13

Barlennan war außerordentlich zufrieden mit seiner Durchsage. Er hatte nicht die geringste Kleinigkeit falsch formuliert. Ungünstigstenfalls konnte man ihn verwegener Spekulationen bezichtigen. Wenn einige der Menschen nicht schon einen dringenden Verdacht hegten, gab es keinen Grund für sie, seine vorgebliche Theorie nicht an den Captain der Kwembly weiterzuleiten.

Er war überzeugt, sich auf Dondragmer verlassen zu können, vor allem was den listigen Hinweis anging, daß Kabremm zwecks Erteilung weiterer Aufschlüsse womöglich nicht zur Verfügung stünde. In gewisser Hinsicht war es nachteilig, sich so viel früher des Tricks mit den angeblichen Eingeborenen bedienen zu müssen; es hätte ihm besser gefallen, die Menschen zu diesem Gedanken zu verleiten, ohne ihn selbst auszusprechen; aber Barlennan wußte nur zu gut, daß jeder Plan, der sich unter neuen Umständen nicht modifiziert anwenden ließ, ein armseliger Plan war.

Aucoin war reichlich verunsichert. Persönlich hatte er nie daran gezweifelt, daß Easy einer Täuschung erlegen war, weil er die Esket schon lange so gut wie völlig abgeschrieben hatte, und daß Barlennan ihre Auffassung teilte, versetzte ihm einen ernsten Schlag. Er wußte, daß Easy bei weitem die kompetenteste Person im Satelliten war, um einen Meskliniten zu identifizieren; allerdings hatte er nicht damit gerechnet, daß auch die Meskliniten um diese Tatsache wußten. Er ärgerte sich nun darüber, den beiläufigen Konversationen zwischen Menschen (hauptsächlich Easy) und den Meskliniten während der letzten Monate nicht genügend Beachtung geschenkt zu haben. Ihm war der Kardinalfehler aller Vorgesetzten unterlaufen, bestimmte Aspekte aus dem Blickfeld entgleiten zu lassen.

Jedenfalls, er sah keinen Anlaß, die Erfüllung von Barlennans Forderung zu verweigern. Er musterte die anderen. Easy und Mersereau sahen ihn erwartungsvoll an; die Hand der Frau lag auf dem Mikrofonselektor in der Armlehne ihres Sessels.

Das Gesicht ihres Mannes zeigte ein unerklärliches Lächeln, das Aucoin einen Moment lang etwas verwirrte, doch als sich ihre Blicke trafen, nickte Hoffman, als habe er die Theorie des Meskliniten analysiert und sie für vernünftig befunden. Der Planer zögerte noch eine Sekunde länger und sprach dann in sein Mikrofon. „Wir werden das sofort erledigen, Commander.“ Er nickte Easy zu, die prompt ihren Selektor betätigte und die Durchsage an Dondragmer weiterzuleiten begann.

Während sie dies tat, kehrte Benj zurück, dem offensichtlich neue Informationen auf den Lippen lagen, aber er beherrschte sich, als er bemerkte, daß gerade ein Gespräch mit der Kwembly geführt wurde. Sein Vater beobachtete den Jungen, während Easy dem Captain Barlennans Theorie ausrichtete, und vermochte seine Erheiterung nur mühsam zu verbergen. Man sah Benj nur allzu deutlich an, daß er die Idee restlos akzeptierte.

Nun, er war jung und seine Mutter anscheinend auch ein wenig unkritisch.

„Barlennan möchte deine Meinung dazu hören und ganz besonders irgendwelche weiteren Angaben von Kabremm“, beschloß Easy ihren Bericht. „Das ist alles — nein, warte…“ Sie hatte Benj bemerkt. „Mein Sohn ist aus dem Meteorologischen Labor zurückgekommen und hat anscheinend Neuigkeiten für dich.“

„Mr. McDevitt hat die jüngsten Meßdaten verarbeitet“, fing Benj ohne jede Einleitung zu sprechen an. „Er hat sich in seiner Annahme über die Ursache des Schmelz- und Gefrierprozesses sowie über die Natur der Wolken, die Stakendee gesehen hat, nicht getäuscht. Die Möglichkeit ist groß, daß ihre Kondensation zunehmen und den Fluß anwachsen lassen wird. Er schlägt vor, daß du möglichst exakt den Zeitpunkt verzeichnest, wann die Wolken die Kwembly erreichen, wie er es schon einmal erwähnte. Er sagt, je später dies sein wird, um so schlimmere Ausmaße wird die entstehende Flut annehmen. Ich verstehe das nicht, aber so lauten die Computerergebnisse. Ich soll dich ausdrücklich darauf hinweisen, daß die Wahrscheinlichkeit einer Fehlinformation auch diesmal nicht geringer ist als bei früheren Gelegenheiten. Er hat sich ausführlich über die Gründe geäußert, aus welchen er so wenig sicher sein könne, aber davon habe ich dir ja schon einmal erzählt.“

Dondragmers Antwort erreichte den Satelliten fast sofort nach Ablauf der Übermittlungsverzögerung; nach Anhörung von Benjs Bericht konnte er kaum länger als zwei Sekunden verwandt haben, um sich für den Inhalt seiner Antwort zu entscheiden.

