsichtbare, hatte ihm bald eine zweite Decke ins Zimmer gelegt, in die Ed sich einrollte, wenn er beizeiten auf den Fußboden wechselte in dem Versuch, Abstand zu gewinnen.

Aber auch unter den Schwarzschläfern gab es solche, die ihm keinesfalls zu nah kommen wollten und es also nicht wagten, das leere Bett zu besetzen. Stumm und ohne einen einzigen Laut, also Geistern ähnlich, schlossen sie die Tür und streckten sich auf den Dielen aus.

So geschah es, dass manche Nächte niemand im Bett lag und es stattdessen eng wurde auf dem verschmutzten Boden, auf dem noch immer kleine vertrocknete Häufchen toter Kakerlaken lagen, so sauber und nahezu planmäßig angeordnet, als hätte sie ein Totengräber mühevoll zusammengetragen. Mit halbem Bewusstsein dachte Ed darüber nach, welche Tiere wohl Kakerlaken fraßen. Wahrscheinlich enthielten ihre knisternden Körper alle nur denkbaren Vitamine, Spurenelemente, kostbare Inhaltsstoffe, die in der richtigen Dosierung nahezu unsterblich machten oder jedenfalls auf eine Weise empfindlich, dass es mit ihrer Hilfe möglich wäre, nicht mehr nur mit den Augen zu lesen, sondern auch mit der Haut, zum Beispiel bei vollkommener Finsternis.

Wenn Edgar erwachte (meist war es ein Aufschrecken, schweißüberströmt, begleitet von einer Erektion, so hart, dass sie schmerzte; manchmal versuchte er sich zu streicheln, wie man ein Kind beruhigt durch Berührung, aber er traf nur auf einen verständnislosen Ast, der fremd in die Gegend ragte und ein Eigenleben zu führen begonnen hatte, ohne Ed und weit jenseits seiner Bemühung um — wie sollte man es nennen — Würde), hörte er das Atmen, fremdes und eigenes Atmen, in lauernder Umkreisung, ein Gespräch aus Luft, so lange, bis er den Rhythmus erkannt und sich darin eingepasst hatte und zurücksinken konnte in den Schlaf, wegsackte in irrsinnige Träume.

Nicht alle Eigenschaften wurden vom Dunkel verschluckt. Manche der Schiffbrüchigen strahlten viel Sicherheit und Selbstbewusstsein aus. Sie waren stolz, ohne Bitterkeit, dafür voller Träume und Vorhaben (eine Hauptwirkung der Insel). Manche sprachen mit Ed, leise, sie flüsterten durch die Finsternis seines Zimmers, sie nannten ihren Namen, gaben bereitwillig Auskunft und zeigten sich dankbar. Nie traf er auf solche, die ihn nur aushorchen wollten, was ohne Zweifel Krusos Auswahl zu verdanken war, seiner Vorsicht und seinen Kriterien, von denen Ed bis dahin noch keinen genaueren Begriff gewonnen hatte. Bei einigen allerdings schien es ein lustloser Schiffbruch, der ihrer lebenslangen Langeweile keinen Abbruch tat; es war, als folgten sie nur irgendeiner Pflicht (zum Glücklichsein vielleicht), einer Vorstellung von Sehnsucht, die ihnen mit dem landesweiten Ruf der Insel zu Ohren gekommen war, aber nichts bedeutete ihnen etwas. Bei ihnen war es, als beträte eine Windstille das Zimmer. Sie waren Spötter, mehr nicht. Andere schienen Ed wie gefallene Existenzen, mit Bewegungen, verlangsamt und gehemmt vom Vorgefühl der nächsten Niederlage. Manche standen lange einfach nur da, im Dunkel an der Tür, und rührten sich nicht. Wie scheue, erschreckte Tiere, die das Versteck zwar erreicht, ihm aber nicht wirklich vertrauen konnten. Als hätten sie eine schwierige Angst zu bewahren, dachte Ed.

Wenn er sich schlafend stellte, kam es vor, dass er plötzlich großes Mitleid empfand. Er sah seine eigene Flucht, seine Suche nach einem Schlafplatz, er konnte in den Atemzügen der Schwarzschläfer seine eigenen verzweifelten Gedanken lesen. Manche redeten im Schlaf, mit dem Gesicht zur Wand, wurden plötzlich laut, erhoben Anklage für zwei oder drei Worte und verstummten wieder. Manche weinten, hielten lange den Atem an und schluckten, um nicht zu schluchzen. Nie wusste Ed, ob ihre Augen geöffnet waren, ob sie ihn anblickten im Dunkel … Nein, er hatte es besser getroffen, und jetzt schämte er sich fast dafür, und das waren die Momente, in denen es ihm nicht falsch erschien, diese Nachtgestalten in seine warmen Arme zu schließen.

Schon lange brauchte er keinen Wecker mehr, die Zeit für den Ofen war ihm eingeschrieben, auch wenn ihr Maß entglitt über Nacht. Er griff nach der Klinke und tappte nach unten, die Dienstbotenstiege, der Hof, die bröckelnden Stufen, und erst dort, vor dem Ofen, im Schwarzen Loch, holte er Luft, tief Luft, und streifte sich seine Sachen über.

Abends blieb Ed jetzt lange am Strand, um ein paar von den Dingen, die ihm nachts widerfuhren, in die Höhle seines Fuchses zu sprechen — sein Herz auszuschütten, wie man so sagt. Vor Sonnenuntergang machte er nervöse, hastige Spaziergänge durch das Hügelland und den Hochlandwald. Stundenlang geisterte er kreuz und quer unter dem Lichtarm des Leuchtturms umher und hoffte, niemandem zu begegnen.

Nicht die Schiffbrüchigen, nein, er war es, der sich erniedrigte. Er fühlte Abscheu und hatte Tränen in den Augen. Er nahm das Foto Sonjas zur Hand, um sich an G. zu erinnern (wie er es inzwischen öfter tat), aber was er empfand, war pures Verlangen. Plötzlich schien G. ihm wieder ganz zu entgleiten. Er verglich es mit dem Geruch einer lange entbehrten Nahrung, und er war hungrig, vollkommen ausgehungert, oder mehr als das: Er war süchtig danach. Seine Abstinenz schlug um, selbst sein Schmerz war von Lust durchdrungen. Es war eine Art Leiden, auf dessen Rückseite ein unbegreifliches Frohlocken seine obszönen, gierigen Lieder anstimmte.

Um 22 Uhr die Fahrradstreife. Das nicht enden wollende Scheppern (wie höhnischer, künstlicher Beifall), mit dem die zwei Soldaten auf ihren Rädern den Panzerplattenweg hinunterrollten in den Ort. Das Geräusch ihres Gesprächs im Wind, das sanfte Blinken der Maschinengewehre im letzten Licht des Tages. Auf diesem Weg würde das Postenpaar die ganze Insel durchqueren, bis zum Hassenort, einer ins Meer ragenden Strandspitze, auf der ein Wachturm errichtet worden war, ausgerüstet mit allerbester Technik, so Kruso. Ferngläser, die es erlaubten, jedes einzelne Schamhaar am Strand zu entziffern — und jeden Flüchtling, drei Seemeilen weit. Dazu ein leichtes Maschinengewehr und» Munition, die für uns alle reicht«, wie Kruso es ausgedrückt hatte.

Ed presste seine Schulterblätter gegen den Sockel des Leuchtturms. Die Lichter von Rügen, so nah, als könne man mit wenigen Schritten hinüberwaten, ans Fenster klopfen und sagen: Ich bin da. Er fühlte die alte Sehnsucht nach einer Behausung, einer Höhle für seine einigermaßen unbegreifliche Verlorenheit. Von Insel zu Insel, immer weiter, weiter … Ed lauschte auf die Stimme, die das gesagt hatte, und wollte fragen, ob damit das ganze Leben gemeint sei.

Der sonnenwarme Stein in seinem Rücken. Zuerst war es ein Schaudern; er konnte seine Haarwurzeln spüren. Dann ein sanfter, nichts als angenehmer Druck; er begann unter den Augenlidern und zog von dort bis ins Mark.

Es war in ihm, es war da.



Grit

Alle tun nur so, dachte Ed. Er spreizte die Beine, um tiefer zu stehen. Er musste sich weit nach vorn beugen, abstützen und sein Glied nach unten biegen, damit ein Winkel entstand, bei dem er nicht hinausschoss über das Becken, den Klausner, ins Weltall.

Es war ein Reflex, primitiv und gewaltig. Eine Art Kannibalismus, dachte Ed. Seit C.s Verschwinden (C., die Unbeschwerte, Tanzende, Fröhliche, die Nummer 1 in seiner Reihe) schlingerte er im Mahlstrom der Begierde. Es gab Ausdrücke dafür.»Das Hirn aus dem Kopf vögeln «zum Beispiel, eine der seltenen Bildunterschriften, darüber die Zeichnung, in die graugrüne Ölfarbe des Spülkastens geritzt. Ein wirres Gekritzel, über allem ein herzhaft lachender Schwanz, übersät von abgeplatzten Pigmenten. Wer weiß, aus welcher Saison, dachte Ed und hatte die Fotos vor Augen. Er dachte an die 68er Besatzung im Moment der Fotografie, alle Frauen und Männer den Hals einer Flasche an den Lippen; alle taten nur so.

Es war schmerzhaft.

Es sah behindert aus.

Er hob den Kopf (so gut es ging) und betrachtete die Zeichnung. Vielleicht hatte Rimbaud sie angefertigt.»Das Hirn aus dem Kopf«— vielleicht war das sogar ein Zitat von Artaud. Das grinsende Glied, das ihm jetzt unmittelbar vor Augen stand, wirkte lebendiger als der Ast zwischen seinen Beinen; es trug höhnische Züge, und Ed spürte die alte Unterlegenheit. Als wäre C. nur ein Phantom und das Lachen nie auf seiner Seite gewesen. Als säße er noch immer auf dem Baum der Wahrheit, inmitten eines abgebrannten Waldstücks, einer verkohlten Lichtung, ein vierzehnjähriger Junge, der vor den Ohren seines Freundes Hagen leise von» bumsen «spricht (die Lippen Claudia Cardinales und Hagen, der sagt:»Da bekomme ich gleich einen Steifen«, und Ed, der leise erwidert,»Ja, man möchte sie gleich bumsen«, vielleicht hatte er es in diesem Moment das erste Mal gesagt, das erste Mal ernsthaft mit jemandem darüber gesprochen), jenes warme, weiche, wahrscheinlich thüringische Wort dafür, während» ficken «und» vögeln «unfassbar blieben, jenseits, bei den Ausdrücken einer unverstellten, schonungslosen Welt, einer Welt, in der es zur Sache ging, wie es hieß, und der er wahrscheinlich nie gewachsen sein würde.

Das stürzende Geräusch der Spülung im Rücken (schamlos, endlos) und der Weg zurück durch den Flur. Krusos Tür, Koch-Mikes Tür, die Tür seines Nachbarn Cavallo, von dem nur selten, fast nie etwas zu hören war.

Vorsichtig öffnete Ed sein Zimmer. Ein Luftzug und zugleich eine Bewegung im Raum.

«Mein Name ist Grit.«

Der Palasthotelgeruch. Er konnte die Feuchte ihrer Haare riechen, und mit nassen Haaren tastete sie sich ihm entgegen und streckte ihre Hand aus, so, wie sie es einmal und für immer gelernt hatte. Ed musste die Hand suchen, und als er sie fand, war sie sehr klein, kleiner als Grits Geruch.

«Hallo.«

Sehr leise erklärte Grit, sie wolle sich jetzt auf den Boden legen, was Ed nicht erlaubte. Sie war aufgeregt, sie wirkte ängstlich und begann sofort zu sprechen.

«Danke, dass du mich aufgenommen hast, ich meine Kruso, ich meine, Kruso sagt, wir alle hier sind … Schicksalsgefährten, aber ich bin das erste Mal auf der Insel und …«

«Hallo. Mein Name ist Edgar.«

«Ich weiß. Kruso hat mir deinen Namen genannt, und er hat mir alles sehr gut beschrieben, wie ich in den Abwasch finde, welches Becken, welches Zimmer …«

Sie tauschten sich aus.

Ihr Flüstern war wie ein Rascheln aus einer noch unbekannten Ecke seines Zimmers. Auch die Nächte galten als Möglichkeit, sich zu vergewissern, so viel hatte Ed inzwischen begriffen von dem, was die Schiffbrüchigen ihm zu verstehen gaben, säuselnd, leise, oft nur in Halbsätzen und kaum fassbar. Ihre Erlebnisse am Tag, ihre Ausbildung am Strand und die unvergleichliche, einschneidende Wirkung der Insel — genauso, wie Kruso es ihnen vorhergesagt hatte.

Ja, Kruso sei sein Freund.

Ja, ein richtiger, ein enger Freund. Freund und Meister.

Sie lachten ein wenig. So redete Ed das erste Mal. Er konnte seiner Bewunderung Ausdruck verleihen, ungeschmälert, ohne Scham. Er gab seine Verehrung zu. In Grit fand er ein Echo. Oder er war das Echo. Grit nahm ihn viel ernster, als er sich selbst je genommen hatte — als Abwäscher des Klausners. An Grit begriff Ed seine Rolle; er war ein Mitglied der legendären Arche Kruso, die Grit aufgenommen hatte. Für Grit war Ed ein Beweis, ein Exempel, an dem, wer nur wollte, erfahren konnte, wie die Freiheit aussah.

Grit berichtete, was der Meister ihnen erklärt hatte am Strand. Ed war, als hätte er seinen Freund schon lange Zeit nicht mehr gesehen, und als wäre er nun, mit Grit, zurückgekehrt in sein Zimmer, auf seinen angestammten Platz, am Kopfende des Bettes …

«Er sagt, wir, ich meine wir hier«(sie berührte ihn an der Brust und vielleicht auch sich selbst irgendwo),»bilden die kleinste Zelle. Das sei die erste und manchmal auch die einzige Möglichkeit, jedenfalls für den Anfang, die Möglichkeit unmittelbarer Gemeinschaft, die an Stelle der deformierten Verhältnisse tritt. Er sagt, die Freiheit sei eigentlich immer schon da, in uns, wie ein tiefes Erbe. Er sagt, heutzutage sei es besonders schwierig, dieses Erbe anzutreten. Und im Grunde fast zu viel verlangt. Aber hier auf der Insel wäre es möglich, hier am Meer, und wer sich nicht fürchtet, der spürt ihren innersten Herzschlag …«

Sie redete immer weiter.

Er hatte sie darum gebeten.

Niemand, der das Licht einschaltet.

Erleuchtete brauchen kein Licht. Nur Finsterlinge.

Ob sie das Gesagte noch einmal wiederholen könnte? Sie tat es, ohne zu zögern, als wäre das nichts anderes als eine weitere kostbare Gelegenheit, Lehre anzunehmen.

Und plötzlich gehörte alles zusammen. Ed begann Losch zu begreifen. Zuerst die Schultern, dann die Hüften. Er schob sie ein wenig zur Seite, sanft, dann mit Kraft und Bestimmtheit. Sie lag jetzt auf dem Bauch. Er hielt sie an der Taille, wie eine Vase. Er wartete und lauschte. Er schloss die Augen und bedeckte sie mit seinem Körper. Sie redete noch, während er in ihr war. Es war, als spräche er ihr nach, in diesem Ton, mit diesen Worten.

«Bitte noch einmal, noch-ein-mal …«

«Ja«, flüsterte Grit,»ja.«

Als die fremde, auf unbegreifliche Weise vertraute Grit nur noch die tiefen Atemzüge ihres Schlafs von sich gab (die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt), tappte Ed nach unten in den Keller und nahm seinen Platz vor dem Ofen ein. Langsam schraubte er die Ofenklappe auf und betrachtete die Überbleibsel. Schlacke, Erde, Aschekrusten in komplizierten geometrischen Formen. Inmitten ein blaugraues Häufchen voller rostiger, teils handgeschmiedeter Nägel oder Nieten, aus dem Treibholz gebrannt, Reste von Schiffen, die sonst wohin hatten segeln wollen und am Ende vielleicht in einem Krieg oder Sturm gelandet waren … Sein Gesicht wurde warm. Die Augen fielen ihm zu, der offene Ofen wärmte durch bis auf den Grund seiner Augenhöhlen. Für einen glasklaren, niemals wiederkehrenden Moment war ihm so, als kenne er alle Schicksale des Landes. Ihre Anzahl war begrenzt, fünf oder sechs Schicksalstypen, sein eigenes darunter.



Dostojewski

Wenn Ed vom Meer in den Abwasch zurückkam, sangen ihm die Ohren. Es ähnelte einer kleinen Sirene, direkt im Kopf, aber er blieb ruhig und nahm seine Arbeit wieder auf; er machte ein paar Gegengeräusche mit Tellern und Besteck, und nach einer Weile ließ es nach.

