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Dondragmer hatte seinen Wissenschaftlern befohlen, vor der Hauptluftschleuse den Bohrer aufzustellen und eine Eisprobe zu entnehmen, da er die Gefahr, daß sich einer der vermißten Steuerleute direkt darunter befinden könnte, als gering erachtete. Die Bohrung ergab, daß der Tümpel, in dem die Kwembly stand, zumindest an dieser Stelle bis auf den Grund gefroren war. Es bestand Hoffnung, daß dies nicht für den Bereich unterhalb des Rumpfes galt, von wo weder Wärme noch Ammoniak rasch entweichen konnten; aber der Captain verwarf den Vorschlag einer Schrägbohrung, da die Wahrscheinlichkeit, daß die beiden verschwundenen Steuerleute sich dort aufhielten, am höchsten war. Sie hatten dort unten zu tun gehabt, und man konnte sich kaum vorstellen, daß ihnen das Einsetzen des Gefrierprozesses entgangen war, falls sie gerade woanders gewesen waren. Auf jeden Fall gab es keine sichere Methode, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Die Plastikhülle der Kwembly war selbstverständlich schalleitfähig; Klopfzeichen hätten das Verständigungsproblem gelöst, wäre nicht die pneumatische Matratze gewesen. Trotz der geringen Erfolgsaussichten befahl Dondragmer einem Matrosen, das tiefste Deck vom Heck bis zum Bug mit einer Brechstange abzuklopfen. Das Resultat war negativ, das hieß, nicht aufschlußreich. Es ließ sich nicht feststellen, ob sich unter dem Rumpf niemand befand, ob die Klopflaute nicht durchdrangen oder ob die beiden einfach keine Möglichkeit hatten zu antworten.

Auf dem Eis arbeitete eine Einsatzgruppe, aber man hatte den Captain bereits informiert, daß nur mit langsamen Fortschritten zu rechnen war. Auch mit der ungeheuren Muskelkraft von Meskliniten ließ sich hier nur wenig erreichen. Werkzeuge von der Größe einer Nagelfeile, gehandhabt von vierzig Zentimeter langen und (unter irdischen Bedingungen) zwanzig Pfund schweren Raupen, würden eine lange Zeit brauchen, um ein Fahrzeug von der Größe der Kwembly vom Eis zu befreien, von dem man überdies nicht wußte, bis in welche Tiefe es sich erstreckte.

Unterdessen startete der zweite Helikopter nochmals, gesteuert von Reffel. Der Kommunikatorsatz befand sich noch an Bord, und die menschlichen Beobachter untersuchten die Landschaft, die die Scheinwerfer der kleinen Maschine enthüllten, nicht weniger sorgfältig als Reffel. Außerdem fluchten sie nicht minder herzlich als der Pilot über die Länge von Dhrawns Nächten. Die angebrochene Nacht würde noch länger als sechshundert Stunden währen, und vor Sonnenaufgang war jede wirklich effektive Suchaktion ausgeschlossen.

Die Beschaffenheit mesklinitischer und menschlicher Augen verlangte es, das Scheinwerferlicht in einem ziemlich stark gebündelten Strahl zu konzentrieren, der nur wenige Meter Gelände erleuchtete. Reffel flog langsam im Zickzackkurs über das Tal nach Westen. Im Satelliten wurden die Bilder, die seine Kamera übermittelte, aufgezeichnet, reproduziert und den Topografikern zugeleitet. Die Suche nach Kervenser war vorerst kaum erfolgversprechend; doch nebenbei lieferte sie immerhin Informationsmaterial.

Dondragmer war nicht buchstäblich besorgt um seinen Ersten Offizier und die Steuerleute, da er sich nicht zu sorgen vermochte. Angemessen formuliert, war er beunruhigt; aber er hatte für die Vermißten alles getan, was er tun konnte, und darauf wandte sich seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Grundsätzlich beschäftigten ihn zwei Fragen. Er hätte gern gewußt, wann das Eis aller Wahrscheinlichkeit nach wieder schmelzen und wann eine weitere Flutwelle folgen würde.

