Mr. Croup und Mr. Vandemar hatten sich im Keller eines im viktorianischen Stil erbauten Krankenhauses häuslich eingerichtet, das vor zehn Jahren im Zuge gesundheitspolitischer Sparmaßnahmen geschlossen worden war.
Von der Erschließungsgesellschaft, die damals kundgetan hatte, sie wolle das Krankenhaus zu einem einzigartigen Luxus-Apartmentblock umbauen, hatte man, kaum daß das Krankenhaus geschlossen worden war, nichts mehr gehört, und nun stand es da, Jahr für Jahr, grau und leer und unerwünscht, die Fenster vernagelt, die Türen mit Vorhängeschlössern gesichert.
Das Dach war verrottet, und Regen tropfte in das Innere der leeren Räume und Flure und verbreitete Feuchtigkeit und Verfall im Gebäude.
In der Mitte des Krankenhauses befand sich ein Schacht, der ein graues und unfreundliches Licht hereinließ.
Die Kellerwelt unter den leeren Krankenstationen bestand aus über hundert winzigen Räumen, einige leer, andere mit zurückgelassenem Krankenhausbedarf darin. In einem Raum befand sich ein massiger metallener Heizkessel, im nächsten verstopfte Toiletten und Duschen ohne Wasser. Ein Großteil des Kellerfußbodens war von einer dünnen Schicht öligen Regenwassers überzogen, das die Dunkelheit und den Verfall an die gammelige Decke reflektierte.
Wenn man die Krankenhaustreppe hinunterging, so weit man konnte, durch die verlassenen Duschräume, entlang den Personaltoiletten, vorbei an dem Raum voller Glassplitter, in dem die Decke völlig eingestürzt war und der daher direkt in das darübergelegene Treppenhaus überging, kam man zu einer kleinen Eisentreppe. Und wenn man die hinabstieg, die matschige Stelle am Fuß der Treppe durchquerte und sich durch eine halbverfaulte Holztür zwängte, befand man sich im Unterkeller, einem riesigen Raum, in dem sich der liegengelassene und vergessene Krankenhausmüll von hundertzwanzig Jahren angesammelt hatte; und eben hier waren Mr. Croup und Mr. Vandemar derzeit zu Hause.
Die Wände waren feucht, und von der Decke tropfte Wasser. Seltsame Gegenstände schimmelten in den Ecken vor sich hin: Einige davon waren einmal lebendig gewesen.
Mr. Croup und Mr. Vandemar waren gerade dabei, die Zeit totzuschlagen.
Mr. Vandemar hatte irgendwo einen Tausendfüßler gefunden – eine orangerote Kreatur, fast zwanzig Zentimeter lang, mit gefährlichen Giftzähnen an beiden Enden –, ließ ihn nun über seine Hände laufen und beobachtete ihn dabei, wie er sich zwischen seinen Fingern wand, in einem Ärmel verschwand und eine Minute später aus dem anderen wieder auftauchte. Mr. Croup spielte mit Rasierklingen. Er hatte in einer Ecke eine ganze Schachtel fünfzig Jahre alter, in Pergamentpapier eingewickelter Rasierklingen gefunden und überlegte nun, was man damit anfangen könnte.
»Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte, Mister Vandemar«, sagte er schließlich. »Sperren Sie Ihre Äuglein auf.«
Mr. Vandemar nahm den Kopf des Tausendfüßlers behutsam zwischen seinen riesigen Daumen und seinen monströsen Zeigefinger, so daß er nicht mehr zappeln konnte, und schaute zu Mr. Croup hinüber.
Mr. Croup legte seine linke Hand mit gespreizten Fingern an die Wand. In die Rechte nahm er fünf Rasierklingen, zielte sorgfältig und warf.
Alle Klingen landeten zwischen Mr. Croups Fingern. Es war die Miniaturausgabe eines höchst raffinierten Messerwerfertricks.
Mr. Croup nahm seine Hand weg, die Klingen blieben in der Wand stecken und markierten die Stellen, wo seine Finger sich befunden hatten, und er drehte sich beifallheischend zu seinem Kompagnon um.
Mr. Vandemar war nicht beeindruckt.
»Was soll denn daran so schlau sein?« fragte er. »Sie haben doch keinen einzigen Finger getroffen.«
Mr. Croup seufzte. »Nein?« sagte er. »Na, da schlitz mir einer die Gurgel auf, Sie haben recht. Ich Einfaltspinsel! « Er zog die Rasierklingen eine nach der anderen aus der Wand und warf sie auf den Holztisch. »Warum zeigen Sie mir nicht, wie man es richtig macht?«
Mr. Vandemar nickte. Er steckte den Tausendfüßler zurück in sein leeres Marmeladenglas.
Dann legte er seine linke Hand an die Wand.
Er hob den rechten Arm: In der rechten Hand wog er sein Messer, tückisch und scharf. Er kniff die Augen zusammen, und er warf.
Das Messer flog durch die Luft, blitzschnell, ein ausgesprochen großes und scharfes Wurfmesser. Es schlug dumpf in der Wand ein, mit der Klinge voran, die unterwegs Mr. Vandemars Handrücken getroffen und durchbohrt hatte.
Es klingelte.
Mr. Vandemar, das Messer durch die Hand, blickte zufrieden auf. »So«, sagte er.
In der Ecke des Raumes stand ein altes Telefon. Ein sehr altes, zweiteiliges Telefon aus Holz und Bakelit, das im Krankenhaus seit den zwanziger Jahren nicht mehr benutzt worden war. Mr. Croup nahm den an einer langen, mit Stoff umwickelten Schnur befestigten Hörer ab und sprach in das am Unterteil angebrachte Mundstück. »Croup und Vandemar«, sagte er sanft, »Traditionsunternehmen. Beseitigung von Hindernissen, Ausmerzung von Unbilden, Entfernung störender Gliedmaßen und Zahnbehandlungen für Bedürftige.« Die Person am anderen Ende der Leitung sagte etwas. Mr. Croup zuckte zusammen.
Mr. Vandemar zerrte an seiner linken Hand. Sie war fest an die Wand geheftet.
»Oh. Ja, Sir. Ja, gewiß. Und erlauben Sie mir zu sagen, daß so eine telefonische Konversation mit Ihnen unseren ansonsten trüben und ereignislosen Tag bereichert und verschönt?« Eine weitere Pause. »Natürlich werde ich die Speichelleckerei und Kriecherei unterlassen. Aber gern. Ist mir eine Ehre, und – was wir herausgefunden haben? Wir haben herausgefunden, daß – « Eine Unterbrechung; nachdenklich und geduldig bohrte er in der Nase. »Nein, wir wissen nicht, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt aufhält. Aber das müssen wir auch nicht. Sie wird heute abend auf dem Markt sein, und – « Sein Mund wurde schmal, und er fuhr fort: »Nein, wir haben keinesfalls vor, den Marktfrieden zu stören. Wir dachten eher daran zu warten, bis sie den Markt verlassen hat, um dann Hackfleisch aus ihr zu machen …« Dann schwieg er, hörte zu und nickte von Zeit zu Zeit.
Mr. Vandemar versuchte, das Messer mit seiner freien Hand aus der Wand zu ziehen, doch es blieb stecken.
»Das ließe sich einrichten, ja«, sagte Mr. Croup in die Sprechmuschel. »Ich meine, das werden wir einrichten. Natürlich. Ja. Das ist mir klar. Und, Sir, vielleicht könnten wir uns noch darüber unterhalten, wie – ?«
Doch der Anrufer hatte aufgelegt. Mr. Croup starrte den Hörer einen Moment lang an, dann hängte er ihn wieder an seinen Haken.
»Du hältst dich wohl für verdammt schlau«, flüsterte er. Dann bemerkte er Mr. Vandemars mißliche Lage und sagte: »Hören Sie auf damit.« Er beugte sich hinüber und zog das Messer aus der Wand und aus Mr. Vandemars Handrücken und legte es auf den Tisch.
Mr. Vandemar schüttelte seine linke Hand und krümmte die Finger, dann wischte er die feuchten Putzbrocken von seiner Messerklinge. »Wer war das?«
»Unser Arbeitgeber«, sagte Mr. Croup. »Die andere ist offenbar nicht geeignet. Nicht alt genug. Es muß doch diese Door sein.«
»Also dürfen wir sie nicht mehr umbringen?«
»Darauf, Mister Vandemar, läuft es über kurz oder lang hinaus, jawohl. Nun, das kleine Fräulein Door hat offenbar verkündet, es werde einen Leibwächter engagieren. Auf dem Markt. Heute nacht.«
»Ach ja?« Mr. Vandemar spuckte sich an der Stelle auf den Handrücken, wo das Messer eingedrungen, und dort auf die Handfläche, wo es wieder ausgetreten war.