Noch mehr als Pfannen hasste Ed die großen Schöpfkellen. Er hätte nicht sagen können, warum, aber inzwischen war es eine ausgewachsene Feindschaft. Verächtlich schleuderte er sie ins Becken und stieß mit der Faust in ihren öden Löffel, hektisch, viel zu ungestüm und ohne genauer hinzusehen. In der Regel war es nur eine Frage der Zeit, bis es der Kelle unter Ausnutzung ihrer ganzen Heimtücke (und des Hebelgesetzes) gelang, Ed den meterlangen Aluminiumstiel mit dem kleinen hässlichen Haken ins Gesicht zu schlagen. Wie ein prähistorisches, schon vor Jahrhunderten für ausgestorben erklärtes Reptil schoss die Kelle aus dem dünn mit fettiger Schaumhaut bedeckten Waschwasser hervor und spritzte ihm ätzende Brühe in die Augen. Blind fluchend, fuchtelte Ed mit den Händen durch die Luft — gleichzeitig traf ihn der Schlag.

«Das dumme Schwein!«, brüllte Ed. Es war eine Kränkung ohnegleichen.

Oft waren die Außenseiten der Schöpflöffel geschwärzt, als hätte man sie direkt ins Feuer gehalten, um irgendeinen Sud zu brauen, eines von Krusos magischen Giften vielleicht für die heilige Suppe — »verdammter Schamane«, brabbelte Ed und schrubbte auf dem Aluminium herum.

Inzwischen war es wieder wärmer und die Luft im Abwasch schwerer und stickiger geworden. Ein scharfer Dunst stieg auf aus dem Becken, in dem seine Hände wühlten, das Spülmittel brachte seine Schleimhäute zum Glühen.»Verdammter Schamane, verdammte Nachtgestalten hier …«Ed hatte Angst, im Nebel der Ausdünstungen das Bewusstsein zu verlieren. Seit sein Zimmer zu Krusos Verteiler gehörte, war er wie betäubt von Müdigkeit.»Schöpfung, Schöpflöffel, Erschöpfung«, summte es in seinem Schädel, halblaut fluchte Ed vor sich hin, es gärte und ätzte in ihm, er wurde fordernd und böse, eine Auseinandersetzung, die längst fällig war:»Was für verdammte Kräuter, Losch, und überhaupt, wozu diese stinkende Suppe, wozu diese römischen Gespenster im Abwasch …«Unter den Eingebungen des Spülmittels und gezeichnet vom Abdruck des kleinen hässlichen Hakens an seiner Schläfe (die Kelle, das Schwein, hatte Ed ihren Stempel aufgedrückt), verkündete er Kruso, dass er am Ende sei, und zwar absolut. Bewusstlos starrte Ed in sein Becken. Ein Teller trudelte zu Boden, und für einen Moment sah er C. als eine Art Geschirr — rund, glänzend, er sah ihre Stirn und seinen Schaum darauf, ein helles feuchtes Etwas, das ihr ins Haar und in die Augen lief und abgewischt werden musste.

Nach Dienstschluss konnte es Stunden dauern, bis sich der Schwindel legte.

Ed fragte sich, wie es die anderen machten, Chris oder Cavallo, wie sie es schafften, ungerührt am Frühstückstisch zu sitzen, während er dumpf und hohläugig auf sein Marmeladenbrötchen starrte oder versuchte, einen Blick von Kruso zu erhaschen; nur mit Mühe widerstand Ed der Verlockung, seinen Kopf auf den Personaltisch zu legen. Im Grunde konnte es nur eine Erklärung geben: Sie schliefen. Sie waren das alles längst gewöhnt, Krusos System. Abgesehen von Rolf war Ed der Jüngste im Klausner, kein Grünschnabel mehr, aber ein Anfänger, und zwar in jeder Hinsicht. Seine sexuellen Erfahrungen waren beschränkt, und ja, eher oberflächlich, wie er zugeben musste. C. war die Ausnahme gewesen, ein Anfang, ein Absturz.

Auf Dauer blieb Ed nicht allein mit seiner Erschöpfung. Die Hauptsaison forderte ihren Tribut. Bei der mittäglichen Hatz durch die schmale Einflugschneise zwischen Gastraum und Abwasch kam es jetzt immer öfter zu Zusammenstößen. Splitterndes Geschirr, spritzende Soßen, Schnitzel und Rouladen auf dem Boden. Dazu Flüche, Rempeleien, Ringkämpfe sogar, und am Ende ein einziges Geschrei. Dann war es das Tresenehepaar, das wie Mutter und Vater umhergehen und besänftigen musste. Tröstend und streng zugleich redeten sie auf Chris oder Cavallo ein und schwenkten, als handele es sich um eine Form der Hypnose, die kleinen Gläschen mit den bunten, hochprozentigen Flüssigkeiten. In der Sturmflut der Stoßzeit war die Betreuungsfunktion des Tresens unabdingbar, und tagtäglich wurde sie wichtiger.

Traditionell hatte jeder Kellner sein eigenes Glas. Diese Trinkgefäße mit dem schönen Namen Feierabendgläser standen in einem Extrafach des Tresens, das Rick mit» Privat «beschriftet hatte, blauer Kugelschreiber auf weißem Klebeband, sogenanntem Gänsehautband. Im Falle Rimbauds war es ein Becherglas mit schwerem Boden, der eine Luftblase einschloss; im Falle Cavallos ein kleiner Pokal, nur aus Pressglas, aber sauber geschliffen, und bei Chris die Nachbildung eines 0,5-Liter-Stiefels mit der Aufschrift» Glück auf Sulzbach-Rosenberg«, das Geschenk eines Touristen aus Bayern — für die persönliche Leidenschaft, mit der ein Ostdeutscher ihn bedient habe, so hatte es der Mann feierlich verkündet. Die Exotik des Ganzen war noch immer mit Händen zu greifen. Tatsächlich verirrten sich äußerst selten Gäste aus dem Westen auf die Insel, aus ihrer Sicht schien das östliche Eiland nicht weniger weit entfernt zu sein wie der Westen für die Esskaas, also unendlich weit. Womöglich lag genau darin begründet, dass niemand wirklich reagierte auf die Nachrichten Violas, in denen seit Tagen von Flüchtlingen Richtung Westen die Rede war. Ohne echte Bedeutung (und kaum glaubhaft) schienen diese Berichte, etwa im Vergleich zur Geschichte vom Stiefel aus Glück-auf-Sulzbach-Rosenberg.

Mit andauernder Saison wurde es immer öfter unumgänglich, bereits vor Feierabend etwas zu trinken, und schon Ende Juli war Schnaps zum Frühstück keine Seltenheit mehr. Ed hatte beobachtet, wie Rimbaud sich von Rick am Morgen sein Getränk in einer Kaffeetasse anrichten ließ, eine Dosis aus Korn und Pfeffi (Pfefferminzlikör), die Rimbaud» Wiesenpieper «nannte. Rick betrachtete es als seine Pflicht, die Lieblingsgetränke der Besatzung in ausreichender Menge vorzuhalten (er nannte es so), weshalb» Lindenblatt«(»Debrőier Lindenblatt«) zum Beispiel und Apfellikör (Monas Getränk) nur innerhalb der Besatzung ausgeschenkt wurden — »ist Deputatware«, erklärte Rick. Der Verbrauch wurde angeschrieben und monatlich vom Lohn abgezogen; oft hielten sich Verdienst und Verzehr gerade die Waage. Koch-Mike trank eine Mischung aus Kiwi (Kirsch-Whisky) und Korn, ab und zu auch SU-Sekt mit Ananas aus der Büchse. René und Cavallo tranken Kiwi mit Kali (Kaffeelikör), der Eisverkäufer ab und zu auch» Rosenthaler Kadarka«, Importwein aus Bulgarien, der allgemein begehrt war wegen seiner extremen Süße. Ed trank Kali pur oder» Wurzelpeter«, einen Kräuterschnaps, den er von seiner Armeezeit her kannte und der nicht leicht zu beschaffen war, aber Rick hatte seine Wahl mit Nachsicht aufgenommen. Karola trank» Gotano«(ein Wermut) oder Bierbowle, ihre eigene Spezialität. Ein Gebräu aus Mischobst, Weinbrand, Wein und Bier, das sie in 10-Liter-Eimern mixte und im Getränkekeller ziehen ließ. Die Bierbowle war stark nachgefragt. Neben dem Brausebier, das Rick» Potsdamer «nannte, gehörte sie zu den legendären Spezialitäten des Klausners und wurde alle drei Tage neu angesetzt. Krombach trank» Goldkrone«, einen Weinbrand, den Rick zu den Blindmachern zählte. Chris sah man öfter mit Eili (Eierlikör) im Schokoladenbecher. Rolf trank Cola-Wodka, eine Mischung, die in den Tanzsälen gerade in Mode gekommen war.»Stralsunder «tranken sie alle, das Bier war dünn, aber löschte den Durst.

Trotz aller Schwierigkeiten ragte die Küche wie ein Fels aus der Brandung. Koch-Mike war ein König, und wenn der König brüllte in seinem Schweiß, durfte es kein Zaudern geben. Das Primat der Küche und die sanfte Befehlsgewalt des Tresens standen außer Frage. Allerdings gab es immer öfter Momente, in denen sich nicht nur René, sondern auch Cavallo oder Rimbaud herablassend und anmaßend verhielten, nur Chris tat das nie. Eine aus alten Zeiten überlieferte Hierarchie brach hervor, nach der ein Abwäscher ganz unten stand, meilenweit unter allem, ohnehin unter Küche und Tresen, insbesondere aber unterhalb der Kellnerschaft, auch wenn niemand von ihnen tatsächlich Kellner oder Abwäscher war, sondern Dozent der Philosophie, Doktor der Soziologie, Dichter der guten Gedichte, Künstler des Lebens auf steiler Küste oder, wie im Falle Eds, Student der Germanistik.

Aber war er das noch, eigentlich? Nein.

Und wollte er das eigentlich noch sein? Nein.

Und hielte er es überhaupt für denkbar, noch einmal in diese alte Form seines Daseins zurückzukehren?

Keine Antwort.

Und die anderen, was waren sie?

Ausgestiegen oder ausgestoßen? Legal und illegal zugleich, außerhalb der sogenannten Produktion (dem maschinellen Nervenzentrum der Gesellschaft), keine Helden der Arbeit und doch von Arbeit überspült (klang Gastronom nicht fast wie Kosmodrom, wie Weltall, Erde, Mensch?), nicht unnütz also, nicht parasitär jedenfalls, nur schon vollkommen jenseits, weit entfernt, den Kosmonauten aus den Kosmodromen ähnlich und allesamt dem nebelhaften Gestirn eines befreiten Lebens verschrieben, das sich spiegelte in ihren glänzenden Augen wie das Abbild der Erde auf den Helmen, wenn die Helden der Raumfahrt das Mutterschiff verlassen hatten für einen» Spaziergang im Weltall«, wie es hieß in den euphorischen Berichten … Ja, allesamt waren sie Helden, Helden der Saison, Helden dieses Lebens, alle gemeinsam und jeder für sich, mit dem Feierabendglas in der Hand:»Auf die Ächtung!«,»Auf die Geächteten!«,»Auf die Insel!«,»Auf Kruso!«,»Auf das Meer, das unendliche Meer!«Noch einmal füllte Rick die Gläser, Gläser der Verheißung, Gläser des Trotzes und Gläser des Eigensinns.

Tatsächlich hatte Ed von Esskaas gehört, die, wie es hieß, bereits veröffentlicht hatten, in Zeitschriften und Anthologien (welch Zauberklang in diesen Worten lag), selbsterkorene Dichter, sich selbst verfassende Schriftsteller gewissermaßen, die allgemeiner Bewunderung gewiss sein konnten, wenn sie abends am Strand eintrafen und über die Möglichkeit neuer Werke sprachen, so lebendig und groß, als könnten sie nur vom Meer selbst hervorgebracht werden, nur vom Meer und nur an diesem Ort.

Ed wurde langsamer und machte Fehler. Ihm fiel ein Stapel Teller aus der Hand, worauf René mit der Eiskelle zu trommeln begann und eine Art Tusch nachahmte. Kruso half ihm sofort mit den Scherben.»Es ist wichtig, dass wir alle erwischen. «Er sah die nackten Füße auf den Fliesen, die kommenden Füße, dachte Ed.

Ohne Pause rackerte sein Freund sich ab, bedachte Ed mit Worten und Blicken, scheinbar mühelos gelang es ihm anzuknüpfen an ihre Zeit mit den Gedichten, Streifzügen und einem nächtlichen Spaziergang am Strand. Worte und Blicke, als wisse Kruso durch Grit von Ed wie Ed durch Grit von Kruso wusste, wisse also alles von ihm, so ausgesprochen sanft und duldsam waren seine Augen — nein, Ed war nicht am Ende, nicht absolut.

Schlingernd hielt der Klausner seinen Kurs.

Alles was geschah, geschah nicht nur, jede Katastrophe war notwendiger Bestandteil des Gesamtablaufs. Als würde erst mit Hilfe der Zusammenstöße, der Flüche und Zitate (»Warum ziehen der Mond und der Mann zu zweit so bereit nach dem Meer«) die nötige Spannkraft erreicht, um die chaotische Maschinerie der Betriebsgaststätte hoch über dem Meer am Laufen zu halten. Wichtig sei nur, nicht abzudrehen, wie Rick es betonte, dessen Tresenweisheit in diesen Tagen von äußerster Bedeutung war.

Einmal erwischte es Rimbaud. Obwohl er es verzweifelt versuchte, gelang es ihm nicht mehr, sich aus seiner Rezitation zu lösen. Sein schiefer Blick und die animalische Verkrampftheit seiner Lippen, ein Ausdruck zum Erbarmen.

«Ruhm, wann kommst du?«

Zu spät der Versuch, den Kopf ihres klügsten Kellners ins kühle Wasser des Besteck-Beckens zu drücken. Heftig und herrisch deklamierend, befreite sich Rimbaud aus Krusos Griff und stürmte hinaus auf die Terrasse, den Arm voller Teller, die er sich im Vorbeiflug auflud, um sie den ahnungslosen und zu Tode erschrockenen Tagestouristen auf die Tische zu werfen. Dabei bleckte er seine breiten weißen Zähne unter dem Schnauzbart, stützte sich auf die Rückenlehne eines der Biergartenstühle, als stünde er vor großem Auditorium, sprach aber nicht zur Menge der wie immer in Unzahl versammelten Urlauber hin, sondern brüllte allein dem Gast, der genau dort, auf jenem Stuhl, Platz genommen hatte, ins Ohr:

«Ich weiß nicht warum …«(Pause, Zähne, zitternder Schnauzbart),

«aber es schien mir immer«(Zähne zur Menge, Zähne zum Hals),

«als wohne er gar nicht mit mir im Gefängnis.«(Biss)

Oder missglückter Biss, denn in diesem Moment hatten ihn Chris und Cavallo gepackt und weggezogen. Mehrmals fuhr sich Rimbaud mit den Zähnen über den Schnauzer, als wolle er ihn herunterreißen.»Dostojewski«, stöhnte Cavallo,»er ist jetzt bei Dostojewski …«

Am Nachmittag hatte Ed seinen Hass auf Schöpfkellen nahezu vergessen. Beim Kaffeegeschirr wurde alles leichter und luftiger, und zu Dienstende trank er Kali mit Cavallo. Die Arbeit war geschafft. Sie hockten auf dem Pausenplatz im Hof, und schweigend teilten sie den Balsam der Zufriedenheit. Irgendwann kam Koch-Mike hinzu und wälzte seinen Walrosskörper auf die Bank. Cavallo schenkte aus, niemand sprach, sie saßen sich auch nicht gegenüber, sondern in einer Reihe, wie unversehens gealterte Schüler in ihrer Schulbank, und starrten auf die Kiefern am Waldrand, die im Licht der frühen Abendsonne zu leuchten begonnen hatten. Es gab nichts Besseres.

Nach einer Weile wurde das Gelb der Kiefern dunkler und sickerte tiefer in die Rinden der Bäume, so lange, bis es in ihnen war und sie endlich aus sich selbst heraus zu leuchten begannen. Cavallo füllte gerade ihre Gläser, als die Frage kam.

Warum ist das Licht der Kiefern so gütig zu unseren Augen?

Die unversehens gealterten Schüler dachten nach auf ihrer Bank. Cavallo gab die Antwort.

Es ist die Seele der Kiefer, die leuchtet.

Sie ist unserer eigenen Seele verwandt, ergänzte Ed, wie man es sehen kann in den Bildern von Bonnard zum Beispiel.

Demnach wäre die Farbe der Seele etwas zwischen Gelb und Braun, dachte Koch-Mike und sagte:»Ich muss noch Kartoffeln aufsetzen für morgen.«

Seufzend erhob sich der Koch. Cavallo klopfte ihm auf die Schulter.



Ohren

29. JULI

Krusos Kriterien? Rimbaud sagt: Alles sei Poesie und darin irre Losch sich nie,»trotz moralisch dunkler Quellen«. Chris behauptet, ich wäre der Einzige, der fast nur Frauen bekommt. Mit Männern ist es anders. Mit Tille war ich sogar noch am Meer, wegen der Wellen, das war traumhaft. Die ganze Müdigkeit wie weggespült. Tille will Fotografie oder Kamera studieren, bekommt aber keinen Studienplatz, keine Chance. Er bringt sich alles selber bei, macht Zeichnungen, liest, er ist voller Energie. Er spart auf einen guten Apparat aus dem Westen. Ich hätte ihm gern noch den Keller gezeigt.

