Keine Gewalt

14. Oktober. Die Herbstferien hatten begonnen. Noch einmal Schiffe voller Tagesurlauber, wenn es auch weniger waren, die sich die Mühe machten, hinauf in den Dornbusch zu steigen. Die meisten Touristen der Spätsaison beließen es bei einem Gang über das flache Land, einmal vom Bodden ans Meer und zurück, und weil es auf diesem Weg nichts Besseres zu tun gab, drehte man eine Runde durch das Inselmuseum und eine durch das Hauptmannhaus, mit verschwommenen Erinnerungen an ein Theaterstück mit dem Titel Die Weber oder mit nichts im Kopf als Meeresrauschen. Ed erinnerte sich an Krusos Erzählungen über illegale Treffen, die Esskaas der früheren Jahre in Hauptmanns Arbeitszimmer abgehalten hätten — um Mitternacht und bei nahezu vollständiger Dunkelheit, da das Haus von der Straße her leicht einzusehen war. Rimbaud hätte dort über seinen Namensvetter gesprochen, ein Vortrag mit dem Titel Ophelia oder die Wasserleichenpoesie, eine ganze Stunde, ohne jede Notiz, ohne Aufzeichnungen.

«Du hättest die Esskaas sehen müssen, wie sie an seinen Lippen hingen. All diese Leichen, Ed, es war, als würden sie vorübergleiten in der Finsternis, kostbar, wie lebendig oder heilig jedenfalls — das Arbeitszimmer Hauptmanns ein Aquarium voller Leichen und er an Hauptmanns Pult, das dunkel wie ein Riff aus dem Wasser ragte; es war das erste Mal, dass ich mir wünschte, ein Student gewesen zu sein, Student bei Dr. Rimbaud in Leipzig an der Pleiße.«

Trotz der allgemeinen Trägheit waren noch immer genug Wanderer unterwegs, um vor den Luken des Klausners eine passable Schlange zu bilden, jedenfalls zur Mittagszeit. Kruso sprang zwischen den Klappen hin und her, den Herzklappen der Freiheit, die immer wieder etwas zu weit auseinander lagen, um einen großen Organismus wie den Klausner ohne Stocken am Laufen zu halten. Auf Zuruf lieferte Ed seine Speisen. Um die Wege zu verkürzen, platzierte er sie griffbereit auf einem Abstelltisch im Rückraum der Eisluke — das war seine Idee gewesen. Zudem war er verantwortlich für die Kaffeemaschine, und manchmal gelang es ihm sogar, am Ausschank zu helfen, was seinem Gefährten (Kampfgefährten, dachte Ed) nicht immer recht zu sein schien.

Der Ferienbetrieb funktionierte, wenn sie auch wie gefangen waren hinter den Klappen, vor denen man sich bücken musste, um einen Blick nach draußen zu erhaschen, wofür selten Zeit blieb. In der Regel hatte man nur eine Stimme und die Kundschaft bis zur Brust. Ab und zu brach die Sonne durch, was die Touristen belebte.»Wenn det jelinkt, ick sach, mits Flitzen kommts zum Stehn. «Ohne Zweifel hatte der Mann über die Fluchten gesprochen und etwas, das sie verhindern, vielleicht sogar umkehren konnte, wie Kruso es vorhergesagt hatte. Das Wort» Dialog «machte die Runde, es ging um die» Bereitschaft zum Dialog«, was Ed als eine Art Aufforderung begriff. Er beugte sich zur Luke, schob das Bier hinaus und sah dem Mann ins Gesicht, der ihm zunickte, sich dann aber wegdrehte, um auf einem der Terrassen-stühle Platz zu nehmen. Niemand hat die Tische abgewischt, dachte Ed und nahm sich vor, das nachzuholen, am Abend — »Wenn det jelinkt«, flüsterte Ed.

Er bemerkte, dass Kruso an bestimmte Stimmen umsonst ausschenkte oder nur symbolische Beträge kassierte, zweifellos Leute, die er für schiffbrüchig hielt, in der Tat aber nur Schmarotzer waren, welche die Hilfsbereitschaft seines Freundes ausnutzten. Zeitweise entwickelte sich daraus eine kleine Anhängerschaft, die faul auf der Terrasse herumlungerte, bald jedoch damit begann, Forderungen zu stellen, und sich unzufrieden zeigte» mit der Bedienung«. Ein paar Tage später waren sie wieder verschwunden.

Die Ferienwoche zehrte an ihrer Kraft. Der endlose Durst und der endlose Hunger der Touristen und ihr Gerede, eine allgemeine Unzufriedenheit, ein Aufruhr, der sich übertrug und durch die Luken in den Klausner schwappte. Am letzten Ferientag, mitten in der Stoßzeit, verlor Kruso plötzlich die Nerven. Er verließ seinen Posten, brüllte und stürmte ins Freie. Durch die offene Vordertür drangen Gäste herein.

Erst als ein fremder Mann neben ihm in der Küche auftauchte und nach einer seiner Bouletten griff, hatte Ed es bemerkt. Im Reflex hatte er sich blitzschnell um die eigene Achse gedreht und den Mann fast erstochen mit seinem Messer, der hysterisch aufschrie,»keine Gewalt!«. In Folge kostete es Ed große Mühe, die Menschen, die ungläubig auf den mit Speiseresten und sonstigem Unrat übersäten Fußboden starrten, aus der Schankstube zu treiben. Die Gäste schienen viel selbstbewusster als noch im Sommer, widerspenstig geradezu und kaum einzuschüchtern. Obwohl die Tische im Rückraum der Luken voller Gläser und Stapel verschmutzter Teller standen, hatten einige von ihnen sofort Platz genommen und die Hand gehoben, um irgendeine Bestellung aufzugeben oder das Wort zu ergreifen. Tatsächlich glich das Ganze einer spontanen Versammlung, auf der Forderungen vorgetragen werden sollten und Kritik, die schon zu lange hatte unausgesprochen bleiben müssen, aber hier war der Ort, und jetzt war die Zeit. Ein wirres Gerede über Botschaften und Flüchtlingszüge füllte den Raum; einige hatten damit begonnen, sich am Tresen zu bedienen. Eds Stimme, die sich bald überschlug: Er kommandierte, drohte und gestikulierte mit ausgebreiteten Armen, in der Hand noch immer das Messer, das er gelegentlich kreuz und quer durch die Luft zog, wie eine Machete im Unterholz. Er spürte, wie er über sich hinauswuchs dabei. Noch auf der Schwelle nach draußen, er hatte die Tür schon in der Hand, drehte sich ein älterer Mann nach Ed um und stellte sich ihm entgegen. Dabei kam er Ed so nah, dass es unmöglich war, seinem Protest aus Sprache und Spucke auszuweichen:»Du kannst auch gleich zurücktreten, Kleiner, überhaupt sollten hier endlich alle zurücktreten, in deinem beschissenen Gefängnis …«

Ed war restlos erschöpft, aber schwerer wog das Gefühl der Kränkung. Am Tresen wusch er sein Gesicht. Irgendwann am Abend tauchte Kruso wieder auf, ohne Erklärung und ohne ein Wort der Anerkennung. Er hatte ein großes Bierglas (Typ Butzenglas) in der Hand, das er ansatzlos nach Viola schleuderte, die augenblicklich verstummte. Das Glas fiel nicht zu Boden, weil die braune, fettverkrustete Bespannung des Radios zerriss und Viola es ganz in sich aufnahm. Eine ungute Stille trat ein.

Auch wenn die Terrasse seit Tagen nur spärlich besucht war und etwas Ruhe hätte einziehen können in ihre Wirtschaft, eilte Kruso zwischen den Luken hin und her. Er ging mit jenen steifen, auf die Dielen gehämmerten Schritten, wie sie Cavallo bisweilen zur Einschüchterung seiner Gäste benutzt hatte. Tatsächlich war es eine Art Marschieren. Als handele es sich um die wichtigste Planke ihres Schiffes, schrubbte Kruso das Abstellbrett vor der Getränkeklappe. Dann polierte er ein paar Gläser am Tresen, spülte sie nochmals und polierte sie erneut. Danach war er wieder an der Eisklappe zu sehen, bekleidet mit dem weißen, fleckigen Kittel, den René zuletzt getragen hatte. Mit dem Eislöffel schepperte er gegen die Wandung des alten Aluminiumkübels unterhalb der Luke, ein schmaler stumpfer Eimer, der längst kein Eis mehr enthielt und aus dem ein schimmliger Geruch aufstieg, den das Klopfen verstärkte.

Ed hatte in der Küche zu tun. Eine Arbeit für Tage, in denen er das Chaos aus Töpfen, Geschirr, Besteck und Essensresten bereinigen würde, alles, was notgedrungen liegengeblieben war. Die Arbeit tat ihm gut. Und auch die Geräusche, auf irgendeine Weise. Jedenfalls war das vage Tätigsein draußen an den Klappen besser als das Schweigen Violas. Neuerdings dachte er öfter so: Ich bin der falschen Fährte gefolgt. Mein Leben ist auf die falsche Bahn geraten, als ich den Bau und meine Brigade verlassen und mich um ein Studium beworben habe. Erst der Klausner, erst die Arbeit hier hat mich wieder zurückgebracht … Mit Kraft stemmte er einen Stahlkessel in die Luft und hieb kräftig gegen seinen Boden, so lange, bis sich ein halbrundes Stück Kohle löste und in das leere Becken fiel. Ein schwarzer, silbrig glänzender Mond, der am Grund des Kessels verglüht war. Mit seinem Zeigefinger zerdrückte Ed das Gestirn zu kleinen Kohlestücken, die er neu zusammenschob, so lange, bis sie die Buchstaben J und A ergaben: JA.



Das schwarze Band

René war zurückgekehrt. Ed erwachte und hörte die Stimme, überdeutlich, sein näselndes, hochmütiges Sprechen,»was darfs denn sein junge Frau«, und noch bevor Ed begriffen hatte, sah er den Eisverkäufer, wie er Witze riss (politische Witze) und selbst darüber kichern musste, und er sah, wie beim Lachen die Billardkugeln aus den dunklen fauligen Löchern stürzten, eine nach der anderen, in den Kübel oder gleich auf die Kelle,»fünfzehn Pfennig bitte«.

Leise schlich Ed die Treppe hinunter, überall brannte Licht. Er nahm den Weg durch den Abwasch und die Küche, vor der Schwingtür zum Gastraum hielt er inne und spähte durch den Spalt zwischen ihren Flügeln: Er sah Kruso, wie er hektisch den Eiskittel abwarf, er kicherte dabei. Dann änderte sich sein Ausdruck, er wurde ernst. Rasch trat er an die Registrierkasse heran und hob seinen Kopf.»Ruhm, wann kommst du?«Dann legte er den Zeigefinger auf die Oberlippe, als müsse er nachdenken, und rief etwas zum Schachtisch hin:»d5 auf d6!«Das Spiel war aufgebaut. Noch einmal kicherte Kruso (das weibische Kichern Renés hatte es ihm angetan, obwohl er zweifellos Rimbaud verkörperte in diesem Moment) und hämmerte mit ausgestreckten Zeigefingern irgendeinen phantastischen Betrag in die Kasse, fünfzehn- oder zwanzigstellig, als würde er Maschine schreiben, eines seiner eigenen magischen Gedichte vielleicht, und tatsächlich, für einen Augenblick erstarrte er zu einer Wachsfigur seiner selbst — offensichtlich war es nicht leicht, Kruso zu sein. Rasch trat er einen Halbschritt von der Kasse zurück und ließ ein kleines Wiehern vernehmen. Er galoppierte zum Tresen, mixte ein Glas Kirsch-Kali und nahm am Schachtisch Platz, auf Cavallos Seite.»Perché questo silenzio?«, murmelte der Darsteller Cavallos leise, machte seinen Zug und trank. Eine Sekunde später erhob sich Kruso feierlich und vollführte mit der Hand eine behütende Geste über dem Schachtisch, die einer Segnung glich oder so viel heißen konnte wie» Viel Glück «oder» Bleibt Freunde für immer!«Etwas Vergleichbares hatte in Wirklichkeit niemals jemand getan von ihnen, und so war es wohl eine Geste des Erzählers in Krusos Stück vom alten Klausner. Der Erzähler bewegte sich auch viel langsamer als die Figuren, er benötigte viel mehr Zeit. Wie in Zeitlupe ging er rückwärts zum Tresen, drehte sich um und streichelte den Zapfhahn — irgendeine Überbrückung, ein ungeschickter Einschub vielleicht.»Das Fass schon wieder alle, tss-tss-tss. «Kruso hatte versucht, den allseits verhassten Satz mit der weichen, ruhigen Stimme Ricks auszusprechen, aber er war jetzt nicht mehr ruhig, eher unzufrieden, irgendetwas stimmte nicht. Aus dem Streicheln wurde etwas Heftigeres, eine Art Melken, aber der Hahn blieb trocken. Mit der flachen Hand schlug Rick-Kruso auf den Tresen, die Gläser klirrten. Unwillig bückte er sich, riss die Klappe zum Keller auf und verschwand, die schwere Treppe (»Führerbeton!«) nach unten. Bald tönte ein Wortwechsel herauf und ein sanftes Fluchen: Der saumäßige Keller, die Nässe, der Schlamm, auf dem man jederzeit ausrutschen und sich den Schädel aufschlagen könne und dann:»Eeelenndiiger, eeelenndiiiger Dreck!«Wahrscheinlich ging es um das Anstechen des Fasses und die üblichen Schwierigkeiten. Nur Rick war dazu in der Lage, aber er brauchte seinen Assistenten, jemand, der die Schraube mit der Dichtung am Spundloch festzog, während er den Salonstocher anschlug, und also rief Rick-Kruso jetzt nach Ed. Ed-Kruso antwortete ihm:»Ich komme. Komme sofort!«Ed-Ed stand nur da und atmete kaum. Für einige Sekunden wartete er noch auf das Erscheinen seiner selbst, dann schlich er lautlos zurück in sein Zimmer.

Tagsüber herrschte eine klare, fast winterliche Stille. Am Abend umschloss der Kokon des Dornbuschs den Klausner mit seinem betäubenden Rauschen. Ein Balken Licht vom Leuchtfeuer strich über den Boden des Speisesaals. Ein Raum, der ihrem eigenen Radius schon entrückt zu sein schien, nicht mehr betretbar. Sie saßen auch nicht mehr am Personaltisch (selbst beim Frühstück nicht), sondern am Schachtisch vor dem Tresen, mit Aussicht auf die Terrasse. Sie tranken viel. Nachmittags» Lindenblatt «und am Abend Kiwi, Kali oder Pfeffi, manchmal mit Korn oder Blauem Würger gemischt. Dazu aßen sie geräucherten Schinken, in Würfel geschnitten, sie hatten genug davon im Lager. Früher hatte sich Ed nichts aus Schinken gemacht, jetzt kaute er langsam und bedächtig, wie ein Bauer nach Feierabend. Mit den Mahlzeiten waren sie flexibel; es gab keine Regel, bis auf die Zwiebel bei Ed. Kruso bog aus altem Draht neue Abtropfgestelle — für die kommende Saison, wie er betonte, und in diesen Momenten wich die Bitternis aus seiner Stimme. Er schmirgelte den Draht blank und lackierte alles mit einem Rest Lackfarbe aus dem Keller. Etwas Farbe spritzte auf den Tisch, was ihm nichts auszumachen schien. Blauer Lack, wie er auch für die Wippe auf dem Spielplatz und die Metallgestelle der Krippen auf der Terrasse verwendet worden war. Ed ging in die Küche und kochte Kaffee; sie plauderten über Gott und die Welt.

Ed erzählte seinem Freund von ihrem ersten und einzigen Familienurlaub an der Ostsee, in Göhren auf Rügen, Sommer 1973. Zu dritt hatten sie in einem kleinen FDGB-Hotel gewohnt, mitten im Ort, Vater, Mutter, Kind. Ein Beistellbett an der Wand unter dem Fenster war sein Schlafplatz gewesen. Ed sammelte Muscheln, die er in einem Plastebecher verschloss und unter dem Bett versteckte, wo sie zu stinken begannen.

Eines Morgens, als sie zum Frühstück in den Speisesaal gekommen waren, hatte er den schwarzen Stoff am Rahmen des Porträts entdeckt, es hing über dem Frühstücksbüfett. Er wusste nicht, was das schwarze Band am Bild des Spitzbarts, wie seine Eltern den Vorsitzenden des Staatsrats nannten, bedeuten sollte, aber irgendetwas sagte ihm (er war acht Jahre alt), dass es besser sein würde, nicht laut darüber zu sprechen. Er wartete, bis sie alle mit ihren Brötchen und Schmelzkäseecken Platz genommen hatten, dann stand er noch einmal auf, lief um den Tisch herum zu seinem Vater und flüsterte es ihm ins Ohr: das schwarze Band. Die Reaktion seines Vaters auf diese kleine Entdeckung war so unverhältnismäßig gewesen, dass sich ihm die Szene für immer eingeprägt hatte. Statt mit ihnen an den Strand zu gehen, war er den ganzen Tag im Zimmer geblieben und hatte Radio gehört. Auch die ganze folgende Nacht hindurch hörte er leise Radio; er hatte den kleinen Transistor halb unter sein Kissen geschoben, weshalb alles nur sehr dumpf zu Ed hinüber klang. Ein endloses Raunen über den Aufstieg des Spitzbarts zur Macht und wie sie zu Ende gegangen war. Vor allem ging es um das Innerdeutsche, von dem Ed in dieser Nacht das erste Mal in seinem Leben eine Vorstellung gewann: Mitten im Innerdeutschen verliefe eine blutige Linie, gezogen wie mit dem Skalpell, so behauptete einer der Kommentatoren, quer durch Orte, Häuser, Familien, ein tödliches Hindernis, unüberwindlich.

Ed sah zu Kruso und versuchte eine Art Bruderblick. Auch zwischen ihnen gab es eine Grenze. Beim Erzählen war es besser damit. Das Erzählen half Ed, seine Beklemmungen abzustreifen, seine Ängste.»Zur Not haben wir immer ein paar Panzer in Bereitschaft. «Das hatte der Spitzbart gesagt, mit einer sich beinah überschlagenden, eigenartig hohen, dünnen Stimme, ein Satz, der immer wieder eingespielt wurde. Es schien sein wichtigster Satz gewesen zu sein, jedenfalls war es der, den Ed in Erinnerung behielt aus jener Nacht auf dem Beistellbett, und so erzählte er es Losch. Außerdem fiel ihm ein, dass er noch nicht schwimmen konnte damals und beim Anblick des Meeres (er sah es zum ersten Mal) eine tiefe Angst in ihn gefahren war. Kruso nickte und sah ihm in die Augen. Robinson und Freitag. Da waren sie wieder.