Mr. Croup nahm seinen schweren schwarzen, vor Alter glänzenden Mantel vom Boden. Er zog ihn an.
»Nun, Mister Vandemar, sollten nicht auch wir einen Leibwächter engagieren?«
Mr. Vandemar schob sein Messer wieder in das Halfter in seinem Ärmel. Auch er zog seinen Mantel an, steckte die Hände tief in die Taschen und war angenehm überrascht, noch fast eine halbe Maus in einer davon zu finden. Gut. Er war hungrig.
Dann prüfte er Mr. Croups letzte Bemerkung mit der Gründlichkeit eines Gerichtsmediziners, der seine große Liebe seziert; und als er den Argumentationsfehler seines Kompagnons erkannt hatte, sagte Mr. Vandemar: »Wir brauchen keinen Leibwächter, Mister Croup. Wir tun Menschen weh. Uns tut niemand weh.«
Mr. Croup drehte das Licht aus. »Ach, Mister Vandemar«, sagte er, den Klang der Worte genießend, wie er den Klang aller Worte genoß, »wenn ihr uns stecht, bluten wir dann nicht?«
Mr. Vandemar grübelte in der Dunkelheit einen Moment darüber nach. Dann sagte er, völlig richtig: »Nein.« »Ein Spion von der Oberseite«, sagte Lord Rattensprecher. »Hä? Ich sollte dich von der Gurgel bis zum Gedärm aufschlitzen und die Zukunft aus deinen Eingeweiden lesen.«
»Hören Sie«, sagte Richard, mit dem Rücken zur Wand und dem Glasdolch am Adamsapfel. »Ich glaube, Sie machen einen Fehler. Mein Name ist Richard Mayhew. Das kann ich beweisen. Ich habe meine Bibliothekskarten dabei. Kreditkarten. Sachen«, fügte er verzweifelt hinzu.
Am anderen Ende des Saals, bemerkte Richard mit der leidenschaftslosen Klarheit, die einen erfaßt, wenn ein Irrer gerade vorhat, einem die Kehle mit einem Glassplitter aufzuschlitzen, verneigten sich Menschen bis zum Boden und verharrten in dieser Position.
Eine kleine schwarze Gestalt kam auf dem Fußboden auf sie zu. »Ich glaube, wenn wir einen Moment nachdenken, werden wir feststellen, daß wir uns alle sehr dumm benehmen«, sagte Richard. Er hatte keine Ahnung, was diese Worte bedeuteten, er wußte nur, daß sie aus seinem Mund kamen und daß er, solange er sprach, nicht tot war. »Also, warum legen Sie das da nicht weg und – entschuldige, das ist meine Tasche«, letzteres zu einem dünnen, verwahrlost aussehenden Mädchen, keine zwanzig Jahre alt, das Richards Tasche genommen hatte und seine Besitztümer achtlos auf den Boden schüttete.
Die Menschen in der Halle fuhren fort, sich zu verbeugen und gebückt stehenzubleiben, während die kleine Gestalt näher kam.
Sie erreichte die Menschengruppe um Richard. Keiner bemerkte sie. Alle sahen Richard an.
Es war eine Ratte. Sie schaute zu ihm auf. Richard schien es bizarrerweise einen Moment lang, als ob sie ihm zublinzelte. Dann fiepte sie laut.
Der Mann mit dem Glasdolch fiel auf die Knie. Die Menschen um sie herum folgten seinem Beispiel. Nach kurzem Zögern kniete, etwas verlegener, auch der Obdachlose nieder, den sie Iliaster genannt hatten.
Richard war der einzige, der stehen geblieben war. Das dünne Mädchen zupfte ihn am Ellenbogen, und auch er ließ sich auf ein Knie nieder.
Lord Rattensprecher verneigte sich so tief, daß sein langes Haar den Boden streifte, und er fiepte zurück, rümpfte die Nase, zeigte die Zähne, quiekte und fauchte, ganz wie eine überdimensionale Ratte.
»Hören Sie, kann mir jemand sagen …«, murmelte Richard. »Sei still!« sagte das Mädchen.
Die Ratte stieg ein wenig geziert in die schmutzige Hand des Lords, und der Mann hielt sie respektvoll vor Richards Gesicht. Träge bewegte sie ihren Schwanz.
»Das ist Master Longtail, vom Clan der Greys«, sagte Lord Rattensprecher. »Er sagt, du kämst ihm überaus bekannt vor. Er möchte wissen, ob ihr euch schon einmal begegnet seid.« Richard sah die Ratte an. Die Ratte sah Richard an. »Kann schon sein«, räumte er ein.
»Er sagt, er sei dabei einer Verpflichtung dem Marquis de Carabas gegenüber nachgekommen.«
Richard sah sie sich aus der Nähe an. »Die Ratte ist das? Ja, wir sind uns schon mal begegnet. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe mit der Fernbedienung nach ihr geworfen.«
Die Menschen, die um ihn herumstanden, sahen schockiert aus. Das dünne Mädchen quiekte sogar. Richard nahm das kaum wahr; wenigstens auf etwas Vertrautes war er in diesem Irrenhaus gestoßen.
»Hallo, Ratty«, sagte er. »Schön, dich wiederzusehen. Weißt du, wo Door ist?«
»Ratty!« machte das Mädchen. Es hörte sich an wie ein Mittelding zwischen einem Quietschen und einem entsetzten Schlucken. An ihren zerlumpten Sachen steckte ein kleines wasserfleckiges rotes Badge. Darauf stand in gelben Buchstaben Ich bin 11.
Lord Rattensprecher schwenkte mahnend seinen Glasdolch vor Richards Nase. »Du darfst nur durch mich zu Master Longtail sprechen«, sagte er.
Die Ratte quiekte einen Befehl. Der Mann machte ein langes Gesicht.
»Der?« fragte er und warf Richard einen geringschätzigen Blick zu. »Hören Sie, ich kann keine Menschenseele entbehren. Warum darf ich ihm nicht einfach die Kehle durchschneiden und ihn runter zu den Sielmenschen schicken …«
Die Ratte keckerte noch einmal nachdrücklich, sprang dann von der Schulter des Mannes zu Boden und verschwand in einem der vielen Löcher, die die Wände säumten.
Lord Rattensprecher stand auf.
Hundert Augen ruhten auf ihm. Er wandte sich zum Saal um und sah all die anderen an, die neben ihren fettigen Feuerstellen kauerten.
»Ich weiß nicht, was es hier zu gaffen gibt«, brüllte er. »Wer dreht denn jetzt die Spieße, he? Wollt ihr, daß der Fraß verbrennt? Es gibt hier nichts zu sehen. Macht weiter. Seht zu, daß ihr Land gewinnt.«
Richard richtete sich nervös auf.
Lord Rattensprecher sah Iliaster an. »Er muß zum Markt gebracht werden. Befehl von Master Longtail.«
Iliaster schüttelte den Kopf und spuckte auf den Boden. »Also, ich bringe ihn nicht hin«, sagte er. »Ich setz’ doch nicht für so eine Reise mein Leben aufs Spiel. Ihr Rattensprecher wart immer gut zu mir, aber dort kann ich nicht hingehen. Das wissen Sie.«
Lord Rattensprecher nickte. Er steckte seinen Dolch weg.
Dann lächelte er Richard mit schlechten Zähnen an. »Du weißt gar nicht, was für ein Glück du gerade gehabt hast«, sagte er.
»Doch«, sagte Richard. »Allerdings.«
»Nein«, sagte der Mann. »Keineswegs.« Und er schüttelte den Kopf und sagte zu sich selbst: »Ratty!«
Lord Rattensprecher nahm Iliaster am Arm, und die beiden gingen außer Hörweite und tuschelten miteinander, wobei sie Richard durchdringende Blicke zuwarfen.
Das dünne Mädchen verschlang eine von Richards Bananen, in der, so schoß es Richard durch den Kopf, unerotischsten Art und Weise, die er je gesehen hatte.
»Hör mal, das sollte mein Frühstück werden«, sagte Richard. Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich heiße Richard. Und du?«
Das Mädchen, dem es, wie er feststellte, bereits gelungen war, den Großteil des Obstes aufzuessen, das Richard mitgenommen hatte, sah ihn verlegen an. Dann lächelte es ein wenig schief und sagte etwas, das so ähnlich klang wie Anaesthesia. »Ich hatte Hunger«, sagte sie.
»Tja, ich auch«, erwiderte er.
Sie warf einen Blick auf die Feuerchen an der gegenüberliegenden Seite des Raums. Dann sah sie Richard wieder an.