„Ausgezeichnet, Benj. Bitte richte Barlennan aus, daß seine Idee vernünftig klingt, das heißt, sie bietet zumindest eine vernünftige Erklärung für das Verschwinden meiner beiden Helikopter. Ich hatte bisher keine Gelegenheit, mich persönlich von Kabremm informieren zu lassen — falls er es wirklich war; ich habe ihn nicht gesehen. Er ist nicht zur Kwembly gekommen. Ihr müßtet besser wissen als ich, ob er sich noch bei Stakendee befindet. Ich werde Maßnahmen für den Fall einleiten, daß die Vermutung des Commanders sich als richtig erweist. Hätte ich früher an diese Möglichkeit gedacht, würde ich selbstverständlich nicht fast die gesamte Mannschaft nach draußen geschickt haben, um den Notstützpunkt am Ufer des Flußbetts errichten zu lassen. Aber dieser Beschluß dürfte trotzdem richtig sein. Ich sehe keine Chance, das Fahrzeug in einem angemessenen Zeitraum freizulegen. Und wenn Mr. McDevitt auch nur annähernd über das Entstehen einer neuen Flut sicher ist, müssen wir die Räumung der Kwembly kurzfristig abschließen.

Kommt es noch einmal zu einer solchen Strömung wie jener, die uns an diese Stelle getrieben hat, während die Kwembly im Gestein festhängt, dürfte sie wohl in Stücke zerbrechen. Wir müssen das Fahrzeug rechtzeitig verlassen. Sobald der Notstützpunkt steht, werde ich weiterhin versuchen, die Kwembly freizulegen, vorausgesetzt, die neue Flutwelle ist noch nicht unterwegs; über Einzelheiten können wir uns noch einigen, aber um neue Pläne zu entwickeln, haben wir nicht mehr die Zeit. Im Norden sehe ich sich bewegende Lichter; ich nehme an, daß die Besatzung den Rückweg angetreten hat. Ich werde den Kommunikator in diese Richtung rücken, so daß du sie sehen kannst.“

Das Bild auf dem Schirm verschwamm und wurde erst wieder deutlich, nachdem der Captain die Kommunikatoreinheit zum Stillstand gebracht hatte. Der Ausblick war nicht sonderlich aufschlußreich; nördlich der Kwembly herrschte fast völlige Dunkelheit, in der man lediglich einige Lichtflecken sah. Um Dondragmers Behauptung, daß sie sich bewegten, beipflichten zu können, bedurfte es langer und sorgfältiger Beobachtung.

Easy wollte schon verlangen, daß die Kamera in die ursprüngliche Position gebracht werden solle, als Benj sich einmischte. „Du meinst, du hast jede Hoffnung aufgegeben, Beetchermarlf und Takoorch und die anderen zu finden, und willst das Fahrzeug räumen und sie ihrem Schicksal überlassen? Ich weiß, daß du noch die Verantwortung für fast einhundert andere Besatzungsmitglieder trägst, aber manchmal scheint mir das eine schlechte Entschuldigung dafür zu sein, daß man nicht einmal versucht, jemand zu retten.“

Easy war verblüfft und ziemlich enttäuscht über die Äußerung ihres Sohns und fühlte sich versucht, den Jungen zurechtzuweisen und sich bei Dondragmer zu entschuldigen. Es kostete sie jedoch Zeit, eine richtige Formulierung zu finden, die ihren eigenen Empfindungen nicht widersprach; Benj sah darin eine Bestätigung seines Protests.