Ihr Tisch stand so nah vor dem Tresen, dass Kruso sich zum Nachschenken nur umzudrehen und nach der Flasche zu greifen brauchte, die dort bereitstand. Sie verbrachten viel Zeit mit Putz- und Flickstunden, wie sein Gefährte es nannte. Sie reinigten die Abflüsse, die kaum verschmutzt waren, sie machten Feuerholz, reparierten die Palisade rings um den Klausner und versuchten, ihre Wäsche zu waschen in den Steintrögen des Abwaschs. Monikas Waschmaschine hatte sich nicht in Gang setzen lassen. Erst hatte es Kruso versucht, dann Ed. Es war eine WM 66, wie Ed sie von zu Hause kannte, das landesweit übliche Modell. Als Kind hatte er WM immer mit Weltmeisterschaft übersetzt, seiner Überzeugung nach hatte man die Maschine nach der Fußballweltmeisterschaft 1966 benannt. Wie so vieles hatte Ed auch das nie hinterfragt, und auf gewisse Weise war er noch immer jenes zerstreute, leicht zu beeindruckende Kind, das glaubte, die Welt sei den eigenen Träumen ähnlich.

Von den verlassenen Räumen des Klausners hatten allein die beiden Zimmer Monas etwas Wohnliches. Manchmal legte sich Ed in ihr Bett und drückte den Kopf ins Kissen. Während er den Geruch des Bettzeugs einsog, dachte er an C. Dann hörte er auf, an C. zu denken, und dachte an G. Er versuchte, sich an Sex mit G. zu erinnern. Es beschämte ihn, wie wenig er davon noch vor Augen hatte. Zwei, drei Szenen, nicht mehr. Vielleicht war das nicht wichtig. Es lag nur daran, auf welche Weise die Trauer in ihm Raum griff. Und schließlich ging es ihm darum, nichts zu vermischen. Seine Begierde war nur das eine. Ein paar Bilder aus den Nächten flogen vorüber. Marén, Grit, Tille, die Geschichten der Schiffbrüchigen im Dunkel. Manchmal waren sie noch da, wenn er aus dem Schlaf schreckte nachts und sich zwei oder drei Mal hintereinander befriedigen musste, ehe es ihm gelang, wieder einzuschlafen. Im letzten Moment war es immer C. Ihr Lachen, ihr Schluckauf, die weit nach oben gezogenen Augenbrauen. C., wie sie ihn dabei angesehen hatte.

Die Tage sickerten ins Meer. Die von Krombach angekündigte Abordnung des Stammbetriebs ließ auf sich warten. Keiner von ihnen ging ans Telefon. Nachdem es einmal den ganzen Tag über geläutet hatte, war Kruso in Krombachs Kabuff gestürzt und hatte den Stecker aus der Wand gerissen. Ed glaubte nicht mehr an das Eintreffen der Direktorin Gastronomie. Jedermann konnte ahnen, dass dies nicht die Zeit war für Delegationen und Kontrollkommissionen. Selbst Vosskamp war seit Tagen nicht mehr aufgetaucht. Das alles passte zu den Nachrichten Violas und ihrem Kommentar zur Schließung aller Grenzen, bevor das Bierglas sie getroffen hatte. Schon wenig später hatte Kruso in Violas letzter Meldung eine Bestätigung seiner Thesen gefunden: Wie wichtig es sein würde, auszuharren, durchzuhalten, einen Stützpunkt zu bilden (er gebrauchte dieses Wort), einen Stützpunkt für alles, was jetzt unweigerlich geschehen musste. Ed dachte an seine Eltern in Gera; er hatte begonnen, sich Sorgen zu machen. Sie würden glauben, dass er noch immer in Polen war, im Internationalen Hochschulferiensommer, von ihnen getrennt durch eine der plötzlich unüberschreitbaren Grenzen.

Für die Einkäufe benutzte Ed jetzt das Fahrrad, die Karre brauchte er nicht mehr. Nur einen Rucksack für Brot, Milch, ein paar Kleinigkeiten, alles andere hatten sie im Lager. Er genoss den Weg durch den Wald und die Abfahrt über den Plattenweg, der einem die Knochen aus dem Leib schüttelte und das Gehirn entkalkte (Ricks Theorie). Tags zuvor hatte Ed seinen Gefährten im Dorf gesehen und war augenblicklich abgebogen. Es war, als könne er Kruso außerhalb des Klausners nicht begegnen. Als müsse dann unweigerlich etwas zur Sprache kommen, das alles in Frage stellte. Die Wahrheit war auch, dass er sich schämte, ihn gesehen zu haben — wie er dort gestanden hatte, zwischen den Blechkarren im Hafen, abwesend, plappernd, mit gesenktem Kopf, wie ein Schäfer im Kreis seiner Herde. Kruso war abgemagert, aber sein Gesicht vollkommen glatt, fast kindlich. Die grauen Haare in dem Wirbel über seiner Stirn schienen sich täglich zu vermehren.

Vom Einkauf zurück, ging Ed in die Küche und packte den Rucksack aus. Aus dem Abwasch tönte eine Stimme, die ihm vertraut vorkam (seine eigene). Er räumte den Kühlschrank ein, und schon wenig später wusste er nicht mehr, ob er das Ganze wirklich gehört oder nur geträumt hatte. Er ging in die Gaststube, um ein paar alte Schnapsgläser einzusammeln. Eigentlich war alles getan und auch sonst nirgendwo ernsthafte Arbeit, aber Ed blieb am Tresen und begann, lange nicht benutzte Gläser aus dem obersten Regalfach zu räumen und durchzuspülen.

Wir zwei beide, summte Ed — er wollte nachdenken, über die nächsten Schritte, seine Verantwortung für Kruso und die Gaststätte, aber sein Kopf war leer. Erst die Abschiede, dann die Notbesatzung, dann» zwei Mann, zwei Klappen«. Er schaute hinaus auf die leere Terrasse und rahmte sich selbst ein, mit einem umgekehrten Blick durch das Fenster auf den Tresen. Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg. Sonjas Worte, bevor sie hinausgeschwommen war und sich in ein grünes Licht verwandelt hatte.

Nach einer Weile hörte er das Scheppern von Töpfen aus der Küche und etwas wie das Schnaufen Koch-Mikes, und wie zur Antwort ließ Ed ein wenig seine Gläser klirren: Koch-Mike-Kruso und Ed-Ed. Gemeinsam ahmten sie den Klausner nach, letzte Hoffnung aller Freiheitssucher dieses Landes, ja, inzwischen vertraten sie das ganze alte Leben, hier oben auf der Küste, wo niemand mehr hinkam in diesem Herbst. Ein Glas nach dem anderen zog Ed durchs Wasser, während Kruso bereits hinter ihm stand und seinen Kopf zu ihm hin beugte, als könne er seine Gedanken riechen.

«Bist du vorbereitet, Ed?«Ed erschrak. Fast hätte er das Glas fallen lassen.

«Vorbereitet?«

«Auf die Vergabe, heute Abend?«



Letzte Vergabe

Schon am Nachmittag wurde es dunkel. Ed blickte nach draußen, konnte aber nichts erkennen und schaltete die Terrassenbeleuchtung ein. Wie geblendet hob Kruso die Hand, vielleicht hatte er ihm auch gewunken. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wäre sein Schädel verkabelt. Im Regen hatte sich das lange Haar zu seltsamen Verstrebungen verdickt, die den hoch erhobenen Kopf zu stützen schienen. Die obere Schädelhälfte glänzte wie golden unter dem Licht der Stahllaternen, die den Biergarten bewachten.

«Sieht so aus, als käme heute niemand mehr.«

Ed fühlte seine Pflicht, aber auch, dass es galt, Rücksicht zu üben. Sein Freund schien unberührbar. Nah und unberührbar. Für einen winzigen Moment (zu kurz, um die Dinge wirklich zu begreifen) erkannte Ed, dass es immer so gewesen sein musste. Kruso war wie er selbst, und nur so konnten sie zusammen sein, auf diese Weise, nah, aber jeder für sich, gefangen in den Kapseln ihres einsamen, chaotischen Daseins, für die eine seltene Konstellation des Schicksals oder ein alles beherrschendes Kosmodrom parallele Bahnen ausgegeben hatte.

Drei Gläser standen auf dem Tisch, schon halb mit Regenwasser gefüllt. Kruso saß sehr gerade, ein Heiliger, dachte Ed, der seinem Stammplatz in der Ewigkeit entgegensah. Mit der Rechten hielt er die Weinflasche umschlossen, die Linke ruhte in seinem Schoß, und über allem der Regen, so fein, dass man sein Fallen nicht spürte, aber die Luft war voll davon, ein kalter Regen, der im Licht der Laternen zu dichtem Nebel gerann.

«Vielleicht besser, jetzt reinzugehen, oder?«

«Ja, bitte, warte doch drinnen auf mich, Ed.«

«Wir können die Terrasse auch vom Schachtisch aus im Auge behalten.«

«Wenn niemand da ist, kommt auch niemand.«

«Es ist Anfang November, Losch.«

«Du kennst den Herbst nicht. Du warst nie hier im Herbst. Die Vergaben sind anders im Herbst. Der Herbst ist anders.«

«Wir könnten das Licht eingeschaltet lassen. Wir stellen Koch-Mikes Sternrecorder in der Eisluke auf. Das hörst du auf der ganzen Insel.«

Langsam redete sich Ed in seine neue Rolle hinein. Jetzt war er es, der Verantwortung übernehmen musste. Für einen Moment hatte er das Bedürfnis, Krusos großen nassen Schädel an sich zu pressen und zu wiegen wie ein Kind, das sich wehgetan hat, so lange zu wiegen, bis es getröstet war, bis ihm die Augen zufallen würden, alles wieder gut.

«Ja, Ed, ja. Nur den Moment. Du gehst vor, und ich komme nach, sicherheitshalber.«

Ed verstand, dass mehr nicht zu erreichen war. Ein von den Gästen vergessener Schirm fiel ihm ein, aber das schien undenkbar. Ein Schirm war absurd. Nach einer Weile trat er abermals hinaus in den Regen und legte Kruso seine Kutte um die Schultern, vorsichtig und ohne ein Wort. Es war, als komplettiere er ein kostbares Bild, ja, vielleicht bestand darin seine eigentliche Aufgabe an Krusos Seite.

Der Umhang machte den durchnässten Mann auf der Terrasse augenblicklich zu einer Art verlassenem Heerführer, einem General ohne Truppe. Ein Held, der zu frieren begann. Obwohl Ed voller Sorge war (eine stetig wachsende Sorge seit dem Tag, da Mona und Cavallo sie verlassen und der Exodos begonnen hatte), spürte er eine Art Zufriedenheit oder Genugtuung in diesem Moment. Alles, was er tat, geschah im Sinne dieser Geschichte, als sei er allein verantwortlich dafür, dass sie irgendwann einmal erzählt werden konnte.

Wenn Rebhuhn den Kopf hob, begann das Licht der Wüstensonne im Metallgestell seiner Brille zu fließen, ein Schillern in allen Farben des Regenbogens. Die Beduinen schleiften ihr Kamel auf ein rohes rostiges Metallgestell; Rebhuhn war ihr Spielführer. Die Aufgabe des Spielführers bestand vor allem darin, den durch zwei bis drei Mitspieler möglichst tief und straff zwischen die Stützen des Gestells gezerrten Hals des Kamels anzuschneiden. Das Anschneiden war eine Kunst und galt als Privileg. Rebhuhn, der alles erklärte: das Messer soundso, die Haut soundso, dann der Schnitt, wie ein Blitz. Im Kern gehe es darum, im Körper des Kamels eine krampfartige Anspannung auszulösen, eine Kontraktion, erläuterte Rebhuhn, hart und andauernd genug für eine feste, ebene Spielfläche. Rebhuhn beugte sich unter das Gestell, die Beduinen gingen in die Knie. Alle trugen Billardstöcke.



Märchen des Lebens

Am Morgen war Kruso verschwunden. Getrieben von Schuldgefühlen, durchstreifte Ed den Dornbusch, kehrte aber immer wieder zum Klausner zurück, in der Hoffnung, seinen Gefährten dort vorzufinden. Weil er zu hastig ging, federte ihm ein Ast ins Gesicht; eine namenlose Wut stieg in ihm auf, die sofort in Hilflosigkeit umschlug.

Der geweihte Schlafplatz war mit Blättern bedeckt, und die Umrisse der Mulde waren kaum noch zu erkennen. Darunter lagen die Mumien in ihren Schlafsäcken, Schiffbrüchige, vergessene Freiheitssucher, Schwarzschläfer, die sich schwarz geschlafen hatten, begraben im Laub — Ed wurde übel bei diesem Gedanken, und er stapfte rasch weiter.

Die Honigbibliothek war nahezu vollständig vertilgt. Der gesamte Lesestoff hatte sich verwandelt in ein braun schimmerndes Gewimmel aus Ameisen, Asseln und Kakerlaken. Nur ein paar Leineneinbände, die sich aufrecht hielten, wie verwest und verbogen. Eine Wand verkohlter Waben. Ein riesiges ausgebranntes Puppenhaus. Eine Weile beobachtete Ed das rasche, scheinbar planlose Hin und Her der neuen Rezipienten, die sich in einen Rausch von Zucker und Zellulose hineingefressen hatten. Er trat näher und erkannte die Reste einiger Titel von Anton Kuh und Peter Altenberg, Fechsung, Nachfechsung und Märchen des Lebens. Eine einzige einzelne Seite hing heraus, als wollte sie ihm die Hand reichen. Artaud war sauber ausgenagt.

Ed musste sich beruhigen; er war ja nicht vollkommen allein auf der Welt. Er nahm das Fahrrad und fuhr hinunter in den Ort. Den Klausner ließ er unverschlossen, was nicht störte, alles fühlte sich jetzt anders an. Über dem Eingang zum Pfarrhaus hing ein Plakat mit den Worten» Die Reformation geht weiter«. Ed hielt an und las den Aushang im Schaukasten der Gemeinde. In einem» Offenen Brief «forderten die Insulaner einen» Prozess der Erneuerung«. Die Unterzeichner des Briefs protestierten gegen Verwahrlosung, Vermüllung und Zersiedlung der Insel.

Santiago umarmte Ed, Wange an Wange. In einer Ecke der Inselbar war ein alter Schwarzweiß-Fernseher aufgebaut.»Sie wollen saufen, aber sie wollen jetzt auch die Demonstrationen sehen. «Ebenfalls neu war eine Waschmaschine im Keller, die warmes Wasser machte für den Abwasch, weshalb Santiago den Kessel nicht mehr befeuern musste; er zeigte sich ausgesprochen glücklich darüber. Eds Frage nach Kruso überraschte den Esskaa. Als wäre etwas sehr Schlimmes geschehen, legte er augenblicklich beide Hände an seine Wangen. Es war die Geste goldzöpfiger Mädchen in sowjetischen Märchenfilmen, wenn sie erfuhren, dass der Drache ihren Liebsten getötet oder in ein Tier verwandelt hatte.

Ed fuhr die schwarzen Quartiere ab. Der Pfad zur Sommerhütte war unauffindbar, verwachsen, von Sanddorn überwuchert. Einige der Verstecke wie verwüstet. Am Eingang zur Steinhöhle zwischen Vitte und Kloster lagen Speisereste, leere Konserven und Zeitungspapier. Kotgestank wehte bis auf den Weg. Die kleine Steinhütte hinter dem Hauptmannhaus (Schlafplatz für zwei Personen) war aufgebrochen. Vor dem sogenannten Hauptquartier im Waldstück über dem Hafen lehnten zwei Fahrräder. Ed schöpfte Hoffnung, aber die Baracke stand leer. Alles, was er durch das verschmierte Fenster erkennen konnte, waren ein paar verschlissene Sessel und eine grobe, mit schwarzer Farbe oder Teer gezeichnete Karte des Eilands an der Wand, ihr Umriss übersät mit Kreuzen, als handele es sich um eine Toteninsel. Ed erkannte, dass die Kreuze die Lage der schwarzen Quartiere markierten. Ihre Zahl übertraf bei weitem, was Ed vermutet oder Kruso ihm anvertraut hatte. Im Wald herrschte eine ungute, kalte Feuchte. Wie das Skelett eines Sauriers hockte das Wrack der großen undefinierbaren Maschine zwischen den Bäumen, weithin sichtbar. Der Müll war unter dem Laub verschwunden; es roch nach Winter.

Am Ende lief Ed noch einmal den Strand ab, Richtung Süden. Irgendwann starrte er bloß noch hinaus, das kalte Rauschen der Brandung am Ohr. Das Meer — die Verheißung. Jede andere Gegend schien Ed überzeichnet, versehrt, von Herrschaft angegraut. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass das Meer ihm etwas mitteilen wollte, dass es etwas Entscheidendes bereithielt für ihn, eine Lösung für sein Leben. Es gab die Fülle des Rauschens, das war die Atmung, wogend, endlos und alles umfassend. Es gab keinen Körper, kein Gefäß, das groß genug gewesen wäre für dieses Wesen aus Atem, diesen pneumatischen Riesen, im Gegenteil, es selbst schloss alles ein, es beatmete sein Denken oder brachte es zum Stillstand, es wiegte ihn in den Schlaf und umspülte seine Träume und formte sie zu etwas, das unfassbar war.

Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg.

So lange.

Es war die Stelle, an der Sonja ihren Bruder verlassen hatte. Ed begriff es und konnte sich nicht mehr rühren, keinen Zentimeter. Der Ort des Abschieds nahm von ihm Besitz.

Liebe Sonja.

Liebste G.

Er verlor sie in diesem Moment. Der Schmerz, die Verzweiflung, das Selbstmitleid. Unermessliche, unbezähmbare Trauer. Edgar, Ede, Ed, dem das alles passiert war, jetzt konnte er es sein. Die Nachricht hatte ihn erreicht.

Lieber Losch.

Der Beobachtungsturm hinter Vitte schwebte im Nebel; wahrscheinlich hatten die Grenzer ihn schon im Visier. Tatsächlich war es einfach unvorstellbar, von hier aus loszuschwimmen, ins Wasser zu gehen. Der Ort konnte sich kaum verändert haben seitdem. Ein Allerweltsstrand, von überall einsehbar, ein paar Bunen, Dünen, der Blick auf den Hügel des Dornbuschs im Norden.»Sie war eine sehr gute Schwimmerin, Ed«, hatte Kruso gesagt.