»Magst du Katze?« fragte sie.
»Ja«, sagte Richard. »Katzen mag ich ganz gern.«
Anaesthesia wirkte erleichtert. »Bein?« fragte sie. »Oder Brust?«
Das Mädchen namens Door ging den Hof entlang, gefolgt vom Marquis de Carabas.
Es gab in London hundert weitere kleine Höfe und Twieten und Gassen wie diese, winzige Ausläufer der alten Zeiten, seit dreihundert Jahren unverändert. Selbst der Uringestank hier war derselbe wie zu Pepys’ Zeiten.
Bis zum Sonnenaufgang würde es noch eine Stunde dauern, doch der Himmel begann bereits, heller zu werden und eine stumpfe graue Farbe anzunehmen.
Die Tür war nachlässig mit Brettern vernagelt und klebte voller fleckiger Plakate für vergessene Bands und längst geschlossene Clubs.
Sie blieben vor der Tür stehen, und der Marquis beäugte all die Bretter und Nägel und Poster, und es ließ ihn offenbar kalt. »Dies ist also der Eingang?« fragte er.
Sie nickte. »Einer.«
Er verschränkte die Arme. »Und nun? Sagen Sie ›Sesam öffne dich‹, oder was immer Sie sonst zu tun pflegen. «
»Ich will das nicht«, sagte sie. »Ich weiß wirklich nicht, ob wir das richtig machen.«
»Auch gut«, er ließ die Arme sinken und verneigte sich vor ihr. »Auf bald.«
Er begann, den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückzugehen. Door packte ihn am Arm. »Sie würden mich im Stich lassen?« fragte sie. »Einfach so?«
Er grinste kalt. »Sicher. Ich bin ein sehr beschäftigter Mann. Es gibt Dinge zu treffen. Leute zu tun.«
»Moment mal, warten Sie.« Sie ließ seinen Ärmel los und biß sich auf die Unterlippe. »Das letzte Mal, als ich hier war …« Ihre Stimme erstarb.
»Das letzte Mal, als Sie hier waren, haben Sie Ihre Familie tot aufgefunden. Das ist es doch. Weitere Erklärungen können Sie sich sparen. Wenn wir nicht hineingehen, ist unsere Geschäftsbeziehung beendet.«
Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesicht war blaß im frühmorgendlichen Licht. »Und das ist alles?«
»Ich könnte Ihnen viel Glück für Ihre zukünftige Laufbahn wünschen, doch ich möchte bezweifeln, daß Sie dafür noch lange genug leben werden.«
»Sie sind ein ziemlicher Stinkstiefel, was?«
Er sagte nichts.
Sie ging zurück zur Tür. »Na gut«, sagte sie. »Kommen Sie. Ich mache uns auf.«
Door legte ihre linke Hand an die vernagelte Tür, und mit der rechten nahm sie die riesige braune Hand des Marquis. Ihre kleinen Finger umschlangen seine großen. Sie schloß die Augen.
… etwas wisperte und erschauerte und verwandelte sich …
… und die Tür zerfiel zu Dunkelheit …
Die Erinnerung war frisch, erst ein paar Tage alt. Door ging durch das Haus Ohne Türen und rief: »Ich bin wieder da!« und »Hallo?« Sie schlüpfte vom Vorzimmer ins Eßzimmer, in die Bibliothek, in den Salon; niemand antwortete. Es war niemand da. Sie betrat einen anderen Raum.
Das Schwimmbad war ein viktorianisches Gebäude aus Marmor und Gußeisen. Ihr Vater hatte es gefunden, als er noch jung war. Es stand leer und sollte abgerissen werden, und er hatte es in die Materie des Hauses Ohne Türen eingewoben.
Door hatte keine Ahnung, wo die Räume ihres Hauses sich tatsächlich befanden. Ihr Großvater hatte es gebaut, indem er hier ein Zimmer und dort ein Zimmer zusammengesucht hatte, überall in London, diskret und türlos.
Sie ging an dem alten Schwimmbecken entlang, froh, wieder zu Hause zu sein. Und dann schaute sie nach unten.
Es trieb jemand im Wasser. Er zog zwei Blutwolken hinter sich her, eine aus der Kehle und eine aus dem Unterleib. Es war ihr Bruder, Arch. Seine Augen waren weit geöffnet und blicklos.
Sie merkte, daß ihr Mund offenstand. Sie hörte sich schreien.
»Das tat weh«, sagte der Marquis. Er rieb sich heftig die Stirn und ließ den Kopf kreisen, als hätte er plötzlich einen steifen Hals bekommen.
»Erinnerungen«, erklärte sie. »Sie sitzen in den Wänden. «
Er zog eine Augenbraue hoch. »Sie hätten mich warnen können.«
»Ah«, sagte sie. »Stimmt.«
Sie standen in einem riesigen weißen Saal. Alle Wände hingen voller Bilder. Jedes Bild zeigte einen anderen Raum.
»Interessantes Dekor«, bemerkte der Marquis anerkennend.
»Dies ist die Eingangshalle. Von hier aus können wir in jeden Raum des Hauses gehen. Sie sind alle untereinander verbunden.«
»Wo befinden sich die anderen Räume?«
Sie schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Wahrscheinlich kilometerweit weg. Sie sind über die gesamte Unterseite verstreut.«
Der Marquis hatte bereits mit ungeduldigen Schritten den gesamten Raum durchmessen. »Ganz beachtlich. Ein assoziatives Haus, dessen Räume sich alle an unterschiedlichen Orten befinden. Wie einfallsreich. Ihr Großvater war ein Visionär, Door.«
»Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt.« Sie schluckte und fuhr dann fort, an sich selbst ebenso wie an ihn gewandt. »Wir hätten hier in Sicherheit sein müssen. Nichts hätte uns passieren dürfen. Nur meine Familie konnte sich in diesem Haus bewegen.«
»Hoffen wir, daß uns das Tagebuch Ihres Vaters ein paar Hinweise gibt«, sagte er. »Wo fangen wir an zu suchen? «
Sie zuckte mit den Schultern.
»Sind Sie sicher, daß er ein Tagebuch geführt hat?«
Sie nickte. »Er pflegte immer in sein Arbeitszimmer zu gehen und die Verbindungen zu unterbrechen, bis er mit dem Diktieren fertig war.«
»Dann beginnen wir im Arbeitszimmer.«
»Aber dort habe ich schon gesucht. Wirklich. Dort habe ich schon gesucht. Als ich die Leiche weggeräumt habe …« Und sie begann zu weinen, in leisen, wütenden Schluchzern, die klangen, als würden sie ihr gewaltsam entrissen.
»Na, na«, sagte der Marquis de Carabas verlegen und tätschelte ihr die Schulter. Und dann fügte er lieber noch ein »Na« hinzu.
Er war kein guter Tröster.
Doors seltsam gefärbte Augen standen voller Tränen. »Nur … nur eine Sekunde, bitte. Es geht gleich wieder.«
Er nickte und ging ans andere Ende des Raumes. Als er sich umschaute, stand sie immer noch da, allein, ihr Umriß hob sich gegen die weiße Eingangshalle voller Raumbilder ab, und sie hatte die Arme um sich geschlungen und bebte und weinte wie ein kleines Mädchen.
Richard war immer noch ungehalten über den Verlust seiner Tasche.
Lord Rattensprecher war ungerührt. Er stellte trocken fest, die Ratte – Master Longtail – habe nichts davon gesagt, daß Richard seine Sachen zurückerhalten solle. Nur daß er zum Markt zu bringen sei.
Dann sagte der Mann Anaesthesia, sie solle den Oberweltler zum Markt bringen, und, jawohl, das sei ein Befehl. Und sie solle mit dem Gejammer aufhören und einen Zahn zulegen! Zu Richard sagte er, wenn er, Lord Rattensprecher, ihn, Richard, jemals wiedersehen sollte, dann sähe es für ihn, Richard, gar nicht gut aus.
Er wiederholte, Richard wisse gar nicht, was für ein Glück er habe, und ohne Richards Bitte um Rückgabe seiner Sachen – oder zumindest seiner Brieftasche – zu beachten, führte er die beiden zu einer Tür und schloß hinter ihnen ab.
Richard und Anaesthesia gingen Seite an Seite in die Finsternis hinein.
Sie hielt eine improvisierte Lampe aus einer Kerze, einer Dose, etwas Draht und einer alten gläsernen Lucozade-Flasche in der Hand. Richard war überrascht, wie schnell sich seine Augen an die fast vollständige Dunkelheit gewöhnten. Sie gingen offenbar durch unterirdische Gewölbe. Manchmal war ihm, als bewegte sich in irgendeiner entfernten Ecke etwas, doch ob es nun Menschen waren oder Ratten oder etwas völlig anderes, es war jedesmal verschwunden, wenn sie die Stelle erreicht hatten.