Aucoin und Mersereau hatten das Gespräch nicht genau verfolgt, weil beide mit Barlennan beschäftigt waren, und Benj hatte seine Vorwürfe in Stennish vorgetragen. Ib Hoffman wies keine Miene auf, welche die übrigen Anwesenden zu deuten vermocht hätten, doch Easy wären die Anzeichen seiner Erheiterung nicht entgangen, wäre ihr Blick auf ihn gerichtet gewesen. McDevitt trat gerade ein, aber zu spät; er bemerkte nichts anderes als Easys ungewöhnlichen Gesichtsausdruck. Diesmal dauerte es erheblich länger als die übliche Übermittlungsverzögerung, bevor Dondragmer antwortete. Weder aus Tonfall noch Wortwahl konnte man schließen, ob er verärgert war. „Ich habe sie keineswegs aufgegeben, Benj. Die Ausrüstungen, die wir auszulagern beabsichtigen, umfassen auch so viel Krafteinheiten wie möglich, so daß wir auch jene aus den Motorblöcken unter dem Rumpf herausholen, die wir erreichen können. Bei dieser Gelegenheit werden wir sehr sorgfältig nach Spuren der beiden Steuerleute suchen. Falls wir sie finden, werden wir sie aus dem Eis befreien.

Andererseits ist es auch möglich, daß sie das Einsetzen des Gefrierprozesses bemerkten, bevor das Wasser bis auf den Grund gefroren war und an anderer Stelle eingefroren wurden, während sie nach einem Hohlraum im Eis suchten.“

Benj nickte mit leicht gerötetem Gesicht; Easy ersparte es ihm, sich zu entschuldigen. „Danke, Captain“, sagte sie. „Wir verstehen dein Verhalten.

Wir wollten dich nicht ernsthaft verdächtigen, du hättest die Absicht, deine Leute im Stich zu lassen; die Formulierung war etwas unglücklich. Könntest du den Kommunikator wieder auf den erleuchtete n Teil des Geländes richten? Wir können in der anderen Richtung nicht viel erkennen.“

„Außerdem wäre es gut“, ergänzte McDevitt, ohne zwischen Easys und seinen Worten eine Pause eintreten zu lassen, „würdest du eine Krafteinheit opfern, um die Scheinwerfer in Betrieb zu halten und den Brückenkommunikator so ausrichten, daß wir den Rumpf sehen können. Auf diese Weise vermögen wir die Flut zu beobachten, wenn sie kommt, was innerhalb der nächsten drei bis fünfzehn Stunden der Fall sein wird, wie ich nahezu sicher bin, und außerdem ließe sich besser feststellen, ob es sich anschließend noch lohnt, nach dem Fahrzeug zu suchen und vielleicht sogar wo. Ich weiß, daß dir dann bloß noch zwei Kommunikatoren bleiben, aber die Sache scheint es mir wert zu sein.“

In dieser Frage entschied sich Dondragmer anscheinend wieder sehr schnell; seine Antwort traf beinahe unmittelbar nach Ablauf der vierundsechzig Sekunden Verzögerung ein. „Ja, wir werden es so machen. Ich wollte die Scheinwerfer ohnehin in Betrieb lassen, da wir bis zur letzten Minute auf dem Eis zu tun haben werden. Dein Vorschlag paßt ausgezeichnet dazu.

Wie ihr zweifellos seht, habe ich den Kommunikator auf die Steuerbordseite gerichtet.

Ich muß die Brücke nun verlassen; die Besatzung wird in Kürze hier sein, und ich möchte sie sofort für die noch unerledigten Arbeiten einteilen, sobald sie eintrifft.“

Wieder begann Benj zu sprechen, ohne sich zuvor mit jemand abzustimmen. „Könntest du uns irgendein Signal geben oder von Beetch geben lassen, falls ihr ihn lebend findet? Das genügte; ich möchte gar nicht, daß du auf die Brücke kommst, um Einzelheiten zu erzählen.“

Diesmal kam keine Antwort mehr. Vermutlich war Dondragmer in seinen Schutzanzug gestiegen und nach draußen gegangen, nachdem er seine letzte Durchsage gemacht hatte. Für die Menschen gab es nichts zu tun, als zu warten.

Aucoin hatte inzwischen mit Easys Hilfe Dondragmers Antwort an die Basis übermittelt und bereits Barlennans Bestätigung erhalten. Der Commander bat sich aus, daß man ihn möglichst vollständig über alle Neuigkeiten von der Kwembly informierte, ganz besonders über weiterführende Gedanken Dondragmers. Aucoin versprach es und wandte sich mit der Bitte an Easy, dem Captain die Durchsage weiterzugeben. Er erhielt zur Antwort, dies werde geschehe n, sobald Dondragmer wieder mit dem Satelliten Kontakt aufnähme. „In Ordnung“, meinte der Planer mit einem Nicken.

„Wenigstens hat bisher noch niemand davon gesprochen, ein Hilfsfahrzeug auszuschicken.