Ed dachte an den Tag der Insel. Die Stelle, an der er jetzt stand, wie festgefroren, lag nur hundert Meter entfernt vom Ort der Parade. Es war der Platz des kleinen Bruders, der seiner großen Schwester nachsah — für ein paar Sekunden — und dann weiterspielte.

Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg.

Worauf sollte er warten, so lange? Zuerst auf seine Schwester, die hinausschwamm, während er den warmen Sand mit seiner Plastemuschel hin und her schob, so lange. Dann schaute er aufs Wasser. Er sah nur noch ihren Kopf, falls sie das war, ganz klein, wie eine Netzboje, ein Schwimmer zwischen den Wellen. Er stand jetzt auf und tappte ans Ufer. Er stand regungslos da und presste die Plastemuschel an die Brust. Musste man rufen, schreien, so laut, wie nur möglich? Oder durfte man es jetzt gerade nicht, so lange?

Ed stellte es sich vor: Sonja, die hinausschwamm, dann die Mauer aus Patrouillenbooten, dann eine Schiffsschraube, vielleicht, oder ein Schuss. Oder Sonja, die hinausschwamm, gezogen von einem Aqua-Scooter — am helllichten Tag, das war absurd. Eher Sonja, die den Strand hinauf bis zum Dornbusch wanderte und sich dort versteckt hielt bis zum Einbruch der Nacht, neben dem Schlauchboot, zwischen den Sanddornbüschen. Jeder wusste, dass die Ablandestelle zu Füßen der Küste im toten Winkel der Radare lag, mit denen Vosskamps Leute das Meer überwachten — ein MR-10, hatte ihm Kruso erklärt und den Radius der Messanlage in den Sand gezeichnet.

Irgendwann schaffte es Ed, sich wieder zu bewegen. Trat man näher ans Wasser, konnte man hören, dass innerhalb der Atmung eine große Unruhe herrschte. Es gab die tiefen, schweren Atemzüge, donnernd, aggressiv, darunter aber lag ein viel hellerer Ton, einem Japsen, Hecheln ähnlich, als ringe das Meer selbst nach Luft, als müsse es selbst fast ersticken … Es waren die kindischen Seufzer der Toten. Ed konnte nichts dafür, dass er so dachte. Er sah René auf dem Billardtisch, den Apparat René, die stinkende Maschine, der Teile fehlten, Füße, Beine, die gerade hier, am Grund des Meeres, hin und her gewälzt, gerollt, gewendet, zubereitet wurden. Und er sah Sonja, wie sie spazieren ging über die Wellen, gänzlich unversehrt und mit einem grünen Smaragd auf der Stirn, die amphibische Prinzessin. Und er sah Kruso, seinen Bruder, wie er die Netze der Fischer von Vitte entwirrte unter Wasser und den Fischen im Netz die Freiheit erklärte; Blasen traten aus seinem Mund, und sein langes schwarzes Haar schwebte wie in Gelee, und es konnte auch niemand etwas dafür, dass Ed jetzt in Tränen ausbrach.

Hier wartest du.

So lange.

Das Metallgitter zur Einfahrt stand offen. Vor den Sandsteinbaracken unterhalb der Strahlenstation befand sich ein Schraubstock; er war auf eine Stahlschiene geschweißt und trug eine Kassette im Maul. Die metallicgrüne Farbe am Stahlblech war abgeplatzt, der Deckel ragte in die Luft. Auf den ersten Blick sah es so aus, als warte der Schraubstock auf sein Herrchen, das ihn loben und von seiner Beute erlösen würde. Auf dem Schlackeboden glänzten Münzen, verstreutes Papier bedeckte den Weg — Tabellen, Aufzeichnungen, Versuchsprotokolle vielleicht. Ed griff nach einem der regenschweren Bündel, alles war in russischer Sprache abgefasst. Er entdeckte einen Ausweis mit dem Emblem der beiden zur Fackel mutierten Buchstaben J und P — Jungpioniere. Er öffnete den Ausweis und sah Kruso, das Kind. Ein dunkler Anorak mit Kapuze, hell gepunktet, ein Halstuch, Ansätze von Augenringen auf den großen Wangen und ein verstohlener, nahezu ängstlicher Blick. Daneben der Stempel der Inselschule und die zehn Gebote der Jungpioniere. Es war das Porträt eines Kindes, das wusste, dass es für diese Gebote niemals gut genug sein würde. Ed hatte nie daran gedacht, dass Kruso nach dem Umzug vom Russenstädtchen Nr. 7 Schulkind auf Hiddensee gewesen sein musste, ein Russenkind in einer deutschen Schule. Keine Mutter mehr und plötzlich auch keine Schwester. Alles verloren, und selber wie übriggeblieben an einem Ort, der kein Zuhause war. Ein feiner Trommelwirbel setzte ein; er kam vom Blechdach einer Laterne, erneut begann es zu regnen. Ed hatte Angst um Kruso. Er presste den Ausweis gegen die Brust (Speiches Pullover), um ihn provisorisch zu trocknen. Die Tür des alten Trafos stand offen, aber der Turm war leer. Das Wolldeckenlabyrinth war verschwunden und die untere Etage vollständig einsehbar. Ringsum standen rostige Tonnen, mit stählernen Bändern an die Mauern gekettet, wie Sträflinge des Mittelalters. Ed rief nach Kruso. Nichts rührte sich. Für einen unsinnigen Moment der Gedanke, sein Gefährte könnte eingeschlossen sein in einem der Fässer — Jona auf dem Weg ins Meer. Er untersuchte die Fässer. Ihre Kennzeichnung war größtenteils abgerostet, nur Tannenbäume oder Totenköpfe, dazu schwarze und rote Reste von Schrift.»Nehmt mich und werft mich ins Meer.«

Nach einer Weile öffnete Rommstedt die Tür, kam jedoch nicht über die Schwelle. Er schien Ed nicht sofort zu erkennen, lächelte aber und hörte fortan nicht mehr auf zu lächeln. Es gab nur sehr wenig Licht im Flur, und für einen Augenblick glaubte Ed, Geräusche zu hören — jemand war dort, ohne Zweifel. In hastigen Sätzen versuchte Ed zusammenzufassen, was zu sagen war über das Verschwinden seines Freundes, ausgehend vom Verschwinden der anderen, aller anderen, genauer gesagt, bis auf ihn selbst. Halb drehte er sich dabei zu dem Schraubstock hin, als gelte es, auch auf diese Station seiner Suche zu verweisen. Auch Rommstedt fasste den Schraubstock ins Auge, aber mehr, als sähe er auf ein großes stürmisches Wasser hinaus. Dann bat er Ed, sich einen Moment zu gedulden, und verschloss die Tür. Wenig später öffnete er wieder und forderte ihn auf, die Station zu betreten.

Interessiert blickte er Ed ins Gesicht, weshalb dieser seine Frage nach Kruso wiederholte. Die Luft im Flur roch abgestanden, nach Essensresten und altem Schweiß — es stank nach Rommstedts Einsamkeit. Für einen Augenblick streifte Ed die Frage, ob Rommstedt nicht auch ein Ausgestoßener war, ähnlich dem Hausmeister von Halle, gebildet, akademisch, aber außer Gefecht und darüber verzweifelt, mehr als verzweifelt.

Wie schon bei seinem letzten Besuch auf dem Schwedenhagen spürte Ed seine Empfänglichkeit für diesen Ort. Er war müde, und die Knie wurden ihm weich.»Wissen Sie vielleicht, wo Kruso …?«Der Professor strich ihm übers Haar.»Wie geht es Ihnen, Herr Bendler? Alles ist ganz wunderbar verheilt, nicht wahr?«Ed hatte das Bedürfnis, sich zu setzen. Er musste ausruhen, wenigstens für einen Moment. Mit einer weit ausholenden, sich endlos in die Tiefe der Station verlängernden Bewegung zog Rommstedt einen Stuhl heran: ein dürres, singendes Schaben auf Linoleum, das Ed durch die verlassenen Flure des Hauses entgegeneilte. Dabei drehte sich der Grundriss des Gebäudes, eine Verschiebung aller Räume innerhalb der Station, von einem elektrischen Brummton begleitet … Sicher, dafür ist sie konstruiert, kombinierte Ed, schwerfällig und schläfrig, weshalb es ihn auch nicht besonders wundern musste, dass der Stuhl, der in seinem Rücken ankam und ihm sanft in die Kniekehlen fuhr, mitten im Labor stand, direkt vor den großen bleigrauen Aufnahmeplatten. Er konnte jetzt auch hören, dass es diese Platten waren, die den Brummton machten. Es ist nichts anderes, dachte Ed, als hätte er damit das Wichtigste verstanden. Noch einmal formulierte er seine Frage nach Kruso, seinem Bruder, aber nur in Gedanken, denn jetzt hatte Rommstedt zu sprechen begonnen.

Wie Ehrentitel zählte er die bisherigen Namen seines Instituts auf.»Institut für Strahlungsforschung, Institut für Strahlungsquellen, Heinrich-Hertz-Institut, Zentralinstitut für Elektronenphysik. «Eine Zäsur sei ohne Zweifel der große Brand von 1970 gewesen, verbunden mit dem Verlust des eigenen Beobachtungsturms. Im Volksmund aber habe sein Haus immer das Strahleninstitut geheißen.»Angefangen mit unseren Erfolgen gegen Kinder-Knochen-TBC, dann die Lumineszenz-Forschung, die Erfindung der Energiesparlampe …«Es war eine Rede zur Geschichte seiner Station, feierlich, stolz, eine Rede über die schon vor Jahrzehnten (unter seiner Leitung) begonnenen Experimente,»man stelle sich vor, alles nur am eigenen Material, sicher, letztlich nicht anders als bei allen großen Forscherfamilien, man denke nur an Becquerel, Curie oder Röntgen«. Experimente, wie Rommstedt betonte, die schon bald, so jedenfalls beurteile er die Lage, fortgeführt werden könnten, fortgesetzt mit ganzer Kraft,»denn wir sind das Volk, junger Mann, und wir bleiben hier, auf dieser Insel, nicht wahr, denn hier sind wir das Volk!«.

Wieder streichelte er Ed, aber mehr so, als überprüfe er die obere Rundung seines Schädels.

«Er hat Sie also aufgenommen? Mit allen Rechten und Pflichten?«Der Professor berührte das Blutsbrüderschaftsgekritzel. Er sprach ganz ruhig und langsam.

«Und nun sind Sie selbst schon beinah wie Aloscha, so mutig, so versessen, und, ja, von Sehnsucht getrieben, nicht wahr? Wie würden Sie es nennen, dieses Letzte, das Sie … voneinander trennt? Was Sie noch nicht besitzen?«Der Professor hatte eine Hand unter sein Kinn gelegt und drehte seinen Kopf in Position.

«Wie verloren, wie verlassen man sich fühlen kann, nicht wahr?«Der Brummton veränderte sich.

«Ihre besondere Empfänglichkeit, sagen wir Fühligkeit, junger Mann, ist mir natürlich nicht entgangen. Dazu Ihre Merkkraft, Ihr leicht erregbares Gemüt, sagen wir, Ihre spirituelle Grundausstattung. Es ist die Strahlung, nicht wahr, die Sie entspannt? Die Sie zurückversetzt in alte Tage — müde Dörfer, Türen, die sich seufzend öffnen …«

Das Brummen schwoll an.

Ed erblickte sich auf einem Berg aus Sand, die Welt war aus Sand, gemurmelte Sprachen rollten hinaus und wollten auch Häuser, Brücken und Straßen, gemurmelte Sprachen …

Er sah, wie er als Kind morgens hinausgegangen war zu dem Sandberg vor der Scheune im hinteren Hof und dort gesessen hatte. Den ganzen Tag, gesessen und gebaut, Häuser, Brücken und Straßen, bis am Abend die Erwachsenen kamen und seine Sandburg bewunderten, die riesig war und über alles verfügte, was die Welt im Innersten zusammenhielt: eine feine, bunt schillernde Murmel aus Glas und die Spirale einer langen, makellosen Bahn.

Halb herrschte schon die Dämmerung. Das Lob der Erwachsenen, wie Balsam, dazu ihre Köpfe, groß und dunkel unter den Flugrouten der Schwalben.



Der letzte Esskaa

Um Kruso nicht auszusperren, hatte Ed weder die Vordertür noch den Dienstbotenaufgang abgeschlossen. Die Terrassenbeleuchtung war eingeschaltet. Etwas Licht fiel auch auf den Spielplatz. Wie ein Geschütz vor der Schlacht ragte das Stahlrohr der Wippe in die erste Dämmerung.

Etwas bewegte sich im Haus.

Eine Weile stand er still am Fenster und lauschte. Der Angriff würde von Westen kommen, vom Meer her über die Steilküste, immer dort, wo es keiner erwartet. Während er beschloss, sich anzuziehen und Feuer zu machen, begriff Ed kaum, wie er hatte schlafen können in dieser Nacht.

Erstens Hackstock. Zweitens Ofen. Drittens Kaffee.

Er übernahm das Kommando.

Das Holz fing rasch Feuer und brannte gut. Es waren die schmalen, von Kruso zurechtgestreichelten Scheite. Ed starrte in die Flammen und wärmte sein Gesicht. Er dachte an seine Zeit beim Militär, an das Winterfeldlager, das Schlafen im Mannschaftszelt, den Kanonenofen in der Mitte. Zwölf Eisengitterbetten und elf Soldaten, die schliefen. Er versuchte, es so zu sehen. Er hatte Dienst und der Rest der Besatzung Nachtruhe. Das Meer war zugefroren. Die Erde war gefroren. Die Latrine hatten sie mit der Spitzhake ausgehoben, die Schläge summten noch in seinen Armen. Man durfte nicht einschlafen beim Ofendienst. Er trug seine Wattekombi. Er hörte die Wildschweine draußen hinter dem Zelt. Er starrte auf den Glutschein im Sand vor dem Ofen. Dann schlief er ein. Nein. Man hatte Dienst, verdammt, man musste sich zusammenreißen. Der Glutschein im Sand musste immer da sein.

Er holte sich Brot, Butter, Marmelade und eine Zwiebel aus der Küche. Irgendein Geräusch.

Er stand am Herd und lauschte.

Das Meer.

Nur eine andere Form der Stille.

Er löffelte sich reichlich Kaffee in eine Tasse und übergoss ihn mit kochendem Wasser. Schon als Kind hatte er hinter den Geräuschen, die er selbst verursachte, andere Geräusche gehört, leise Rufe, Stimmen, kleine gregorianische Gesänge, welche zu den Dingen gehören mussten, die diese Gelegenheit nutzten, sich auszutauschen. Darunter auch Hohn und etwas wie rasch ersticktes Lachen. Für eine Weile hatte man die Möglichkeit, das alles zu übertönen durch ein noch stärkeres eigenes Geräusch, aber irgendwann musste man doch wieder leise sein, und das Lauschen begann von vorn.

Es wäre einfacher gewesen, gleich in der Küche zu frühstücken, aber er trug alles in den Gastraum und nahm seinen Platz am Personaltisch ein. Mein Platz, dachte Ed. Sein erstes Personalfrühstück schien Jahrzehnte zurückzuliegen. Neben seinem Teller lag ein Kassenblock. Die Haut zwischen seinen Fingern war so ausgelaugt, dass er den Stift in seiner Hand kaum spüren konnte. Er wollte eine Liste schreiben, Dinge, die jetzt erledigt werden mussten, aber es fiel ihm nichts ein. Ein paar Worte gingen ihm durch den Kopf, und weil er hatte schreiben wollen, begann er zu schreiben, drei, vier Blätter voll.

Er kaute langsam und betrachtete die Fotos der früheren Besatzungen. Unverkennbar leuchtete die Gemeinschaft aus ihren Gesichtern. Die ältesten hingen weit oben, im Halbdunkel, ein paar Jahrgänge fehlten. Nicht wenige mussten inzwischen gestorben sein, und so waren es die Gesichter von Toten, die jetzt auf ihn heruntersahen. Der Blick eines Toten ist immer ein wenig tadelnd, wer hatte das gesagt? Irgendein kluger Kellner wahrscheinlich, oder nein, ein guter Tresenmann, jemand wie Rick.

Ed stellte sich ein Foto mit ihm und Losch vor, braungebrannt, mit nackten, glänzenden Oberarmen. Sie lachten, und die Bildunterschrift hieß: Robinson und Freitag beim Schach, 1990.

«Eine Weile hier oben und du weißt, wie man übers Wasser geht, Kleiner. «Einer der Toten hatte gesprochen, aus dem Halbschatten knapp unter der Gaststubendecke, Besatzung von 1932. Der Mann trug ein weißes Hemd und eine runde schwarze Brille, viel mehr war nicht zu erkennen von ihm; er sah aus wie Fernando Pessoa.

Das Geräusch war wieder da. Etwas ging durchs Haus, aber nicht mit Schritten. Als wäre der Klausner selbst erwacht, ein Rumoren in den Wänden, ein fernes, dumpfes Rumpeln, tief im Gestein.»Da entdeckten sie es«, murmelte Ed,»hinter dem Gasthof im Wald, der sogenannten Waldgaststätte weit oben auf dem Kliff, verbarg sich nichts anderes als ein prähistorisches Wesen, in dessen Leib ein Abwäscher eingeschlossen war, für den Rest seines Lebens …«

«Mache dich auf, geh nach Ninive …«Der Pessoa-Mann hatte wieder zu sprechen begonnen.

Ed stand auf. Er ging in die Hocke und hielt den Kopf schief, er kniete sich in die Ecken, hielt die Luft an und lauschte. Im Grunde war es überall. Probeweise legte er sein Ohr an das Gusseisen der Kasse, dann an den Tresen, die Fasskühlung stand still. Hastig lief er durchs Haus, aber es war weder oben noch unten, es bewegte sich, es war nirgendwo.

Also hinsetzen, Konzentration.

Sein Blick fiel auf den Kassenblock. Hatte er das geschrieben?

Ja.

Nein.

Die Zwiebel.

Er nahm das Kleinespitze und begann zu schälen, mit steifem Handgelenk. Ich brauche eine Leiter, dachte Ed. Er wollte versuchen, Viola zu reparieren, aber er schaffte es jetzt nicht, das Wort Leiter zu notieren.

Es war eine Art Vibration, tackernd und dumpf, dann wieder ein Ächzen, ein Kichern vielleicht, aber sehr leise und wandernd.

Ed schob sein Frühstückszeug beiseite und legte das Ohr auf den Tisch, die Arme weit von sich gestreckt. Er versuchte, ganz ruhig zu sein; er sah aus wie frisch erschossen. Bildunterschrift: Der letzte Esskaa. Was er hörte, war das Rauschen, das übliche Rauschen. Es war immer da, in ihm und in den Dingen. Und er hörte das weiche Geraschel seiner Haare. Das Holz war kühl am Ohr. Er hörte sein Blut, das Klopfen, und es besänftigte ihn: Ist nur dein altes Holperherz, dachte Ed. Vielleicht sind der Klausner und ich eins geworden über Nacht, so Holterdipolter. Fast hätte er gelacht.