Außerdem hätte er viel für einen ausführbaren Vorschlag gegeben, wie sich das Fahrzeug schnell und sicher aus dem Eis befreien ließ. Beide Wünsche hatte er sowohl den Menschen wie auch seinen eigenen Wissenschaftlern vorgetragen, wobei er jedoch den letzteren gegenüber klarstellte, daß er keineswegs ein Blitzprogramm forderte. Die ursprünglichen Forschungsaufgaben blieben vorrangig. Man konnte Dondragmer nicht unbedingt kaltblütig nennen, aber seine Wertvorstellungen umfaßten auch die Auffassung, daß selbst seine letzte Handlung eine nützliche sein müsse.

Die Menschen reagierten auf diese bemerkenswert sachliche und nichtmenschliche Gelassenheit unterschiedlich. Die Meteorologen und Planetologen hielten sie für selbstverständlich.

Die meisten von ihnen besaßen wahrscheinlich keine genaueren Kenntnisse vom Schicksal der Kwembly. Easy Hoffman, die im Kommunikationsraum geblieben war, nachdem sie Barlennan, wie Aucoin es wollte, restlos in Kenntnis gesetzt hatte, war nicht überrascht. Falls sie überhaupt emotional reagierte, so mit Respekt für die Fähigkeit des Captains, in einer persönlich gefährlichen Situation jede Panik zu vermeiden.

Ihr Sohn dachte sehr viel anders darüber.

McDevitt, ein taktvoller und freundlicher Mann, dem die sich entwickelnde Freundschaft zwischen dem Jungen und Beetc hermarlf nicht entgangen war, hatte ihn vorübergehend von der Mitarbeit im Meteorologischen Labor entbunden. Seither war Benj aus dem Kommunikationsraum nicht mehr wegzudenken.

Er hatte schweigend zugesehen, während Dondragmer den Helikopter und die Einsatztruppe ausschickte. Der Meinungsaustausch zwischen den menschlichen und den mesklinitischen Wissenschaftlern hatte ihn durchaus interessiert; McDevitt war nur zögernd zu weiteren Wettervorhersagen zu überreden gewesen, da er die Meinung hegte, man habe seinen Beruf nun genug belächelt, aber schließlich versprach er, sein Bestes zu tun. Dann, nachdem diese Angelege nheiten in die Wege geleitet worden waren und Dondragmer anscheinend nichts mehr zu tun gedachte, als auf seiner Brücke zu liegen und zu warten, wurde Benj unbehaglich zumute. Geduld war nicht seine Stärke. Einige Minuten lang wand er sich in seinem Sessel vor den Bildschirmen in der Hoffnung, daß etwas geschehen mochte. Endlich konnte er sich nicht mehr länger zurückhalten.

„Wenn gegenwärtig niema nd Durchsagen zu machen hat, darf dann ich mit Don und seinen Wissenschaftlern sprechen?“

Easy sah ihn an und dann die übrigen Anwesenden. Diese zuckten die Achseln oder gaben ihre Indifferenz auf andere Weise zu erkennen, worauf sie nickte. „Nur zu. Ich weiß nicht, ob jemand von ihnen zum Schwatzen aufgelegt ist, aber Schlimmeres als eine Ablehnung kannst du dir nicht einhandeln.“

Benj nahm sich nicht die Zeit zu erklären, daß er beileibe kein Geschwätz im Sinn hatte. Er schaltete sein Mikrofon auf Dondragmers

Brückenkommunikator um und begann zu sprechen. „Don, hier ist Benj Hoffman. Wie ich sehe, läßt du deine Matrosen Eis hacken. In euren Krafteinheiten steckt eine Menge Energie, mehr als alle Meskliniten innerhalb eines Jahres mit ihren Muskeln erzeugen können. Haben deine Wissenschaftler schon einmal daran gedacht, euren Bohrer mit Konverterenergie anzutreiben oder diese irgendwie in Wärme umzuwandeln? Ferner, räumen deine Matrosen lediglich Eis oder versuchen sie, unter den Rumpf an Beetchermarlf und Takoorch heranzukommen? Ich weiß, wie wichtig es ist, die Kwembly wieder flottzumachen, aber das Eis unter dem Rumpf muß ohnehin entfernt werden. Ich halte es für möglich, daß einiges von dem Wasser unter dem Fahrzeug noch nicht gefroren ist und daß deine beiden Steuerleute darin überlebt haben. Grabt ihr gezielt Tunnel oder pickt ihr nur im Eis herum?“

Einige der Zuhörer runzelten bei dieser Wortwahl die Stirn, aber niemand unterbrach den Jungen oder äußerte sich dazu. Die meisten sahen nur fragend oder prüfend zu Easy hinüber und entschieden sich, nichts zu sagen, das als Kritik an ihrem Sohn hätte ausgelegt werden können. Manche beschäftigten sich sowieso mit den gleichen Fragen, hatten sich jedoch nicht überwinden können, sie in Anwesenheit der anderen zu stellen.