Wenn er versuchte, Anaesthesia darauf anzusprechen, sagte sie nur: »Psst!«
Er spürte einen kalten Luftzug im Gesicht. Das Rattenmädchen hockte sich ohne Vorwarnung hin, stellte seine Lampe ab und zog und zerrte angestrengt an einem Metallgitter in der Wand. Es ging so plötzlich auf, daß sie rücklings auf dem Boden landete.
Sie bedeutete Richard, hindurchzugehen.
Er kauerte sich hin und schob sich durch das Loch in der Wand. Nach etwa dreißig Zentimetern hörte der Fußboden auf.
»Entschuldige«, flüsterte Richard. »Hier ist ein Loch.«
»Das ist nicht tief«, erwiderte sie. »Geh weiter.«
Sie schloß das Gitter hinter sich. Sie war Richard jetzt so nah, daß es ihm unangenehm wurde. Nervös schob er sich weiter ins Dunkel. Dann hielt er an.
»Hier«, sagte sie. Sie drückte ihm den Griff ihrer kleinen Lampe in die Hand und kletterte hinunter in die Finsternis. »Na also«, erklärte sie. »War doch gar nicht so schlimm, oder?« Ihr Gesicht befand sich keine zwei Meter unter Richards baumelnden Füßen. »Hier. Gib mir die Lampe.«
Er reichte sie ihr hinunter. Sie mußte hochspringen, um sie ihm abzunehmen.
»Jetzt«, flüsterte sie. »Los.«
Er kletterte über den Rand, hing einen Moment in der Luft und ließ dann los. Auf Händen und Füßen landete er in weichem, nassem Schlamm. Er wischte sich die Hände an seinem Pullover ab.
Ein paar Meter weiter öffnete Anaesthesia eine weitere Tür. Sie gingen hindurch, und sie zog sie hinter ihnen zu.
»Jetzt können wir uns unterhalten«, sagte sie. »Nicht laut. Aber wir können. Wenn du willst.«
»Oh. Danke«, sagte Richard. Ihm fiel nichts ein. »Also. Ähm. Du bist eine Ratte, was?« fragte er.
Sie kicherte. »Schön wär’s. Nee, nee. Ich bin ’ne Rattensprecherin. Wir reden mit den Ratten.«
»Was, ihr unterhaltet euch einfach so mit denen?«
»Nicht nur. Wir machen Sachen für sie. Also«, und es klang, als glaubte sie, das sei etwas, worauf Richard nie von selbst gekommen wäre, »es gibt Dinge, die Ratten nicht tun können, weißt du. Ich meine, sie haben schließlich keine Finger und Daumen und so. Moment – «
Sie drückte ihn plötzlich gegen die Wand und hielt ihm mit ihrer schmutzigen Hand den Mund zu. Dann blies sie die Kerze aus.
Nichts geschah.
Plötzlich hörte er in der Ferne Stimmen.
Sie warteten.
Menschen gingen, sich leise unterhaltend, an ihnen vorbei. Als alle Geräusche verklungen waren, nahm Anaesthesia ihre Hand von Richards Mund, zündete die Kerze wieder an, und sie gingen weiter.
»Was waren das für Leute?« fragte Richard.
Sie zuckte mit den Schultern. »Spielt keine Rolle«, sagte sie.
»Und wieso glaubst du dann, daß sie nicht erfreut gewesen wären, uns zu sehen?«
Sie sah ihn ziemlich traurig an, wie eine Mutter, die versucht, einem Kind zu erklären, daß, jawohl, auch diese Flamme heiß sei. Ja, alle Flammen sind heiß. Bitte glaub mir.
»Komm«, sagte sie. »Ich kenn’ eine Abkürzung. Wir können einen Abstecher nach Ober-London machen.«
Sie stiegen ein paar steinerne Stufen empor, und das Mädchen stieß eine Tür auf. Sie gingen hindurch, und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß.
Richard blickte sich verwirrt um.
Sie standen am Embankment, am Themse-Ufer. Es war immer noch Nacht – oder vielleicht war es auch schon wieder Nacht. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie unter der Erde durch die Finsternis gegangen waren.
Der Mond war nicht zu sehen, doch der Himmel hing voller glasklar glitzernder Herbststerne. Außerdem brannten Straßenlaternen und Lichter auf Gebäuden und auf Brücken, die aussahen wie irdische Sterne und sich schimmernd im Wasser der Themse spiegelten.
Wie im Märchenland, dachte Richard.
Anaesthesia blies ihre Kerze aus.
Und er sagte: »Bist du sicher, daß das der richtige Weg ist?«
»Ja«, antwortete sie. »Ziemlich sicher.«
Sie näherten sich einer Bank, und kaum daß sein Blick darauf fiel, hatte Richard das Gefühl, als sei diese Bank einer der verlockendsten Gegenstände, die er je gesehen hatte. »Können wir uns setzen?« fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. Sie setzten sich jeder an ein Ende der Bank.
»Am Freitag«, sagte Richard, »hatte ich noch einen Job bei einem der besten Investment-Analysten Londons.«
»Was is’ denn ’n Investmen-Dingens?«
»Eine Art Job.«
Sie nickte zufrieden. »Aha. Und …?«
»Fiel mir bloß gerade wieder ein. Gestern … war es so, als würde ich nicht mehr existieren, für niemanden da oben.«
»Tust du auch nicht«, erklärte Anaesthesia.
Ein nächtliches Pärchen, das langsam händchenhaltend das Embankment entlang auf sie zugegangen war, setzte sich mitten auf die Bank, zwischen Richard und Anaesthesia, und begann sich leidenschaftlich zu küssen. »Entschuldigung«, sagte Richard zu ihnen. Der Mann hatte seine Hand unter den Pullover der Frau geschoben und bewegte sie begeistert umher, ein einsamer Reisender, der einen unerforschten Kontinent entdeckt.
»Ich will mein Leben zurück«, sagte Richard zu ihnen.
»Ich liebe dich«, sagte der Mann zu der Frau.
»Aber deine Frau – «, sagte sie und leckte ihm die Wange. »Komm mir nicht mit der«, sagte der Mann.
»Will ich auch nicht«, sagte die Frau und kicherte betrunken. »Ich komm’ lieber mit dir …« Sie legte eine Hand in seinen Schoß und kicherte noch mehr.
»Laß uns gehen«, sagte Richard zu Anaesthesia. Langsam fand er die Bank nicht mehr so verlockend, und sie standen auf und gingen davon. Anaesthesia blickte sich neugierig nach dem Paar auf der Bank um, das sich nach und nach in die Horizontale begab.
Richard sagte nichts.
»Stimmt was nicht?« fragte Anaesthesia.
»Rein gar nichts«, sagte Richard. »Lebst du schon immer da unten?«
»Nee. Geboren bin ich hier oben«, sie zögerte. »Willst du das wirklich hören?«
Richard stellte beinahe überrascht fest, daß er es durchaus hören wollte. »Ja.«
Sie spielte mit den ungeschliffenen Quarzperlen, die an einer Kette um ihren Hals hingen, und sie begann zu reden, ohne ihn anzusehen.
»Nachdem Mum mich und meine Schwestern gekriegt hatte, is’ sie plötzlich durchgedreht. Da is’ so eine Frau gekommen und hat meine Schwestern abgeholt, und ich kam zu meiner Tante. Die wohnte mit so einem Typen zusammen. Der hat mir immer wehgetan. Und nich’ nur das. Ich habs meiner Tante erzählt, und sie hat mich geschlagen. Hat gesagt, ich würde lügen. Und sie würde mir die Polizei auf den Hals hetzen. Aber ich hab’ nich’ gelogen. Da bin ich weggelaufen. An meinem Geburtstag. «
Sie hatten die Albert Bridge erreicht, ein mit Tausenden von winzigen gelben Lichtern behangenes Kitschmonument.