Er musste sich jetzt ein wenig bewegen. Er trug sein Geschirr in den Abwasch und versuchte, sich Krusos Vortrag über das Schreiben in Erinnerung zu rufen.»Eigentlich möchtest du ganz versinken, abtauchen, aber inzwischen genügt dir das kleine Kreisen deiner Hände im Wasser …«Er drehte das Wasser auf, es war bereits angenehm warm (guter Ofen). Er starrte auf seinen Teller unter dem Strahl und fühlte eine nicht geringe Lust, sein Ohr auf den nassen Rand des Beckens zu legen. Flüchtig fragte er sich, was er gesehen hatte — vielleicht gesehen, in seinem Rücken, bei den Regalen.

Zu spät.



Liebe

Von da an nur Einzelheiten. Die Wucht, mit der hinterrücks etwas auf ihn eingestürzt war, direkt aus der Wand. Die Last und der Atem in seinem Nacken. Das Wälzen über den Boden und die animalische Kraft, die versuchte, seinen Schädel in den Abfluss zu pressen.

Ed rang nach Luft. Er sprudelte ein» Nein-nein «hervor, dann» Au-auuu, auuu «und ein jämmerliches» Bitte«. Mitten in diesem Bitte tauchte sein Mund in den faserigen Schleim über dem Abflussgitter. Er spuckte und sog etwas davon ein — Seife und Verwesung.

Ohne Zweifel: Das Tier aus der Wand war Kruso. Er keuchte, und seine Stimme war heiser. Aus dem Becken über ihnen stürzte das Wasser auf Eds Kopf und machte alles unverständlich. Immer wieder stieß er das Wort» Verrat «in seinen Nacken, dazu Rommstedts Namen und» alles erzählt, alles erzählt!«. Sein Hauptwort aber hieß»Verrat«. Verrat an Sonja, Verrat am Klausner,»und an meiner Mutter, meiner Mutter …«Er blieb hängen an diesem Punkt und sprang ins Russische. Sein Körper verströmte die Hitze des Fiebers, sein Atem roch krank.

«Losch!«Ein blasiges Gesprudel.

Erst jetzt bemerkte er es: Ein stechender Schmerz in seiner Hand. Das Kleinespitze. Noch abspülen, zu Ende abspülen, hatte er das oder an Krusos Poetik des Abwaschs gedacht, es war belanglos. Beim Zubodengehen, in jenem halb träumerischen und dann nicht mehr fassbaren Augenblick, hatte sich seine Faust um die Klinge geschlossen, er hatte sich am Kleinenspitzen festgeklammert, sinnloserweise.

Kruso kniete jetzt in seinem Rücken, er stotterte, er wiederholte sich, weit über ihm und dem Wasserfall. Ganz unten Eds Rippen auf dem Stein; sie würden zerbrechen. Die Strahlenstation, der Hygienekommissar — der Verrat war überall. Schon lange verstand Ed nichts mehr von Krusos Rede; das Abflussgitter presste sich in sein Gesicht und verzog es zu einer Grimasse — weggespült, das Wort riss ihn in die Tiefe, weggespült, ins Jauchenloch, ins Reich des Lurchs, weggespült wie Dreck, Abfall, fettige Soße, und jetzt war die Reihe an ihm selbst … Grauer Schleim hieß sein Freund. Grauer, faseriger Schleim, der verhinderte, dass rostiges Eisen sich in seine Lippen grub. Er hatte auch andere Freunde, Reste seiner Bestände zum Beispiel, mutige Helfer, die ihm, ja, wie immer, etwas flüstern wollten. Einen Rat, eine Idee, noch in letzter Sekunde.

«Und leise greift in seinen Mund die Hand

Der Toten. Sonja lächelt sanft und schön …«

Ein dumpfer Gong, und Kruso schien zu schweben.

Ed wälzte den schweren Körper zur Seite; er krümmte sich, er bekam keine Luft; das Wasser strömte, er hielt sein Gesicht in den Strahl und kotzte ins Becken; er versuchte, seinen Mund auszuspülen, alles herauszuspülen, er würgte und spuckte.

Wie frisch gefällt lag Kruso am Boden, mit ausgebreiteten Armen, als sei der Abwasch des Klausners seine letzte Station. In seinem Haar klebte Blut. Nicht viel, und es schien bereits zu gerinnen. Das Kleinespitze hatte sein Hemd auf Höhe der Hüfte aufgeschlitzt, aber die Haut darunter nur geritzt. Seine Flanke war getroffen, aber nicht ernsthaft, es war nur die Überraschung gewesen, der plötzliche Schmerz: Kruso hatte sich aufgebäumt und seinen Schädel mit ganzer Wucht gegen das stählerne Becken geschlagen, genauer gesagt, gegen das rostige Gestell aus Winkelstahl, auf dem die Becken ruhten …

Es ist die Stelle, dachte Ed, die Stelle ist einfach empfindlich.

Er sackte zu Boden, er konnte nicht stehen, er musste warten; sein Herz hämmerte. Erst später fragte sich Ed, wie er das Kleinespitze in der Faust zum Vorschein hatte bringen können, während sein rechter Arm ziellos nach hinten geschossen war.

Der Mann am Boden war durchnässt. Er wirkte sehr friedlich, er ruhte sich aus. Ein feines Vibrieren durchlief den Körper, und vorsichtig berührte Ed seine Stirn. Sie war heiß. Er fand kein Gefühl, dem er sich anvertrauen konnte, nur neue Angst und Panik. Und die Mechanik der Sorge, die ihm beistehen wollte, aufgrund irgendeiner Erfahrung, die er niemals gemacht hatte. Und darin die Enttäuschung, allein die Enttäuschung war ihm vertraut. Und darin erneut eine Sorge, echte Sorge, die Sorge der Freundschaft, und darin wieder die Enttäuschung, herb und dunkel, und darin die Wut und im Innersten die Hilflosigkeit. Der ganze Irrsinn, der nicht mehr zu begreifen war.

Kruso in Krombachs Kabuff zu transportieren dauerte eine kleine Ewigkeit und kostete alle verbliebene Kraft. Aus ein paar Römern hatte Ed eine Art Schleppvorrichtung hergestellt. Immer wieder entglitt ihm der nasse Körper und schlug auf den Boden.»Entschuldigung, bitte Entschuldigung …«Ed zitterte vor Anstrengung. Bei allem, was er tat, würgte es ihn, und er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben.

Das Kabuff sah aus, als wäre es Krombach darauf angekommen, einen akkuraten Eindruck zu hinterlassen. Es roch nach Exlepäng. Ed lief in den Abwasch zurück und spülte sich noch einmal den Mund aus. Seine Zunge war geschwollen und klebte am Gaumen. Er las das Kleinespitze vom Boden auf und wusch es ab. Der Spuren-verwischen-Gedanke wehte herüber, blass und unwesentlich.

Wie große Beute lag Kruso vor Krombachs Schreibtisch. Unter der Sorge breitete sich die Kränkung aus, still und kalt. Die ganze Wucht der Zurückweisung. Ed setzte das Messer auf Krusos Brust und atmete tief.

Er dachte an Bilder in einem Film, er war jetzt selbst in einem Film. Er war die Hauptfigur, der letzte Mohikaner. So tief, wie die Kränkung dem Mohikaner ins Fleisch schnitt, sagte der Erzähler, während man einen einsamen Reiter zwischen hoch aufragenden Felsspitzen durch die Wüste ziehen sah, musste auf ihrer Kehrseite etwas Großes existieren. Und es musste sich jetzt zeigen, jetzt oder nie, offen und schutzlos, wenigstens für diesen Augenblick: seine Liebe.

Ed stach das Messer in Krusos Hemd.

Oder wie würden Sie es nennen, dieses Letzte …

Stück für Stück schnitt er Kruso das nasse Zeug vom Leib.

Krusos Penis war angeschwollen, aber nicht vollständig erigiert. Ed versuchte, den schweren Körper auf die hohe Matratze zu wälzen, doch das schien unmöglich. In einem neuen Anlauf zwängte sich Ed zwischen Wandschräge und Bett, von dort aus ergab sich eine Art Hebel. In einem ersten Schritt musste er Krusos Oberkörper ans Bett lehnen und darauf achten, dass er nicht wegsackte, nach vorn oder zur Seite, was sich als schwierig erwies; irgendwann blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn an den Haaren zu packen und aufrecht zu halten, während er um das Bett herumtanzte, um die Hebelposition einzunehmen. Während er zog und zerrte, erwachte Kruso. Sofort legte er seine Arme um Eds Hals.

«Ein Mann, zwei Klappen, Ed, manchmal ist es so.«

Behutsam versuchte Ed seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und es gelang. Er umkreiste das Lager und hob auch die langen, dicht behaarten Beine ins Bett, die schwer wie Baumstämme waren.

«Oder nur eine, eine Klappe genügt, Ed.«

Ed nahm die Decke vom Boden und schob sie Kruso bis unters Kinn. Er versuchte, es ihm so bequem wie möglich zu machen.

«Edgar?«

«Eine genügt, Losch, wie du gesagt hast. Aber jetzt musst du dich ausruhen.«

«Warum ziehen der Mond …«

«und der Mann zu zweit …«

«so bereit nach dem Meer?«

Zuletzt hatten sie es beide gesagt. Als wäre das ihre Frage.

Noch einmal streckte Kruso eine Hand nach ihm aus. Ed blickte zu dem Kleinenspitzen auf dem Tisch. Dann sank die Hand auf die Decke zurück, und sein Gefährte schlief ein.

«Entschuldigung, bitte Entschuldigung.«

Eine wirre, unbestimmbare Zeit hockte Ed an Krombachs Schreibtisch und ließ die Wellen des Schocks über sich ergehen. Was er dann tat, war Notwehr: Er machte ein Tellerchen. Ein Tellerchen, wie seine Mutter es gesagt und gemacht hatte, als er noch ein Kind gewesen war, allein und unglücklich, ein Einzelkind in seinem Einzelzimmer, von Schularbeiten überfordert und dem Leben überhaupt.

«Ich mach dir ein Tellerchen, Losch.«

Er wusch einen Apfel, dann nahm er das Kleinespitze und schnitt ihn in Spalten, die er gleichmäßig auf einer Untertasse verteilte, bis sie eine Sonne ergaben. Dabei murmelte er unentwegt sein» Entschuldigung, bitte Entschuldigung «vor sich hin. Ein Apfelstück wollte er selbst verspeisen, aber er schaffte es nicht, sich etwas in den Mund zu stecken; ein paar Tränen rannen ihm über die Wangen.

Er lief in den Abwasch, um sich abermals den Mund auszuspülen. Er beugte sich über das Becken und kühlte sein Gesicht, der Abdruck des Abflussgitters schmerzte. Er musste jetzt vernünftig sein.

Sein Blick fiel auf die offene Klappe des Speiseaufzugs, auf die Pfütze am Boden. Der Aufzug! Der niemals benutzt worden war, der seit Jahren nicht mehr als eine Vertiefung in der Wand darstellte, Platz für Karolas Tee in der Stoßzeit und ein paar Kuchenbleche. Wie lange hatte Kruso dort gehockt? Zusammengekrümmt in diesem Würfel, und wie konnte er es geschafft haben, damit auf und ab zu fahren, Holterdipolter?

Kruso schlief. Vorsichtig rückte Ed Krombachs Stuhl an das Kopfende seines Bettes und stellte das Tellerchen dort ab.

«Ich habe dir ein Tellerchen gemacht«, flüsterte Ed.

Ein Tellerchen hieß Zuwendung und Trost, ohne dem Unglück des anderen zu nahe zu treten.

«Soll ich dir noch ein Tellerchen machen?«

Er ging auf sein Zimmer und zog das Foto von Sonja aus dem Notizbuch. Das Foto fühlte sich heiß an, so heiß wie Krusos Stirn, aber das lag an ihm, am Schnitt in seiner Hand, der jetzt ein wenig brannte. Durch die trockene, schimmlige Abwäscherhaut war das Messer kaum eingedrungen, und es hatte auch kaum geblutet, nur etwas dünne, gelbliche Flüssigkeit war ausgetreten. Vielleicht hatte man als Abwäscher irgendwann kein Blut mehr in den Händen, nur noch Lauge, flüssige Seife.

Er platzierte das Foto auf dem Stuhl, gleich so, dass es Kruso entdecken musste, wenn er erwachte. Er kam sich vor wie ein Kind, das einen halbtoten Vogel streichelt, den es gerade selbst aus dem Nest geschossen hat.

Erst jetzt fiel Ed das Telefon ein.

Er hatte sich verhalten, als wäre Kruso sein Eigentum. Als wäre er allein zuständig. Aufgrund irgendeiner monströsen Verzerrung bestand die Welt nur noch aus ihm und Kruso, den zwei beiden. Erneut wurde ihm übel.

Weil er die Nummer nicht sofort entziffern konnte, riss er das Blatt aus der trüben Plastikhülle. Die Inselärztin stand an vierter Stelle auf Krombachs Liste, eine dreistellige Zahl. Die Telefondose war halb zerbrochen, aber der Stecker ließ sich arretieren. Ed presste das Ohr an die Muschel. Eine Weile lauschte er wie betäubt in den Wechsel aus einem kurzen und einem langen, lang anhaltenden Ton. Als müsse sich irgendjemand melden, ohne dass er gewählt hatte.



Wir Hiergebliebenen

Der Teppich, die Schrankwand — als hätte er die Stube seiner Eltern betreten. Berge von dumpf glänzendem Kunstleder — die Sitzgarnitur. Wie große Tiere in einem kleinen Stall. Ed schöpfte Luft, er rang nach Atem. Im Haus schien es noch kälter zu sein als draußen.

Auf den ersten Blick fehlten die elektronischen Geräte. Fernseher, Stereoanlage, Lautsprecherboxen — die dunklen Umrisse ihrer Abwesenheit auf dem Hochglanzfurnier. Dahinter die Wunden, die Kabeldurchbrüche. Stichsäge, vermutete Ed, oder Bohrmaschine. Für einen Medizinerhaushalt erstaunlich grob ausgeführt, weit entfernt jedenfalls von jener stundenlangen Feinarbeit, die sein Vater für solche Arbeiten aufgewandt hatte.

Das Haus befand sich genau an jener Stelle, an der die Insel schon einmal auseinandergebrochen und überflutet worden war, vor langer Zeit. Die privaten Räume lagen im hinteren Teil, die Praxis zur Straße. Keine Stühle im Wartezimmer. Nur die Schabestellen, wo Stuhllehnen geendet, und darüber die grau schimmernden, fettglänzigen Flecken an den Wänden, wo die Köpfe der Kranken sich müde zurückgelehnt hatten über die Jahre. Das lange, entnervende Warten auf Trost und Tod, bevor man endlich nach Hause gehen konnte.

Im Behandlungsraum offene Schränke, Medikamente und Nahrungspulver, auf dem Boden verschüttet wie Schnee; die verbeulte Blechschale einer Babywaage. Der beige Stahlschrank mit der Patientenkartei, halb herausgerissen, die Krankengeschichten der Insel. Eine batteriegetriebene Wanduhr lag auf dem Tisch, wie vergessen, versehentlich liegen geblieben. Daneben ein paar leere Spritzen, eine Arzttasche und Gummihandschuhe. Der Sekundenzeiger der elektrischen Uhr machte ein fein klickendes Geräusch, kam aber nicht mehr voran.

Nicht mehr als zehn Minuten hatte Ed gebraucht mit dem Fahrrad bis zur Praxis; er war den Dornbusch hinuntergeflogen, den Plattenweg, dann die Betonstraße hinter der Düne, im Gegenwind durch die Novemberkälte. Die Haustür war offen gewesen, der Türrahmen auf Höhe des Schlosses zersplittert.

Auf die Tafel mit dem Sehtest hatte jemand mit Kugelschreiber KURPFUSCHER! und SCHEISSLAND! gekritzelt. Daneben die Schiene mit dem Zentimetermaß. Der Schieber war ganz nach oben gerückt, als hätte man zuletzt einen Riesen vermessen. Ed sah sich selbst an der Wand: das Holz auf dem Kopf, während er seine Wirbelsäule durchgedrückt und die Ballen seiner Füße angespannt hatte.»Einsvierundsiebzig!«Das Ergebnis kam einfach immer zu schnell, nicht so, als wäre man tatsächlich sorgsam gewesen. Messen und messen ist zweierlei, hatte sein Vater immer gesagt. Meist war es Einsvierundsiebzig gewesen, manchmal auch nur Einsdreiundsiebzig und ein einziges Mal Einsfünfundsiebzig, und so wurde es schließlich auch in seinen Ausweis eingetragen, Rubrik mittelgroß. Bei Aufnahme seiner Daten hatte man Größe und Augenfarbe selbst anzugeben — niemand schaute ihm in die Augen im Büro der polizeilichen Meldestelle, und niemand maß nach. Das hatte Ed sehr überrascht, und das erste Mal war in ihm eine Ahnung aufgestiegen von möglichen Lücken im System.

Ed wehrte sich gegen die Überschrift, aber sie kreiste bereits in seinem Kopf: Stille Verzweiflung. Er sah die Worte, sie waren unbrauchbar. Alles, was ein Gefühl nur benannte, war unbrauchbar, das Allgemeinmenschliche war unbrauchbar, schlechtes Material. Mittelgroß und braune Augen, das waren die Fakten. Im Licht allerdings graugrün, wie die seiner Mutter. Im Halbschatten braun, wie die seines Vaters; Ed ließ sich fallen. Es war der Patientenstuhl. Vor ihm ein cremefarbener Stahlschrank und sein Gesicht im Spiegel der Vitrine — ein Blick, als könnte er dort zu Hause sein, einfach einziehen, schlafen gehen, in diesem Schrank.

– Nein, ich weiß nicht, wie ernst die Verletzungen sind.

– Er hat hohes Fieber, glaube ich.

– Fast zwei Tage, vollkommen durchnässt.

– Ich glaube, er hat sich unglücklich gestoßen.

– Ja, aber eigentlich nur ein wenig, nicht viel.

– Ja, aber nicht lange, er ist dann wieder aufgewacht.

– Ja, ich denke schon. Jedenfalls wusste er, wo er war.

– …

– Nein, nichts Besonderes. Nur, dass er Fahrstuhl gefahren ist, in unserem alten Lastenaufzug, vielleicht die ganze Nacht.