Wie üblich bei den Gesprächen zwischen den Satelliten und Dhrawn besaß nun auch Benj genug Zeit, während er die Antwort erwartete, darüber nachzudenken, welche anderen Dinge er noch hätte sagen oder wie er die gesagten hätte besser formulieren kö nnen. Die Mehrzahl der im Kommunikationsraum anwesenden Zuhörer kannten diese Überlegungen nur zu gut aus eigener Erfahrung. Ein paar amüsierten sich. Alle empfanden eine gewisse Sympathie. Einige glaubten fest, daß er der Versuchung, eine besser formulierte Fassung seiner Durchsage durchzugeben, bevor die Antwort eintraf, nicht widerstehen könne. Als Dondragmers Erwiderung aus dem Lautsprecher drang, ohne daß Benj es getan hatte, enthielt man sich jeden Beifalls. Aber jene, die Easy gut kannten, bemerkten die Zufriedenheit in ihrer Miene. Nicht einmal sie hätte auf Benj gewettet.

„Hallo, Benj! Wir tun für die Vermißten, was wir können. Ich fürchte, es gibt keine Möglichkeit, irgendwelche unserer Werkzeuge mit Konverterenergie zu versorgen. Ausgenommen die Helikopter, einige Laborapparaturen und die Scheinwerfer, sind sie nicht dazu geeignet. Selbst wenn es ginge, wir kommen doch nicht an die Konverter heran; sie liegen alle unter dem Eis.

Sicherlich entsinnst du dich, Benj, daß wir es vorgezogen haben, von komplizierter Ausrüstung so unabhängig wie möglich zu bleiben. Fast alle verfügbaren Gegenstände, die wir nicht selbst herstellen konnten, dienen unmittelbaren Forschungszwecken.“ Ib Hoffman war nicht anwesend und hörte diesen letzten Satz deshalb nicht. Unglücklicherweise, denn später kostete es ihn lange Zeit, ihn nach der Erinnerung seines Sohnes zu rekonstruieren.

„Das ist mir bekannt, aber…“, Benj verstummte.

Er wußte nichts weiter mehr zu sagen. Die Scheinwerfer — so wußte er — konnten als Erhitzer nicht benutzt werden; es waren solide elektroluminiszente Geräte ohne Leuchtröhren oder Glühbirnen, nicht nur für eine unbeschränkte Funktionsdauer konstruiert, sondern auch für Dhrawns Atmosphäre mit ihrem freien Sauerstoff und enormen Druckwerten. Hätte Beetchermarlf dies gewußt, er würde weniger Zeit verschwendet haben. „Könnt ihr nicht einfach den Stromausstoß eines Konverters durch einige Drähte leiten und das Eis mit der entstehenden Hitze schmelzen oder ihn ins Wasser abgeben? Es muß noch viel Ammoniak enthalten und würde sicher leiten.“ Eine weitere Pause folgte, die Benj verwandte, um seine Vorschläge auf Fehler zu prüfen.

„Vermutlich kenne ich mich in dieser Art von Physik nicht genug aus, aber Borndender und seine Leute müßten das beurteilen können“, antwortete Dondragmer zweifelnd. „Genauer gesagt, ich weiß nicht, was für Drähte und welcher Strom sich eigneten. Sind gewöhnliche Ausrüstungen wie Scheinwerfer oder Motoren an die Krafteinheiten angeschlossen, unterliegt die Kopplung automatischen Sicherheitsschaltungen. Doch ich besitze keine Vorstellung von etwaigen Begleiterscheinungen oder davon, ob die Sicherheitsschaltungen der Krafteinheiten funktionieren, wenn wir mit einfachen, direkten Stromkreisen arbeiten. Ich würde mich über weitere Informationen freuen, aber nach wie vor bleibt unklar, welches Leitmaterial wir verwenden sollten. In der Kwembly gibt es nicht viel Metall.