»Es war so kalt«, sagte Anaesthesia, und sie hielt inne. »Ich schlief auf der Straße. Tagsüber, wenn es etwas wärmer war, schlief ich, und nachts lief ich umher, nur um in Bewegung zu bleiben. Ich war elf. Zum Essen hab’ ich Brot und Milch aus Hauseingängen geklaut. Gehaßt hab’ ich das. Hab’ immer auf den Straßenmärkten rumgehangen und die verfaulten Äpfel und Orangen und so aufgesammelt, die die Leute wegwarfen. Dann bin ich sehr krank geworden. Ich lebte unter einer Eisenbahnbrücke in Notting Hill. Als ich wieder zu mir kam, war ich in Unter-London. Die Ratten hatten mich gefunden.«
»Hast du jemals versucht, zu all dem hier zurückzukehren? « fragte er und machte eine Handbewegung. Ruhige, warme, bewohnte Häuser. Autos in der Nacht. Das wahre Leben …
Sie schüttelte den Kopf. Jedes Feuer brennt, kleines Baby. Das wirst du noch lernen. »Das geht nicht. Entweder das eine oder das andere. Beides gibt’s nicht.«
»Tut mir leid«, sagte Door stockend. Ihre Augen waren immer noch gerötet.
Der Marquis, der sich die Zeit vertrieben hatte, indem er mit ein paar alten Münzen und Knochen eine Partie Knucklebones gespielt hatte, sah zu ihr auf. »Tatsächlich ?«
Sie biß sich auf die Unterlippe. »Nein. Eigentlich nicht. Es tut mir nicht leid. Ich mußte die ganze Zeit immer nur weglaufen und mich verstecken, so daß … ich jetzt zum ersten Mal die Gelegenheit hatte, zu …« Sie sprach nicht weiter.
Die Marquis schob die Münzen und Knochen zusammen hob sie auf und steckte sie wieder in eine seiner vielen Taschen.
»Nach Ihnen«, sagte er.
Er folgte ihr zurück zu der Bilderwand. Sie legte eine Hand auf das Bild des Arbeitszimmers ihres Vaters und nahm mit der anderen die Hand des Marquis.
… die Wirklichkeit verschwamm …
Sie waren im Wintergarten und gossen die Pflanzen.
Ingress hatte ihre eigene kleine Gießkanne. Darauf war sie sehr stolz. Sie sah genauso aus wie die ihrer Mutter.
Sie begann zu lachen, ein spontanes Kleinmädchenlachen. Und auch ihre Mutter lachte, bis der füchsisch fiese Mr. Croup plötzlich scharf an ihren Haaren riß und ihr von einem Ohr zum anderen die Kehle durchschnitt.
»Hallo, Daddy«, sagte Door leise.
Sie berührte die Büste ihres Vaters mit den Fingern und streichelte seine Wange. Ein dünner, asketischer Mann, fast kahl. Caesar als Prospero, dachte der Marquis de Carabas. Ihm war etwas übel. Das letzte Bild hatte sehr wehgetan.
Aber immerhin: Er stand in Lord Porticos Arbeitszimmer. Das hatte es noch nicht gegeben.
Er sah sich den Raum genau an, ließ seinen Blick über jedes Detail schweifen. Das ausgestopfte Krokodil, das von der Decke hing, die Bücher, ein Astrolabium, Spiegel, seltsame wissenschaftliche Geräte; Landkarten an den Wänden; ein Schreibtisch voller Briefe.
Die weiße Wand hinter dem Schreibtisch war durch einen rötlichbraunen Fleck verunstaltet.
Auf dem Schreibtisch stand ein kleines Bild von Doors Familie. Der Marquis starrte es an.
»Ihre Mutter und Ihre Schwester. Ihr Vater. Und Ihr Bruder. Alle tot. Wie sind Sie entkommen?«
Sie ließ die Hand sinken. »Ich hatte Glück. Ich war für ein paar Tage auf Entdeckungsreise … wußten Sie, daß am Kilburn River immer noch ein paar römische Soldaten lagern?«
Davon hatte der Marquis tatsächlich nichts gewußt, und das ärgerte ihn. »Hmm. Wie viele?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ein paar Dutzend. Sie sind von der Neunzehnten Legion desertiert, glaube ich. Mein Latein ist etwas lückenhaft. Jedenfalls, als ich dann wieder herkam …«
Sie schwieg, schluckte, und in ihren seltsam gefärbten Augen standen Tränen.
»Reißen Sie sich zusammen«, sagte der Marquis knapp. »Wir brauchen das Tagebuch Ihres Vaters. Wir müssen herausfinden, wer das getan hat.«
Sie runzelte die Stirn. »Wir wissen, wer das getan hat. Es waren Croup und Vandemar – «
Er streckte fünf Finger in die Luft und bewegte sie, während er sprach. »Die beiden sind Arme. Hände. Finger. Dazu gehört ein Kopf, der die Anordnungen gibt und der auch Ihren Tod will. Die beiden sind nicht billig. «
Er schaute sich in dem vollgestopften Büro um. »Sein Tagebuch?« fragte der Marquis.
»Hier ist es nicht«, sagte sie. »Hab’ ich Ihnen doch gesagt. Ich habe schon danach gesucht.«
»Ich habe fälschlicherweise geglaubt, Ihre Familie hätte die Fähigkeit, Türen zu finden, sichtbare ebenso wie unsichtbare. «
Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. Dann schloß sie die Augen und umfaßte ihren Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger.
Der Marquis untersuchte die Gegenstände auf Porticos Schreibtisch. Ein blauschwarzes Tintenfaß, eine Schachfigur, ein knöcherner Würfel, eine goldene Taschenuhr, einige Federkiele und …
Interessant.
Es war eine kleine Statue eines Keilers oder eines kauernden Bären oder vielleicht eines Stiers. Es war schwer zu sagen. Sie hatte die Ausmaße einer großen Schachfigur und war grob aus schwarzem Obsidian gemeißelt. Sie erinnerte ihn an etwas, doch er wußte nicht, an was.
Er nahm sie hoch, drehte sie um. Schlang seine Finger darum.
Door ließ ihre Hand sinken. Sie sah verblüfft und verwirrt aus.
»Was ist los?« fragte er.
»Es ist hier«, sagte sie nur. Sie begann, durch das Arbeitszimmer zu gehen, und wandte dabei ihren Kopf erst zur einen und dann zur anderen Seite.
Der Marquis steckte die Figur in eine seiner Innentaschen. Door stand vor einem hohen Schrank. »Da«, sagte sie. Sie streckte eine Hand aus: Es klickte, und in der Seitenwand des Schranks öffnete sich ein kleines Fach. Door griff in die Dunkelheit und holte etwas heraus, das etwa die Größe und Form eines Kricketballs hatte. Sie reichte es dem Marquis.
Es war eine Kugel aus altem Messing und poliertem Holz, mit Einlegearbeiten aus glänzendem Kupfer und gläsernen Linsen.
Er nahm sie ihr aus der Hand. »Das ist es?«
Sie nickte.
»Gut gemacht.«
Sie sah bekümmert aus. »Ich weiß gar nicht, wie ich das übersehen konnte.«
»Sie waren außer sich«, sagte der Marquis. »Ich war mir sicher, daß es hier sein würde. Und ich liege nur sehr selten falsch. Nun … «, er hielt die kleine Holzkugel hoch. Das Licht fing sich im Glas und spiegelte sich im Kupfer und Messing. Es verdroß ihn, aber er fragte trotzdem: »Wie funktioniert das?«
Anaesthesia hatte Richard in einen kleinen Park auf der anderen Seite der Brücke gebracht und dann ein paar Stufen neben einer Mauer hinuntergeführt. Sie zündete ihre Kerze wieder an. Sie öffnete eine für Kanalarbeiter bestimmte Tür und schloß sie hinter ihnen wieder.
In tiefster Dunkelheit stiegen sie ein paar Stufen hinab.
»Es gibt da ein Mädchen namens Door«, sagte Richard. »Sie ist ein bißchen jünger als du. Kennst du sie?«
»Lady Door. Ich weiß, wer das ist.«
»Und zu welcher, ähm, Baronie gehört sie?«
»Zu keiner. Sie stammt aus dem Hause Arch. Ihre Familie war früher sehr wichtig.«
»Früher? Wieso ist sie es jetzt nicht mehr?«
»Jemand hat sie umgebracht.«
Ja, ihm fiel ein, daß der Marquis so etwas gesagt hatte.
Eine Ratte lief ihnen über den Weg. Anaesthesia blieb auf der Treppe stehen und machte einen tiefen Knicks. Die Ratte hielt inne.
»Gnädiger Herr«, sagte sie zu der Ratte.
»Hi«, sagte Richard.
Die Ratte blickte sie einen Herzschlag lang an, dann schoß sie die Treppe hinunter.
»Also«, sagte Richard. »Was ist ein Wandermarkt?«
»Er ist sehr groß«, sagte sie. »Aber Rattensprecher gehen nur sehr selten zum Markt. Wenn ich ehrlich sein soll – « Sie zögerte. »Nee. Du lachst mich bloß aus.«
»Tu ich nicht«, sagte Richard ernsthaft.