Hoffentlich bleibt es dabei.“

„Ich persönlich“, erwiderte Easy, „hatte schon daran gedacht, die Kalliff oder die Hoorsh auszuschicken, als die Kwembly festfror.“

„Das habe ich geahnt. Ich bin erfreut, daß du darauf verzichtet hast, Barlennan diesen Vorschlag zu unterbreiten. Meine ganze Hoffnung besteht darin, daß er nicht auf die Idee kommt, es selber vorzuschlagen, weil ich jedes Mal von euch überredet wurde, wenn ihr beide gegen mich gestanden habt.“ Easy sah Aucoin an und dann ihr Mikrofon. Ihr Mann entschied, daß eine Ablenkung angebracht sei, und unterbrach das bedrohliche Schweigen mit einer Frage.

„Alan, was hältst du von Barlennans Theorie?“

Aucoin runzelte die Stirn. Er und Easy wußten genau, warum Ib die Frage gerade jetzt aufwarf, aber sie ließ sich ohnehin kaum ignorieren; und Easy kam schließlich zu der Auffassung, daß Ibs Ablenkungsmanöver in diesem Augenblick wohl das beste war.

„Die Idee ist faszinierend“, sagte der Planer langsam, „aber ich halte sie nicht für sehr wahrscheinlich. Dhrawn ist ein großer Planet, falls man ihn überhaupt einen Planeten nennen kann, und ich finde es seltsam — nun, ich weiß nicht, ob es seltsamer ist, daß wir so schnell intelligentem Leben begegnen, oder seltsamer, daß dies nur einem der Fahrzeuge widerfuhr. Selbstverständlich gibt es keine Zivilisation, die elektroma gnetische Energie benutzt; wir hätten sie sofort entdeckt, als wir uns für Dhrawn zu interessieren begannen.

Handelte es sich jedoch um eine Zivilisation von niedrigerer Kulturstufe, wie hätte sie der Besatzung der Esket beikommen können?“

„Ohne Kenntnis ihrer physischen und mentalen Fähigkeiten — ganz zu schweigen vom Stand ihrer Kultur — läßt sich das nicht einmal erraten“, entgegnete Hoffman. „Kamen nicht einige der ersten Indianer, denen Kolumbus begegnete, sogar in Spanien zu Rang und Würden?“

„Ich glaube, das ist ein sehr konstruierter Vergleich, um es gelinde auszudrücken. Der Esket können praktisch unendlich viele Dinge zugestoßen sein, ohne daß sie auf intelligentes Leben traf. Das weißt du so gut wie ich; du hast mir bei der Auflistung der Möglichkeiten geholfen, bis wir zu dem Schluß kamen, daß solche Spekulationen sinnlos seien. Ich bin der Meinung, daß Barlennans Theorie nur um sehr wenig wahrscheinlicher geworden ist als zuvor.“

„Du glaubst noch immer, daß meine Identifizierung von Kabremm ein Irrtum war, oder?“ fragte Easy.

„Ja, das fürchte ich. Außerdem überzeugt mich der Gedanke, daß auf Dhrawn eine intelligente Rasse existieren soll, einfach nicht. Es gibt Dinge, die schlichtweg unwahrscheinlich sind.“

Hoffman kicherte. „Die menschliche Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, stand schon immer auf schwachen Füßen“, führte er aus. „Die Chance dürfte nicht so niedrig zu bewerten sein.

Denke daran, was wir an intelligentem Leben in dem sehr kleinen Raumvolumen innerhalb von fünf Parsek um Sol gefunden haben, mit nur vierundsiebzig bekannten Sternen und etwa zweihundert sonnenlosen Planeten: zwanzig Rassen auf ungefähr unserer Entwicklungsstufe, die ihre Energiekrise sicher überwunden haben; acht Rassen, einschließlich die Bewohner von Tenebra und Mesklin, denen sie noch bevorsteht; acht, die sie nicht zu überstehen vermochten und ausgestorben sind; drei, die ebenfalls versagt haben, aber für die es noch Hoffnung gibt; und jede davon, erinnere dich, existiert innerhalb eines historischen Zeitraums von einhunderttausend Jahren um diesen entscheidenden Zeitpunkt ihrer Geschichte! Und das trotz der Tatsache, daß die Planeten von sehr unterschiedlichem Alter sind; ich erwähne nur Panesh mit seinen neun Milliarden Jahren und Tenebra mit vielleicht einem Zehntel dieses Alters. Dahinter steckt mehr als Zufall, Alan.“

„Womöglich besaßen Panesh, die Erde und die älteren Planeten in ihrer Vergangenheit bereits Kulturen; vielleicht entwickelt jeder Planet alle zehn Millionen Jahre eine Kultur.“