– …

– Ganz genau? Ein brauner Ring um eine graugrüne Mitte, würde ich sagen — ich bin eine Mischung aus Vater und Mutter, verstehen Sie?

– Hallo, Herr Bendler?!

Jemand hatte seinen Namen gerufen. Ed trat ans Fenster und sah, wie der Kreishygieneinspektor langsam die Straße heraufkam. Er trug die Jacke mit den vielen praktischen Taschen. Das Fenster des Behandlungsraums lag gleich neben der aufgebrochenen Tür, die sich jetzt in den Gläsern seiner Heliomaticbrille spiegelte. Rebhuhn räusperte sich leise. Ein Lebensgeräusch, das für niemanden bestimmt war, und plötzlich empfand Ed ein Gefühl großer Nähe, etwas, das ihm die Kraft aus den Knochen saugen wollte.

«Das Wertvollste ist schon verschwunden, Herr Bendler«, rief der Inspektor halblaut durch den Türspalt, er musste Eds Ankunft beobachtet haben. Vielleicht sehen sie uns immer, zu jeder Zeit, dachte Ed, und alle Ausflüchte sind überflüssig, genauso alle Berichte.

«Ich suche die Ärztin, Frau Dr. …«

«Und nichts anderes meinte ich, Herr Bendler. Oder dachten Sie, ich halte Sie für einen dieser Plünderer? Leider können wir das nicht verhindern. Es sind zu viele inzwischen, meist die Leute gleich von nebenan. Sie sind einfach schneller als wir. Wenn unsere Bürger ihre Mitbürger mit Koffern und Taschen auf der Straße sehen, haben sie das Brecheisen schon in der Hand. Aber das Eigentum von Flüchtlingen gehört nun einmal dem Staat, dem sie den Rücken kehren, Anordnung Nr. 2, verstehen Sie, Herr Bendler? Weshalb ich Sie bitten möchte, jetzt herauszukommen dort, ich muss die Tür versiegeln.«

Eigenartig war, dass der Inspektor das Haus nicht betrat. Und seltsam, dass er ihn bat, dass er eine Bitte ausgesprochen hatte, keine Drohung, kein Ultimatum. Für einen Moment glaubte Ed, René stünde hinter Rebhuhn, ohne Füße, auf seinen verfaulten Stümpfen, leise wankend.

«Haben Sie mich verstanden, Herr Bendler?«

Ed schwieg, er war verwirrt. Er hatte Kruso einen Zettel hinterlassen, neben dem Tellerchen, unter dem Foto, auf dem Stuhl, am Bett … Ihm wurde schwarz vor Augen. Er trat einen Schritt zurück ins Behandlungszimmer. Er war wie das Kind im Versteck, das nicht gefunden wird und spürt, wie es sich immer weiter entfernt von der Welt.

«Übrigens freut es mich zu hören, dass der Klausner noch in Betrieb ist«, fuhr Rebhuhn fort. Er sprach jetzt in den Türspalt, halb steckte er seinen Kopf in den Flur.»Es gibt Menschen in diesem Land, die stehen zu ihrer Arbeit, zu ihrem Platz in der Gesellschaft, die schmeißen nicht gleich alles hin, das nenne ich Verantwortung, Herr Bendler. «Er hatte den Satz wie in einen Tunnel gerufen, hörbar unsicher, was davon ankommen würde.

Ed schwieg.

«Diese Ärztin hingegen, sogenannte Inselärztin, ist über alle Berge — so viel zum hippokratischen Eid! Immerhin sind Ihre Wunden verheilt, sehr schön verheilt, oder, Herr Bendler?«

Ed erinnerte sich an eine Meldung Violas in den Tagen vor ihrem Verstummen. Ein guter Arzt lasse seine Patienten nicht im Stich, ein unentschuldbarer Verstoß gegen elementare Menschlichkeit und so weiter — dazu die Stimme des Gesundheitsministers und dann der Kommentar Violas, den er vergessen hatte, ebenso den Titel der Sendung, vielleicht das» Journal vor Mitternacht «oder» Tag für Tag «oder» Europa heute«?

«Seit ein paar Tagen ist die Grenze zu unseren tschechoslowakischen Freunden wieder offen, ein großer Vertrauensbeweis. Aber das wissen Sie natürlich. Jetzt können alle gehen, ab jetzt alle — ist das nicht ein Witz? Hören Sie mich überhaupt, Herr Bendler?«

Allmählich begann Ed die Lage des Inspektors zu begreifen. Aber was hielt ihn davon ab, die Praxis zu betreten?

«Deshalb freut es mich«, rief Rebhuhn,»freut es mich aufrichtig zu sehen, dass Sie noch da sind. Sie und Krusowitsch, unser Freund. Sie beschäftigen sich mit Gedichten, das ist uns bekannt — und vielleicht hat es gerade damit zu tun, wer weiß? Nicht auszuschließen, oder? Nicht wenige haben hier auf der Insel ihre Werke geschöpft, große Namen, weiß Gott, ich nenne nur Lummitsch, Cibulka, Pludra und natürlich Gerhart Hauptmann und Joachim Ringelnatz, Geistesgrößen vergangener Zeit, Vertreter des bürgerlichen Humanismus. Haben Sie schon einmal an eine Veröffentlichung gedacht, Herr Bendler? Kandidat des Schriftstellerverbands — wie hörte sich das für Sie an? Wir müssen jetzt zusammenhalten, wir Männer an den Schreibmaschinen, wir Schreibmaschinisten!«

Vorsichtig schob sich Rebhuhn durch die Tür und tappte am Behandlungszimmer vorbei in die Stube, die, zumindest für Ed oder einen Gutteil seines verwirrten Bewusstseins, noch immer ein Zuhause, eine Elternstube war: Der dunkle Glanz des Furniers, der gelbbraune Teppich, das tägliche Staubsaugen rund um den Ofen, die kleine Galaxie aus Brandflecken, verdeckt von einem später hinzugefügten Ofenblech — mit einem Schlag schien alles wertlos.

«Ihr anderer Kollege hingegen, jener Eisverkäufer, war dumm, sehr dumm! Erst dieser Unsinn mit der Schlägerei, und dann konnte er einfach nicht warten, und seine Flucht …«

«Welche Flucht?«, brach es aus Ed hervor. Fast hatte er geschrien, jedenfalls schon zu lange geschwiegen. Seine Frage zielte vom Flur her in den Rücken des Inspektors, der wie getroffen zusammenzuckte und seine Hände in die Luft riss. Vielleicht war es diese Geste, das Übertriebene, Hysterische daran; plötzlich spürte Ed seinen Hass, ein Hass wie aufgespart für diesen Augenblick.

«Welche Flucht?«, wiederholte Ed und bewegte sich langsam auf den Inspektor zu.

«Oh, Entschuldigung, das sind die Nerven, nur die Nerven.«

Auch der Inspektor trat einen Schritt auf ihn zu.

«Was ich Ihnen also noch …«Er versuchte, Ed am Ellbogen zu fassen,»ich bin berechtigt, Ihnen mitzuteilen, dass man ein Schlauchboot gefunden hat, unten am Gellen. Die übliche Grenzverletzung, würde ich sagen, auch ein ganz schlechtes Boot … Im Bug klebte ein Milchbeutel mit persönlichen Sachen, etwas Geld, Zeugnisse, kein Ausweis, aber das Foto — seine Partnerin, soviel ich weiß …«Er besann sich.»Alles wurde sichergestellt, Herr Bendler, und der Verdacht, der zeitweise auf Sie gefallen war …«

«Hören Sie, Rebhuhn. Mein … Kollege, Alexander Krusowitsch, ist krank. Er braucht dringend Hilfe, sofortige Hilfe, einen Arzt, einen … Er ist verletzt.«

Das Wort verletzt — es war, als hätte er etwas ausgespuckt von dem Gemisch aus Seife und Verwesung, das seine Mundhöhle besetzt hielt wie ein Pelz und ihn am freien Sprechen hinderte. Er hatte das Gefühl, nur Tierlaute auszustoßen.

Wie enttäuscht wendete Rebhuhn sich ab. Mit einer halben Pirouette sank er in einen der Kunstledersessel und seufzte vernehmlich. Eine Bö pfiff auf den Kanten des Hauses, ungehemmt fuhr der Sturm über das schmale Eiland, als sollte es noch einmal gereinigt werden vor dem Untergang. Hinter der Sitzgarnitur blähten sich die Übergardinen, schwer wie Bühnenvorhänge; Ed spürte Wind im Gesicht und entdeckte, dass ein Fenster zerbrochen war.

«Oh-ha! Unser Freund ist krank. «Der Inspektor stellte die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander und bildete ein kleines Spitzdach.

«Nicht Ihr Freund«, hallte es dumpf aus Eds Filzmund. Unwillkürlich ging seine linke Hand zu dem Narbengekritzel am rechten Oberarm, für einen Augenblick spürte er den glühenden Umriss seines Körpers.

«Es tut ja gar nichts zur Sache, Herr Bendler, ob er es einmal war oder noch ist oder ob er es eines Tages sein wird oder wieder sein wird, wie ich glaube, unser Freund — wir Hiergebliebenen müssen jetzt einfach zusammenhalten, verstehen Sie? Die, die noch da sind, compris?«

Der Kreishygieneinspektor schlug die Beine übereinander, als wolle er sein Bleiben auf ewig verankern. Ein Windstoß, das zerbrochene Fenster — ein großes Stück Glas, das splitternd zu Boden krachte. Übergangslos stürzte Ed sich auf Rebhuhn und stieß ihm seinen fauligen Atem ins Gesicht:

«Mein Freund, mein Freund, mein Bruder

Wie ein Kleinkind winkelte der Inspektor einen Ellbogen über der Stirn, mit dem anderen Arm fuchtelte er ziellos gegen Ed, der den fremden Schädel tief ins Kunstleder stemmte. Die Heliomaticbrille verrutschte. Ein großes Insekt, das seine Augen verliert, dachte Ed, nur ein leichter Druck, und sie fallen zu Boden. Für einen Moment sah er das flache Inspektorenprofil; nur Andeutungen von Mund und Nase, ein Gesicht wie eine riesige abgenutzte Fingerkuppe, gelb und grau, der sandigen Erde ähnlich, in die Kruso und er die Flaschen vergraben hatten am Tag der Begierde, gegen den Westmond …

«Mein Freund!«, brüllte Ed noch einmal, denn das Brüllen tat ihm gut. Der Filz in seinem Mund war gerissen, und endlich konnte er sich hören, und er hörte, dass es stimmte, was er brüllte, während der Inspektor sich einbuckelte mit angezogenen Armen und Beinen, geschrumpft auf die Größe seines lächerlichen Namens.

Der Sturm hatte nachgelassen, und es regnete fein. Vor ihm der Inspektor. Im Gänsemarsch trabten sie die hundert Meter bis zur Meldestelle hinunter. Auf der Straße war niemand, der Ort wirkte wie ausgestorben. Selbst das Gehen des Inspektors hatte etwas Verlorenes; kurze, abgehackte Schritte, als wären seine Füße über Jahre in Ketten gewesen.

Im Büro gewann Rebhuhn allmählich seine Fassung zurück. Mehrere Ordner landeten auf seinem Schreibtisch, über denen er für eine Weile seine Hand auf und nieder gehen ließ; irgendetwas musste sortiert oder durchgezählt werden in der Luft.»Wir helfen Ihrem Freund. Wir helfen, wo wir nur können, selbstverständlich …«Das Gebrabbel glich einer Beschwörung, die es ihm ermöglichte, seine Angst im Zaum zu halten, und Ed erkannte, dass es der windelweichen Gestalt hinter dem Schreibtisch ernst war, dass Rebhuhn diesmal kein Theater spielte.

«Ich muss Sie bitten, sich jetzt nicht zu wundern, Herr Bendler«, hob Rebhuhn an,»wir helfen Ihrem Freund, wir können helfen.«

Noch im Stehen wählte er die Nummer. Ed starrte auf den eingeknickten Zeigefinger, der das Wählrad mehrmals verfehlte.»Bitte wundern Sie sich nicht, es ist der kürzeste …«In diesem Moment kam die Verbindung zustande. Der Inspektor nahm Haltung an, augenblicklich war seine Stimme sicher und fest, dann sprach er auf Russisch weiter. Er redete in kurzen, monotonen Sequenzen, als erstatte er einen Bericht, den man vielleicht schon erwartet hatte. Eine einzige Nachfrage, die ebenso kurz und isoliert beantwortet wurde. Jedes seiner Worte bezeugte Respekt und die Bereitschaft, sich bedingungslos unterzuordnen.

Ed verstand nicht mehr als zwei, drei Wendungen; in all den Jahren Unterricht hatte sich sein Wortschatz kaum vermehrt. Rebhuhn diktierte Längen- und Breitengrade, wie es unter Militärs vielleicht üblich war bei Ortsangaben, dann die Postadresse des Klausners — Ed hörte sie das erste Mal. Selbst die Adresse hatte Rebhuhn mit russischem Akzent gesprochen. Am Ende war er gezwungen, Namen und Dienstgrad zu wiederholen, er buchstabierte, langsam und deutlich, aber es klang ausdruckslos, nichtig, wie der letzte Versuch, jemand zu sein.



Die Aufgabe des Ostens

Kruso schlief. Es war eine Art Märchenschlaf. Ed berührte die große unrasierte Wange, er strich darüber hin, mit dem gekrümmten Zeigefinger, wie ein Vater, wenn er sich nachts noch einmal über das Bett seines Sohnes beugt. Er hielt seinen Handrücken an die Stirn, dann die Lippen, weil das Handrückengefühl täuschen konnte. Seit dem Morgen waren hundert Jahre vergangen.

Eine Weile blieb Ed dicht über Krusos Gesicht, und aus irgendeinem Grund schloss er die Augen. Er sah Rimbaud an der Kasse und Karola am Tresen, selbst sein Vorgänger Speiche saß wieder mit ihnen allen am Tisch und fragte nacheinander nach seiner Tasche, seiner Brille, seiner Zahnbürste. Die Unwirklichkeit hatte ein Maß erreicht, in dem es möglich war, dass er Speiches Pullover auf dem Leib trug und ihn gleichzeitig aus dem Schrank nehmen und übergeben konnte, so feierlich, als handele es sich um seinen Abschlussbericht, das Eingeständnis einer kaum noch bemessbaren Schuld, die er als Nachfolger angehäuft hatte.»Bitte verzeih, lieber Speiche, ich …«

Er schaffte es nicht, sich Kaffee zu machen, und übergoss Kaffeelikör mit kochendem Wasser. Er zog die Gardine beiseite und schaute nach draußen auf die Terrasse, als könne dort die Hilfe in jedem Moment eintreffen, ein Hubschrauber vielleicht. Oder eine neue russische MiG, ein Senkrechtstarter, der keine Landebahn brauchte, nur Breiten- und Längengrade. Er versuchte zu trinken und verbrannte sich die Lippen.

Er stieg nach oben und begann, eine Krankenhaustasche zu packen. Es war kalt in Loschs Zimmer, er hatte vergessen zu heizen. Das Rasierzeug war sauber aufgereiht. Er nahm etwas Wäsche aus dem Schrank, auch dort herrschte Ordnung. Kleine Stapel, zu schwarzen Baumwollpyramiden aufgeschichtet, auf der Spitze ein paar Strümpfe. Einsatzbereit. Kein Schlafanzug, kein Bademantel — das würde fehlen. (Sofortige Missbilligung der Oberschwester:»Kein Schlafanzug? Dann eben das. «Ein kurzes Hemd, das hinten offen war, Gesäß und Rücken entblößt.) Ed steckte den größten Teil ihrer Einnahmen in einen Briefumschlag und platzierte ihn am Boden der Tasche. Nach einer Weile kramte er das Kuvert wieder heraus und notierte darauf seine Festlandadresse: Wolfstraße 18, 4020 Halle / Saale. Er wusste nicht, weshalb, er tat es nur.»Meine Mappe ist sicher, Ed, oder?«Erst jetzt fielen ihm die Gedichte ein. Kruso war in den letzten Tagen einige Male darauf zu sprechen gekommen; er hatte sie ihm anvertraut.»Und so lassen wir es, Ed, bis sich hier alles wieder beruhigt hat. Dann stelle ich den Band zusammen. «Vierzig Minuten bis zur Höhle des Fuchses und zurück — aber was, wenn die Hilfe gerade in diesem Moment eintreffen, was, wenn Losch erwachen und ihn brauchen würde. Es gab keinen Platz in seinem Kopf, länger darüber nachzudenken.

Er brachte die Tasche ins Kontor und platzierte sie am Fußende des Bettes. Als der Eindruck, etwas sei damit unwiderruflich besiegelt, übermächtig wurde, nahm er sie dort wieder weg und stellte sie auf Krusos Stuhl am Personaltisch. Seine Hilflosigkeit war mit Händen zu greifen.

Weil Kruso fror, schloss Ed den Bahnheizkörper an und schob ihn unter das Bett.»Eins nach dem anderen«, flüsterte Ed und holte einen zerknautschten NIVEA-Wasserball aus dem Schuppen, den er abspülte und mit heißem Wasser füllte. Er versuchte, sich nicht zu beobachten dabei; er versuchte, es praktisch zu sehen. Für einen Augenblick erkannte Ed, wie geisterhaft alles war. Er sah die Besatzung eines Geisterschiffs, gestrandet an der Küste einer Geisterinsel; Schiffbrüchige, Insulaner und Esskaas, sie alle waren geisterhaft.

Als er Kruso den halbvollen Ball unter die Beine schieben wollte, sah er, dass sein fiebriger Freund sich etwas auf den Bauch presste, unter der Decke. Es war das Foto, es war Sonja.

«Gut, gut«, murmelte Ed,»du hast sie dir geschnappt, was?«

Er hatte eine Idee.

Krombachs Exlepäng. Er nahm eine frische Flasche aus dem Schrank, der Beipackzettel fiel ihm in die Hand.

Es ist nie zu spät, aber auch nie zu früh … Pflege und Nahrung, wie jeder Boden, der Frucht bringen soll … erfrischt und verjüngt … Der Name Exlepäng garantiert weit über ein halbes Jahrhundert für Qualität und Wirkung. Ed rechnete: 2039. Weit über: 2050? So stand es dort, aber so war es nicht gemeint, nein, sicher nicht.