»Na ja«, sagte das dünne Mädchen. »Ich habe ein bißchen Angst.«
»Angst? Vor dem Markt?«
Sie hatten den Fuß der Treppe erreicht. Anaesthesia zögerte und wandte sich dann nach links. »Oh. Nein. Auf dem Markt herrscht Waffenstillstand. Wenn einem dort jemand etwas antut, bekommt er es mit dem gesamten Unter-London zu tun …«
»Wovor hast du dann Angst?«
»Vor dem Weg dorthin. Der Markt wird jedesmal an einem anderen Ort abgehalten. Er wandert. Und um dort hinzukommen, wo er heute abend stattfindet … «, sie fingerte nervös an den Quarzperlen an ihrem Hals herum, »müssen wir durch eine sehr üble Gegend.« Sie hörte sich wirklich ängstlich an.
Richard unterdrückte den Impuls, den Arm um sie zu legen. »Und zwar?«
Sie drehte sich zu ihm um, strich sich die Haare aus den Augen und sagte: »Night’s Bridge.«
»Knightsbridge«, sagte Richard, und er begann leise zu lachen.
Sie wandte sich ab. »Siehst du?« sagte sie. »Ich hab’, ja gesagt, du lachst mich aus.«
Die tiefen Tunnel waren in den zwanziger Jahren für eine Hochgeschwindigkeitstraße der Northern Line gebaut worden. Im Zweiten Weltkrieg wurden hier Tausende von Soldaten einquartiert, ihre Abwässer mußten mit Druckluft bis zu den viel weiter oben gelegenen Sielen hochgepumpt werden: Metallene Etagenbetten säumten die Tunnel zu beiden Seiten. Als der Krieg zu Ende war, blieben die Etagenbetten dort, und auf ihren Drahtflächen wurden Pappkartons gelagert, alle voller Briefe und Akten und Papiere: Geheimnisse trostlosester Natur, tief unter der Erde aufbewahrt, dem Vergessen anheimgegeben.
Aufgrund von Sparmaßnahmen waren die tiefen Tunnel Anfang der neunziger Jahre endgültig geschlossen worden. Die Kartonladungen von Geheimnissen wurden herausgeholt und auf Computern gespeichert, geschreddert oder verbrannt.
Varney hauste im tiefsten der tiefen Tunnel, ganz weit unter der U-Bahn-Haltestelle Camden Town. Den einzigen Eingang hatte er mit metallenen Etagenbetten verbarrikadiert. Dann hatte er seine Wohnung dekoriert. Varney mochte Waffen. Er bastelte sie sich aus allem, was er finden, nehmen oder stehlen konnte. Aus Autoteilen und gebogenen Maschinenteilen machte er Haken, Messer, Armbrüste und Balester, kleine Katapulte und große Steinschleudermaschinen, mit denen man Mauern einreißen konnte, Keulen, Gleven und Kirris. Sie hingen an der Wand des tiefen Tunnels oder standen, gefährlich anzuschauen, in den Ecken herum.
Varney sah aus wie ein Stier, ein rasierter Stier ohne Hörner, voller Tätowierungen und mit total kaputten Zähnen. Außerdem schnarchte er.
Die Öllampe neben seinem Kopf brannte mit kleiner Flamme. Varney schlief auf einem Haufen Lumpen, schnarchend und schniefend, und das Heft eines zweischneidigen Schwerts lag neben seiner Rechten auf dem Boden.
Eine Hand drehte die Öllampe auf.
Varney hatte das zweischneidige Schwert gepackt, noch bevor er die Augen öffnete. Er blinzelte und schaute sich um. Es war niemand da: Der Bettenstapel, der die Tür versperrte, war unberührt. Langsam ließ er das Schwert sinken.
Eine Stimme sagte: »Psst.«
»Hh?« machte Varney.
»Überraschung!« sagte Mr. Croup und trat ins Licht.
Varney wich einen Schritt zurück: ein Fehler. Schon hatte er ein Messer an der Schläfe, die Klingenspitze neben seinem Auge.
»Ich würde Ihnen empfehlen, sich lieber nicht mehr zu bewegen«, sagte Mr. Croup zuvorkommend. »Mister Vandemar könnte aus Versehen mit seinem alten Krötenschlächter ausrutschen. Die meisten Unfälle passieren im Haushalt. Nicht wahr, Mister Vandemar?«
»Statistiken sind Schall und Rauch«, sagte Mr. Vandemars Stimme. Eine behandschuhte Hand langte hinter Varneys Rücken nach seinem Schwert, zerquetschte es und ließ die verbogenen Überreste zu Boden fallen.
»Wie geht es Ihnen, Varney?« fragte Mr. Croup. »Wir hoffen, gut? Ja? Gut in Form, frisch und munter für den Markt heute nacht? Wissen Sie, wer wir sind?«
Varney nickte, soweit er das konnte, ohne einen Muskel zu bewegen. Er wußte, wer Croup und Vandemar waren.
Seine Augen suchten die Wände ab. Ja, da: der Morgenstern – eine stachlige Holzkugel, gespickt mit Nägeln, an einer Kette in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes …
»Es geht die Kunde, daß eine gewisse junge Dame heute abend einen Leibwächter engagieren wird. Hatten Sie sich vielleicht mit dem Gedanken befaßt, sich für diese Tätigkeit zu bewerben?« Mr. Croup pulte sich in den Zähnen. »Artikulieren Sie deutlich.«
Varney nahm mit seinen Gedanken den Morgenstern von der Wand. Das war sein spezieller Trick. Vorsichtig, jetzt … langsam … Er hob ihn vom Haken und zog ihn bis zum obersten Punkt des Tunnelgewölbes hoch …
Mit dem Mund sagte er: »Varney ist der beste Bravo und Beschützer der Unterseite. Es heißt, ich sei der Beste seit Hunter.«
Varney positionierte den Morgenstern gedanklich im Schatten oberhalb von Mr. Croups Hinterkopf.
Er würde zuerst Croup den Schädel einschlagen, und dann wäre Vandemar an der Reihe …
Der Morgenstern fuhr auf Mr. Croups Kopf nieder: Varney warf sich zu Boden, fort von der Klinge an seinem Auge.
Mr. Croup sah nicht hoch. Er drehte sich nicht um. Er bewegte einfach den Kopf, unerhört schnell, und der Morgenstern flog an ihm vorbei und schlug im Boden ein, wo er Backstein- und Betonsplitt aufspritzen ließ.
Mr. Vandemar hob Varney mit einer Hand hoch. »Soll ich ihm wehtun?« fragte er seinen Kompagnon.
Mr. Croup schüttelte den Kopf: Noch nicht. Zu Varney sagte er: »Nicht schlecht. Also, ›bester Bravo und Beschützer‹, wir wollen, daß Sie heute auf den Markt gehen. Wir wollen, daß Sie alles daransetzen, der persönliche Leibwächter dieser gewissen jungen Dame zu werden. Dann, wenn Sie die Stellung haben, merken Sie sich eins: Sie dürfen sie vor der ganzen Welt beschützen, aber wenn wir sie haben wollen, bekommen wir sie. Verstanden?«
Varney fuhr mit der Zunge über seine Zahnruinen. »Wollen Sie mich bestechen?« fragte er.
Mr. Vandemar hatte den Morgenstern aufgehoben. Mit seiner freien Hand zerriß er die Kette Glied für Glied und ließ die verbogenen Metallteile zu Boden fallen. Tschink.
»Nein«, sagte Mr. Vandemar. Tschink. »Wir wollen Ihnen Angst machen.« Tschink. »Und wenn Sie nicht tun, was Mister Croup sagt, werden wir …« tschink »… Ihnen sehr …« tschink »… wehtun, bevor wir …« tschink »… Sie auf noch schmerzhaftere Art und Weise umbringen.«
»Ah«, sagte Varney. »Dann arbeite ich also für Sie?«
»Allerdings«, antwortete Mr. Croup. »Ich fürchte jedoch, wir haben keine guten Seiten.«
»Das macht nichts«, sagte Varney.
»Gut«, erwiderte Mr. Croup. »Willkommen an Bord.«
Es war ein raffinierter Mechanismus, aus poliertem Walnußholz, aus Messing und Glas, aus Kupfer und Spiegeln und geschnitzten Elfenbeinintarsien, aus Quarzprismen und Hebeln und Federn und Zahnrädern aus Messing. Das Ganze war größer als ein Fernseher, obgleich der eigentliche Bildschirm nicht mehr als fünfzehn Zentimeter Durchmesser hatte. Eine Lupe vor dem Schirm vergrößerte das Bild.