„Dann müßten diese frühen intelligenten Rassen von Anfang an so intelligent gewesen sein, daß sie auf ihren Planeten absichtlich keine Fossilien hinterließen. Meinst du, die Existenz der Menschheit auf der Erde wird in einer Milliarde Jahre nicht mehr geologisch nachweisbar sein trotz ausgebeuteter Kohleflöze und zahlloser Bierbüchsen? Das kaufe ich dir nicht ab, Alan.“

„Vielleicht nicht, aber ich bin keineswegs Mystiker genug, um anzunehmen, daß irgendwelche Superwesen die Rassen in diesem Teil des Weltraums unbemerkt und auf geheimnisvolle Weise einer gemeinsamen Höchststufe zuführen.“

„Ob du der Superwesenhypothese anhängst oder ob du die Esfa-Theorie vorziehst, spielt keine Rolle. In dieser Problematik haben wir es mit mehr als nur Wahrscheinlichkeiten zu tun, und deshalb kannst du deine Kritik an Barlennan nicht ausschließlich auf die Gesetze der Wahrscheinlichkeit stützen. Du mußt nicht glauben, daß er recht hat, aber ich würde dringend dazu raten, ihn ernst zu nehmen. Ich tue es.“

Diese Diskussion, wie schon die vor einigen Stunden stattgefundene Besprechung, hätten Dondragmer außerordentlich interessiert. Doch selbst wenn das Zuhören ihm möglich gewesen wäre, er war bei weitem zu beschäftigt. Mit der Rückkehr des Großteils seiner Mannschaft (einige waren natürlich auf der höher gelegenen Talseite zurückgeblieben, um die Versorgungsanlagen zu betreuen), mußte er umgehend die weiteren Arbeiten verteilen und anleiten und häufig persönlich zugreifen. Er kommandierte zwanzig Matrosen ab, um dem Trio zu helfen, das bereits dabei war, die Hauptluftschleuse vom Eis zu befreien. Eine noch größere Gruppe schickte er unter den Rumpf, versehen mit Lampen und Werkzeugen, um jede zugängliche Energieeinheit sicherzustellen. Der Captain hielt sein Benj gegenüber abgegebenes Versprechen und befahl dieser Gruppe, sehr genau nach Spuren von Beetchermarlf und Takoorch zu suchen. Sie fanden jedoch nichts. Einige Zeit später kehrten sie mit zwei Konvertern, bei denen es sich um jene handelte, die die beiden Steuerleute bei ihren Befreiungsversuchen benutzt hatten, und zwei weiteren, die durch den Erhitzer freigelegt worden waren, an die Oberfläche zurück. Die übrigen Einheiten, so berichteten sie, seien nicht zugänglich.

Unterdessen hatte sich der Rest der Besatzung wieder im Innern des Fahrzeugs eingefunden, indem man die anderen verfügbaren Schleusen benutzte: die kleinen an der Brücke, die beiden größeren, durch die gewöhnlich die Helikopter starteten und die beiden kleinen Notschleusen an Bug und Heck.

An Bord bekam jeder sofort zu tun. Dondragmer hatte in ihrer Abwesenheit nicht nur mit den Menschen gesprochen, sondern auch Einzelheiten geplant. Einige verpackten die Nahrungsvorräte, während andere Tauwerk, Lampen, Fusionskonverter und andere Ausrüstungsgegenstände zum Abtransport vorbereiteten. In den Korridoren, die zur Hauptluftschleuse führten, stapelte sich schnell sehr viel verschiedenartiges Material, um nach Freilegung der Schleuse nach draußen geschafft zu werden.

Von dem Gerumpel und Gelärme, das mit dieser Tätigkeit verbunden war, drang unglücklicherweise nichts durch das Material der pneumatischen Matratze, in der Beetchermarlf und Takoorch noch immer steckten. Soweit es sich später schätzen ließ, mußten die beiden sich wenige Minuten vor dem Einsatz des Erhitzers in ihren Schutz begeben haben. Das dicke, gummiartige Material der Matratze sog jedes Geräusch auf. Hätten die auf der Oberfläche arbeitenden Meskliniten Anlaß gehabt, sich lautstark zu verständigen, ihre Pfiffe wären vielleicht durch die Hülle gedrungen; aber es gab kaum etwas zu sagen, weil alle ihre Arbeit nur zu gut kannten. Die Elastizität des Materials verschloß den Schlitz, durch den die Steuerleute eingedrungen waren, so dicht, daß kein Lichtschimmer sie erreichte. Überdies hielt die Stimmung der beiden, eine typisch mesklinitische Mischung aus Geduld und Fatalismus, sie davon zurück, sich von der Lage außerhalb ihres provisorischen Schutzraums zu überzeugen, bevor die Wasserstoffvorräte ihrer Anzüge gefährlich zusammengeschrumpft sein würden. Und so, hätte Dondragmer auch Benjs Appell vernommen, es würde für ihn keinen Anlaß für irgendwelche Signale gegeben haben. Die beiden Steuerleute, kaum mehr als sechzig Zentimeter von einigen ihrer draußen tätigen Kameraden entfernt, wurden nicht gefunden.