Vorsichtig zog er Kruso das Foto aus den Fingern, wobei es noch stärker zerknickte. Er schüttete sich etwas von dem Elixier in die Hand und rieb die dicht behaarte Brust seines Gefährten damit ein.»Nur den Moment, Losch, nur den Moment, gleich kommt sie zurück zu dir, sie passt auf dich auf, sie kommt zurück, das wissen wir. Sie ist nur hier drüben, auf dem Stuhl, da wartet sie auf dich. «Ed spürte die Wärme unter der Hand. Kruso atmete schneller, es wurde heiß auf der Haut, ein Husten kam ins Rollen, wie eine Lawine aus Kies …

Erschrocken ließ Ed von Kruso ab. Alles konnte falsch sein. Alles das Gegenteil bewirken. Er nahm das Foto vom Stuhl und schob es zurück, auf Krusos Bauch.

Erst jetzt bemerkte er es: Die Leere über dem Schrank. Krombachs graue Herzen, sie fehlten. Sie schlugen nicht mehr.

Kruso war jetzt wach, öffnete aber nur selten seine Augen. Ed stampfte Weißbrot, Milch und etwas Sanddornsaft zu Brei. Sanddorn sei für alles gut, behaupteten die Inselleute. Er gab Zucker und zwei Gelonida dazu, die er neben einem Fläschchen Jodtinktur und ein paar ergrauten Kompressen in Krombachs Rotkreuzkasten gefunden hatte. Einer Eingebung folgend, mischte Ed auch ein paar Blättchen von Krusos getrockneten Kräutern in den Brei, die sein Gefährte feierlich» letzte Ernte der Saison «genannt hatte.

Wie beim Füttern eines Säuglings tippte Ed mit dem Löffel zuerst die Oberlippe an, und tatsächlich, als existiere dieser Reflex ein Leben lang, öffnete Kruso seinen Mund, aber nur ein wenig. Ed strich etwas Brei ab und versuchte, die Speise mit der Rückseite seines Löffels tiefer in den Mund zu schieben, was ihm schließlich auch gelang. Kruso schluckte, schlug die Augen auf und begann sofort zu sprechen.

«Die Aufgabe des Ostens, Ed, ich meine des ganzen Ostens, von den kasachischen Jurten angefangen, vom Zirkuszelt meiner Mutter an, in Karaganda, du weißt, von dort bis hier, bis zu dieser Insel, dieser Arche …«, er verschluckte sich und spuckte, offensichtlich tat der Brei ihm gut,»… wird es sein, dem Westen einen Weg zu zeigen. Einen Weg zur Freiheit, verstehst du, Ed? Das wird unsere Aufgabe sein, und die Aufgabe des ganzen Ostens. Ihnen, die es technisch, ökonomisch, infrastrukturell so weit …«, er schluckte und fuhr kräftiger fort,»ihnen, die so weit gekommen sind mit ihren Autobahnen, Taktstraßen und Bundestagen, den Weg zur Freiheit zu weisen, diese verlorene Seite ihrer … ihres Daseins. «Er verschluckte sich erneut, dann der Anfall eines Hustens, als hätte ein unsichtbarer Riese seine Schultern gepackt, um ihn für eine Weile gründlich durchzuschütteln.

«Pscht, pschschscht«, machte Ed, verstummte aber sofort, als er Krusos stechenden Blick bemerkte.

«Es ist unsere Aufgabe, Ed. Die Wurzel zu beschützen vor den Schlacken, die jetzt kommen, in unfassbar wohlriechenden Lawinen, unfassbar verlockend, milde, gutaussehende Schlacken, verstehst du, Ed?«

In seiner Verlegenheit versuchte Ed, mit dem Füttern fortzufahren, aber Kruso schluckte nicht mehr. Er schob nur noch die Lippen ein wenig gegeneinander und förderte so einen Teil des Breis wieder zu Tage.

«Die Freiheit zieht uns an. Sie erkennt ihre Helfer. Und sie hat auch dich erkannt. Sie hat dich erkannt, Ed!«

Ed rieb den weißgelben Schlamm so gut es ging aus dem Stoppelbart und wischte ihm über die Brust. Die Waschung diesmal schon am Nachmittag, flog es Ed durch den Kopf, sinnloserweise. Er begann seinem Freund gut zuzureden.

«Etwas müssen wir auch essen, Losch. Ich meine zur Stärkung, gegen die Schlacken, ich meine, wer sonst sollte wissen, wie …«

Da Ed auf Dauer nicht besonders viel in diese Richtung zu sagen hatte (obwohl er, wie so oft, den tiefen Wunsch verspürte, übereinzustimmen mit seinem Gefährten, in aller Fremdheit eins mit ihm zu sein), ging er dazu über, Trakl vorzutragen. Einige Strophen und sogar ganze Texte hatte er tatsächlich vergessen. Das war nicht schlimm. Er summte Zeilen und Reime aus anderen Gegenden herbei, das fadenscheinig gewordene Kompendium seiner Auswendigbestände, er summte das alles so vor sich hin, als wäre es nie etwas anderes gewesen als eine einzige liebevolle Melodie, gestimmt auf einen einzigen verzweifelten Ton — den eigenen Ton. Auch Krusos Gedichte gehörten dazu, und dann auch Passagen, von denen er bis dahin nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existierten. Etwas wie ein eigenes Gedicht — als hätte er zu schreiben begonnen.

Sein Löffel berührte Krusos Mund, und der Sesam öffnete sich.

«Gut, Losch, sehr gut«, murmelte Ed,»so schaffen wir das.«

Auf dem Weg in den Abwasch fühlte Ed sich gestärkt und beinah zufrieden. Er spülte den Rest des Breis aus der Tasse und ließ sie voll Wasser; er tauchte seine unverletzte Hand in die Tasse und fühlte den Wasserstrahl. Brüderchen, was machst du, schläfst du oder wachst du? Zwei, drei Mal drehte er sich um, zur offenen Klappe des Lastenaufzugs, in dem noch immer eine Pfütze stand. Als er ins Kabuff zurückkehrte, schien Kruso wieder ganz bei sich zu sein. Sein Kopf lag schief im Kissen, sein linkes Augenlid begann zu zittern. Als er die Augen erneut aufschlug, blieb das Lid für zwei Sekunden hängen, auf halber Strecke.

«Bist du verletzt, Ed?«Er griff nach Eds lädierter Hand.

Das Fieber glänzte wie eine Maske auf seinem Gesicht. Nichts erinnerte an den Hass, mit dem er ein paar Stunden zuvor Eds Kopf in den Abfluss hatte stopfen wollen.

«Das gehört dir, Ed. «Er streckte ihm das Foto entgegen; es war zerknickt und fleckig von Schweiß oder Exlepäng.

«Nein, Losch, bitte, du solltest sie jetzt bei dir behalten, ich meine …«

«Nimm es zurück. Sie passt auf dich auf. Sagen wir, bis zur nächsten Vergabe.«

Das Foto war nur noch ein Fetzen. Ein kostbarer Fetzen, solange dort das sanfte Lächeln zu erkennen war. Unsere eigene kleine Tote, dachte Ed.

«Wir legen sie einfach hier ab, am Bett, ich meine, für uns beide.«

Krusos Gesichtsausdruck veränderte sich. Rasch griff Ed zu, aber jetzt ließ Kruso nicht mehr los; er hielt das Foto fest und sah ihm in die Augen.

«Sie ist irgendwo da draußen, Ed. Du kannst meinen Feldstecher benutzen. Du orientierst dich an den Lichtern. Denk an das grüne Licht. Und sollte ich einmal nicht hier sein, für eine Zeit, dann — kümmerst du dich. Versprich mir das. Versprich es, jetzt!«

Als würde in diesem Moment der Stromkreis unterbrochen, schloss Kruso die Augen und verstummte.

«Ich verspreche es«, murmelte Ed.

Er stellte das Foto zurück auf den Stuhl. Die Wachsflecken, der Schweiß, das zerknickte Gesicht. Es tat ihm weh.

Irgendein Mensch, irgendeine Hilfe. Ed sah auf die Uhr. Leise begann er sich zu verfluchen. Welche Möglichkeiten hatte es gegeben? Ärzte unter den Urlaubern? Seit Anfang November schien die Insel wie leergefegt. Sicher, irgendwo saß ein Arzt in seiner Pension, schnitt Mischbrotscheiben und lauschte zufrieden dem Rauschen des Meeres. Vosskamps lächerlicher Medpunkt würde nicht mehr hergeben als Krombachs Rotkreuzschrank, und das Krankenhaus in Bergen war zu weit entfernt.

Er zog das Fernsprechbuch aus Krombachs Schreibtisch.

Ed war es nicht gewöhnt, zu telefonieren. Zu Hause hatten sie nie ein Telefon besessen. Das Sprechen in ein Gerät, ohne Gegenüber, erschien ihm unnatürlich; es hatte etwas Künstliches, beinah Krankhaftes. Ed erinnerte sich an sein erstes Telefonat, als Kind, im Dorfkonsum. Die Konsumfrau hatte ihm die Hörmuschel ans Ohr gedrückt, quer über die Theke mit den Bonbongläsern. Die Stimme seiner Mutter traf ihn wie ein Schlag, er konnte sie spüren, im Ohr, aber sie war nicht da. Er hatte kein Wort herausgebracht, obwohl alle im Laden ihn zum Sprechen ermuntern wollten; kein einziges Wort.

Die schmutzig gelbe Titelseite des Fernsprechbuchs (eine Ausgabe von 1986) war mit gestrichelten Linien überzogen, der Versuch einer geometrischen Darstellung von Ferngesprächen, wie unschwer zu erkennen war. Ein imaginäres Gebilde, an dessen Knotenpunkten kleine Telefone hockten, wie Spinnen im Netz. Ein größeres Tier, das äußerlich einer Wählscheibe glich, hatte sich dort bereits verfangen. Alles wurde überragt von dem rückwärts abkippenden Monolithen eines pechschwarzen Telefonhörers, der wie ein seltener Götze oder Gott das Telefonnetz halb umschloss und drohte, alles mit sich in die Tiefe zu reißen.

Auf Seite 1 hatte man» Signale zur Warnung «aufgelistet. Atomalarm, Luftalarm, Chemiealarm und Entwarnung. Dann eine Seite mit Regeln, die Ed rasch überflog, dann die» Hinweise zur Benutzung«.»Im Interesse der gegenseitigen Rücksichtnahme und besseren Erreichbarkeit: FASSE DICH KURZ!«war fett gedruckt. Ed wählte die Nummer der Schnellen Medizinischen Hilfe. Eine Stimme erklang, die sich mit» Auskunft «meldete. Das war eigenartig, aber vielleicht gingen ja alle Dienste über die Auskunft. Es rauschte, und irgendein Zählwerk setzte ein. Aber es war etwas anderes, das Ed irritierte. Er presste die graue Muschel des Hörers gegen sein Ohr, er schwitzte.

«Mein Name ist Edgar Bendler, Mitarbeiter der Betriebsgaststätte Zum Klausner, ähmm …, auf Hiddensee, Bezirk Rostock, Kreis Rügen. «Er sprach sehr laut und buchstabierte die Adresse.

«Ja, bitte?«, antwortete der Mann, und in diesem Moment wusste es Ed.

«Rebhuhn?«

«Entschuldigen Sie, ich verstehe Sie nicht. Bitte tragen Sie Ihr Anliegen vor.«

«Rebhuhn, du Schwein!«

«Hallo, Teilnehmer?«

Ein Klacken und das Besetztzeichen ertönte, es dröhnte in Eds Ohr. Krusos Arm fuhr kraftlos durch die Luft und stürzte ab.»Die Verräter sind jetzt überall, auch im Telefon. Hören alles mit, die Finsterlinge. Auch das Meer ist ein schlimmer Verräter, Ed, wusstest du das? Welle, welle, manche Stunde!«

Scheinbar wahllos zählte Kruso Orte auf, die er» Orte der Wurzeln «nannte, Plauen, Gotha, Pécs, Brünn, Krakau, Kursk, Pawlodar, Karaganda …

Draußen wurde es dunkel.

Ed machte Licht und riss den Stecker des Bahnheizkörpers aus der Dose. Er holte ein Glas Wasser vom Tresen und gab Kruso zu trinken.

«Das Wasser ist der schlimmste Verräter, Ed. Ich meine, das tiefe Wasser, wusstest du das?«

Er hustete wieder. Sein Zustand verschlechterte sich. Er hatte seltsame Flecken auf der Haut und Augenringe, die sich bis auf das Gebiet der Wangen zogen mit ihren Schattenhöfen.

«Schade, sehr schade, alte Zwiebel«, murmelte Kruso.

Der Weg zum Tresen schien plötzlich weit, und das dumpfe Geräusch seiner Schritte auf den Dielen genügte Ed nicht mehr, ihm irgendein Vertrauen einzuflößen. Die Räume lösten sich langsam ab, die Saison war vorbei.

«Ed. Ed? Der Dornbusch brennt.«

Eine Weile saß Ed noch am Schreibtisch, dann kroch er zu Kruso ins Bett. Sein Gefährte hatte sich abgewendet und seine Stirn gegen die Wand gepresst. Er stöhnte und ächzte, bis ihn die Erschöpfung in den Schlaf zog. Gegen Mitternacht ein neuer Anfall von Schüttelfrost. Zitternd plapperte Kruso kaum verständliche Dinge. Es ging um seine Mutter, die Hochseilartistin, und um die drei Bären auf seinem Mischka-Schokoladenpapier. Das Russenstädtchen Nr. 7 tauchte auf und jemand, den Kruso den» Brunnenmeister «nannte, den Brunnenmeister von Sanssouci.

«Der Keim der wahren Freiheit, Ed, gedeiht in Unfreiheit.«

Er wurde immer leiser. Am Ende war alles nur noch gehaucht, ein stotterndes Atmen.

Umständlich versuchte Ed, seinem Gefährten etwas Wärme einzuflößen, aber der Schüttelfrost war einfach zu stark. Manchmal schien es, als wolle Kruso ihn zurückstoßen, abschütteln. Dann umfasste Ed ihn noch fester und summte das Gedicht.»Abend kehrt in alten Garten; Sonjas Leben, blaue Stille. Wilder Vögel Wanderfahrten …«

Irgendwann kehrte Ruhe ein. Nur das dumpfe Vibrato seiner Stirn an der Wand, als dürfe er nicht aufhören damit, sein SOS in die Grundmauern des Klausners zu morsen.

Ed beschloss, Losch am Morgen mit der Karre zum Hafen zu fahren, zum ersten Schiff. Von dort bis Stralsund, dann ins Krankenhaus. Vielleicht würde es sogar möglich sein, die Karre bis ins Kabuff zu rangieren, direkt ans Bett. So schaffe ich das, dachte Ed. Er legte seine Lippen auf Krusos schweißnassen Rücken. Dann sein Ohr. Dann wieder seine Lippen. Für eine Sekunde der Geruch von Weihnachtsgebäck. Etwas mit Zimt. Eds Schultern zuckten, dann brach es über ihn herein. Ohne einen einzigen Laut von sich zu geben, ließ er seinen Tränen freien Lauf.



Heimholung

Der Personaltisch war belagert von Koffern und Reisetaschen, die laut diskutierten, über Gott und die Welt und die neuen Reiseziele. Alle waren sehr aufgeregt, denn niemand konnte wirklich wissen, was ihn da draußen erwarten würde, auf Møn, Hawaii, in Shanghai. Sogar Eds abgewetzte Kunstledertasche ergriff das Wort. Bis Gevatter Tod die Gaststube betrat und alles verstummte.

«Das ist nicht der Tod«, flüsterte Krombachs Hartschalenkoffer,»das ist nur … der Fährmann.«

Nur der Fährmann, träumte Ed.

Ein Stern kam auf ihn zu, ein Stern aus dem Dunkel.

Bis Ed begriffen hatte, was geschah, war alles wie gefügt aus schnellen Atemzügen. Der große Umriss neben dem Bett. Ein Mantel, der sich öffnete. Ein Koppelschloss mit Sowjetstern. Es schlug gegen das Glas auf dem Tisch und das Glas verwandelte sich: ein leise tönender Gral, voller Abschiedsmusik.

«Wir haben gewartet, die ganze Nacht, ich bin so froh, dass Sie … Wir haben gewartet und …«

Gegen das Licht der Schreibtischlampe konnte Ed zunächst nur die untere Hälfte der großen Gestalt genauer erkennen. Ein grauköpfiger Hüne, ein knielanger Mantel, der ihm nach Art der Kommandeure über die Schultern hing. Halb geblendet, heftete Ed seinen Blick auf die breiten, konturlosen Schulterstücke. Die leeren Ärmel und der leuchtend rote Streifen am Saum des Mantels, ohne Zweifel: ein General. Wie gelähmt lag er noch immer unter der Decke. Im Schlaf hatte Kruso sich gedreht und seinen rechten Arm um Eds Schultern geschlungen — als wollte er ihn halten oder beschützen.

Ein zweiter Soldat in Matrosenuniform betrat das Zimmer und schlug, ohne zu zögern, die Decke zurück. Krusos Griff wurde fester, aber das nützte nichts. Umstandslos zog der Matrose Ed aus dem Bett. Dann begann er Kruso zu untersuchen, der schwer atmete, aber nicht mehr zu frieren schien.

Als wäre auch Ed jetzt ein Teil der Truppe, nahm er Aufstellung neben dem Bett und versuchte, noch einmal seine Meldung zu machen:»Wir haben gewartet, die ganze Nacht, das Telefon war tot …«In diesem Moment überschwemmte ihn die Scham. Sein entblößter Gefährte, und er, halbnackt, ein Häuflein Elend, die Hände an der Hosennaht, wenn es Hosen gegeben hätte.

Auch der General schien verlegen; er griff nach der Flasche auf dem Tisch und las das Etikett.

«Ex-le-päng?«

Seine Stimme: ein dunkles Rollgeräusch.

«Sechzig Prozent Alkohol«, stieß Ed hervor, erleichtert über die Gelegenheit.

«Ich habe Losch, ich meine …, ich habe Alexander damit eingerieben, er hatte Schüttelfrost, er ist — verletzt.«

Ed deutete auf Kruso und berührte die Stelle an seinem eigenen Hinterkopf. Zerstreut versenkte der General die halbvolle Flasche in seiner Manteltasche. Mit einer halben Verbeugung deutete Ed auf das Heer von Reserveflaschen im Schrank, aber der große Mann bemerkte sein Angebot nicht, oder er sah darüber hinweg.

Sein ganzer Auftritt wirkte feierlich, nicht wie ein Notkommando. Für Befehle genügten die Augen. Ein kleiner brauner Riemen zog sich quer über seine Brust, von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte, wo Ed die Waffe vermutete.

Kruso stöhnte, und der Soldat machte ein Zeichen. Er hatte einen Port gelegt und einen Tropf angeschlossen, den er jetzt über dem Lager hin und her schwenkte, als gehöre das zur Behandlung. Erschrocken wich Ed zurück, aber der General, der einen schnellen Schritt gerade auf ihn zu gemacht hatte, griff nur nach dem Foto auf dem Stuhl. Dem Fetzen.