Die Tanne hinter dem Schuppen harkte das 6-Uhr-Morgenlicht zu breiten Streifen. Alles war still. Seit Ed den Ofen übernommen hatte, begann sein Tag auf dem Holzplatz, am Hackstock. Er stapelte sich ein paar Scheite auf den Arm und verschwand damit im Keller. Manchmal sah er den Direktor, wie er von der Steilküste herkam und mit kleinen Schritten auf den Klausner zuging, wie unter Hypnose. Er trug ein weißes, sauber gefaltetes Handtuch über der Schulter.

Im Schwarzen Loch konnte Ed hören, wie Krombach sein Kontor herrichtete, den Stuhl verschob, sein Bett zurechtmachte. Irgendwann das Tackern der Schreibmaschine, das Tippen der Tageskarte. Ragout fin, Soljanka, Hühnerfrikassee, Zigeunersteak, Jägerschnitzel. Ed saß vor dem Ofenloch und starrte ins Feuer. Seine Begierde existierte, aber wie abgelöst, fremd und nur dazu da, ihn verrückt zu machen. Irgendwann brach sie herein, flüsterte etwas wie» Ohren, oh diese Ohren!«, und plötzlich konnte ihn nichts anderes so erregen wie kleine, wohlgeformte Ohren. Es war absurd. Manche Ohren lächelten immerzu, und manche blieben ernst und entschlossen. Der Ausdruck eines Ohrs konnte sich in vollkommenem Gegensatz zum Ausdruck des Gesichts befinden, zum Beispiel zum Ausdruck der Augen. Meist war das Ohr viel ehrlicher, unverstellt. Und in der Regel sahen Ohren unschuldiger aus als Gesichter. C.s Ohr mit dem kleinen Leberfleck oben auf der Muschel hatte in dieser Hinsicht alles übertroffen. Anfangs, als der Anblick noch ungewohnt gewesen war, hatte er manchmal ›ein Krümel‹ gedacht, die Hand schon bereit, ihn unauffällig beiseitezuwischen. Am Ende hatte dieser Krümel alles enthalten, alles ausgedrückt.»Mein liebstes Ohr, mein allerliebstes«, flüsterte seine Begierde und malte ein paar Bilder dazu. Schöne Ohren waren wie Geschlechter, oder mehr: eine immerzu sichtbare Öffnung. Ohren mit verbrecherischem Ausdruck schien es nur selten zu geben auf der Welt.

Tags zuvor, auf dem Rückweg vom Strand, hatte Ed einen Mann mit gewalttätigen Ohren gesehen; er biss einem Kind in den Hals. Erst im nächsten Moment war die ganze Bewegung zu erkennen gewesen: das leichte Hoch und Herunter des Kopfes und die erstaunlich lange Zunge im Kragen. Der Mann leckte den Jungen ab. Dann gab er ihm das Eis zurück, die tropfende Waffel, die er die ganze Zeit über am ausgestreckten Arm ferngehalten hatte. Das Abknien und der Arm hatten plötzlich etwas Ritterliches; das Verbrecherische war verschwunden. Mein Vater hätte mich niemals abgeleckt, dachte Ed. Er beobachtete das Thermometer am Warmwasserkessel. Das bullernde Geräusch des Feuers nach dem Anheizen, wie eine Strömung, die ihn einhüllte, überspülte, besänftigte. Hier war sein Platz, im Keller, am Ofen. Hier konnte er allein sein, leise sein mit den Dingen.

Er ging gern umher und inspizierte die Schränke. Die Asservaten, der Safe, die Zinkwanne des Urklausners mit der Aufschrift» Eremitage auf Tannhausen«. Von oben die ersten Küchengeräusche, Koch-Mike begann seinen Dienst.

Der Übergang zum Getränkekeller endete an einer Stahltür, unverschlossen. Dahinter 6 Grad Celsius und das Brummen des Kühlaggregats. Zu Beginn jeder Saison fuhr ein Lastkraftwagen voller Spirituosen in den Dornbusch; alles, was lagerfähig war, landete im Getränkekeller. Im Boden hinter dem Tresen gab es eine Klappe, eine Art Falltür und eine Treppe, die nach unten zu den Getränken führte. Ein Problem des Tresens war, dass sich in der modrigen Feuchte des Kellers die Etiketten von den Flaschen lösten, sie faulten ab, verschimmelten, wurden braun mit der Zeit. Weil auch die Pappe der Getränkekisten verfaulte, musste jede Flasche einzeln entnommen werden, vorsichtig — das hatte Rick ihm beigebracht. Ed ging dem Tresenmann jetzt oft zur Hand.»Führerbeton, unkaputtbar!«, rief Rick, wenn er die schmierige Betontreppe herunterkam; es war eine seiner Lieblingsgeschichten. Die blaue Treppe, wie er sie nannte (wegen der Härte des Betons), hätte der Klausner den Soldaten der Marine zu verdanken, die zu Kriegsbeginn in der Waldgaststätte stationiert gewesen seien, um die Stellungen der Flak und ihre Bunker im Norden zu errichten, mit ihren unterirdischen Kanälen, die angeblich das ganze Hochland durchzogen.

«Eindeutig derselbe Stoff, guter deutscher Bunkerbeton!«

Seit Monatsanfang verbrauchte der Klausner zehn Fass Bier pro Tag, tausend Liter. Ed wusch die Fässer, die erbärmlich stanken. Rick setzte den Salonstocher an, ein Gerät aus Vorkriegszeiten, mit CO2-Anschluss und Manometer. Wenn er die Stange ins Spundloch hämmerte, musste Ed die Schraube mit der Dichtung andrehen. Ab und zu ging es schief, und sie wateten in Bier oder roter Brause. Rick blieb dabei vollkommen ruhig, er fluchte, aber ganz ruhig. Für Ed war Rick der ausgeglichenste Mensch auf der Insel. Rick sagte, die Insel hätte seine Seele groß gemacht. Das Trinken hielt er für gut. Schließlich sei es nicht der Alkohol der Traurigkeit, den sie hier zapften, sondern der Alkohol der Glückseligkeit.»Die Seele rumort und will noch mehr Glück«, sagte Rick.

Ricks träumerischer Blick und die dünnen, weit geschwungenen Augenbrauen, die an ihren Enden noch einmal eine kleine Kurve aufwärts machten, flößten jedem, der in die Aura seines Ausschanks geriet, Vertrauen ein. Rick strahlte Güte aus. Dabei war er ein Riese und auf den ersten Blick einfach zu groß, zu wuchtig für den Tresen. Aber sobald er mit Gläsern und Getränken in Kontakt kam, hatten seine Bewegungen etwas Geschmeidiges, Katzenhaftes; es machte Freude, ihm bei der Arbeit zuzusehen, jeder Handgriff schmeichelte seiner Umgebung. Allerdings füllte er den Platz hinter dem Ausschank nahezu vollständig aus, weshalb seine Frau Karola oft vor dem Tresen Stellung bezog, um ihre Arbeit von dort zu verrichten. Für sie schien das kein Problem zu sein. Auch zapfen konnte sie von vorn mit ihren schlanken Armen und die beiden riesigen Kaffeemaschinen bedienen, die Kaffeebomben, wie Rick sie nannte. Jede Bombe ergab vierzig Kännchen, pro Kaffeezeit wurden etwa dreihundert Kännchen ausgeschenkt (»gezogen«, sagte Rick), also sieben bis acht Bomben pro Tag.

Rick hatte die Weisheit und Karola die Mathematik. Sie hatte jeden Preis im Kopf. Für Bier (0,56 Mark), Korn (1,56 Mark) oder Fassbrause (einundzwanzig Pfennig das Glas) war das einfach, aber die Tresenfrau wusste es auch für jeden der unzähligen Weine, für all die Murfatlars, Cotnaris und Tokajer, gar nicht zu reden von den tschechischen, polnischen, russischen Schnäpsen oder den Perlweinen, die gerade in Mode gekommen und außerordentlich beliebt waren bei den Gästen.»Hat eben Köpfchen, die Kleine«, sagte Rick.

Karola war das, worunter sich Ed eine Berliner Pflanze vorstellte — stolz, herausfordernd, schlagfertig. Sie besaß einen schneeweißen Jeansanzug, den sie manchmal sogar während der Arbeit trug. Jede ihrer Bewegungen war energisch, und alles an ihr flößte Respekt ein, selbst ihr rotes Haar, das sie bei der Arbeit hochsteckte zu einem kleinen Turm, der bei jedem Schritt bedrohlich wankte, aber niemals fiel. Karola rechnete bei Krombach die Tageseinnahmen ab, und sie war es auch, die den Schuldenstand der Besatzung beim Tresen verwaltete — niemand sonst wäre dazu in der Lage gewesen.

Das Tresenehepaar hatte Ed von Anfang an sehr gut behandelt, fast liebevoll, Eltern ähnlich, oder jedenfalls auf eine Art, die er vermisste. Rick hatte ihn ausgewählt für den Getränkekeller, er war Ricks Gehilfe geworden, nicht Rolf oder René. Und Karola brachte ihm an jedem Tag frischen Tee in den Abwasch, und ab und zu gab sie Kruso und ihm ihre Eiswürfelmassage, während der Arbeit. Sie setzte das Eis wie ein Werkzeug an und machte damit eine lange, fließende Bewegung, als würde sie tranchieren.»Arbeite einfach weiter, Kleiner, tu so, als wäre ich gar nicht da, glaub mir, nur das entspannt wirklich.«

Wie Krombach wohnte das Tresenehepaar in einer der winzigen Blockhütten, die den Klausner umgaben. Rick nannte sie Chalets. Es gab dort kein Wasser, keine Toiletten und nur sehr wenig Platz.»Was braucht man denn schon?«, fragte Rick und begann eine seiner Tresenreden. Die Umstände auf der Insel hätten den Menschen gütlicher gestaltet.»Als hätte jemand die Zeit gestreckt, Ed, so gegen unendlich.«



Die Wurzel

Seine Erfahrungen hatten Ed darüber belehrt, dass er aus dem von C. entfachten Verlangen nicht ohne weiteres entlassen werden würde, aber dann war es plötzlich vorbei. Die Schiffbrüchigen flüsterten ihren Namen in die Finsternis, und schon ein paar Sekunden später konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Nicht einmal daran, ob sie überhaupt gesprochen hatten. Oft fiel er einfach in den Schlaf, einer Ohnmacht ähnlich, und musste sich nicht mehr fragen, wie er die Nähe dieses oder jenes Körpers in der Dunkelheit ertragen würde. Das Geheimnis war, einfach zu schlafen.

Aus diesen Tagen des Schlafs tauchte Ed als ein anderer auf. Er vertraute sich Krusos Verteiler nun restlos an, während er seinen Gefährten selbst kaum noch zu Gesicht bekam. Mehr noch: Jener erstmals mit der Schiffbrüchigen namens Grit lose gefasste Gedanke, dass all diese Schwarzschläfer in ihrer Auswahl Abgesandte Krusos waren, Stellvertreter seiner selbst und damit eine Gelegenheit, ihm nah zu sein, verfestigte sich. Er konnte Krusos Gedanken hören, die Melodie seiner Worte sogar. Verkündigungen, die als Schiffbrüchige zu ihm ins Zimmer schlichen, kurz vor Mitternacht, oder zu Schiffbrüchigen gewordene Utopien, phantasierte Ed, man konnte sie riechen, man konnte ihren Stimmen lauschen, man konnte (jetzt, da seine vorlaute Gier endlich schwieg) von ihnen lernen, wenn sie sich ausgestreckt hatten neben ihm oder gleich auf dem Boden oder erst noch lange an der Tür verharrten und kaum erkennbar blieben in der Finsternis — so verschieden sind die Temperamente, dachte Ed. Er kannte das bereits, er wusste Bescheid. Trotzdem erschienen ihm seine Gäste jetzt anders, verändert, vor allem ohne Anzeichen des Scheiterns oder der Lebensmüdigkeit.

Wenn sie verstummten, forderte er sie leise auf, doch noch ein wenig weiterzusprechen, ihm alles zu erzählen, die ganze Geschichte über Krusos große Freiheit. Die meisten begriffen Eds Wunsch. Er glich dem eines Kindes, das sein Märchen (die Geschichte seines Lieblingshelden) vor dem Schlafen noch weiter und weiter hören will. Manche fassten es auch als Prüfung auf, ein letzter Test, eine Art Eintrittspreis für diese Nacht, dieses kostbare Quartier auf der Steilküste, eine letzte Sache vor dem Schlafen, die sie im Grunde kaum noch überraschen konnte nach den Seminaren am Strand, der Suppe, der Waschung und den Stunden in der Schmuckmanufaktur.

Wenn sie zu erzählen begannen, schien ihr Leben (mit seinen Nöten und Konflikten) bereits wie aufgehoben von der, wie viele es sagten, unbeschreiblichen Wirkung der Insel, aufgehoben vom Geräusch des Meeres und seiner großen, endlosen Bewegung, von der Frische des Wassers am Morgen und des Windes, der immer wehte, geradewegs durch die Augen in den Kopf, und das Denken befreite. Immer wieder kehrten die Geschichten zum Ausblick vom Hochland über das Eiland zurück, dem sogenannten Großen Inselblick, der ihnen mit seiner unfassbaren Schönheit die Augen geöffnet und den Anfang einer Erinnerung zurückgerufen hatte ins Bewusstsein, einer Erinnerung an sich selbst. Und tatsächlich war öfter von jenem doch vollkommen kindlich anmutenden Wunsch die Rede, den Umriss der Insel, wie er sich vor ihnen ausstreckte in seiner verletzlichen Gestalt — links und rechts das Meer, dazwischen jener zarte, zerbrechliche Streifen Land — , direkt ans Herz zu pressen …

Kaum ein Schwarzschläfer, der nicht darauf zu sprechen kam, wie er nach langem Schauen hinaus in den Nebel, in dem der letzte, südlichste Zipfel der Insel verschwamm (selten war er wirklich zu sehen, eigentlich nie), erkannt hatte, wie fremd und bedrängt ihm seine Existenz bis zu diesem Tag geworden war, vollkommen umstellt, und wie verlassen, verleugnet, verschämt zwischen den Dingen das eigene Dasein hockte, ähnlich einem melancholischen, trunksüchtigen Hund in seiner Hütte, so flüsterte es einer aus dem Dunkel, wenig treffend vielleicht. Aber Ed wollte hören, alles hören, er spürte die unvergleichliche Wärme des Erzählens in der Finsternis, er spürte, wie die Wärme gemeinsam wurde, während er lauschte, ohne sich zu rühren. Er spürte, wie sie alle zusammengehörten. Wie sie mühelos Vertraute dieses Landes waren, Altvertraute eines Verhängnisses, das schon ewig währte und noch ewig währen würde und doch eine Verheißung bereitzuhalten schien — falls Leidenschaft genug vorhanden war. Tief im Verhängnis steckt die Verheißung, dachte Ed, ein Paradox, wie es ihm nur beim Lesen mancher Gedichte begegnet war, die ihm mehr bedeutet hatten als alles auf der Welt. Er konnte das jetzt denken, die Bestände schwiegen, keine Straßenbahn mehr, kein heftig zu ziehendes Ratschratsch. Stattdessen Anflüge von Scham, Scham und Ekel auf breiter Front. Aber am Ende war er auch dafür zu müde.

Tatsächlich schien es keinen guten Vergleich zu geben für die Wirkung der Insel, und viele erklärten, es existierten ohnehin keine Worte dafür. Zu sagen sei nur, dass sie es an diesem Ort, am Großen Inselblick nämlich, plötzlich wieder zu spüren begonnen hätten, die verschütteten Wurzeln, wie Kruso es nannte, das Bild, zu dem alle Bilder nach Hause wollen,»einfach heim«, so formulierte es derjenige, der vom trunkenen Hund in seiner Hütte gesprochen hatte. Mit seiner bitteren Bilanz verharrte er lange unter der Tür, ehe er sich ausstreckte an Eds Seite und sofort absackte in den Schlaf, während Ed noch lauschte. Brandung und Kiefernrauschen.