Nachdem die dringendsten Arbeiten der Fahrzeugräumung erledigt waren, erteilte Dondragmer zweien seiner Matrosen einen Sonderauftrag. „Ihr geht stromaufwärts und bleibt in nordwestlicher Richtung, bis ihr Kabremm und die Gwelf findet“, befahl er. „Informiert ihn über unsere Maßnahmen. Wir werden unsere Beleuchtungsanlagen so aufstellen, daß sich nur die Apparaturen menschlicher Herkunft im Licht befinden. Das wird es ihm ermöglichen, die Gwelf außerhalb dieses Areals zu landen, ohne von den Menschen gesehen zu werden. Erklärt ihm, daß der Commander anscheinend den Trick mit den Eingeborenen früher als beabsichtigt ausspielen will, infolge Kabremms Auftauchen vorder Kamera von Stakendees Kommunikator. Anschließend sucht ihr Stakendee und setzt ihn ebenfalls in Kenntnis. Ac htet darauf, daß ihr nicht in den Kamerabereich eines Kommunikators geratet; sobald ihr euch seiner Gruppe zu nähern glaubt, schaltet eure Lampen aus. Ich werde über den Satelliten mit ihm Verbindung halten, aber natürlich kann ich diese Nachricht nicht durchgeben lassen. Ihr versteht.“

„Jawohl, Captain“, antworteten die beiden zugleich und entfernten sich.

Die Stunden verstrichen. Die Hauptschleuse war freigelegt und geöffnet, und man hatte fast das gesamte Material nach draußen geschafft, als ein Anruf vom Satelliten erfolgte. Der Kommunikator aus dem Laboratorium stand nun an der Oberfläche, so daß Dondragmer direkt erreicht werden konnte. Der Anrufer war Benj.

„Stakendee hat gemeldet, daß der Strom merklich breiter und schneller fließt und daß die Wolken sich in Regen verwandeln. Ich habe ihm auf meine Verantwortung geraten, den Rückweg anzutreten.“

Der Captain blickte zum noch wolkenlosen Himmel empor und dann nach Westen. „Danke, Benj. Genau das hätte ich auch getan. Wir verlassen die Kwembly in kurzer Zeit. Die Vorschläge von Mr. McDevitt sind berücksichtigt worden. Bitte, gib dies an Barlennan weiter; sage ihm, daß wir mit aller Vorsicht auf mögliche Umtriebe von Eingeborenen achten werden; falls sie, wie er anscheinend vermutet, Kabremm als Kontaktperson vorgeschickt haben, werde ich mich bemühen, friedliche Beziehungen zu ihnen herzustellen. Ich habe Kabremm noch immer nicht persönlich gesehen, und ihr habt ihn seit seinem Auftauchen nicht mehr erwähnt, so daß ich über ihn so gut wie nichts weiß. Kümmere dich darum, daß man mich über Barlennans Überlegungen und Absichten informiert; gleiches werde ich von meiner Seite aus zu tun versuchen, aber es ist keineswegs ausgeschlossen, daß sich die Ereignisse überschlagen. Beobachtet eure Bildschirme gut.

Das ist vorläufig alles; wir brechen jetzt auf.“ Der Captain stieß einen gellenden Pfiff aus, der zum Glück für die menschlichen Ohren vom Sender nicht in wirklicher Lautstärke übertragen wurde.

Die Meskliniten bildeten eine unregelmäßige Kolonne, und innerhalb von zwei Minuten waren sie aus dem Aufnahmefeld des

Brückenkommunikators verschwunden. Der andere Kommunikator übertrug dem Bildschirm nichts als das Licht der Lampen, die an der Spitze der Kolonne getragen wurden. Die Meskliniten, die nur zwei oder drei Meter von der Kamera entfernt vorbeimarschierten, ließen sich ganz deutlich erkennen, während sie mit ihren Lasten über das steinige Gelände kletterten, mehr allerdings nicht.