Das Gesicht des Generals. Ed erkannte Krusos große verletzliche Wangen, ihre endlose Fläche, grau und verdorrt, kasachische Steppe, darin ein Kamel, darauf Sonja und Kruso, die Geschwister, unterwegs zum Aralsee. Aber sie erreichten ihn nie, denn mit jedem Schritt wich auch das Ufer des Sees ein Stück zurück.

Was ist geschehen, damals? fragte Ed.

Die Frage war zu groß für Krombachs Kabuff. Obwohl sie nur in Gedanken gestellt worden war, überschwemmte sie augenblicklich das Zimmer, weshalb sich der General ruckartig entfernte. Das Foto hatte er zurückgelegt. Der Sanitäter, dem es gelungen war, die Infusion an einem Griff des Büroschranks zu befestigen, folgte ihm.

Im Gastraum gab es noch mehr Soldaten. Sowjetmatrosen. Sie hockten müde an verschiedenen Tischen, als warteten sie schon lange auf ihre Bestellung. Als der General erschien, sprangen sie auf und verbreiteten eine Wolke säuerlichen Geruchs. Auf Kommando begannen sie, dem Personaltisch die Beine abzuschlagen. Der Sanitäter sammelte Tischdecken ein. Dabei achtete er darauf, dass kein Aschenbecher zu Boden fiel. Die Schläge gegen den Tisch wurden gezielt, fast sorgsam ausgeführt, weshalb Ed davon ausging, dass es sich nicht um Vergeltung oder den Beginn eines Rachefeldzugs handelte.

8. November, SA 7.09 Uhr, SU 16.18 Uhr. So wäre es im Hermes-Taschenkalender zu lesen gewesen, aber sein provisorisches Tagebuch benutzte Ed schon lange nicht mehr, und wirklich hell wurde es auch nicht an diesem Tag. Wie letzte vergessene Gäste eines endlosen Herbstes hockten der Fregattenkapitän und zwei seiner Soldaten auf der Terrasse. Als der General erschien, sprang Vosskamp auf und machte seine Ehrenbezeigung. Einer der Soldaten schaffte es nicht, seine Waffe über die Schulter zu bugsieren, weshalb er sie gerade vor die Brust hielt und in dieser Haltung erstarrte. Der General tippte an sein Mützenschild und rief etwas auf Russisch über die Biergartentische.»Pletschom ka pletschu«, brüllte der Fregattenkapitän zurück, was die wenigen Vögel, die sich dieses Morgens angenommen hatten, augenblicklich zum Verstummen brachte. Vosskamp salutierte noch einmal, in den Rücken des Generals, sah dabei aber bereits zu Edgar hin. Ed empfing Unverständnis, aber auch Güte. Der Blick eines entsetzten Elternteils.

Pletschom ka pletschu.

Der Sanitäter hatte Kruso mit Tischdecken auf die Platte des Personaltischs gebunden. Ihre großblumigen Muster waren mit Speisekrusten und Bierflecken übersät, dazwischen, schwarzumrandet, die Brandlöcher von Zigarettenglut. Für einen Moment hatte Ed sie für Einschüsse gehalten.

Der General selbst war es jetzt, der den Tropf in der Luft hielt (das Leben), während sie die Treppe zum Meer hinunterstiegen. Durch Gesten seiner freien Hand dirigierte er die Träger, die verlangsamt und im Gleichschritt gingen, wie üblich beim Begräbnis eines teuren Toten. Der Sanitäter war für einige Meter vorausgeeilt, um die zahlreichen lockeren oder fehlenden Stufen der Klausnertreppe auszurufen. Und am Ende Ed, wie ein nutzloses Kind, das der Prozession hinterherspringt, ohne zu wissen, was wirklich geschieht. Immerhin: Er trug die Tasche, die Krankenhaustasche. Immerhin: Er verstand diese Tasche. Sieben Sachen, nicht so schwer. Bisher hatte niemand danach gefragt.

Wie ein Pharao auf seiner letzten Reise schwebte Kruso zwischen den Soldaten, mit den Füßen voran. Bestimmte Abschnitte der Treppe zwangen die Träger, die Platte des Personaltischs ausgesprochen steil zu stellen, als wollten sie dem Meer das Opfer oder dem Opfer das Meer noch einmal zeigen, den Horizont bis Dänemark, das unsichtbar im Nebel schwebte, oder das Wasser der Ostsee, das träge und novemberkalt hinter den Sanddornbüschen stand, von denen die Steilküstentreppe mannshoch überwuchert war. Ja, für einen Moment schien es Ed, als hielten sie der Ostsee einen Heiligen entgegen, einen Märtyrer, dessen Körper sie in einem nächsten Schritt den Fluten anvertrauen würden, zur Besänftigung der Stürme, zur Verwirrung der Patrouillenboote und schließlich: zum Zeichen der Freiheit und zum Beweis, dass sie bereits hier, im Diesseits, zu erlangen war und nicht erst auf Møn, Hawaii oder sonstwo — ja, Kruso musste geopfert werden, geopfert für die Zukunft der Insel …

Ed wusste nicht, wie dieser abstoßende Irrsinn in seinen Kopf geraten konnte. Er fasste sich an die Stirn. Vielleicht hatte er über Nacht zu viel Exlepäng eingeatmet, zu lange an Krusos Nacken gerochen, vielleicht war er einfach verrückt geworden.

«Losch!«

Noch immer hielten sie Kruso der Ostsee entgegen.

Letzter seiner Art, letzter lebender Vertreter, Vorsicht, Vorsicht! zischelte der Irrsinn jetzt den Stufen zu, wo in schöner Regelmäßigkeit Eds Füße auftauchten, Füße und Stufen, in endloser Zahl, aber nein, natürlich nicht, er hatte sie gezählt, mehr als einmal gezählt, in den Mittagspausen, vor der Hauptsaison, schwitzend, atemlos, zweihundertvierundneunzig Mal Vorsicht, zischelte es in Ed.

Auf dem letzten Stück der Treppe, jenem, das in der Luft hing über dem Strand, entglitt der Verletzte den Soldaten um ein Haar. Ed konnte die Sowjetmuskeln zittern sehen, die Anspannung unter den Uniformen, die Hand des Generals in seltsamer Verrenkung, sein fliegender Mantel, momentlang glich er einem großen, lustigen Puppenspieler, an dessen Faden der Personaltisch tanzte und mit ihm die ganze Geschichte dieser endlosen Saison, begleitet vom Tanz vier junger Lakaien in ihren Matrosenkostümen, Kasachen vielleicht, ja, Kasachen wären angebracht, dachte Ed.

Er sah, dass Krusos Augen offen waren — sein großes Gesicht, glatt und weiß, mit ungläubigen Augen; es war ein jungenhaftes und doch bleiernes Gesicht, ein Kindsgesicht mit Friedhofsblick, es war — das Gesicht Georg Trakls. Nur Ed und sein Irrsinn konnten so denken.

Im ersten Moment war kein Boot zu entdecken, nur der Panzerkreuzer, riesig im Nebel, weshalb Ed zunächst glaubte, die Männer würden Kruso mit der Tischplatte aufs Meer hinausschieben, bis an den dunklen Rumpf heran, auf dem die Zahl 141 geschrieben stand. Nie hatte er ein so großes Schiff so nah vor der Küste gesehen. Am Bug ragte es hoch empor, das Heck hingegen schien kaum über Wasser zu liegen. Dazwischen zwei Zyklopenschädel, aus denen ein paar Kanonenrohre ragten, lang und dünn wie Speere. Dann sah er das Beiboot. Es lag nur hundert Meter nördlich, an Eds Badestelle, wo es einen von Steinen halbwegs freien Weg ins Tiefe gab.

Ohne Überlegung hatte Ed einen Fuß auf den Bug gesetzt. Er, wer sonst, gehörte zu Kruso. Zuerst die verschreckten Blicke der Kasachen (er hasste sie in diesem Moment), dann die Hand des Generals auf seiner Schulter. Nicht zur Anerkennung, nicht zum Trost.

Was von da an geschah, nahm Ed nur noch in einzelnen Bildern wahr. Der schwebende Tropf. Der stählerne Nachen. Die Übergabe der Infusion. Das dunkle, hohle Geräusch der Personaltischplatte auf den Ruderbänken. Der Sanitäter, der ihm wortlos die Tasche aus der Hand nahm. Die glänzenden Schuhe des Generals im Sand, halb eingesunken. Eine Welle und die dunklen, nassen Ränder seiner Hosenbeine. Die nassen Ränder seiner sowjetischen Hosenbeine — in diesem Bild blieb die Geschichte stehen, es enthielt die ganze Geschichte.

Die Hand des Generals hatte ihn festgenagelt am Strand. Er spürte sie noch, als das Beiboot vom Mutterschiff eingeholt wurde und der Diesel aufheulte und der Panzerkreuzer oder was immer diese Festung auf dem Wasser darstellen sollte, langsam Fahrt aufnahm. Sein Körper wurde schwer. Um seiner Starre irgendeinen Ausdruck zu geben, senkte Ed den Blick. Steine, Algen, fauliges Haar. Die Schwere floss jetzt von überall her auf ihn zu, und auch das Hämmern des Diesels ließ nicht nach, es endete nicht.

Dann der Schuss.

Der verrückte Junge im Hafen, mit offenem Mund und erhobenem Arm, dann der Schuss. Der Kutscher Mäcki im Stall, mit einer Flasche und dem Bärenpferd, dann der Schuss. Das Tresenehepaar, mit ihren Koffern und Taschen zwischen den Büschen, mitten im Rätsel der Grenze, dann der Schuss. Chris? Rolf? Speiche? Der Schuss. Koch-Mike mit seiner Familie? Und Rimbaud irgendwo, weder lesend noch schreibend? Dann der Schuss. Mona und Cavallo auf dem Weg Richtung Süden — Rom, Neapel, die Meeresstation, dann der Schuss.

Wie getroffen, hatte sich Ed zu Boden geworfen und sein Gesicht in den Sand gepresst. Für Sekunden stand die Brandung still, die Landschaft wie vom Donner gerührt. Auch der General war verrückt geworden. Die Bahn des Geschosses musste weit über ihm verlaufen sein, weit über dem Kliff, dem Land — der ganze hermetische Raum, angefüllt vom Widerhall. Der ganze verrottete Raum, den sie behausten.

Ein neuer Schuss und sein Echo in der Bucht.

Dann Schuss für Schuss, in respektvoller Folge. Als ahmten die Kanonen den ersterbenden Herzschlag eines Riesen nach. Dazwischen leises Pfeifen, wie von Düsenfliegern, die weit oben, fast im Weltall flogen. Nur Einschläge keine; keine Explosionen.

Mit jedem Donnerschlag wurde der Himmel ein Stück angehoben. Luft strömte ein. Ein Äther von berauschender Frische und Reinheit. Ed schmeckte den Sand; ein paar Algenhaare klebten in seinem Gesicht, und er spürte, wie sein verkrampftes Herz sich lösen wollte. Einundzwanzig Donnerschläge. Vielleicht verlor er den Verstand. Er kapitulierte, endlich, er kicherte in den Sand: Salut, Salut!

Schiffbruch, Salut! Zwei Klappen, Salut! Abwasch, Salut!

Salut! Salut!

Er hatte verstanden. Es war das Signal.

Das alles konnte untergehen.



Auferstehung

9. November. Er bediente im Gastraum, nicht durch die Klappen, die Klappen blieben verriegelt. Er hatte provisorisch Ordnung geschaffen, den Ofen geheizt und Kaffee gekocht. Er tat das alles sehr langsam, eins nach dem anderen, jede Bewegung für sich. Er machte eine provisorische Soljanka, dazu Mischbrot. Teile seines Körpers hatten Mühe, aus ihrer Schockstarre zurück in den üblichen Ablauf zu finden, weshalb er sich etwas breitbeinig und steif zwischen Tresen und Tischen hin und her schob. Es gab etwas, das mitging in ihm, das seine Augen benutzte und seine Ohren, bei allem, was er tat, etwas, das jetzt sehr vorsichtig und gut behandelt werden musste.

Sein erster Tag brachte sieben Gäste. Stille, schweigsame Inselliebhaber, Einzelgänger, die ihre Hände am Kaffee wärmten und durch die grobe Gardine auf die Terrasse starrten, während Ed seine Tassen und Gläser spülte oder regungslos am Tresen stand, bei laufendem Wasser. Das leise Strömen tat ihm gut, dazu das zarte Schnorcheln und Flöten des kleinen Wasserfalls im Überlauf. Richtete doch einmal jemand das Wort an ihn, erwiderte Ed» Genau!«oder» Warum nicht?«, als stünde auch er mitten im Leben. Es gab sogar einen Moment, in dem er alles vergaß und sich vorstellte, selbst eine Gaststätte zu führen; die Kontrollkommission aus Berlin-Schweineöde, vielleicht tauchte sie niemals auf …

Sein letzter Gast war eine junge Frau, die nach Kruso fragte, auf jene Weise, mit der die Schiffbrüchigen sich vor Wochen noch zu Dutzenden nach dem König der Insel erkundigt hatten. Sie war sehr klein und hatte langes braunes Haar, feucht vom Regen. Für zwei Sekunden sah Ed sie in seinem Zimmer, ihr Haar in seinem Kissen. Dann wies er sie schroff auf das Ende der Saison hin. November — das Ende jeder Saison, wie er betonte, was überflüssig war.

Überflüssig gewesen war auch, die kleine Frau anzuschreien. Er hieß nicht Rimbaud. Sein Schmerz, seine Trauer — der ganze Verlust. Er schämte sich. Er dachte an die letzte Schiffbrüchige in seinem Zimmer, eine Frau namens B., die in den Nächten vor dem Tag der Insel, Tag der Parade, Tag des Anfangs vom Ende, bei ihm geschlafen hatte. Sie war mindestens vierzig, vielleicht sogar älter gewesen. Kaum ein Satz, zu dem B. nicht Rauch ausblies, sie rauchte einfach ununterbrochen. Sie sagte, sie wolle nicht mehr das Mädchen für alles sein, andererseits sei es auch schön, das Mädchen für alles zu sein. Sie redete und zitierte Losch:»Aufgegebene und wertvolle Menschen. Erleuchtete und Finsterlinge. «Sie hatte etwas Wegwerfendes an sich, und jetzt war sie dabei, alles wegzuwerfen. Ed schlief auf dem Boden, B. im Bett. Sie schlief, wachte auf, redete, rauchte und schlief wieder. Irgendwann hatte Ed die Vorstellung, B.s rauchigen Mund zu schmecken. Selbst im Dunkeln konnte er ihre schmale Hakennase erkennen und den langen steilen Nacken, fast ohne Übergang zum Hinterkopf, als gäbe es keinen Hinterkopf, nur langen endlosen Nacken, der immerzu flüsterte: Leg deine Hand dorthin, versuch doch mal, die flache Hand dort aufzulegen. B. lachte über Kruso. Sie nannte ihn» Majestät, Fürst und Beherrscher der ganzen Insel«. Sie nannte ihn auch einen Lumpensammler und verglich die Vergabe mit dem letzten Bus nach Hause, aber ohne, dass noch irgendjemand genauer sagen könnte, wo oder was das eigentlich sei — daheim. Pension zur Freiheit? Fremdenheim für verlorene Seelen? Solche Dinge plapperte sie in einem fort und blies Rauch aus. Alles war ein Spiel für sie, ein Intermezzo. Sie sagte, sie hätte nicht vor, für irgendjemanden Schmuck zu fabrizieren, und sie verweigerte die heilige Suppe. Sie sagte:»Ich esse meine Suppe nicht«, und lachte. Sie hätte ihre eigenen Methoden, sich zu berauschen, ohne Alchemie, und außerdem stinke die heilige Suppe nach Kot. Das kränkte Ed, obwohl er zugeben musste, dass die Suppe ungut roch. Ed hielt B. für verzweifelt. Zwölf Jahre verheiratet, seit drei Monaten getrennt. Es sei von ihr ausgegangen, sagte sie. Am Tag der Trennung hätte sie nicht schlafen können, vor Aufregung und Freude. Sie verstünden sich noch gut, sagte sie, sie träfen sich noch, ab und zu. Ed war schon ganz steif vor Müdigkeit, steif. Zwölf Jahre. Ihr Mann sei eifersüchtig, hätte aber schon etwas anderes am Laufen. Weil sie immer so ekstatisch tanze, habe man sie schon öfter für verrückt gehalten, besonders bei den Weihnachtsfeiern im Betrieb. Aber sie sei nicht verrückt, kein bisschen, nur käme sie inzwischen nicht mehr weiter. Und jetzt sei nichts anderes mehr denkbar. Hier hätte sie nichts mehr verloren. Hier gäbe es nur noch diese Insel. Der letzte Ort.

Am Abend verriegelte Ed alle Außentüren und zog die Vorhänge zu. Er beschriftete ein Stück Pappe mit Koch-Mikes Fettstift und klemmte sie hinter die Scheibe der Getränkeklappe: WEGEN PERSONALAUSFALL GESCHLOSSEN. Den Aufgang zur Dienstbotentreppe blockierte er mit Monikas Bügelbrett.

Niemand mehr da.

Er ging in sein Zimmer, sammelte seine Sachen ein und brachte alles nach unten, in Krombachs Kontor, wo er von nun an schlafen wollte, in einer Wolke Exlepäng, im Innersten des Klausners. Er arretierte die Schwenktür zur Küche und ließ die Tür zum Kabuff geöffnet; so hatte er auch nachts ein paar Meter ungestörte Sicht.

Ich habe dich kommen sehen. Das waren Krusos Worte gewesen, am Abend, am Strand, nach der Taufe der Esskaas, kurz vor dem Kuss — er war nur geträumt, nur der Traum eines anderen gewesen. Ein Freitag wie ihn Crusoe erblickt hatte im Schlaf, in seiner Sehnsucht.

Das Bett roch nach Schweiß. Er rollte sich ein und starrte in die Dunkelheit. Er war nur geträumt. Aber jetzt hatten sie den Träumer abtransportiert, und also konnte auch Ed nicht mehr wirklich vorhanden sein.