So verschieden und mitunter skurril sich die Berichte dieser Nachtgestalten auch ausnahmen und wie unterschiedlich sie auch vorgebracht wurden, im Stehen oder im Liegen, hastig oder im Halbschlaf, vermochte Ed doch in allem die Stimme Krusos zu hören durch die Finsternis, ein Nachglühen seiner Worte in den Worten der Schiffbrüchigen und Obdachlosen, die ihm jetzt fast keusch vorkamen, unberührbar; und manchmal war es, als flüstere Kruso direkt in sein Ohr, als streichele er ihn mit den Eigenheiten seines Tons, den weich gesprochenen Konsonanten, den Verschleifungen …

«Die Insel ist der erste Schritt, verstehst du, Ed? Die Insel ist der Ort. Hier gelingt es den meisten schon nach Stunden, die Wurzel zu berühren. Sie ist in uns hineingewachsen aus der Vorvergangenheit, nicht seit der Geburt etwa oder gerade in diesen Tagen, wie manche glauben möchten, nein, ich meine: seit Menschengedenken. Gelingt es uns, die Wurzel zu berühren, spüren wir es: Die Freiheit ist da, tief in uns, sie wohnt dort, so tief wie unser innerstes Ich. Das ist die Freiheit, die ich meine. Sie ist das Denken des innersten Ichs, das Denken unseres Selbst in der Geschichte. Wir müssen nichts anderes tun, als dieses Denken zu wecken. Oft ist es gefangen in einer Ohnmacht. Es gibt alle möglichen Formen der Gefangenschaft, Ed. Angst, Alpträume, Krampf, Apathie. Dazu kommen die Schlacken, immerzu Schlacke, die sich auf uns legt, solange wir leben. Ein schwerer Niederschlag von Ehrgeiz, Macht, Habgier, Besitz, rostige, giftige, aschene Schlacken. Sicher, manchmal ist die Wurzel schon verfault oder vertrocknet. Das sind Verlorene, Finsterlinge, aufgegebene Menschen. Aber nicht bei ihnen, Ed. Sonst kämen sie nicht auf die Insel — sie haben die Wurzel gespürt

Krusos Ton.

Ed erinnerte sich. Er sah Losch, wie er am Strand auf und ab schritt und redete. Er hatte oben gelegen, am Rand des Steilhangs, und auf die Gruppe hinuntergesehen, die plötzlich dort im Halbkreis saß. Er war allein auf Streifzug gewesen. Er hatte in die Wellen gestarrt und versucht, den Rhythmus eines tauchenden Kormorans zu begreifen. 20 Sekunden, 12 Sekunden, 20 Sekunden. Er war eingeschlafen und beim Aufwachen waren sie plötzlich da gewesen, Krusos kleine Schar. Sie fertigten Schmuck, sie fädelten Vogelringe und bogen Dentaldraht, Ohrgehänge, zwanzig Mark das Paar. In Utopia würde drei Stunden gearbeitet am Vormittag, dann zwei Stunden Pause, für» literarische Studien«, so stand es bei Thomas Morus, Kruso hatte es ihm vorgelesen.

Der Wind frischte auf, die Brandung übertönte die Worte. Eine der Schiffbrüchigen hob den Arm, womöglich Grit, die immer alles wissen wollte, von hinten konnte Ed sie nicht erkennen. Kruso antwortete etwas und wies dabei aufs Meer hinaus. Das Meer. Seine schiere Größe, seine Übermacht. Und die eigenen, lächerlichen Grenzen. Deshalb kommt man hierher, dachte Ed. Man möchte das Ende der Welt sehen, es vor Augen haben, immerzu.

Der Kormoran war verschwunden. Im Licht der untergehenden Sonne ragte Møn aus dem Meer, höher und wahrhaftiger, als Ed es jemals gesehen hatte. Ein fein vibrierender Brandungsstrich trennte das Wasser vom Land und der steilen Kreideküste, die sich langsam von Weiß zu Hellgrau färbte und in ihrer Gestalt dem Kliff, auf dem Ed sich ausgestreckt hatte, verwandt zu sein schien. Møn ist wie ein Spiegel, dachte Ed. Ein Spiegel, mit dem man sich im Jenseits sehen kann, das Urbild der Sehnsucht. Langsam senkte die Sonne eine Brücke aus Gold über das in massiven, schiefergrauen Wellen gehende Wasser, das sich Jahr für Jahr tiefer in die Westküste des Hochlands fraß. In der Mitte der Brücke blinkten die blutroten Umrisse von Feuerstellen, der Plan einer Siedlung am Grund. Ein untermeerisches Leuchten und gleißende Reflexe, gerade so als könnte Vineta in jedem Moment die Oberfläche der Ostsee durchstoßen, auftauchen im Raum wie eine dritte Kraft, ein dritter Ort, der alle Spiegelungen beenden würde, ein für alle Mal.

«Manchmal ist es eine schmerzhafte Arbeit«, dozierte Kruso und meinte nicht den Dentaldraht oder die Vogelringe.»Ihr müsst zuerst die Wurzel … Jedem von euch … das heißt …«Der Wind hatte erneut gedreht.

Meeresforscher hatten die Siedlung erst kürzlich entdeckt, genau zwischen den Küsten.»Stell dir vor, sie wohnen dort unten. Sie sitzen an Tischen, gehen spazieren, sind frei, sie alle sind frei …«Es bereitete ihm Genugtuung, das Wort in den Mund zu nehmen — Losch, der wusste, dass dieses Meer ein Grab war.

Der Wind blies Richtung Westen. Er schob die Worte jetzt aufs Wasser hinaus, über die goldene Brücke. Ed sah, wie die großen schweren Strömungen ineinanderflossen, plötzlich waren sie sichtbar geworden, wie Flüsse aus Licht.

«Niemand muss fliehen, nie ‌…«

«Viele wiss ‌…«

«Das halbe Lan ‌…«

«Die Freiheit zieht uns …«

«… gerufen und zu Dien ‌…«

«Eine Pilgerschaft ohnegleichen …«

«… hebt an«, flüsterte Ed. Nie wollte er einschlafen, bevor die Schiffbrüchigen zu Ende geredet hatten, aber dann geschah es doch, es zog ihm einfach die Augen zu. Noch einmal erlebte er das schwere ungetrübte Müdesein der Kindheit, das es erlaubte, aus einem Märchen in den Traum zu gleiten, vom Diesseits ins Jenseits, von einer Geschichte in die andere, ohne Schwelle, ohne Grenze.

Im Traum sah Ed, dass die Insel überfüllt war. Die Häfen, die Heide, das Hochland und die Strände — dicht und dunkel mit Menschen besetzt. Sogar auf den Buhnen hockten sie, und auf den Steinen aus der Eiszeit, die aus dem Uferwasser ragten. Sie glichen großen trägen Meeresvögeln, aber ohne Gefieder. Ihre Haut war verbrannt in der Sonne. Ihr Gemurmel war auch nachts zu hören, es mischte sich mit der Brandung und stieg bis an sein Fenster. Der Strand war mit Kot übersät und fauligem Seegras, aus dem kleine tote Fische blinkten und anderer Abfall.



Der Tag der Insel

«Das ist dein Zeichen, Ed.«

Kruso hatte ein quadratisches Stück Packpapier aus seinem Brustbeutel gezogen. Unter der flachen Hand schob er es quer über den Tisch.

Der schwarze Punkt, dachte Ed.

Es war der 6. August, der Ruhetag aller Ruhetage. Der Tag, an dem sich die ungleichen Rhythmen der Inselwirtschaften auf eine Weise überschnitten, dass kein einziges Etablissement geöffnet hatte — eine jährlich wiederkehrende Konstellation, so sicher und so selten wie eine Sonnenfinsternis, mitten in der Saison. Es war der Tag der Esskaas.

«Unsere Zeichen entsprechen den uralten Hausmarken Hiddensees«, hob Kruso an, mit leiser Stimme.»Es ist eine Art eigene Schrift, Runen ähnlich, die in alter Zeit den Dingen und Tieren eingebrannt wurde, sogar dem Land, der Erde, einfach allem, was man besaß.«

Er lächelte und sah Ed direkt in die Augen.

«So war es seit Hithin und Högin und König Hedin von Hedinsey …«

Während Kruso auf die schicksalhafte Rolle ihres Eilands in den Sagen des Nordens verwies, fingerte er Stück für Stück des knittrigen Packpapiers aus seinem Brustbeutel hervor,»… die Edda also, aber auch im Gudrunslied, wo die Könige …«

Offensichtlich trug er ein ganzes Alphabet von Runen um den Hals, nicht nur die Einkünfte der Schmuckmanufaktur. Am Ende waren es vielleicht sogar mehr Buchstaben als Geldscheine, die das speckige Ledertäschchen so unangenehm prall werden ließen. Eine Vermutung, die Ed in gewisser Hinsicht beruhigte.

«Die Nacht wird lang«, fuhr Kruso fort.»Wegen des Festes beginnen wir mit den Einquartierungen diesmal schon am Nachmittag. «Seine Stimme klang ernst und besorgt, wie immer, wenn er von den Schiffbrüchigen sprach. Krombach stand auf, nickte in die Runde und zog sich in sein Kontor zurück.

«Übernahme 15 Uhr. Auch die Suppe bitte schon am Nachmittag, auch die Waschung, alle Becken mit Lappen und Seife. Die Zeichen liegen im Sand, neben dem Kopf oder zu Füßen, haltet einfach die Augen offen.«

Alles war sinnvoll und absurd zugleich. Und es schien niemanden zu geben, der ernsthaft Zweifel hegte. Kalter Hohn im Blick nur bei René. Als festes Paar waren er und die kleine Unsichtbare von den Einquartierungen ausgenommen, ebenso das Tresenehepaar und Krombach wahrscheinlich.

«Gut«, sagte Kruso und zauberte einen frischen Apfelkuchen hinter dem Tresen hervor.

«Von Mutter Mete!«

«Mutter Mete, die gute Seele!«

Rick schenkte Schnäpse aus. Karola schnitt und verteilte das Gebäck, während Kruso frischen Kaffee nachgoss, wozu er mit der schweren, dampfenden Stahlkanne die Tafel einmal vollständig umrunden musste. Er bediente jeden am Tisch mit der gleichen Aufmerksamkeit, und er legte eine Hand auf Eds Schulter.

«Kommen wir zur Aufstellung, Freunde.«

Sofort redeten alle. Chris gestikulierte, Rimbaud fletschte die Zähne. Koch-Mike sprang auf und demonstrierte ein paar Schüsse, bei denen es hundertprozentig geklingelt hätte, wenn … Er brüllte fast und schleuderte sein Schweißtuch wie ein Lasso durch die Luft,»hundertprozentig geklingelt!«

«Ich schlage vor, Ed rückt auf die linke Seite, auf Speiches Position«, rief Kruso.»Du machst den linken Läufer, Ed, du sicherst hinten, rückst bei Angriffen nach und bietest dich an. «Im allgemeinen Tumult ging Krusos Taktik vollkommen unter.

Ed nickte mechanisch. Er hatte immer links gespielt. Sicher wusste das Kruso. Schließlich hatte er ihn kommen sehen. Er hatte ihn geträumt. Und er hatte ein Fernrohr in seinem Zimmer, mit dem er die Dinge durchschaute bis weit in die Vergangenheit … Ob Verteidiger, Mittelfeld oder im Sturm: Immer links. Obwohl er kein Linksfuß war. Links ohne links tatsächlich zu können, dachte Ed, nicht einmal» zum Hausgebrauch«, wie es sein Vater einmal ausgedrückt hatte. In Ed hatte das über all die Jahre (trotz einer solide zu nennenden Gesamtbilanz) immer wieder dieselben unklaren Gefühle von Täuschung, Falschheit, ja, Hochstapelei geweckt. Eine Art Unbehagen, wie es ihn auch hier auf der Insel und besonders an der Seite Krusos von Mal zu Mal überfiel und bedrängte.

«Man muss kein Linksfuß sein, um links zu spielen!«, platzte Ed in das Stimmengewirr, viel zu heftig. Längst ging es nicht mehr um die Aufstellung der Mannschaft.

«Ich bin hinten, aber dann biete ich mich an. Ich biete mich an!«

Für einen Moment wurde es still am Tisch. Er war aufgesprungen, er hatte seine Tasse umgestoßen.

«Gut Ed, sehr gut«, sagte Kruso. Renés Schultern zuckten.

Es war Ed unangenehm, zwischen all den Runen umherzustapfen. Der weiche Sand machte jeden Schritt zäh und ungelenk. Nach einer Weile hatte er unweigerlich das Gefühl, dass seine Beine immer kürzer wurden und er ab und zu den Kopf in die Luft recken musste, um nicht vollständig zu versinken. Einige der Zeichen waren überraschend nachlässig ausgeführt, mit winzigem, fast unsichtbarem Muschelzeug, schwarzen Steinchen oder dünnen Stöckchen, manche sogar nur mit Gras oder Algen. Es käme aber darauf an, sie sauber und deutlich zu legen, denn sie ähneln sich sehr, dachte Ed. Das Mädchen mit seiner Rune saß sehr weit vorn, am Wellenrand. Sie starrte aufs Wasser hinaus, als hätte die Hilfe von dort zu erfolgen, ein Schiff mit sieben Segeln …

Ed erkannte ihre Scham. Ihre Brüste waren klein und noch weiß. Mit zwei Fingern drehte sie Locken in ihr blondes, schulterlanges Haar. Ein Schiff wird kommen, dachte Ed.

Ihr Name war Heike, und es war das erste Mal, dass Ed selbst eine Schiffbrüchige in den Klausner führte. Vielleicht nur, weil er bis dahin der Einzige ohne eigenes Zeichen gewesen war. Noch während er darüber nachdachte, worum es jetzt gehen sollte und mit welchen Worten das zu erklären wäre, entkleidete sich Heike.

«Ist das dein Becken?«

«Ja.«

Es war sein Becken.

«Das Becken fürs Grobe«, ergänzte Ed und errötete sofort.

Umstandslos kletterte Heike in den Steintrog. Zuerst setzte sie einen Fuß auf das etwas tiefer liegende Stahlgestell der Geschirrablage. Dann hockte sie dort für einen Moment, als imitiere sie einen großen, seltenen Vogel, um mit dem nächsten Schritt ohne weiteres in das Becken zu steigen. Sie wissen längst über alles Bescheid, dachte Ed.

«Ist das Wasser so gut?«, fragte Ed, als wäre er ein Friseur. Oder ein Geistlicher — bei seiner ersten Taufe, fuhr es Ed durch den Kopf, sinnloserweise.

«Gut so«, sagte das Mädchen,»genau richtig.«

Sie hatte sich gedreht und hielt den Kopf nach vorn gebeugt, zweifellos eine Aufforderung, ihr jetzt den Rücken abzuseifen.

Ed beruhigte sich.

Er sah die makellose Reihe der Wirbel, fremd und unwirklich, die weiße Haut, die sich darüber spannte. Er nahm den Lappen vom Beckenrand und fuhr darüber hin, langsam, mit Vorsicht, hin und her, vom Hals bis tief hinunter und noch tiefer, zwischen die schaumglänzenden, vom Beugen gespannten Hälften hinab bis zum unsichtbaren Ursprung dieses Wirbeltiers, dem Punkt der äußersten Versuchung, wo er wie abwesend anlangte mit seiner Hand und still hielt für eine winzige, nicht messbare Dauer.

«Die Haare«, murmelte Ed,»jetzt die Haare.«

Wenn er überhaupt etwas wusste, dann das, schon beim Begräbnis des Lurchs hatte er die Haare gesehen …

Inzwischen war Chris mit seiner Schiffbrüchigen im Abwasch angekommen. Sie benutzten das Becken auf Krusos Seite. Ihre Anwesenheit vereinfachte die Prozedur augenblicklich — das war die Waschung, ein wichtiger Bestandteil des Ablaufs, nicht mehr und nicht weniger. Und plötzlich wusste Ed, was noch zu tun sein würde dabei. Er war ein Abwäscher an seinem Becken. Er wischte, schrubbte, spülte. Gehorsam streckte Heike, die so klein war, dass sie problemlos Platz fand in seinem Trog, ihren Kopf nach vorn, und Ed hob den Schlauch, aber er war zu kurz. Das Mädchen musste sich nochmals drehen, den Kopf direkt unter den Hahn und die Stirn auf den steinernen Grund des Beckens legen, wie zum Gebet.

Chris behandelte seine Schiffbrüchige wie eine Patientin. Er sagte» gut so, so ist es gut «und» nur noch hier «und» gleich haben wir es«. In der regelgerechten Ausführung des Rituals war jede Scham aufgehoben. Und die Verdopplung des Geschehens machte alles beinah normal. Chris umkreiste das Becken mit seinen kurzen, energischen Schritten, im Grunde nicht anders als beim Kellnern auf der Terrasse. Heikes Haare wurden vom Wasser in den Abfluss gelenkt und durch das Fallrohr in die Tiefe gezogen, bis an das vermoderte Abflussgitter heran, wo der hungrige Lurch mit seinem grauverschleimten Gebiss nach ihren splissigen Spitzen schnappte … Aus jedem Haar ein Pilz, aus jeder Waschung eine Suppe, Taufe und Wiedergeburt, phantasierte Ed, während er — mit nahezu traumhafter Sicherheit — den kurzen Schlauch noch einmal anhob, um Heike etwas Schaum aus dem Nacken zu spülen.

Die Trockentücher lagen bereit.