Der Kolonne konnten zu beiden Seiten ganze Heerscharen von Eingeborenen auflauern, ohne daß die Menschen dies zu erkennen imstande sein würden. Aucoin war weder der erste noch der letzte, der Dhrawns eintausendfünfhundert Stunden dauernde Rotation verfluchte; es galt noch über sechshundert Stunden abzuwarten, bevor das schwache Tageslicht von Lalande 21.185 zurückkehrte.

Der Fluß war noch schmal, als die Kolonne ihn durchquerte, obwohl Stakendee, der sein Anschwellen gemeldet hatte, sich nur wenige Meilen weiter westlich befand. Benj gelangte zu der Auffassung, daß Stakendees Gruppe wohl den Fluß ebenfalls alsbald überqueren sollte, damit sie sich am anderen Ufer der Kolonne anschließen konnte. Allerdings trug er seinen Vorschlag Dondragmer vor, statt sich direkt an Stakendee zu wenden. Der Captain, der der beiden Kuriere gedachte, die er stromaufwärts geschickt hatte, riet hastig dazu, die Flußüberschreitung so lange wie möglich zu verschieben, damit Stakendee das Anschwellen der Flut zu verzeichnen in der Lage sei. Benj und Easy akzeptierten diese Ausrede. Ib Hoffman, der genau wußte, daß der Spähtrupp keine Chronometer mitführte und deshalb über die Flutentwicklung gar keine vernünftigen Angaben machen konnte, war einige Sekunden lang recht verwirrt. Dann lächelte er verschmitzt.

Die nächsten beiden Stunden gab es kaum etwas zu beobachten. Die Besatzung der Kwembly erklomm das steinige Ufer und erreichte die Stelle, an der die zuerst abtransportierten Ausrüstungsgegenstände deponiert worden waren, und begann, so etwas wie ein Lager zu errichten.

Natürlich wurden die Versorgungsvorrichtungen vorrangig betreut. Es würden noch viele Stunden vergehen, bevor die ersten Schutzanzüge der Vorratsergänzung bedurften, doch ausbleiben konnte dies nicht. Am zweitwichtigsten waren die Nahrungsvorräte. Die Meskliniten erledigten die hiermit verbundenen Arbeiten schnell und routiniert. Dondragmer, ein erfahrener Segler, vermochte die bei einer Havarie anfallenden Probleme glänzend zu bewältigen.

Schließlich setzte Stakendees Gruppe über den Fluß und erreichte bald darauf das im Aufbau befindliche Lager. Dondragmer hatte der Durchquerung zugestimmt, nachdem über Benj eine Durchsage gekommen war, in der rein zufällig der Name eines der beiden Kuriere fiel, die er ausgeschickt hatte.

Folglich blieb das Anwachsen des Ammoniak-Wasser-Stroms sowohl menschlichen als auch mesklinitischen Augen verborgen. Der Anblick wäre allerdings höchst interessant gewesen. Zuerst handelte es sich um nicht mehr als ein dünnes Rinnsal, das von den höheren Ebenen des Flußbettes von einer Bodenkuhle zur nächsten sickerte. In dem Maße, wie der Flüssigkeitsgehalt des Nebels sich niederschlug, begannen neue, dünne Zuflüsse den Hauptstrom von beiden Seiten aus zu speisen, wodurch der Fluß tiefer wurde und anschwoll. Da und dort gefror er vorübergehend, als Wasser, das aus stromaufwärts gelegenen vereisten Tümpeln stammte, mit aus dem Nebel sich ablagerndem Ammoniak eine eutektische Verbindung einging, die bei der herrschenden Temperatur jedoch unvermeidlich in flüssigen Zustand übergehen mußte. Die Temperatur betrug etwa 174 Grad Kelvin und ungefähr 71 Grad nach der von den mesklinitischen Wissenschaftlern benutzten Skala. Die Flut verstärkte sich, während sie sich der Kwembly näherte; mehr und mehr Wassereis schmolz, und die Aggregatprozesse wurden komplizierter. Das Ammoniak verwandelte eine Zeitlang Eis in Flüssigwasser, und die Mischung rann stromabwärts. Dann erstarrte der Strom infolge der Anreicherung mit Ammoniak für eine Weile wie das Wachs einer erloschenen Kerze, um sich anschließend, als das untergelagerte Eis mit der Mischung eine Reaktion einging, wieder zu verflüssigen. Endlich erreichte die Flut das Loch, das man auf der Steuerbordseite der Kwembly in die Eisschicht geschmolzen hatte, so daß die Menschen die Entwicklung fortan beobachten konnten. Zu diesem Zeitpunkt bestand der sogenannte Strom aus einer verwirrenden Vielfalt von flüssigen und gefrorenen Verbindungen und erstreckte sich über ungefähr zwei Meilen. Das Eis löste sich nach und nach auf. So weit stromabwärts standen noch keine Wolken am Himmel, doch war die Atmosphäre so mit Ammoniak gesättigt, daß es zu kondensieren begann. Das ammoniakarme Wassereis, das eine Schicht zwischen dem Felsuntergrund und dem Flüssigkeitsstrom bildete, begann dadurch zu tauen und löste sich allmählich auf. Die Flüssigkeit neigte erne ut zur Erstarrung, als sie noch mehr Ammoniakdunst absorbierte, aber ihr Vordringen bereicherte sie auch um mehr Wassereis. Sehr langsam, so unauffällig, daß weder die Menschen noch die beiden in der Matratzenzelle hockenden Meskliniten die Veränderung bemerkten, löste das Eis seine Umklammerung um die Kwembly, und schließlich lag das Fahrzeug eisfrei. Inzwischen hatte sich das gesamte Flußbett mit Flüssigkeit gefüllt, die nur noch sehr wenige Eisschollen mitführte. Eine sehr schwache Strömung begann sich zu entwickeln.