Am nächsten Morgen weckten ihn Stimmen. Als er die Gaststube betrat, verstummten sie, aber beim Frühstück waren sie wieder da. Es kam von den Fotos der früheren Besatzungen her. Nichts, was ihm Angst machen musste. Keine Drohungen, keine Pöbeleien, nur einfache, gutgemeinte Ratschläge, wie:»Mach keinen Blödsinn, Kleiner!«(von ganz oben rechts, das Jahr war kaum zu erkennen, 1930 vielleicht), oder» Hau lieber ab hier, du Spund«(1977), oder» Kümmer dich endlich um Viola, Mensch«(1984). Es klang, als hätte das der tote Koch gesagt, dessen Eigentum Viola einmal gewesen war. Ein Hüne in frischweißer Tracht, der im Bild ganz links stand und gerade noch nicht wusste, dass er bald ertrinken würde. Aber inzwischen hatte er alles erfahren, dachte Ed, er hatte all die Besatzungen nach ihm gesehen, und jetzt sah er Ed, den letzten 89er, der sich nicht um sein Radio kümmerte.

Ed schmierte sich eine Scheibe Mischbrot; sie hatten sehr viel davon eingefroren. Die Zeit der Brötchen war vorbei. Seinen Brotaufstrich säbelte er von einem Fünfkiloblock Mehrfruchtmarmelade, groß genug für drei oder vier Winter. Lebensmittel waren nicht sein Problem, die Versorgung war sicher. Er konnte diese Stellung ewig halten. Sein Versprechen halten.

Inzwischen saß er wieder auf seinem alten Platz. Er hatte einen anderen Tisch an die Stelle des Personaltischs gerückt, und er hatte die Stühle wieder herangezogen. Zwölf Stühle — ein Mann Besatzung. Ein Raum voller Abwesenheit.

Er brachte sein Geschirr in den Abwasch und flüsterte ein paar Zeilen ins Becken.»Mein guter Kruso. Mein lieber Losch.«

Die Liste der Dinge, die erledigt werden mussten, fiel ihm ein. Die Kasachen hatten den Kassenblock gestohlen. Nein, er lag auf dem Fensterbrett hinter ihm, daneben sein Kugelschreiber und der Aschenbecher, säuberlich abgeräumt. Die guten Kasachen. Er las die Liste, aber es war keine Liste. Und nicht von ihm. Aber es war seine Schrift. Er las. Drei Blätter Kassenblock, verfasst im Ton Krusos, nicht von Kruso. Er las.

Er ging zurück in den Abwasch und ließ Wasser ein. Er holte Teller heran, Besteck und Gläser und begann, mit den Händen über dem Grund des Beckens zu kreisen.»Du Guter. Du Lieber.«

Nach einer Weile trocknete er die Hände am Römer und holte das große Notizbuch aus seinem Zimmer. Er betrachtete das blassblaue Karo der Notizbuchseiten. Das Buch lag übereck, halb bei Krombach, halb bei Monika. Er dreht es mal dort- und mal dahin, mal zu Cavallo, mal zu Koch-Mike und schließlich zu sich selbst.

Schaut mal, ein Geschenk von G.

Er blätterte zurück und fuhr mit der flachen Hand über die alten Notizen, er streichelte sie. Er streichelte G. Er konnte jetzt ganz einfach an sie denken. Er konnte die Gravur des Kugelschreibers spüren an seinen aufgelösten Fingerspitzen, wie die Schrift sich eingedrückt hatte in das raue, holzhaltige Papier. Sie war gegangen, und er dachte es wortwörtlich, gegangen. Dabei sah er ihre kurzen schnellen Schritte, quer über die Gleise. Er riss die drei beschriebenen Blättchen vom Kassenblock und versteckte sie sorgsam zwischen den Seiten.»Du kannst meinen Ton übernehmen.«

Keiner mehr da. Er stand auf und zog sich seine Thälmannjacke über, das erste Mal seit seiner Ankunft trug er sie wieder, es war kalt genug dafür. Er vergewisserte sich, dass niemand draußen vor der Tür stand oder im Hof, irgendein Wanderer, der nicht bereit wäre, sein Geschlossen-Schild zu respektieren. Er glich jetzt einem Einsiedler, voller Argwohn. Ein heftiger Wind fuhr ihm ins Gesicht. Er zögerte, dann nahm er den Pfad zur Steilküstentreppe.

Das Gehen tat ihm gut. Das Rauschen wurde stärker, je tiefer er stieg, die Brandung dröhnte, und etwas hatte zu jaulen begonnen, erst leise, dann lauter, ein an- und abschwellendes Pfeifen, als wären die Geschosse des Generals in eine Umlaufbahn eingebogen. Krusos Flaschen, dachte Ed. Dat piept. Dat piept däm Mullwurm in'n Dötz.

Irgendwann konnte er nichts mehr denken, er konnte nur gehen. Er griff sich an die Schläfe, als müsse er sich an etwas erinnern oder als grüße er das Meer auf jene alte, kaum noch gebräuchliche Weise. Das endlose Rauschen — es drang jetzt ohne weiteres in ihn ein und wollte sein Gedächtnis löschen.»Wir ge-hen am großen Meer entlang, bis-zum-Son-nen-untergang …«Mutter, Vater und Ed-das-Kind in ihrer Mitte, ihre hellen, leuchtenden Gesichter und ihr Gleichschritt durch den Sand von Göhren auf Rügen — die einzige Erinnerung, die zu seinem Beistand auftauchte.

Plötzlich endete das Gehen. Der Strand war verschwunden. Stattdessen ein Berg aus Lehm, eine riesige Lawine, die sich weit ins Meer gewälzt hatte. Auf über hundert Metern war das Ufer abgebrochen. Ein paar mannshohe Findlinge ragten heraus wie die Schädel verschütteter Riesen, dazwischen entwurzeltes Buschwerk und Bäume. Ed bemerkte das Delta vor seinen Füßen. Nicht einmal andeutungsweise war zu erkennen, wo sein Fuchs begraben lag.

Alter Racker.

Alterchen.

Ed sah, wie sein Fuchs die Mappe beschützte mit seinem ledrigen Leib, und er hörte, was die Gedichte ihm flüsterten dabei, leise, tief unter der Erde. Er verstand jedes Wort und wiederholte es, und bald zog seine Rede weit über die Enden der Zeilen hinaus, nach draußen ins Rauschen. Er deklamierte jetzt laut gegen die Brandung, er wurde übermütig und wäre beinah gestürzt; er verstummte erschrocken und begriff: Das Mindeste, das Einzige, was jetzt zu tun übrig war. Für Losch. Für Kruso.

Drei Tage später, am Abend des 12. November, war sein Notizbuch gefüllt, einzeilig, jedes Rechenkästchen eine Zeile, vollgeschrieben. Er hatte nicht geschlafen, er hatte Tag und Nacht gearbeitet. Manchmal am Personaltisch, öfter aber im Abwasch, am Becken fürs Grobe oder am Becken fürs Besteck, immer im Wechsel, mal auf seiner, mal auf Krusos Seite. ›Eigentlich möchtest du ganz versinken dabei, abtauchen, aber inzwischen genügt dir das kleine Kreisen deiner Hände im Wasser … Ein einziger Verlust, so kommt es dir vor. Aber nichts ist wirklich verloren und niemand, Ed, niemand. Du sprichst einfach weiter leise vor dich hin, mit deiner Stimme, bei den Worten selber klopfst du an, mit deiner Stimme. Hunderte Male, ins eigene Ohr. Und irgendwann kannst du es hören.‹

Am Ende hatte Ed den gesamten Bestand an Besteck, Töpfen, Gläsern und Geschirr noch einmal durchgespült. Seine Hände waren aufgelöst, die Finger einer Wasserleiche. ›Ich muss noch den Band zusammenstellen. Es gibt nichts Schöneres, als einen Band zusammenzustellen, weißt du das Ed?‹

Er stieg durch die Klappe hinter dem Tresen und holte einen Stapel Klausner-Kopfbögen herauf. Er nahm Krombachs» Torpedo «aus dem Schrank und begann. Die ganze Nacht saß er an der Maschine. Bestimmte Buchstaben hatten blutige Mützen. Am Morgen war die Arbeit getan. Vielleicht nicht Wort für Wort und nicht jede Zeile, aber Ed konnte hören, dass es stimmte, er hörte den Ton.»Wir zwei beide«, murmelte Ed.

Das Schreiben hatte ihn leer gemacht. Ein Gefühl, als gäbe es nichts mehr zu tun im Leben. Ohne weiteres kroch er in sein Bett und fiel in tiefen, traumlosen Schlaf.

Am Abend weckte ihn Gekläff. Einer von Vosskamps Hunden. Er bellte mechanisch, ohne nachzulassen. Vielleicht ein Fuchs am Sicherheitszaun, dachte Ed, oder Wildschweine. Vielleicht sind nur noch die Tiere da, die Tiere und ich. Seltsamerweise beruhigte ihn der Gedanke. Er rollte sich ein und wollte zurück in den Schlaf, aber es klopfte.

Die Kontrollkommission.

Eine Weile blieb Ed still und lauschte in den Regen. Keiner mehr da.

Dann klopfte es wieder.

Ed schaltete die Außenbeleuchtung ein und spähte an der Gardine vorbei nach draußen. Vor der Tür stand der gute Soldat. Er trug seine Ausgangsuniform und hatte keine Waffe dabei.

«Machs gut, Ed, alles Gute«, sagte der gute Soldat.

«Was ist los?«, fragte Ed.

«Nur falls du morgen nicht mehr da bist, sage ich machs gut. Also, machs gut.«

Ed wusste nicht, was er erwidern sollte, und legte seine flache Hand auf die Tür.

«Machs gut«, murmelte er schließlich und» es tut mir leid«, ohne zu wissen, weshalb. Der gute Soldat machte kehrt und verschwand in der Nacht. Ed sah ihm nach. Er nahm die Abkürzung, den kleinen Pfad durch die Swantewitschlucht, direkt zur Kaserne.

«Machs gut.«

Eine Weile blieb er noch an der Tür und lauschte.

Dann tappte er in den Abwasch und holte sich die Flasche mit der Creme. Von seinen Fingerkuppen löste sich Haut, und zwei Nagelbetten hatten sich entzündet, winzige rötliche Wülste. Vielleicht bin ich auch zu großzügig gewesen mit der Creme, dachte Ed. Er rieb sich die schlierige Schmiere zwischen die Finger und klatschte ein wenig in die Hände. Sofort trat die Stille hervor, weshalb das Klatschen Überwindung zu kosten begann. Die Stille verlangte die Stille, so war es,»und so ist es immer gewesen«, murmelte Ed. Andererseits tat das Klatschen gut. Es wärmte seine Hände, in den Fingern summte das Blut, das Klatschen machte Mut. Und so klatschte er weiter, während er ziellos durch die Finsternis des Klausners streifte — wie ein verdammtes Gespenst, dachte Ed, das mit seinen Ketten rasselt. Er klatschte und sah Ettenburg, den Urklausner, dessen Asche ins Meer geschüttet worden war, Ettenburg, der Wiedergänger. Er streifte die Steilküste entlang in seinem Mönchsgewand; ab und zu rammte er verzweifelt einen Fuß in den Sand, und ein großes Stück Land brach ab und rutschte ins Meer. Es war seine Rache; nach und nach würde auch die Insel im Meer verschwinden.

Ed stieg die Dienstbotentreppe nach oben. Der Wind hatte aufgefrischt, Krusos Gardine bewegte sich. Er versuchte, seine zerstörten Fingerspitzen in ihre groben Maschen zu stecken, aber auch die Gardine wollte sich nicht beruhigen lassen. Am Abend der letzten Vergabe war Ed in Krusos Zimmer geschlichen und hatte nach unten auf die Terrasse geschaut. Die Kutte, die er Kruso umgelegt hatte, war im Regen zu einem Spiegel geschmolzen, durch den ab und zu ein Rucken ging, ein Schütteln, eine Art Stottern mit dem Rücken, ein kaltes, nasses, einsames Stottern. Das hatte Ed wehgetan, aber dann war er doch eingeschlafen in seinem Bett. Dabei hatte er sich nur einen Moment ausruhen wollen, nur die Haare getrocknet, die Hände eingecremt …

Zögernd begann er wieder mit dem Klatschen. Er gab acht, nicht noch einmal so nah ans Fenster zu treten.

Keiner mehr da.

Keiner mehr da.

Als er wieder nach unten kam, fiel sein Blick auf das Manuskript. Krusos Band. Sein Buch. Ed lächelte ihm zu, quer durch die Gaststube. Auf irgendeine Weise hatte es die Stelle der alten Besatzung eingenommen, die Stelle ihrer versammelten Abwesenheit, ihres ganzen alten Lebens, obwohl es, genau besehen, nicht mehr war als ein kleiner Stapel Papier, Schrift mit blutigen Mützen, sauber auf Eck gelegt. Plötzlich hatte Ed eine Vergangenheit.

Das Tor zur Kaserne war nicht verriegelt. Die Hundelaufanlage war leer. Keine Wachen, keine Hunde, nur Hundegeruch, Geruch nach Hundezwinger und faulem Fleisch. In der Wachbaracke brannte Licht, aber auch dort war niemand. Zögernd betrat Ed das Gelände. Friedhofsruhe in den Garagen. Ein Robur, eine Gulaschkanone, ein Militärmotorrad und die Fahrräder der Fahrradstreife. Daneben Kohleeimer und Kohlesäcke, wie bereitgestellt für ihre Entdeckung durch eine spätere Zivilisation.

Dann hörte er es.

Es kam aus der Erde, aus der Moräne zu Füßen des Wachturms. Er umkreiste den kleinen, fast kegelförmigen Berg und fand einen von Tarnnetzen überspannten Einstieg. Zwei Türen voller Stahlhebel, entriegelt, und eine dritte, verschlossene Tür mit einem kleinen quadratischen Fenster auf Augenhöhe.

«Draußen auf der Mole schauten sie aufs weite Meer, draußen auf der Mole warn die Herzen sehnsuchtsschwer …«

Ähnlich einer Hausbar oder einem Hobbykeller war der Bunker bis zur Decke ausgekleidet mit Holz — schmale, endlos glattgeschliffene und dick lackierte Brettchen, die sich an den Längsseiten des Raums zu bauernstubenähnlichen Bänken und an der Stirnseite zu einem extra überdachten, baudenähnlichen Tresen auswuchsen. Im Tresenregal erkannte Ed den grünschimmernden Bildschirm eines Fernsehers; er war ausgeschaltet. Cola-Bar stand über dem Ausschank, mit verzierter Schrift ins Holz gebrannt. Daneben Bierkrüge aus Wäscheklammern und eine Reihe von Laubsägearbeiten, Schwibbögen und erzgebirgische Weihnachtsmotive aus Tannen und Tieren, gehüllt in dichten Zigarettennebel.

«Draußen an der Mole …«

Nur zwei Sekunden, aber Ed hatte Vosskamp sofort entdeckt, das weit übers Ohr verschobene Käppi, daneben der gute Soldat, die gesamte Mannschaft der Beobachtungskompanie war im Freizeit-Bunker versammelt, Arm in Arm, und auf dem Boden die Meldehunde, wie erschöpft.

«Draußen an der Mole wartet abends Annegret …«

Zwanzig Mann, schätzte Ed, und hundert Flaschen, Vosskamp dirigierte. Ein Unteroffizier war zur Seite weggesunken und schlief auf einer der Bauernbänke, mit angewinkeltem Arm unter dem Kopf. Das Ganze glich einer Siegesfeier; als wäre ein Krieg zu Ende gegangen.

Einer der Hunde schlug an.

Zwischen den Windflüchtern war ein Blitzen gewesen, ein magisches Licht.»Alo-ahé, alo-ahé, so groß ist die See-hee«, wehte es von der Bunkermoräne herüber. Jemand hatte die Tür geöffnet, Gekläff, das näher rückte, als Ed seine Angst überwand und nach der eisernen Leiter griff.

Der Wachturm sei Tag und Nacht besetzt, so hatte es Losch ihm erklärt, aber der Suchscheinwerfer war ausgeschaltet, und niemand stand am Fernrohr. Jeder Schritt pflanzte ein dunkles Donnergrollen in die Konstruktion, die sanft zu wanken schien.

Schon auf halbem Weg sah Ed das Leuchten. Aber es waren nicht die Lichter der Fregatten, nicht die Lichter der Patrouillenboote. Wo sonst nur Schwärze herrschte, blinkte es in allen Farben — rot, gelb, blau und, ja: grün, grün, überall grün, das grüne Licht …

«Die Toten!«, flüsterte Ed, wahrscheinlich verlor er den Verstand.

Die Toten waren auferstanden — kein anderer Gedanke fand Platz in seinem Schädel, nach allem, was geschehen war.»Seht die Signale«, murmelte Ed, die ganze Bucht war voll davon, auferstanden, zurück vom Grund, von ihrer Flucht, von dort, wo sie gewartet hatten, all die Zeit, auf diesen Tag — das Meer gab seine Toten frei.

«Ahoi«, flüsterte Ed, dann stimmte er ein.

«Alo-ahé, alo-ahé!«

Kruso hatte recht gehabt. Keiner war verloren. Keiner blieb ewig vermisst.

«Ahoi, liebe Sonja! Alo-ahé, kleine G.!«

Kein Wunder, dass es ein Fest war. Kein Wunder, dass sie sangen im Bunker.»Kein Wunder!«, juchzte Ed — ja, er juchzte, und ihm wurde schwarz vor Augen dabei. Er umklammerte die Brüstung, er umarmte den Suchscheinwerfer. Er weinte und hatte es endlich verstanden: Es war kein Wunder.

Er erinnerte sich nicht mehr, was dann geschehen war. Unklar, wie er die Besinnung zurückerlangt, wie er die Leiter bezwungen hatte. Er fand sich am Boden wieder, schon am Tor. Einer der Hunde sprang auf ihn zu. Ed riss einen Arm in die Luft, und ohne einen einzigen Laut fiel das Tier zurück in Dunkelheit; als hätte es nie wirklich existiert.

Er war gestürzt, aufgestanden, weitergerannt. Er hatte den nächstbesten Tisch in die Küche gezerrt, einen Stuhl auf die Platte gestellt und das Butzenglas aus dem Radio gezogen.

Ein schimmliger Geruch entströmte dem Radiokasten. Es genügte, eine der silbrigen Röhren in ihre alte Stellung zu biegen. Viola kam zu sich — sie funktionierte.

«20 Uhr, Deutschlandfunk, die Nachrichten.«

Wie der Darsteller eines komplizierten Kabaretts hockte Ed jetzt dort oben. In der Küche des Klausners, mitten in Koch-Mikes Reich. Eine einsame, komische Figur, aber auch treu und tapfer vielleicht.

Eine Weile wusste Ed nicht, ob er begriff. Aber die Stimme Violas war ihm vertraut, und sie half ihm, wieder ruhig zu atmen.

Alle Grenzen waren offen. Offen seit Tagen.

Загрузка...