Wie Aphrodite entstieg Heike dem Abwasch. Er hielt ihr den Römer. Das steife Tuch machte ein dunkles Geräusch, ein Geräusch der Zuverlässigkeit. Und während die Schiffbrüchige sich in das große, vielleicht hundert Jahre alte Laken hüllte und mitten im Abwasch stand wie das Ergebnis eines langen, beharrlichen Traums, begriff Ed es endlich: All diese Schiffbrüchigen waren Pilger, Pilger auf Pilgerschaft zum Ort ihrer Träume, dem letzten Ort der Freiheit innerhalb der Grenzen — genauso hatte es Kruso gesagt. Und er war nicht mehr als ein Helfer, eine Art Handlanger auf diesem Weg. Hilfskraft des Klausners, Teil seiner verschworenen Gemeinschaft, für die eigene Gesetze galten, eine besondere Zuversicht und vielleicht nur diese einzige Pflicht.

Sieben gegen sieben. Anfeuerungsrufe kamen von allen Seiten, gelungene Spielzüge wurden ausgiebig mit Beifall belohnt, dumpf und ohne Ende dröhnten die Trommeln der Khmer. Es war der Insel-Kambodschaner, seine fliegenden Hände, er konnte trommeln und tanzen zugleich. Am Ende hatte Ed an vier Spielen des Turniers teilgenommen. Sie traten in einer gemeinsamen Auswahl der Besatzungen von Klausner und Inselbar an (ihrer» Familie«, wie Kruso es sagte), jede Halbzeit hatte zehn Minuten. Viele Spiele bestanden aus einer endlosen Reihe von Fouls und sofortigen Entschuldigungen, Fouls und Kameradschaftsbekundungen, Fouls und Umarmungen, Wange an Wange: Es gab Spieler, die nach böser Grätsche lange so dastanden, mitten auf dem Platz, vertieft in die übliche Zärtlichkeit. Die Familien von Hitthim und Dornbusch galten als stark, konnten aber bezwungen werden. Indianer aus der Inselbar spielte Libero, Kruso im Mittelfeld, im Sturm Antilopé, die Kellnerin, ebenfalls aus der Inselbar. Es überraschte Ed, wie sicher und sprungstark Koch-Mike zwischen den Pfosten umherflog, trotz seines Schwergewichts.»Er ist ein leidenschaftlicher Keeper, ein bedingungsloser Hüter«, kommentierte Rimbaud,»genau das macht ihn so schrecklich und unberechenbar.«

Alles war anders als in den Nächten. Eds Schiffbrüchige wurde nicht von Dunkelheit verschluckt, sie blieb vollständig sichtbar. Ihre helle Haut, ihr Gesicht, das ganze Turnier über an der Seitenlinie. Ab und zu brüllte sie etwas ins Spiel. Ed vergaß, dass er noch vor einigen Tagen absolut am Ende gewesen war. Rimbaud kämpfte wie ein Tier und diskutierte jede Aktion, wodurch es immer wieder zu Unterbrechungen kam, obwohl er niemanden wirklich beleidigte dabei. Indianer, der sein Haar zu einem Zopf gebunden hatte, überquerte mit Riesenschritten das Feld; es wirkte langsam, fast träge, was mit seinem großen kantigen Körper zu tun hatte, der die Verhältnisse verzerrte, denn tatsächlich war er schnell, unwiderstehlich. Er marschierte diagonal, er öffnete das Spiel, dann der Pass in die Spitze, wo Santiago lauerte oder Chris hin und her sprang wie ein Derwisch, wendig, gewitzt … Ed sah Kruso, der links vor ihm lief und einen Pass annahm. Er war weniger schnell, aber schwer vom Ball zu trennen. Rasch rückte Ed auf und bot sich an.

«Losch!«

Die Trommeln dröhnten, und Ed spürte einen alten, fast vergessenen Stolz. Er hatte die Lieblingsspieler seiner Kindheit vor Augen, er ahmte sie nach. Kotte, der Kämpfer, der Stürmer, den kein Stoß und kein Bein zu Fall bringen konnten. Häfner, der Techniker. Dörner, der Libero. Irgendwann war Kotte plötzlich verschwunden, auf dem Zenit seiner Karriere. Allein im Kleingedruckten, in den Spielstenographien des Sportechos, war er sichtbar geblieben. Kein Bild, kein Bericht, nur sein Name, als Torschütze verzeichnet, mehrfach, dauernd, Kotte, der Flüchtling in spe, verbannt auf eine Insel der dritten Liga. Wie konnte er weiterspielen, wie war es ihm möglich, weiterhin Tore zu schießen, hatte sich Ed oft gefragt und zu ihm hin geträumt.

Nicht nur die Esskaas der Insel, auch Einheimische, Tagestouristen und Urlauber hatten sich rund um das Spielfeld versammelt. Einige, von denen es hieß, sie seien berühmt, darunter ein großer dünner Mann mit Brille, den man Lippi nannte und aus dem Fernsehen kannte. Neben ihm ein anderer Mann, der trotz Hitze eine Lederjacke trug mit geflochtenen Schulterstücken und von Fans begeistert mit» He, Quaster!«angerufen wurde. Vor allem aber kreisten die Gespräche um einzelne Esskaas, um ihre sagenhafte Arbeit in den sagenhaften Etablissements von Vitte, Kloster oder Neuendorf. Nichts als bewundernswert waren diese braungebrannten Helden der Saison, ihr vogelfreies, scheinbar bindungsloses Inselleben. Umso erstaunlicher schien ihr Zusammenhalt, kurz: Aus dem Turnier wurde eine Feier der Esskaas, ein Fest der Anerkennung ihrer Kaste. Statt Sonderlingen aus dem Bodensatz des Sozialismus konnte man in ihnen die Abkömmlinge der tapferen Horden König Hedins von Hedinsey erblicken, genauso, wie Kruso es geplant haben musste.

Während des Endspiels tauchten Leute in Uniform auf. Einige von ihnen versammelten sich hinter Koch-Mikes Tor, als wollten sie das alte, zwischen die Pfosten gebundene Fischernetz zur Tarnung benutzen. Irgendetwas geschah, aber im Spiel war es nicht möglich, genauer darauf zu achten.

«Losch, Losch!«

Ed war aufgerückt, er bot sich an.

Ich biete mich an, dachte Ed.

Sein Freund hob den Kopf, und Ed sah die Wut in seinen Augen.

Sofort nach Abpfiff wurden die Gläser gereicht. Auf dem Weg zum Strand hörte Ed mehrmals den Namen Willi Schmietendorf, ausgesprochen voller Respekt: Willi Schmietendorf, Direktor des Dornbuschs, der ein Fass gespendet hatte.»Bier von Willi Schmietendorf!«, war die Fanfare, mit der sie ans Wasser zogen, und es klang wie» Sieg an allen Fronten!«Ohne Zweifel hatten sie Bewunderung verdient, ausnahmslos, und Ed war glücklich, ganz zu ihnen zu gehören, vielleicht das erste Mal. Gemeinsam stemmten sie die schweren Henkelgläser in die Luft, die aussahen, als bestünden sie aus kleinen, aufeinandergepressten Butzenscheiben, in denen sich die Sonne brach, und für einen Moment stand goldenes Licht wie ein Heiligenschein über ihren verschwitzten Köpfen. Jemand, der dieses Glas über den Schädel bekäme, wäre sofort tot — Ed wusste nicht, woher der Gedanke gekommen war, sofort tot.

Die Schiffbrüchige wich nicht von seiner Seite. Gemeinsam erklommen sie den Damm mit der schmalen geteerten Promenade, die halb von Treibsand verweht war. Zuerst spürte Ed die Wärme, als würde er gestreichelt, zärtlich, unvermutet, eine warme Strömung im Gesicht.

«Was ist das?«

Ihre dünne Stimme vibrierte im Wind, und erst jetzt sah Ed aufs Meer hinaus. Eine lange Reihe grauer Patrouillen- und Torpedoboote versperrte den Horizont. Im Halblicht des Abends glich das Ganze einer schwimmenden Mauer, einem Limes aus Stahl, nur ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt. Entweder man hatte die Kanonenboote festlich geschmückt oder die aufgepflanzten Fähnchen gehörten zu ihrer Ausstattung, eine Art Kriegsschmuck vielleicht, dachte Ed; es war ein grandioser, im Grunde unwiderstehlicher Anblick.

Wie Ameisen schleppten Soldaten Brennholz heran. Ein riesiges Feuer fraß sich in den Abendhimmel und teilte den Strand. Der Brandgeruch mischte sich mit dem Jodgeruch des Meeres. Linker Hand lungerten einzelne verschüchterte Grüppchen von Esskaas, in die Reste ihrer mit Hühnergöttern, Treibholz und Müll gepanzerten Strandburgen gekauert. Einige tranken Bier, einige nippten Schnaps aus Flaschen. Ein Stellungskrieg. Ed schmerzte das hilflose Herausragen ihrer Köpfe aus den Gräben — ratlos, verschüchtert, wie am Strand vergessene Kinder, umgeben von einer Welt, die plötzlich fremd und feindlich geworden war. Suchend blickten sie sich um, als warteten sie auf denjenigen, der ihnen das alles erklären würde. Erklären, was von den Dingen, die hier geschahen, zu halten war, am Tag ihres eigenen Festes, an ihrem eigenen Strand.»Scheiß auf die Soldaten!«oder» Schlagt ihnen das Butzenbier auf ihre Schädel!«— unwahrscheinlich, sicher, aber irgendeine Richtschnur wäre jetzt wichtig gewesen, und hätte Kruso sie ausgegeben, mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit, wer weiß?

Rechts vom Feuer, in der Nähe eines Mannschaftstransporters mit breiten, halb in den Sand gegrabenen Reifen, standen drei Offiziere der Beobachtungskompanie. Sie rauchten, und es sah aus, als hätten sie mit dem Ganzen nur bedingt zu tun. Ed erkannte Vosskamp, den Inselkommandanten, und seinen Oberfeldwebel. Es dämmerte bereits.

Draußen in der grauen Mauer sprangen die Motoren an. Die drei mittleren Schiffe brachten es fertig, synchron ihre Bordkanonen zu drehen, dreimal gegen die Uhr. Es gab ein paar mutige Pfiffe und einige Buh-Rufe von den Sandlöchern her. Auch ein einzelnes einsames Juchzen, wie man es kannte aus den Aufzeichnungen großer Rockkonzerte — einzelnes, irrsinniges Juchzen, im Mitschnitt verwandelt zu einer Sekunde rätselhafter Ewigkeit. Wer immer es ausgestoßen hatte, bereute es sofort: Zwei der drei Kanonen drehten sich noch einmal, diesmal aber nur um neunzig Grad. Ihre dunklen Münder und ihr kleines, kreisrundes Schweigen waren jetzt direkt aufs Ufer gerichtet. Am Strand kehrte Stille ein.

Wo war Kruso?

An Deck des mittleren Kanonenboots tauchte ein Matrose auf und zeigte verschiedene Flaggen. Seine Bewegungen waren zackig, eine Art Breakdance. Er wurde vom Bordscheinwerfer angestrahlt. Der Mann war sehr klein und eigentlich nur aufgrund seiner heftigen Bewegungen sichtbar. Obwohl niemand von ihnen diesen Tanz verstand, ließen die Esskaas den Flaggenzwerg nicht aus den Augen.

Es gab verschiedene Formen und Farben, ein wirres Spiel aus bunten Kreuzen und Quadraten. Wer wollte, konnte darin Anzeichen für Gutes oder Schlechtes erkennen. Das Schiff trug den Namen» Vitte «am Bug.»Sie nennen es das Patenschiff«, raunte jemand neben Ed, es war Indianer aus der Inselbar, der es wissen musste über die Jahre.

«Patenschiff«, wiederholte Ed leise. Auch er hatte seinen Paten gefunden. Und heute war er selbst eine Art Pate geworden, oder Aushilfspate. Erst die Taufe, dann die Patenschaft. Im Grunde beruht alles hier auf Patenschaft, dachte Ed. Sie löst die Freundschaft ab und ist beinah stärker als Liebe. Tief drang die Kränkung in ihn ein, die das, was hier am Strand geschah, in den Augen Loschs bedeuten musste.

Ein Soldat, dessen Oberkörper aus der Luke des Mannschaftstransporters ragte, beantwortete die Flaggen des Matrosen mit eigenen Flaggen, die ihm fließend, wie von Zauberhand, nach oben gereicht wurden. Jemand musste unten im Fahrerhaus sitzen, der die Antworten im Voraus kannte, jemand, der wusste, was als Nächstes geschehen sollte. Ein salziger Sprühnebel wehte über den Strand, und Ed rieb sich die Augen.

Wenn der Kentaur sprach, hielt der Zwerg auf dem Schiff seine Arme gestreckt, die Hände über Kreuz gegen die Oberschenkel gepresst; er wurde fast unsichtbar dabei. Ohne Zweifel bedeutete das Flaggentheater Gefahr, es war bedrohlich, aber es kam Ed auch umständlich vor, betulich, zahnlos und, ja, eigenartig intim. Eine seltsame Melancholie erfüllte die Szene. Als würde man zufällig Zeuge des letzten Gesprächs der letzten Vertreter einer aussterbenden Art über den Untergang ihrer Welt. Obwohl es doch nur darum gehen konnte, ob man den Kellnerstrand mit seinen Hügeln, Kippen und Kondomen, seinen Sandburgen und Feuerresten, Fischkistentresen und Schnapsverstecken und mit ihm natürlich alle Esskaas, all dieses nichtsnutzige, überflüssige Aussteigerpack in Schutt und Asche legen sollte — in Staub, schoss es Ed durch den Kopf.

Nach und nach erinnerten sich die Esskaas daran, dass sie im Grunde furchtlose Gesellen waren, jedenfalls im Landesvergleich. Stück für Stück rückten sie näher ans Feuer, denn inzwischen war es kalt geworden am Strand. Das Grau der Boote verschwamm, und die Kanonen schienen bald vollständig vergessen, oder sie machten sich einfach nichts mehr daraus. Wie sie auf alles, was sie bedrohte, nicht allzu viel gaben. Eine primitive, aber beeindruckende Weisheit, in der Ed in diesem Augenblick die geheime Voraussetzung ihres ungebundenen Daseins erkannte.

Tatsächlich trafen nun immer mehr von ihnen ein und lagerten sich rund um das Feuer. Einige schleppten frisches Holz heran. Freimütig verwickelten sie die Soldaten in Gespräche und brachten sie in Verlegenheit mit ihrem grenzenlosen Angebot an Alkohol. Es schien, als erklärten sie damit, warum der Ausgangspunkt ihrer Freiheit im Grunde unantastbar war, und im Abglanz der Flammen begann diese Botschaft zu leuchten.

Ed und seine Schiffbrüchige hockten am Rand, im Halbdunkel der Düne. Ein paar der Soldaten konnten nicht davon ablassen, auf Heikes Beine zu starren, weshalb er sie für einen Moment an sich zog — schließlich trug er noch immer die Verantwortung. Augenblicklich überkam ihn die Lust, noch einmal ihr Abwäscher zu sein. Auch der Fahrer des Mannschaftstransporters beobachtete sie, aber genau war das nicht zu erkennen, das Feuer spiegelte sich in der Windschutzscheibe; sein Gesicht brennt, dachte Ed.

Ein blonder Gitarrist mit nach hinten gekämmten Haaren, Eisverkäufer der» Heiderose«, setzte sich neben Heike und begann mit Blowin' in the Wind. Ed überlegte, ob vielleicht alle Eisverkäufer hassenswert waren. Rimbaud kam vorbei und brachte ihnen Schnaps. Ed wollte ihn fragen, wo Losch geblieben sein konnte und was hier gespielt wurde, welch schäbiger Verrat, aber zuerst musste er trinken. Rimbaud fabulierte von Regatten und Flottenparaden lange vergangener Jahre (»als ich ein Kind war«), großartige Feste mit Ansprachen, Umzügen, Marineball und Standortmusikkorps — das Wort Standortmusikkorps bereitete ihm Mühe, in seiner Aussprache war es aus zwei Rülpsern zusammengesetzt, Stourrrrt-msi-kourrrps …

«Also ich habe Hunger!«Die Schiffbrüchige war aufgesprungen, sie hatte Rimbaud glatt das Wort abgeschnitten mit ihrem Angebot, Suppe zu beschaffen. Suppe gegen Suppe, dachte Ed, und obwohl Krusos Suppe nichts als Ekel erregte, spürte er wieder den Stich des Verrats.»Ich biete mich an …«Als hätte er in diesem Moment den Schlüssel für die Blackbox namens Edgar oder Ed auf den Personaltisch gelegt:»Ich biete mich an …«

Aber Losch war verschwunden.

Zu beiden Seiten der Gulaschkanone bewachten Soldaten die Essenausgabe. Beim Anblick der Schiffbrüchigen erstarrten sie zu Zinnfiguren. Die hell wie Rücklichter leuchtenden Fersen — auf irgendeine besondere Weise drehte sie die Füße im Sand, was ihre Hüften in eine unaufhörlich kreisende Bewegung brachte, während sie die Arme steif und fast feierlich gestreckt hielt.

Sie marschiert, dachte Ed, sie marschiert.