Ein großer Messingtrichter, wie man ihn an antiken Grammophonen findet, ragte seitlich daraus hervor. Die ganze Vorrichtung glich einem kombinierten Fernseh-und Videogerät, das vor dreihundert Jahren von Sir Isaac Newton erfunden und gebaut worden war. Und genau das war es auch mehr oder weniger.
»Schauen Sie her«, sagte Door.
Sie legte die Holzkugel auf eine Plattform. Licht schien durch das Gerät in die Kugel. Sie begann sich zu drehen.
Ein aristokratisches Gesicht erschien in leuchtenden Farben auf dem kleinen Bildschirm. Nicht ganz lippensynchron erklang eine Stimme aus dem Schalltrichter, durch Knistern gestört.
»… daß zwei Städte einander so nah und doch in jeder Hinsicht so fern sein können; über uns die Besitzenden, und darunter und dazwischen wir, die Besitzlosen, die wir durchs Netz gefallen sind.«
Door starrte auf den Bildschirm. Ihr Gesicht war blaß.
»… Ich bin immer noch der Meinung, daß das, was uns, die wir die Unterseite bewohnen, lähmt, unser engstirniger Partikularismus ist. Das System der Baronien und Lehnsgüter stiftet Zwietracht und ist töricht.« Lord Portico trug ein verschlissenes altes Smokingjackett und eine Kalotte. Seine Stimme schien durch die Jahrhunderte, nicht durch Tage oder Wochen zu ihnen zu dringen.
Er hustete.
»Ich stehe mit dieser Überzeugung nicht allein. Es gibt Leute, die wollen, daß die Dinge so bleiben, wie sie sind. Es gibt andere, die wollen, daß sich die Lage noch verschlimmert. Es gibt solche …«
»Können Sie das beschleunigen?« fragte der Marquis.
Door nickte. Sie berührte einen elfenbeinernen Hebel an der Seite des Geräts: Das Bild verschwamm, zerfiel und formte sich neu.
Jetzt trug Portico einen Mantel. Seine Kalotte war verschwunden. An der einen Seite seines Kopfes hatte er eine Schnittwunde. Er saß nicht mehr an seinem Schreibtisch. Er sprach eindringlich und leise. »Ich weiß nicht, wer dies sehen wird, wer dies finden wird. Doch wer Sie auch sind, bitte überbringen Sie es meiner Tochter Door, wenn sie noch am Leben ist …« Eine Störung verwischte Bild und Ton.
»Door? Mädchen, es steht sehr schlimm. Ich weiß nicht, wie lange ich noch Zeit habe, bevor sie diesen Raum finden. Ich glaube, meine arme Portia, dein Bruder und deine Schwester sind tot.«
Die Ton- und Bildqualität ließen nach.
Der Marquis warf Door einen Blick zu. Ihr Gesicht war naß: Tränen quollen aus ihren Augen und glitzerten auf ihren Wangen. Sie schien nicht zu merken, daß sie weinte, und machte keine Anstalten, die Tränen wegzuwischen. Sie starrte nur ihren Vater auf dem Schirm an und lauschte seinen Worten.
Knister. Verschwimm. Knister. »Hör mir zu, Mädchen«, sagte ihr toter Vater. »Geh zu Islington … Islington kannst du trauen … Du mußt mir glauben … Islington …«
Er verschwamm. Blut war von seiner Stirn in seine Augen getropft, und er wischte es weg. »Door? Räche uns. Räche deine Familie.« Ein lauter Knall kam aus dem Grammophontrichter. Portico wandte seinen Blick ins Off, fragend und angstvoll. »Was?«
Er ging aus dem Bild. Einen Moment lang blieb das Bild stehen: der Schreibtisch, die leere weiße Wand dahinter. Dann spritzte leuchtendrotes Blut im hohen Bogen an die Wand.
Door legte einen Hebel an der Seite um, der Bildschirm verlosch, und sie wandte sich ab.
»Hier.« Der Marquis reichte ihr ein Taschentuch.
»Danke.« Sie wischte sich das Gesicht ab und putzte sich kräftig die Nase. Dann starrte sie ins Leere. Schließlich sagte sie: »Islington.«
»Ich hatte noch nie etwas mit Islington zu tun«, sagte der Marquis.
»Ich dachte, er sei bloß eine Legende«, sagte sie.
»Keineswegs.«
Er langte über den Schreibtisch, nahm eine goldene Taschenuhr in die Hand und ließ sie aufschnappen. »Gute Arbeit«, bemerkte er.
Sie nickte. »Sie gehörte meinem Vater.«
Er schloß den Deckel mit einem Klicken. »Zeit, zum Markt zu gehen. Er fängt bald an. Wir haben nicht ewig Zeit.«
Sie putzte sich noch einmal die Nase und steckte ihre Hände tief in die Taschen ihrer Lederjacke. Dann drehte sie sich zu ihm um, die Stirn ihres koboldhaften Gesichts gerunzelt. Die seltsam gefärbten Augen leuchteten. »Glauben Sie ernsthaft, daß wir einen Leibwächter finden, der mit Croup und Vandemar fertig wird?«
Der Marquis ließ seine weißen Zähne blitzen. »Seit Hunter hat es niemanden mehr gegeben, der eine Chance gegen sie gehabt hätte. Nein, mir genügt schon jemand, der Ihnen genug Zeit verschafft, damit Sie verschwinden können.«
Er befestigte das Ende der Uhrenkette an seinem Wams und ließ die Uhr in seine Uhrentasche gleiten.
»Was tun Sie da?« fragte Door. »Das ist die Uhr meines Vaters.«
»Er braucht sie doch nicht mehr, oder? Na also. Sieht ziemlich elegant aus.«
Er beobachtete, wie die Gefühle über ihr Gesicht flackerten: Kummer, Wut, Resignation.
»Gehen wir«, sagte sie.
»Jetzt ist es nicht mehr weit bis zur Night’s Bridge«, sagte Anaesthesia.
Richard hoffte, daß sie recht hatte. Sie waren schon bei der dritten Kerze angelangt. Es wunderte ihn, daß sie sich immer noch unter London befanden: Er war sich beinahe sicher, daß sie schon fast bis nach Land’s End gelaufen waren.
»Ich hab’ solche Angst«, fuhr sie fort. »Ich bin noch nie über die Brücke gegangen.«
»Ich dachte, du wärst schon einmal auf diesem Markt gewesen.«
»Das ist ein Wandermarkt, du Dummkopf. Hab’ ich dir doch gesagt. Er bewegt sich. Von einem Ort zum anderen. Der letzte, bei dem ich war, fand in diesem großen Uhrenturm statt. Big … Dingsda. Und der nächste war – «
»Big Ben?«
»Kann sein. Da waren wir drinnen, da, wo sich diese großen Räder drehen, und ich hab’ das hier gekauft – «
Sie hielt ihre Halskette hoch. Das Kerzenlicht spiegelte sich gelb schimmernd in dem glänzenden Quarz. Sie lächelte wie ein Kind.
»Gefällt sie dir?« fragte sie.
»Sie ist toll. War sie teuer?«
»Ich hab’ sie gegen was eingetauscht. So läuft das hier unten. Wir tauschen.«
Und dann bogen sie um eine Ecke und erblickten die Brücke. Es hätte auch eine der Themse-Brücken sein können, dachte Richard; eine riesige steinerne Brücke, die sich über einen Abgrund in die Nacht spannte. Doch darüber war kein Himmel und darunter kein Wasser.
Sie stieg empor in die Finsternis.
Richard fragte sich, wer sie gebaut hatte und wann. Er fragte sich, wie so etwas unter London existieren konnte, ohne daß alle davon wußten.
Hinter sich hörte er Stimmengemurmel.
Jemand stieß Richard zu Boden. Er schaute hoch. Ein riesiger Mann, primitiv tätowiert, in zusammengeflickten Gummi- und Ledersachen, die aussahen, als seien sie aus Autos herausgeschnitten worden, starrte auf ihn herab. Ihm folgten ein Dutzend andere, männlich wie weiblich: Leute, die aussahen, als seien sie auf dem Weg zu einem besonders armseligen Kostümfest.
»Jemand«, sagte Varney, der nicht gerade bester Stimmung war, »stand mir im Weg. Jemand sollte aufpassen, wo er hintritt.«
Richard hatte mal als kleiner Junge auf dem Heimweg von der Schule eine Ratte gesehen, in einem Graben neben der Straße. Als die Ratte Richard erblickte, hatte sie sich auf die Hinterbeine gestellt, gefaucht, einen Satz gemacht und Richard eine Heidenangst eingejagt. Er war zurückgewichen, verblüfft, daß etwas so Kleines so entschlossen war, sich mit etwas so viel Größerem anzulegen.