Unbemerkt von den Menschen und unbemerkt von den beiden Meskliniten schickte die Kwembly sich an, mit dieser Strömung zu treiben, so sanft, daß weder die Augen der Menschen noch die Nervensysteme der Steuerleute auch nur die leiseste Bewegung registrierten.

Der Fluß, der sich auf dem großen Plateau gebildet hatte, wand sich durch eine Kette von Hügeln, die für Dhrawns Verhältnisse respektable Bodenerhebungen waren; er floß aus dem Nordwesten etwa viertausend Meilen weit nach Südosten. Die erste Flutwelle hatte das Fahrzeug über einen Paß in der Nähe des südöstlichen Endes der Flußlänge und in eine niedrigere Region am Rande der Tiefdruckzone Alpha gespült. Diese Flut war das erste recht zögernde Anzeichen für die jahreszeitliche Wetteränderung gewesen, die aus Dhrawns Annäherung an seine Sonne resultierte.

Die zweite Flut war identisch mit der tatsächlichen Flußbildung und würde erst aufhören, nachdem der gesamte Schnee geschmolzen war, über ein Erdjahr später. Die Kwembly bewegte sich so schwach, weil sie nur langsam freischmolz; daran änderte sich auch nichts, als sie schließlich weiter abtrieb, denn der inzwischen völlig verflüssigte Strom war zu breit und tief. Beetchermarlf und Takoorch waren vielleicht ein wenig durch den fallenden Wasserstoffdruck verwirrt, doch selbst wenn sie die leisen Bewegungen des Fahrzeugs bemerkt hätten, würden sie sie wahrscheinlich ihren eigenen Regungen auf dem flexiblen Material der Pneumatik zugeschrieben haben.

Das Tiefdruckgebiet Alpha war keineswegs Dhrawns wärmste Region. Die lokalen Schmelzeffekte jedoch, die auf jedem Planeten dazu tendierten, die radioaktiven Elemente zu konzentrieren, erwärmten sie jedoch an zahlreichen Stellen bis zum Schmelzpunkt von Wassereis, das hieß, mehr als zweihundert Grad Kelvin wärmer als die Strahlung von Lalande 21.185 es allein verursacht hätte. Ein Mensch hätte in diesem Gebiet ohne komplizierte technische Schutzvorrichtungen leben können, wären nicht die kolossalen Gravitations- und Druckverhältnisse gewesen. Das wirklich heiße Gebiet Dhrawns, die Tiefdruckzone Beta, lag vierzigtausend Meilen weiter nördlich.

Die Kwembly wurde unaufhaltsam in Regionen mit erhöhten Temperaturen abgetrieben, die den Fluß in seinem liquiden Zustand hielten, obwohl er Ammoniak an die Atmosphäre verlor. Etwa dreihundert Meilen von der Stelle entfernt, an der die Besatzung das Fahrzeug geräumt hatte, trieb es in einen breiten, flachen See. Es strandete im weichen Schlamm des Deltas, in das der Fluß mündete. Der mächtige Rumpf stemmte sich naturgemäß gegen die Strömung, und diese begann sich neben dem Fahrzeug einen neuen Kanal zu graben. Nach ungefähr einer halben Stunde rutschte das Fahrzeug seitwärts hinein und schwamm erneut. Es war der Ruck, der bei diesem Vorgang erfolgte, welcher die Aufmerksamkeit der beiden Steuerleute erregte und sie veranlaßte, aus ihrem Versteck zu kommen.

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