«Natürlich nicht hier«, fuhr Rimbaud unbeirrt fort,»aber in allen größeren Häfen, Rostock, Greifswald, Stralsund. «Mehrmals gebrauchte er das Wort Ostseewoche,»einschließlich Besichtigung der Torpedoboote, einschließlich der Flaggen aller Ostseestaaten, das schöne schwedische Blaugelb überall und dänisches Rotweiß und darunter die großen Transparente wie ›Die Ostsee — ein Meer des Friedens‹ oder ›Die Makrele — ein Fisch der stummen Verständigung‹ und so weiter.«

Rimbaud hatte Fahrt aufgenommen. Haltlos schlingerte Ed durch seine irrsinnige Rede.»Blow-wo-wo-wo-woing in the Wind …«Ein Wolkenfisch am Himmel verfinsterte sich. Für einen Moment musste er sich zurücklehnen: Er rang nach Luft. Wenn er die Augen schloss, sah er das Foto Sonjas, das in seiner Vorstellung zum Abbild G.s geworden war — er wehrte sich nicht mehr dagegen. Er spürte die Sehnsucht. Sehnsucht nach den Toten, jetzt nannte er es so. Die Trauer schnürte ihm den Hals zu. Er war betrunken.

«Freiheit, die ich meine«, schepperte es aus der Tiefe des Essgeschirrs an seiner Seite, und:

«Alle Straßen münden in schwarze Verwesung «und:»Achtung Abdrift, Bälle festhalten!«

Langsam erlosch das kleine kreisrunde Schweigen. Ed stellte sich vor, wie sich die Kanonenrohre bedächtig verneigten im Dunkel, erhoben und erneut verneigten.

Brandungsbeifall.



Bernsteinlegende

Er tanzte wie eine auf ihren Gleisen festgefrorene Lokomotive. Nur sein Oberkörper war in Bewegung, die Beine steif, leicht gespreizt, die Arme angewinkelt, links, rechts, vor und zurück, wie beim Gehen. Keine Bewegung in den Hüften, kein Wiegen, kein Drehen, nur ab und zu eine plötzliche, durch nichts vorhersehbare Verbeugung, genauer gesagt jener sich ansatzlos nach vorn ins Nichts katapultierende Oberkörper, verbunden mit einem heftigen, lang anhaltenden Kreisen, Schleudern und Schütteln des Schädels, worauf es eigentlich ankam, denn Tanzen hieß, Luft und Haare zu vermischen …

Es war der Walhalla-Stil, erfunden und begründet in der Walhalla, dem wichtigsten Tanzsaal seiner Heimatstadt, wo die Bluesbands spielten, Gipsy, Sit, Fusion, Passat und die Band mit dem Schlagzeuger, der aufsprang mitten im Lied, um seinen kahlrasierten Schädel gegen den goldenen Gong zu schleudern, der wie ein riesiger Heiligenschein über der Bühne schwebte.

Irgendwann, in den Spielpausen der Bands, waren die ersten DJs in die Säle gesickert mit ihren lächerlichen Hits, anfangs noch ängstlich und verkrochen in irgendeiner Nische zu Füßen der Bühne, aber schon bald hatte es in der Stadt nur noch Discotheken gegeben, selbst das Parkett der heiligen Walhalla überfüllt mit tanzenden Kids, vierzehn, fünfzehn Jahre alt, die sich in stupiden Choreografien bewegten, statt wie Tiere im Käfig auf und ab zu springen oder wenigstens den Schädel durch die Gegend zu schleudern, was allerdings sinnlos gewesen wäre, denn ihre Haare waren tatsächlich kurz. Und in ihren Gesichtern stand nichts geschrieben von jenem Aufbegehren, jener lebensbesoffenen Sehnsucht, welche die Tänzer des Blues wie eine Horde von Derwischen übers Parkett trieb, nicht etwa in Paaren, nein, sie alle, alle gemeinsam, ihr ganzer Stamm füllte den Saal mit seinem Haar … Und nein, in diesen Discogesichtern stand nichts oder nichts als Schminke geschrieben, kein Gefühl, kein Rhythmus, der die Verhältnisse zum Tanzen brachte, kein Kampf und null Utopie. Sie gehörten nicht zu jenem Stamm vor der Zeit, vor der Gesellschaft und ihrer Ordnung, die doch vollkommen verseucht war von Banalitäten, Zwängen, Regeln, verseucht war von ihrer Agonie und der am Ende das Wichtigste fehlte: Ehrlichkeit, Gemeinsamkeit, Liebe vielleicht … Nein, nichts. Nichts als mit Glitzer übertünchtes Nichts, das waren die Discogesichter.

Und plötzlich waren sie alt gewesen, die Blueser, die sich Kunden nannten, einige erst Anfang zwanzig, wie Ed. Anfang zwanzig und alt. Die Disco hatte ihren Stamm besiegt und auf die Dörfer vertrieben, wo hölzerne Treppen auf winzige Säle führten, über verräucherten Schankstuben gelegen, wo es die Bands noch gab, wo noch Gläser zerdrückt wurden mit bloßer Hand und ein Kunde dem anderen die Scherben aus dem Handballen zog mit der für diese Handlung vorgeschriebenen, unvergleichlichen Zärtlichkeit. Am Abend von einem altersschwachen Linienbus der Marke Ikarus aufs Land verfrachtet, mussten sie heimwärts wandern, weite Wege über die Felder, das war ihre Steppe, Prärie, auch im kältesten Winter, von Trebnitz, Köstritz, Korbußen oder Weida, stundenlang schwankend, mit glasigen Augen durch die stockdunkle Finsternis des Osterlands, mit Schnee im Haar und Eis im Bart. Wer zu schwach war, fiel um und wollte liegenbleiben, aber das durfte keiner, kein Kunde, der einen anderen im Stich gelassen hätte, nie!

Ed hob den Kopf, in einem Moment plötzlicher Klarsicht erkannte er die Spiegelscherben und zwischen den Scherben den Umriss Afrikas; Gesichter versanken im Gewühl und tauchten wieder auf, ein Schlachtengemälde. Ein paar Esskaas, nur flüchtig, und vor ihm das schneeweiße Antlitz seiner Schiffbrüchigen mit ihren runden Wangen und halb gesenkten Augenlidern. Den seltsam einleuchtenden Vorschlag, Alexander Krusowitsch im Hitthim zu suchen, dort, wo für den Abschluss des Tages eine Disco der Esskaas geplant gewesen war, hatte sie gemacht. Der Nachtwind vom Meer her hatte ihre Schläfen gekühlt, das Gehen im Sand war ermüdend gewesen. Sie waren in eine stumme Herde schlafender Strandkörbe geraten, Eds Kopf längst zu schwer, um sich ins Schattendunkel jedes Einzelnen dieser vergatterten Wesen zu beugen mit ihrem frisch erkalteten Geruch von Kunstleder und Sonnenöl.

«Losch, verdammt, Losch!«

Sie tanzte in kleinen, träumerischen Bögen, mit ausgestreckten Händen, soweit das möglich war, und wiegte ihren Oberkörper. Kleine Möwe, dachte Ed, denn er war jetzt der Wald. Seine Arme froren ein, und auch sein Nacken wurde langsam steif. Ich bin der Wald, dachte Ed, letzter Hafen, erst waschen, dann füttern, dann schlafen, schlafen, letzter Hafen — aber dann trat das Meer über die Ufer, das eifersüchtige Meer … Langsam erstarrte Ed in seiner Bewegung; entweder er wurde jetzt wahnsinnig, oder er war bereits Teil der Legende. Er rang nach Luft, Tränen blitzten wie Bernstein auf seinen Wangen im schäbigen Licht der selbstgeklebten Discokugel, die sich drehte wie der Globus, der sie einmal gewesen, in einem früheren, besseren Leben, ohne Scherben, dafür voll mit Afrika, Asien und Ural und voller» Nennen-Sie-die-industriellen-Ballungsgebiete-der-Sowjetunion!«-Situationen, ohne Splitter, dafür voll mit Ed-das-Schulkind, wie erblindet vor dem Wüstengelb der tristen Wirtschaftskarten, während es Samara zeigt und Wolgograd, voll mit Osten, voll mit Westen, o du Erdball voller Schmerzen (Scherben), o du arme verhunzte geschundene Welt, o Welt, die sich drehte, drehte und ihn quälte mit ihren falschen Reflexionen, aber jetzt stand Ed nur noch da.

Weinender Wald.

Bernsteinlegende.

Mit Mühe hob er den Arm, berührte die Möwe und deutete auf die Stirnseite des Saals.

Beste Freunde bereiten sich Schmerz, dachte Ed, es ist ein Zeichen. Er ging auf die Knie und umklammerte das kotbespritzte Toilettenbecken.

«Das tut mir sehr leid«, sagte die Schiffbrüchige leise in seinem Rücken. In ihrer Stimme war alles enthalten, vor allem Verständnis. Dinge, die Ed nie gesagt, ja, noch nie gedacht hatte, marschierten wie fertige, maschinegeschriebene Zeilen durch seinen Schädel, mit blutigen Mützen, ganze Legionen eigener Worte, wie Verse, links und rechts versetzt, von Windflüchtern beschattet, so zogen sie vorüber; und irgendwo dort stand geschrieben: Wir haben uns geküsst, verstehst du?

«Geht es? Ich möchte lieber nicht so lange bleiben, ich meine, es ist die Männertoilette«, wisperte Heike.

Ohne sich umzusehen, hob Ed den Arm und ließ ihn wieder fallen: Geh doch.

Das Becken stank. Aus seiner Tiefe tauchte das Bild eines Kunden von damals auf, ein urster Kunde, worüber sich alle Blueser einig waren, Steffen Eismann, sein bester, sein einziger Freund. Was wäre, wenn er jetzt käme, jetzt, in diesen entsetzlichen Saal, um ihm seine blutige Hand entgegenzustrecken, was wäre, wenn … Kalter Schweiß brach Ed aus. Er versuchte, das Bild zu halten, und umschlang das Becken noch fester. Hinter ihm pisste ein Mann seinen endlosen Strahl in die frisch geteerte Latrine, deren Sturzbach wahrscheinlich direkt in den Hafen strömte. Das Pissen dröhnte in Eds Ohren und aus dem Toilettenbecken dröhnte die Disco. Sie roch nach Urin und Scheiße und wollte Steffen Eismann vertreiben. Aber alle am Tisch sahen zu, während Ed zärtlich Scherbe für Scherbe entfernte, Steffens großer Handrücken auf dem kühlen, biernassen Tischtuch; nach jeder Scherbe ein Blick in die Augen, es ging um Ehre und um ein Mädchen vielleicht (namens Kerstin oder Andrea), es ging um Musik und das Gefühl, im Rhythmus zu sein, im Rhythmus dieses eigenen, anderen Daseins auf dieser eigenen, anderen Welt.»Die Freiheit …«, flüsterte Ed in das Becken,»die Freiheit ist immer auch …«, nein, das war falsch,»die Freiheit ist anders …«, nein.»Die Freiheit des anderen ist — die Freiheit?«

Es war jämmerlich. Er brachte den Satz nicht zustande, den Satz, den hier wahrscheinlich jeder wusste, wissen musste, Luxemburg, London, ausweisen, ausreisen, jene endlose Folge von Verstößen und Verstoßenen, der Hausmeister von Halle auf seinen Flaschen, der Mann ohne Haare in seinem Schrank, auf einer Straße mitten in Berlin, und all die Schiffbrüchigen hier und all die Esskaas, meine Esskaas, seufzte Ed, die ich ins Herz geschlossen, Rolf, Rimbaud, Cavallo, der gütige Rick, die gute Karola und Chris, ihr strenger Harlekin — aber was war mit ihm? Der Gedanke bereitete ihm Pein. Was oder wer konnte er dabei sein?

«Ich biete mich an. Ich komme von hinten und biete mich an«, flüsterte Ed in den atemversetzenden Gestank des Beckens, und endlich stürzte es aus ihm heraus: ein langes, sich immer wieder neu, tief am Grund seiner Eingeweide entzündendes Gebrüll,»Kru-sooooo, Kruuu-soooo«, so sehnsüchtig und verzweifelt wie ein allerletzter Ruf, allein auf hoher See.

«Das dumme Schwein!«

Seltsam die plötzliche Enge der Saaltür, und doch war es ihnen gelungen, sich aneinander vorbeizuschieben, Ed und der Eisverkäufer, der Eisverkäufer und Ed. Aber dann hatte Ed es gerufen, laut und weit über den Hafen, die Schiffe, den Bodden:

«Das dumme Schwein!«

Sofort war René an seiner Seite gewesen. Ohne Umschweife hatte er versucht, ihn zu Boden zu reißen. In der Überraschung wurde Ed beinah überwältigt von Angst, eine Angst, die ihn durchströmte wie ein Jubel: Ja, er wollte kämpfen, kämpfen um jeden Preis, er wollte das dumme Schwein besiegen!

Die ersten Schläge — eine große Erleichterung. Dann der Schmerz, schneidend, zuerst unter dem Auge. Nach jedem Treffer hatte Ed das Kindsgesicht, unverstellt, hilflos, aber vor allem staunend. Etwas wurde zertrümmert und darunter hervor schaute das Kind Edgar B. in die Welt: Warum bin ich hier? Und warum allein?

Was dann geschah, war nicht mehr fassbar. Umstandslos packte René ihn an den Haaren. Schon weit nach vorn, fast zu Boden gezerrt, versuchte Ed, auf den Beinen zu bleiben, er versuchte sich loszureißen. Alles, was Ed über die Welt und sich selbst darin angenommen hatte, negierte Renés Faust in seinem Haar. Im Sekundentakt Schläge, die ihn ungebremst trafen, nicht vorhersehbar. Von der rechten Augenhöhle stach ein Schmerz ins Zentrum seines Schädels. Mit einem gewaltigen Ruck zwang ihn der Eisverkäufer auf die Knie, aber Ed bäumte sich auf …

Ein Moment des Erstaunens.

Ed griff sich an den Kopf, als müsse er das Ganze noch einmal überprüfen: dort der Kopf, da die Haare. Meine Haare, dachte Ed. Seine Haare in der Faust Renés.

Ob das Hündchen sich jetzt nicht ein wenig — waschen wolle? Hündchen verstünden doch so viel davon, vom Abwasch und dem ganzen Hokuspokus. Ob das nicht das Beste wäre für Hündchen? Ed hörte die Frage, sie kam von weit her, obwohl René doch unmittelbar vor ihm stand und versuchte, das blutverschmierte Büschel abzustreifen.

Dort die Haare, da der Kopf …

Schneller als Ed begreifen konnte, hatte der Eisverkäufer ihn gepackt und die Böschung zum Hafenbecken hinuntergestoßen. Hauptsaison, dachte Ed, unsinnigerweise, aber das Wasser war eisig und seine Wunde brannte. Er fühlte seinen Umriss, er war eingeschlossen in diesen Körper. Er schaffte es, sich vom Kai abzustoßen. Er kam bis zum ersten Kutter, er tastete sich an den Planken entlang. Das Holz, die Algen, das Moos — er fühlte eine Dankbarkeit und im selben Moment etwas Hartes, eine Kraft, die ihn nach unten, unter Wasser stemmen wollte. Er sank ein in den Morast, tauchte wieder auf, er hatte Blei in den Beinen und schnappte nach Luft.

René war jetzt oben, weit oben, eine Rettungsstange in den Händen. Mit jedem Stoß wurde er geschickter. Wie eine Billardkugel stieß er Ed durch das Hafenbecken. Ed schluckte Wasser. Eine rostige Leiter trieb vorbei. Er begann zu brüllen, aber nicht mehr als ein dünnes schwachbrüstiges Gejaul kam heraus.

«Das Hündchen, das Tüntchen.«

Jemand lachte am Kai. Der verrückte Junge.

Bevor Ed die Besinnung verlor, sah er seinen Vater. Beim Auftauchen und Luftholen spürte er eine frische Brise im Gesicht, die kühle Nachtluft auf dem Bodden. Er sah die Schemen der Gebäude am Hafen, das Bollwerk, das Hitthim, schlierig, verzerrt, einige Fenster des Hotels waren erleuchtet. Er sah, wie ein Mann ans Fenster trat. Dieser Mann war sein Vater, ohne Zweifel. Sein Vater, der im nächsten Moment das Fenster öffnen und mit einem einzigen Kommando das alles beenden würde. Doch dann schloss der Mann nur den Vorhang, und sein Schatten senkte sich.



Das erste Zimmer

Das erste Zimmer. Es hat kein Fenster und keine Tür, aber eine Öffnung. Es ist ein Durchgang, und durch diesen Durchgang fällt etwas Licht. Alles liegt noch vor dem Sprechen, weshalb Ed nicht antworten kann auf das Rufen von draußen. Seltsam genug, dass man da ist und gerufen wird. Niemand hätte sagen können, wozu die fensterlose Kammer einmal gedacht gewesen war, hinter der Schlafstube. Vorratsraum, Besenkammer, später Abstellplatz für eine Strickmaschine, sauber eingeschlagen in braunes Ölpapier. Es ist die feuchte, stockfleckige, zum Bach gelegene Rückseite des Hauses, die Salpeterseite. Er hört das Fließen des Wassers. Er hört das Stampfen der Tiere, die an der Böschung zum Bachufer grasen. Er hörte das alles, ohne zu wissen, dass Bach, Bachufer und Tiere existieren. Manchmal schabt eines die Flanken am Fachwerk, gelehnt mit seinem Atem an die Wand. Sein erster Ort. Das erste Zimmer.