Anaesthesia trat zwischen Richard und Varney. Sie funkelte den großen Mann an und fauchte wie eine in die Enge getriebene, wütende Ratte. Varney trat einen Schritt zurück.
Er spuckte Richard auf die Schuhe. Dann wandte er sich ab, und das Grüppchen ging über die Brücke in die Dunkelheit. »Alles in Ordnung?« fragte Anaesthesia und half Richard wieder auf die Beine.
»Mir fehlt nichts«, sagte er. »Das war wirklich mutig von dir.«
Sie schaute schüchtern zu Boden. »Eigentlich bin ich gar nicht mutig«, sagte sie. »Ich fürchte mich immer noch vor der Brücke. Selbst die da eben hatten Angst. Deshalb sind sie alle zusammen rübergegangen. Zu mehreren fühlen sie sich sicherer. Die mit ihrer großen Klappe.«
»Wenn Sie über die Brücke gehen, komme ich mit«, sagte eine weibliche Stimme.
Richard sollte es nie gelingen, ihren Akzent einzuordnen. Damals dachte er, sie sei Kanadierin oder Amerikanerin. Später meinte er, sie könnte Afrikanerin gewesen sein oder Australierin oder sogar Inderin. Er konnte es einfach nicht sagen.
Sie war eine große Frau mit langem lohfarbenem Haar und dunkler karamelfarbener Haut. Sie trug graubraun marmoriertes Leder. Über ihre Schulter hing ein abgenutzter lederner Matchbeutel.
Sie hatte einen Stab in der Hand, in ihrem Gürtel steckte ein Messer, und an ihrem Handgelenk war eine Taschenlampe befestigt.
Sie war zweifelsohne die schönste Frau, die Richard je gesehen hatte.
»Zu mehreren fühlt man sich sicherer. Sie können gerne mit uns kommen«, sagte er nach kurzem Zögern. »Mein Name ist Richard Mayhew. Das ist Anaesthesia. Sie ist diejenige von uns beiden, die weiß, was sie tut.«
Das Rattenmädchen warf sich in die Brust.
Die Lederfrau musterte ihn von oben bis unten. »Sie kommen aus Ober-London«, stellte sie fest.
»Ja.«
»Und reisen mit einer Rattensprecherin. Gute Güte.«
»Ich bin seine Beschützerin«, sagte Anaesthesia trotzig. »Wer sind Sie? Wem sind Sie untertan?«
Die Frau lächelte. »Ich bin niemandem untertan, Rattenmädchen. Ist einer von euch schon mal über die Night’s Bridge gegangen?«
Anaesthesia schüttelte den Kopf.
»Aha. Na, das kann ja was werden.«
Sie gingen auf die Brücke zu.
Anaesthesia reichte Richard ihre Lampe. »Hier«, sagte sie.
»Danke.« Richard schaute die Frau in Leder an. »Gibt es denn da wirklich etwas, vor dem man Angst haben müßte?«
»Nur die Nacht auf der Brücke«, sagte sie.
»Die Nacht? Ich dachte, es heißt Knightsbridge – Ritterbrücke. «
»Nein, bei uns ist es die Night’s Bridge, die Brücke der Nacht.«
Anaesthesias winzige Hand suchte Richards. Er hielt sie fest. Sie lächelte ihn an und drückte ihm die Hand.
Und dann betraten sie die Brücke, und Richard begann zu begreifen, was Dunkelheit ist: etwas Festes und Reales.
Er spürte die Berührung der Finsternis auf seiner Haut, suchend, wandernd, forschend glitt sie durch seine Gedanken. Sie drang in seine Lungen, hinter seine Augen, in seinen Mund …
Mit jedem Schritt wurde das Licht der Kerze schwächer. Er stellte fest, daß auch die Taschenlampe der Lederfrau ihren Geist aufgab.
Finsternis, völlige Finsternis.
Geräusche. Ein Rascheln, ein Zucken. Richard blinzelte, geblendet von der Nacht.
Die Geräusche wurden häßlicher, hungriger. Richard glaubte, Stimmen zu hören: eine Horde riesiger, mißgebildeter Trolle unter der Brücke …
Irgend etwas glitt im Dunkeln an ihnen vorbei.
»Was ist das?« quiekte Anaesthesia. Ihre Hand zitterte in seiner.
»Still«, flüsterte die Frau. »Mach sie nicht auf uns aufmerksam. «
»Was geht hier vor?« flüsterte Richard.
»Die Finsternis«, sagte die Lederfrau sehr leise. »All die Alpträume, die seit der Zeit, als wir noch in Höhlen wohnten, als wir voll Angst zusammenrückten, um uns sicher zu fühlen und es warm zu haben, herauskommen, wenn die Sonne untergeht. Jetzt ist es an der Zeit, Angst vor der Dunkelheit zu haben.«
Richard wußte, daß ihm gleich etwas übers Gesicht krabbeln würde. Er schloß die Augen: An dem, was er sah und spürte, änderte das nichts. Die Nacht war vollkommen.
Und dann begannen die Halluzinationen.
Er sah eine Gestalt, die brennend durch die Nacht auf ihn herabfiel. Ihre Flügel und Haare standen in Flammen.
Er riß die Hände hoch: Da war nichts.
Jessica schaute ihn an, mit Verachtung im Blick.
Er wollte ihr etwas zurufen, ihr sagen, daß es ihm leid tat.
Einen Fuß nach dem anderen.
Er war ein kleines Kind auf dem Heimweg von der Schule, abends, auf der einzigen Straße ohne Beleuchtung. Egal, wie oft er den Weg ging, er wurde nie leichter, wurde nie besser.
Er steckte tief in der Kanalisation, hatte sich in einem Labyrinth verirrt. Das Ungeheuer wartete auf ihn.
Er hörte langsam fallende Wassertropfen. Er wußte, daß das Ungeheuer wartete. Er umklammerte seinen Speer … Dann ein Grollen, tief in der Kehle des Ungeheuers hinter ihm. Er drehte sich um. Langsam, quälend langsam ging es durch die Finsternis auf ihn los.
Und es war bei ihm.
Er starb.
Und ging immer weiter.
Langsam, quälend langsam ging es auf ihn los, wieder und wieder, durch die Finsternis …
Es zischte, und eine Flamme leuchtete auf, so hell, daß es wehtat. Es war die Kerzenflamme in ihrer Lucozade-Flasche. Er hatte nicht gewußt, wie hell eine einzelne Kerze brennen kann. Stolz hielt er sie hoch.
»Wie es scheint, sind wir heil hinübergekommen«, sagte die Lederfrau.
Richard merkte, daß ihm das Herz bis zum Halse schlug, daß er nicht in der Lage war zu sprechen. Er zwang sich, langsam zu atmen, ruhig zu werden.
»Ich nehme an«, sagte er stockend, »wir waren gar nicht wirklich in Gefahr. Es war wie in einer Geisterbahn … ein paar Geräusche im Dunkeln. Die Fantasie besorgt den Rest. Es gab doch keinen Grund, sich zu fürchten, oder?«
Die Frau sah ihn beinahe mitleidig an, und Richard bemerkte, daß niemand seine Hand hielt.
»Anaesthesia?«
Aus der Dunkelheit am Scheitelpunkt der Brücke kam ein schwaches Geräusch, eine Art Rascheln oder Seufzen. Eine Handvoll unregelmäßig geformter Quarzperlen klickerte die Wölbung der Brücke hinab auf sie zu.
Richard hob eine auf. Sie stammte aus der Halskette des Rattenmädchens.
»Wir sollten. Wir müssen zurück. Sie ist …«
Die Frau hielt ihre Taschenlampe hoch und leuchtete damit über die Brücke. Richard konnte bis ganz hinüber sehen. Sie war menschenleer.
»Wo ist sie?«
»Weg«, sagte die Frau ungerührt. »Die Finsternis hat sie geholt.«
»Wir müssen etwas tun«, sagte Richard. »Zum Beispiel? «
Er öffnete den Mund. Schloß ihn wieder. Er betastete den Quarzklumpen und sah auf die anderen am Boden hinunter. »Ich weiß nicht.«
»Sie ist nicht mehr«, sagte die Frau. »Die Brücke fordert ihren Tribut. Seien Sie dankbar, daß sie Sie nicht auch geholt hat. Also, zum Markt geht es hier entlang. Kommen Sie?«
Richard stand ein paar hämmernde Herzschläge lang in der Dunkelheit, dann stopfte er die Quarzperle in die Tasche seiner Jeans und folgte der Frau, die ihm einige Schritte vorausging.
Während er hinter ihr herlief, stellte er fest, daß er immer noch nicht ihren Namen wußte.