Die draußen nach ihm rufen, sind im Grunde froh über den andauernden erdreichtiefen Schlaf und die Stille, die von ihm ausgeht. Er ist das einzig mögliche Kind, das leider trotzdem Mühe macht. Alles, was die alte Frau weit über ihm verrichtet, begleitet ein schöner, sanfter, seltsamer Laut. Es ist ein Seufzen, sein erstes Geräusch. Alles muss beseufzt werden. Das Abkochen der Windeln, das Abholen der Ammenmilch bei der Gemeindeschwester, der lange Weg ins Nachbardorf, hin und zurück mit der kleinen Aluminiumkanne, Schritt für Schritt. Das dunkle Plopp oder Bupp, wenn sie den schwarzen Gummideckel mit dem kreidegeschriebenen Kürzel E.B. von der Kanne zieht, und dann das Seufzen — aus tiefster Seele. Die Dinge werden mit Seufzern abgezählt und in die richtige Reihenfolge gebracht, eins nach dem anderen. Stunden werden zu Tagen geseufzt und Tage zu Wochen und Jahren. Eine tiefe, uralte Klage hat sich seiner angenommen. Sie glänzt über Klein-Edgars Gitterbett, ihr Gesicht ist ein heller Fleck im elektrischen Licht, der alt und modrig riecht wie das Haus.»Edgar!«

Edgar — ja. Dort in der Kammer muss er es werden, er muss sich daran gewöhnen, es zu sein, nach und nach: Edgar, Ede, Ed. Bis das Wort» Strickmaschine «eintrifft und kalt in sein Bewusstsein tritt, ist das stille Braune an der Wand gegenüber ein kleines, in Lappen gewickeltes Pferd. Sein Pferd, das mit ihm spricht, sobald es dunkel wird. In ihrer Verpuppung ähneln sie sich: Ed in seiner Kapsel unter der Decke und das Pferd in seinen Lappen. Winterschlaf. Es ist sein bester einziger Freund, mit Vereinbarungen, wie sie nur zwischen besten Freunden gültig sind, unausgesprochen. Sollte er, zum Beispiel, versehentlich einmal nicht mehr erwachen am Morgen, würde das Pferd sich mit seinen frischen weißen Zähnen durch die Bänder nagen. Sobald sein starker dunkler Pferdeschädel die Bänder abgeschüttelt hätte, käme es zu ihm ans Bett. Dafür bräuchte es sich nur zu drehen, vorsichtig: So weckt es Ed, mit seinem bloßen Pferdeatem, es haucht ihm neues Leben ein.

«Edgar, Ed! Er hat sich bewegt, oder?«

Aus Seufzern und Pferdeatem kann sich alles entwickeln, ein Name, Sprache, Gesang, ein eigenes Dasein vielleicht. Aber irgendwann kehrt seine Mutter aus dem Krankenhaus zurück und die Seufzerin verschwindet, für immer. Er lauscht noch lange — Nichts. Dafür sanftes, freudiges Sprechen, ein neuer Geruch, ein neues Gesicht und grenzenlose Liebe. Er kennt sie noch nicht. Er versucht, sie zu empfinden. Ein Seufzer ist sein erstes Wort. Seine Mutter kann ihn nicht verstehen.

«Edgar, hörst du mich?«

Ja, doch seine Augenlider sind sehr schwer. Es ist besser, sie geschlossen zu halten. Die Kapsel, die ihn aufgenommen hat, endet unter der Decke, die angenehm weich ist und ihn beschützt bis ans Kinn. Nach unten aber scheint ihr Raum von großer Ausdehnung zu sein, durch den Boden seines Betts und durch die Dielen in den Keller und von dort in die Tiefe, bis ans Erz, ans Heimaterz, das strahlt und ihn sanft und gütig an sich zieht.

«Hallo, Edgar, hören Sie mich?«

«Uran, Pechblende, Isotop 235U! Weit hinabreichende Neurose!«

«Was war das? Hat das jemand verstanden?«

Seine Bestände hatten gesprochen.

Jemand rüttelt an ihm.

Jemand kneift ihn in den Arm.

Unter Wasser, bin doch noch unter Wasser, denkt Ed und will es sagen.

Drei Heilige treten aus dem Nebel.

Krombach, ein Fremder und der Inselpolizist.



Kalte Hände

Er konnte sein Gesicht nicht finden. Wenn er die Hand hob, um es zu betasten, stieß er auf etwas Unbekanntes. Eine Maske vielleicht, dachte Ed. Er versuchte es noch einmal, schlief dabei aber wieder ein.

Kruso beugte sich über ihn. Sein großer dunkler Pferdeschädel. Seine großen weißen Zähne. Er konnte den Kuss nicht spüren.

Tut mir leid.

Als er wieder erwachte, wollte er lächeln, aber es funktionierte nicht. Seine Augenbrauen sprangen vor, wie ein kleiner Balkon. Auch seine Nase ragte als Schatten in den Raum. Er schaute durch eine Art Tunnel ins Zimmer. Am Ende des Tunnels: Waschbecken und Schrank. Er dachte an Speiche: Irgendwann wird er kommen, um alles abzuholen, seine Zahnbürste, seine Schuhe, Pullover und Arbeitsbrille. Vielleicht bin ich dann schon nicht mehr hier, dachte Ed.

Von diesem Zeitpunkt an war immer irgendjemand in seinem Zimmer, eine Galerie von Gästen, endlos und wie im Traum: der Inselpolizist, die Inselärztin, Krombach, Cavallo, Rimbaud, die ganze Besatzung und ein fremder Mann mit Heliomaticbrille, der erklärte, er käme von der Kreishygieneinspektion. Und vor allem Monika, Mona, die Wäschefee, an jedem Tag. Plötzlich war sie nicht mehr unsichtbar und Eds Zimmer erfüllt vom Duft des Umschwungs.

«Gut, dass du wieder wach bist, Ed. Du sollst trinken, viel trinken.«

Sie hob eine Tasse auf Höhe des Tunnels und berührte seine Lippen. Er atmete tief, und das Unterwassergeräusch war wieder da, ein hässliches Schnorcheln in seinem Kopf.

«Wo ist Kruso?«

«Du musst trinken, Ed.«

«Was ist passiert?«

«Er ist verschwunden. Sie haben jeden von uns in die Mangel genommen, stundenlang. Sie haben sein Zimmer auf den Kopf gestellt, aber mein Vater …«Sie sah ihm in die Augen und nickte.

«Wo kann er jetzt sein?«

«Die Insulaner sagen, ein paar Leute in Zivil hätten versucht, ihn einzukreisen, nach eurem letzten Spiel, seitdem hat ihn keiner mehr gesehen. Wie dumm von dir, Ed, die ganze Sache. Vollkommen sinnlos. Übrigens fehlt auch René.«

Als Ed um Mitternacht erwachte, stand seine Tür halb offen. Ein kühler Luftzug auf der Stirn. Sein Kopf war schwer, und es erforderte Kraft, ihn zu heben. Nach und nach wurde ihm klar, worüber Viola gesprochen hatte mit ihrer Nachrichtenstimme. Es hatte wieder Flüchtlinge gegeben, von einer regelrechten Flüchtlingswelle war die Rede gewesen, im Laufschritt durch den Zaun, über die Grenze.

Ed versuchte, sich den Zaun vorzustellen, immer wieder.

Er sah Menschen im Laufschritt. Er sah alten verrosteten Maschendraht und eine steppenähnliche Gegend. Der Zaun blieb ein Rätsel. Das Ungarische-Grenze-Rätsel. Plötzlich alt, plötzlich offen. Und niemand hatte geschossen. Wie konnte das möglich sein?

«Es ist 23.57 Uhr. Zum Tagesausklang hören sie die Nationalhymne.«

Eds Herz begann zu rasen. Er kauerte in der Mitte einer grandiosen Verlorenheit. Seltsamerweise fiel ihm Fleisch ein, ein westdeutscher Film, wenn er sich richtig erinnerte, der trotzdem in die Kinos gekommen war. Keine andere Darstellung von Flucht hatte sich ihm tiefer eingeprägt. Ein Mensch springt aus der Baracke seines Motels und flieht in die Wüste, verfolgt von einem Geländewagen. Die Jäger sind Menschenjäger, sie wollen ihn schlachten und seine Organe verkaufen. Ed hatte den Film als Fünfzehnjähriger gesehen, im Kino seines Heimatorts, das sich noch immer Lichtspieltheater nannte. Das Wort stand auf einem Holzschild, in der Art, wie man» Salon«über den Eingang einer Western-Bar geschrieben hätte. Das Schild hing über einem Plattenweg, der von der Hauptstraße in den Hinterhof führte, wo der kleine Saal lag. Kein Gedanke, wie der Saal dorthin gekommen war und mit ihm Fleisch, der Film. Ed hörte Haydn und sah Menschen rennen, rennen um ihr Leben.

Mit einer Hand hielt die Inselärztin das Bild am ausgestreckten Arm gegen das Fensterglas, mit dem Stift in der anderen umkreiste sie die rechte Augenhöhle. Sein Totenkopf schaute ins Zimmer.

«Eine kleine Absplitterung, wahrscheinlich schon von früher. Keine Ahnung, wie oft das vorkommt bei Ihnen.«

«Was?«

«Sich prügeln, ertränken, totschlagen lassen?«

Sie war schmal, das dunkle Haar streng nach hinten gebunden, ein Pferdeschwanz. Sie schwenkte das Röntgenbild durch die Luft, als wollte sie Ed mit großem Schwung beiseitewischen. Sie wirkte blass und wie ausgezehrt, ihr Alter unbestimmbar.

«Ihr Nasenbein ist gebrochen. Zunächst war das nicht leicht zu erkennen, wegen der Schwellungen.«

Noch nie vorgekommen, wollte Ed erwidern, aber die Ärztin sprach schnell, als hätte sie keine Zeit zu verlieren.

«Ein Transport wäre zu gefährlich gewesen, weil ich ihre Kopfverletzungen nicht beurteilen konnte. «Sie saß jetzt auf seinem Bett und schwieg, als hätte sie für einen Moment den Faden verloren.»Außerdem hatten wir Windstärke 8 in dieser Nacht.«

«Im Hafen war es still«, murmelte Ed, um seine Aufmerksamkeit zu beweisen. Seine Stimme klang fremd, und das Sprechen machte ihm Mühe. Sein Oberkiefer schmerzte. Noch einmal umrundete die Ärztin mit ihrem Kugelschreiber seine angebrochene Augenhöhle. Das Röntgenbild machte ein graues Licht im Zimmer.

«In Ihrem Fall war es uns erlaubt, den Apparat der Strahlenstation zu benutzen. Strenggenommen kein medizinisches Gerät, aber die Aufnahmen sind besser als alles, was …«Sie verlor sich in Betrachtung des Bildes. Der Kugelschreiber zeichnete eine feine, für Ed kaum erkennbare Linie unter dem Augenloch nach. Ein kleiner, fast unsichtbarer Riss im großen glatten Golf von Mexiko. Für einen Moment schaute sie ihn nachdenklich an, als wollte sie seine Meinung dazu hören. Dann ließ sie das Bild auf seine Bettdecke segeln.

«Bitte bewahren Sie das sehr gut auf. Ich hole Sie ab, in einigen Tagen, ich glaube, wir brauchen eine zweite Aufnahme, Herr Bendler.«

«Danke, vielen Dank. «Ed gelang es, jene Zuversicht vorzutäuschen, wie sie von einem guten Patienten erwartet werden konnte.

«Danken Sie Ihren Freunden hier. «Mit einer Handbewegung umriss sie den Klausner und verschwand.

Ed zog die Knie an die Brust und steckte seine Hände flach zwischen die Oberschenkel. Langsam sickerte es in ihn ein. Die Tränen brannten auf seinen Wangen. Vorsichtig betastete er seinen Golemschädel; nachts wurde er so groß, dass er Angst hatte, den Kopf im Kissen zu bewegen.

«Losch?«

Es war dunkel. Ed hatte Schritte gehört. Das leise Knirschen von Teerpappe, Schritte übers Dach des Speisesaals bis unter sein Fenster.

Losch.

Er kletterte über seinen Schreibtisch mit dem großen Notizbuch. Er trat auf Speiches Brille und stieß die kleine Nierenschale mit der Watte herunter, die Monika benutzte, um Eds Gesicht abzutupfen.

Für einen Augenblick Stille.

Nur das schwere Atmen seines Freundes auf dem winzigen Tisch, sein Schweiß, sein Gestank. Für diesen Moment war er der Alp, der zu nachtschlafender Zeit auf allen Schreibtischen des Erdballs hockte, leise pfeifend, das höllisch gute Lied, den eigenen Ton, so lange, bis die Worte unter seinen Krallen beschlossen, lieber krepieren zu wollen, als etwas zu bedeuten.

«Losch!«

«Leise Ed, leise.«

«Was ist passiert«, flüsterte Ed,»wo warst du?«

«Du bist der einzige Freund, Ed.«

«Ich habe dich überall gesucht, aber im Hitthim …«

«Ich weiß, Ed, ich weiß. Wo hast du das Foto?«

«Da.«

Vorsichtig schwebte der Alp vom Tisch aufs Bett. Er nahm Eds Notizbuch und blätterte, bis ihm das Bild seiner Schwester in die Hände fiel.

«Hast du sie gesehen?«Er betrachtete das Foto.

Ed stützte sich auf. Es war zu dunkel. Das Gesicht ein blasser Fleck, nichts als ein schwacher Umriss dessen, was verlorengegangen war. In den letzten Wochen hatte er begonnen, das zu begreifen. Er hatte begonnen, sich zu erinnern. Er spürte die Verzweiflung und den Verlust. Jedes Mal war es so, als hätte er es gerade erfahren: eine Straßenbahn, die letzte Gerade, kurz vor der Endhaltestelle …

«Natürlich, Losch. Jeden Tag sehe ich mir das Foto an. Du weißt, wie ähnlich sie sich sind, Sonja und G.«

«Nein, ich meine, hast du sie dort draußen gesehen, bei der Parade, auf einem der Schiffe?«

Kruso sprach hastig, und Ed verstand die Frage nicht, wahrscheinlich hatte er sich verhört.

«Warum kommst du durchs Fenster, Losch?«

«Ich brauche nur eine Weile Ruhe, sonst nichts, ein, zwei Wochen. Ich muss nachdenken, Ed. Ich will versuchen, die Vergaben in den Norden zu verlegen. Eine Stelle am Strand, die vom Beobachtungsturm aus nicht eingesehen werden kann. Überhaupt muss vieles verbessert werden. Die Kräuterbeete, der Pilzanbau, der ganze Ablauf, vor allem ein besserer Verteiler, und neue, sichere Quartiere, wirklich gute Verstecke.«

«Losch …«

«Im Winter nehmen wir uns den Bunker vor, du weißt, die unterirdische Verbindung, vom Klausner bis zu den alten Stellungen der Flak. Stollen, Tunnel, alles nur verschüttet. Wir legen sie frei, wir haben Zeit. Wir haben Verpflegung, Einsamkeit, alles. November bis April, sechs Monate. Dann bringen wir das halbe Land dort unter, kannst du dir das vorstellen, Ed? Wir verstecken sie alle. Bis niemand mehr da ist, dort drüben. Hunderte werden hier sitzen, an langen Tafeln, auf festen Bänken, unter der Erde, versteckt. Hiddensee! Hier auf der Insel wird es mehr Freie geben als …«

«Losch!«

Eine Weile schwiegen sie. Nur das Atmen, nur der Schweißgeruch.

«Es tut mir leid, dass ich nicht da war.«

«Was wollen die von dir?«

«Mich, dich, alles.«

Er schwieg.

«Wo ist Heike? Und was ist mit René? Ist er hier, im Klausner?«

«Er gehört nicht mehr zu uns.«

«Wie meinst du das, Losch?«

«Mach dir darüber keine Gedanken.«

«Wer hat mich aus dem Wasser gezogen?«

«Man kann stehen in diesem Teil des Hafens, man ertrinkt dort nicht, Ed.«

Krusos Hand auf seinem Gesicht. Als wollte er ihm die Augen schließen. Es schmerzte, aber es tat auch gut. Vielleicht habe ich ihn nur erfunden, dachte Ed. Vielleicht war das alles nur ein Traum. Das Sprechen machte müde.

«Hast du sie gesehen, da draußen auf den Schiffen?«

Vorsichtig berührte Kruso seinen Haaransatz, vorsichtig bog er sein Ohr. Seine Hände waren kalt. Er hatte ihn kommen sehen. Er wusste Bescheid. Er wusste, dass es nichts Besseres gab als kalte Hände auf der Haut.

«Warum ziehen der Mond und der Mann …«

«… zu zweit so bereit nach dem Meer?«



Tschaikowski

Den ganzen Vormittag lag Sonne auf dem Giebel. Er hatte ihr Licht auf dem Bett und konnte die Wärme spüren. Sobald es hell wurde, begannen die Schwalben mit ihren Flügen. Sie bewohnten eine Reihe hutzliger Iglus auf dem Balkenstück über seinem Fenster, die sie über Wochen mühevoll aufgeschichtet hatten. Nicht sonderlich professionell, wie Ed fand, mehr so, als wäre ihnen die Statik stehender Gebäude noch nicht geläufig. Manchmal bröckelte etwas Lehm herunter auf das Fensterbrett, den Tisch, das Notizbuch.

Gegen elf begann das Urlauberrauschen. Einzelne Stimmen, glasklar, und kleine spitze Schreie des Wahnsinns, wie sie Kinder beim Spiel ausstoßen. Das Lachen Karolas wie eine Zäsur, ein Absatz im Geräuschtheater. Das» Soljanka!«und» Schnitzel!«von Chris, der Klausner zur Mittagszeit. Nur wenige Meter entfernt gab es Hunderte von Leuten, die sorglos über die Insel zogen wie durch ein gutes Leben. Leute, die nichts falsch gemacht hatten, alles in allem jedenfalls. Am Vormittag kamen sie mit Schiffen, und am Abend verschwanden sie wieder. Essen im Klausner, Kaffee im Enddorn oder umgekehrt, sieben Stunden Insel.

Im Moment konnte er nirgendwohin, so viel stand fest. Er war ein Elefantenmensch, versteckt, erschreckend unansehnlich. Er hatte es einmal getan und dann beschlossen, nicht mehr in den Spiegel zu blicken. Er musste Ruhe bewahren.

Er wartete auf sein Essen, er wartete auf die nächste Befragung. Entweder war es der Inselpolizist oder der Mann von der Kreishygieneinspektion. Und vielleicht käme sogar René noch einmal vorbei, ein Büschel Haare in der Hand. Tut mir wirklich leid, aber du weißt … Ed stand auf und lief im Zimmer umher. Er stellte es sich vor. Er stellte sich alles nur vor. Ab und zu spähte er zum Fenster hinaus, achtete aber darauf, dass ihn niemand entdecken konnte. Speiches Brille war zerbrochen. Nicht das Gestell, nur eines der Gläser.

Nachts lag der Klausner so still wie ein Schiff am Meeresgrund. Es gab keine Schiffbrüchigen mehr; keine Schritte auf der Treppe, kein Wasserrauschen aus dem Abwasch. Nur Viola war zu hören. Ein wenig öffnete Ed seine Tür, um sie besser zu verstehen. Dann saß er auf seinem Bett und träumte. Er wusste nicht mehr, ob er hatte schlafen wollen oder bereits geschlafen hatte.

Das Ungarische-Grenze-Rätsel wurde jetzt täglich gestellt. An jedem Tag etwa hundert, so hieß es, die Zahlen blieben stabil. Ed lauschte und schüttelte unwillkürlich seinen Kopf; ihm wurde schwindlig davon.

Diesmal waren es sanfte Hügel — Ungarn, wie auf dem Etikett des» Lindenblatts«, Krusos Getränk. Das Etikett zeigte Hügel und Gebüsch. Gebüsch in Ungarn, hinter dem sich jetzt die Flüchtlinge duckten, bevor sie aufsprangen und rannten, rannten um ihr Leben.

Kruso war verschwunden, und auch der Eisverkäufer wurde noch vermisst.»Ich denke, Sie wissen, was das bedeutet«, hatte der Inselpolizist gesagt. Ed schloss die Augen, und tatsächlich schlief er sofort ein. Er hatte gelernt, sein verquollenes Gesicht als Maske zu benutzen: Ich bin noch zu schwach, zu müde, nicht ansprechbar. Der Inselpolizist berührte seine Schulter, zögernd:»Herr Bendler. «Seine Befragung, die dritte in zwei Tagen, war noch nicht zu Ende.»Herr Bendler, zuletzt geht es mir noch einmal darum, welche Verletzungen Sie selbst dem Eisverkäufer René Salzlach beigebracht haben oder haben könnten an betreffendem Abend im Hafen, bei Ihrer Auseinandersetzung. «Die Frage empörte Ed nicht. Der betreffende Abend lag Jahre zurück, in irgendeiner Dunkelheit, im Wasser des Hafens, das nach Öl und Algen schmeckte. Ratlos und wie erschöpft bewegte er den Kopf im Kissen hin und her; sein Gesicht sprach für ihn.

Am folgenden Tag ging es ihm besser, und am Abend darauf hatte er Hunger, das erste Mal seit dem Kampf. Tatsächlich hatte er Kampf gedacht, als könnte das Ganze doch noch aus dem Umriss seiner Sinnlosigkeit heraustreten, als Widerstand oder Treue oder Mut.»Ich habe es auch für dich getan«, murmelte Ed vor sich hin und raffte sich auf.

Kruso hatte den Tag der Insel erfunden, aber im entscheidenden Moment war er verschwunden. Es war kindisch, so zu denken, ungerecht, dumm vielleicht, aber die Enttäuschung steckte tief. Auch die Esskaas hatten ihn im Stich gelassen. Und offensichtlich gab es Dinge, die Losch ihm vorenthielt, vielleicht misstraute er ihm sogar. Für einen Moment wünschte sich Ed die gemeinsamen Abende zurück, das Verheißungsvolle. Es war mehr als bloße Enttäuschung. Etwas hatte sich — wie sollte er es nennen — offenbart. Als wäre er Losch sehr nahgekommen in den Nächten. Und als hätte Losch nichts davon bemerkt.

Der Abwasch war sauber und aufgeräumt. Das Licht ließ er ausgeschaltet. In der Küche genügte ihm Violas magisches Auge als Lotse. Er war leise, er nahm sich zwei Scheiben Brot und seine Zwiebel und setzte sich auf den Stuhl unter dem Radiokasten. Er war weit entfernt von jener Welt, aus der die Nachrichten stammten. Sein Leben fand nicht mehr in der Gegenwart statt. Er erinnerte sich an das Kofferradio seiner Kindheit, das er bei Familienausflügen auf dem Schoß gehalten hatte, sitzend, im Bollerwagen. Unerklärlicherweise begann er zu zittern, vor Kummer und Glück zugleich, falls das möglich war. Wahrscheinlich nur eine Folge meiner Verletzung, dachte Ed, ein kleiner Riss im Golf von Mexiko. Behutsam kaute er das Brot und knabberte an seiner Zwiebel. Eigentlich hatte er keine Schmerzen mehr, nur ein kleines Stechen im Oberkiefer.

«Zum Tagesausklang hören Sie die Nationalhymne.«

Ed dachte an den Mann von der Kreishygienekommission. Anfangs hatte er sich über die Arbeitsbedingungen im Abwasch geäußert, enttäuscht und voller Mitgefühl, ihm dann aber nur noch Fragen zu Kruso und seiner Rolle» im Kollektiv des Betriebsferienheims «gestellt. Obwohl es heiß gewesen war im Zimmer, so heiß, dass Ed, wie unter Zwang, damit begonnen hatte, nach Kakerlaken auszuspähen, trug der Hygienekommissar eine schwarze, mit vielen praktischen Taschen besetzte Lederjacke. Diese Jacke erzeugte ein leises Knautschen, wenn er sich zurechtsetzte oder den Arm hob, um das dunkle glatte Haar aus der Stirn zu streichen. Seine Heliomaticbrille hellte sich nach und nach auf. Am Ende konnte Ed die Augen sehen: ein blasses, stumpfes Blau.

Nein, sicher, dieser Mann war kein Ausgestoßener, er hatte seinen angestammten Platz, er war ein fester Bestandteil allgemein anerkannter Verhältnisse, trotzdem ging auch von ihm Verlorenheit aus. Es war eine flächige, grobe Verlorenheit, ohne die vielen faszinierenden Details, wie Ed sie zum Beispiel beim Hausmeister des Germanistischen Instituts bewundert und in gewisser Weise auch bei Krombach oder Rimbaud entdeckt hatte, obwohl ihr Leben in vollkommen anderen Umständen, ja, in einer anderen, nahezu gegensätzlichen Welt angesiedelt war. Vielleicht gab es ein tiefer liegendes, unsichtbares Myzel von Vergeblichkeit, in dem sie alle wurzelten, von dem sie alle herkamen und austrieben? Eine Verwurzelung, die tief, weit, ja, bis auf die andere Seite der Geschichte reichte, wo das Kontinuum der Leere herrschte, jenes starke verlockende Nichts, von dem Ed sich mit Mühe abgewendet hatte vor dem Antritt seiner Reise.

Nicht gesprungen.

Spätestens als der Mann beiläufig erklärte, dass sich in Eds Papieren — tatsächlich verwendete er das Wort Kaderakte, obwohl Ed ja nicht mehr als eine Saisonkraft war, ein Aushilfsabwäscher, Spüli, Plongeur, ohne jeglichen Ehrgeiz, zur Küchenhilfe aufzusteigen oder gar zur Tresenkraft, jedenfalls hatte er nie über eine Perspektive als Gastronom (Kosmodrom) nachgedacht, schließlich war er mit ganz anderen Dingen und Umständen beschäftigt gewesen — kurz: Als der Heliomaticmann darauf zu sprechen kam, dass sich in seiner Kaderakte (zuerst hatte Ed Kakerlake verstanden) weder ein Meldeschein für die Insel noch ein Gesundheitszeugnis befunden hätten, das Ganze aber vom Problem her sicher lösbar sei, konnte es keinen Zweifel mehr darüber geben, wer dort an seinem Bett Platz genommen hatte.

«Also, Herr Bendler. Erzählen Sie mir doch ein wenig, zum Beispiel über ihre wunderbare Freundschaft mit Herrn Krusowitsch, von der man, glauben Sie mir, auf der Insel schon so manches gehört hat. «Er spitzte seinen breiten, hässlichen Mund wie zum Kuss, und Ed errötete.

Langsam erholte er sich. Seine Schwellungen klangen ab, die Wunden verheilten, aber er fühlte sich noch schwach und verließ selten das Zimmer. Er schlief jetzt viel am Tag und verbrachte seine Abende bei Viola, unter dem Radiokasten. Am liebsten hörte er die Reiserufe. Eines Nachts betrat Cavallo die Küche, schaltete das Licht ein und winkte ihm zu, als hätte er ihn nirgendwo sonst vermutet.

«Feindsender?«

«Wie immer.«

Während Viola Tschaikowski spielte, schmierte Cavallo Brote, kochte Eier und wusch Äpfel. Erneut bewunderte Ed seine schmale, verschlossene Gestalt, er bewunderte seine Handgriffe, das sichere, geschmeidige Hantieren mit dem Messer, wie von Tschaikowski komponiert. Am Ende packte er alles in einen kleinen Karton.

«Na dann!«

«Viel Hunger.«

«Ohne Ende. Und du, Edgardo? Verkriechst dich hier bei Viola, aber bekommst nicht viel mit, oder?«

«Genau.«

Ed wusste, dass Cavallo Unrecht hatte, in jedem Fall hatte er Unrecht. Cavallo trat auf Ed zu und umarmte ihn, noch im Sitzen, denn bis dahin hatte der Abwäscher unter dem Radio nicht begriffen, dass es sich um einen wirklichen Abschied handelte.

Ed hörte das Konzert zu Ende. Vladimir Horowitz am Klavier. Dann die Programmvorschau, dann die Hymne, dann die 0-Uhr-Nachrichten und ein Reiseruf:»Herr Dorgelow, zur Zeit vermutlich unterwegs im Raum Hamburg mit einem grünen VW Käfer, amtliches Kennzeichen HH PN 365, wird dringend gebeten, zu Hause anzurufen. «Während Ed einschlief, hörte er die Stimme Monikas im Flur.



Unterwegs im Raum Sehnsucht

«Sie werden es über Ungarn versuchen«, erklärte Karola, ihre Stimme war voller Respekt. Auf einem Tablett brachte sie zwei Flaschen» Lindenblatt«, bereits entkorkt, und einige Gläser. Ed erfuhr, dass Monika nie wirklich mit René verheiratet gewesen war, weshalb man sie von offizieller Seite nicht zurückhalten könne. Ed bezweifelte das. Alle bis auf Krombach und Koch-Mike, der eine späte Lieferung im Hafen entgegennahm, hatten sich bei ihm versammelt. Als wäre sein Krankenzimmer der geeignete Ort, diesem Abschied hinterherzutrinken, der so kurz und ohne jede Feierlichkeit ausgefallen war.

Einige saßen auf Eds Bett, einige hockten auf dem Boden. Auf dem Hocker am Tisch saß Rolf, der schwieg und zum Fenster hinaussah. Auch er, dachte Ed, alle warten. Alexander Krusowitsch, unterwegs im Raum Sehnsucht mit einer großen leuchtenden Verkündigung, amtliches Kennzeichen unbekannt, wird gebeten, sich unverzüglich mit seiner Familie in Verbindung zu setzen. Ich wiederhole …

Nach zwei Wochen jenes undefinierbaren Vakuums, das auf den Tag der Insel gefolgt war, den Tag der Esskaas, Ruhetag aller Ruhetage, ging alles sehr schnell. Am frühen Morgen hatten Cavallo und Monika das Eiland verlassen, mit der ersten Fähre. Ausgerechnet Monika … Wie konnte sie abreisen, solange man René noch vermisste? Ein feiner sinnloser Glutpunkt Eifersucht pulsierte in Eds Brust. Nicht Tschaikowski, sondern Mona, die kleine Unsichtbare, hatte die Anzahl der Brote diktiert.

Nach einer Art letztem Willen, von Cavallo mit Kugelschreiber auf Quittungspapier festgehalten, verteilte Rimbaud die Bücher seines Freundes. Ed fiel eine Broschüre mit der Geschichte der Zoologischen Station Neapel zu. Der Umschlag zeigte eine Villa am Golf von Neapel, mit Kanälen, die vom Wasser her direkt in die unterirdischen Gewölbe des Gebäudes reichten — wie von Jules Verne erdacht. Dazu eine Abhandlung über Faust in Italien von Paola Del Zoppo und Goethes Italienische Reise. Ed schlug das Buch auf und fand sofort eine Anstreichung:»Alte Pferde. Diese kostbaren Tiere stehen hier wie Schafe, die ihren Hirten verloren haben.«

Gegen neun betrat Koch-Mike das Zimmer und füllte es augenblicklich aus. Es war ein seltsamer, befremdlicher Moment, der sich Ed einprägte, für alle Zeit. Sie erfuhren, dass man Kruso verhaftet hatte. Verhaftet und nach Rostock gebracht, zur Vernehmung, wie es hieß. Ungesetzlicher Grenzübertritt, Widerstand gegen bewaffnete Organe, Verdacht auf staatsfeindliche Gruppenbildung — plötzlich stand alles Mögliche im Raum. Sie hätten ihn in einer Buschhöhle erwischt, auf dem Bessiner Haken, im Vogelschutzgebiet. Der verrückte Junge im Hafen hatte von Handschellen berichtet. Kruso sei in Handschellen durch den Ort geführt worden. Vor der Inselbar hätte es deshalb fast einen Aufstand gegeben, nicht nur Esskaas, auch Leute vom Stammtisch seien nach draußen gestürmt und Mutter Mete hätte sich wie tot auf die Straße gelegt, und dieser Anblick wäre dann endgültig zu viel gewesen für alle.»Ohne Handschellen jedenfalls haben sie Kruso dann zum Hafen gebracht, und ohne Handschellen hat er das Schiff betreten!«, rief Koch-Mike, als hätte er einen Sieg zu verkünden.

Ed starrte auf das Etikett des» Lindenblatts«. Es war beschlagen. Er sah Krusos Finger, wie er zärtlich darüber hinstrich und so auf irgendetwas deutete, irgendein Zeichen gab, für ihn, für sein Leben.

Am nächsten Vormittag kam Krombach ins Zimmer. Er roch nach Exlepäng. Sein Gesicht war bleich, aber glänzte, frisch eingecremt. Ed erwartete eine kleine Rede. Seine Entlassung vielleicht. Der Direktor stützte seine Hände flach auf Eds Tisch und schaute eine Weile aufs Meer hinaus.

«Die Schwalben, was?«

«Ja, seit die Jungen da sind …«

«Halten nicht viel aus, diese Vogelbuchten.«

Krombach atmete tief, wischte ein paar Krümel Lehm vom Tisch und schloss das Fenster. Erst jetzt begriff Ed, dass er gerade seine Tochter verloren hatte oder jedenfalls für lange Zeit nicht wiedersehen würde, nie wieder vielleicht.

«Du kennst Aljoscha. Du stehst ihm nah.«

Ed schwieg.

«Er war ein armer Junge, als er hier anfing. Er hat sich gut entwickelt, erstaunlich gut. Die später kamen, wissen kaum etwas von ihm, von seiner Geschichte und dem, was passiert ist damals. Aber dir hat er alles gezeigt, die Verstecke, die Karte der Wahrheit und sogar seine Gedichte, soviel ich weiß. «Er drehte sich zum Bett hin und sah Ed in die Augen.

«Ich meine seine eigenen Gedichte, getippt auf unserer alten Klausner-Maschine.«

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