Selbstverständlich gibt es nichts, das als Leitmaterial für Starkstrom vorgesehen wäre. Du hast wohl recht, daß man das Eis selbst als Leiter benutzen könnte, aber hältst du das für ratsam, solange sich Beetchermarlf und Takoorch unter ihm befinden? Falls ihr uns genug detaillierte Informationen liefern könnt, die uns irgendeine erfolgversprechende Maßnahme erlauben, werden wir gern alles versuchen. Bis dahin vermögen wir nur zu tun, was im Rahmen unserer Möglichkeiten steht. Ich bin über die Kwembly, Kervenser, Beetchermarlf und Takoorch genauso beunruhigt, wie du es wahrscheinlich bist.“

Der Schlußsatz des Captains entsprach nicht völlig der Wahrheit, aber der Irrtum war unbeabsichtigt. Er vermochte nicht wirklich zu erfassen, wie tief eine Freundschaft sich in kurzer Zeit und ohne persönlichen Kontakt zwischen den beiden Seiten entwickeln konnte. Seine Kultur kannte weder ein ausgedehntes Postwesen noch Amateurfunk. Der Gedanke, daß eine fernmündliche Verbindung emotionale Bedeutung gewinnen konnte, war ihm zwar nicht vollständig fremd; immerhin hatte er zu Barlennans Mannschaft gehört, als die Bree vor Jahren Tausende von Meilen der mesklinitischen Ozeane überquert hatte und Charles Lackland sie per Funk begleitete; dennoch gehörte echte Freundschaft für ihn in eine andere Kategorie. Jahre später, als er von Lacklands Tod erfuhr, hatte er lediglich herkömmliches Bedauern empfunden. Dondragmer wußte, daß Benj und der junge Steuermann ausführliche Gespräche geführt hatten, doch er hatte das meiste davon nicht mitbekommen; hätte er es, so wären ihm die sich dabei entfaltenden Gefühle wahrscheinlich nicht völlig verständlich geworden.

Zum Glück ahnte Benj nichts davon, so daß er keinen Grund dazu sah, an den Worten des Captains zu zweifeln. Allerdings befriedigte ihn weder die Antwort noch die unveränderte Situation.

Er war der Meinung, daß besonders für Beetchermarlf entschieden zu wenig getan wurde; er war zum Zuhören verdammt, aber konnte persönlich keine Hilfe leisten. Er mußte hier untätig herumsitzen und auf Berichte warten. Selbst viele Menschen, die sowohl reifer als auch geduldiger als Benj Hoffman waren, hätten sich mit dieser erzwungenen Untätigkeit nicht weniger schwer abfinden können.

Seine Empfindungen flossen in seine nächsten Worte deutlich genug ein. Easy vollführte ihre protestierende Geste nur halb. Es war zu spät, und es bestand die Chance, daß der Mesklinit von Wortwahl und Tonfall nicht den gleichen Eindruck bekam wie der menschliche Zuhörer. „Aber du kannst doch nicht einfach dort auf deiner Plattform liegen und nichts tun!“ rief Benj. „Deine Steuerleute könnten in diesem Moment ersticken.

Weißt du, wie viel Ateml uft sie in ihren Schutzanzügen mitführten?“

Diesmal erlag er der Versuchung. Innerhalb von Sekunden begriff er, was er geäußert hatte, und kaum eine halbe Minute später befand sich eine Durchsage, von der er hoffte, daß sie besser formuliert sei, unterwegs nach Dhrawn. „Ich weiß, es ist nicht so, daß du überhaupt nichts unternimmst, aber ich begreife einfach nicht, wie du es fertig bringst, nur auf Ergebnisse zu warten.

Ich würde persönlich nach draußen gehen und Eis hacken oder etwas anderes tun, aber hier oben im Satelliten, hier kann ich es nicht.“

„In bezug auf Rettungsaktionen habe ich bereits alles gegenwärtig Mögliche veranlaßt“, lautete Dondragmers Erwiderung auf den ersten Teil von Benjs Durchsage. „Es besteht noch für viele Stunden kein Anlaß, sich über die Ate mluftvorräte zu beunruhigen. Wir reagieren auf Atemluftmangel nicht in der gleichen Weise wie Menschen. Selbst wenn die Wasserstoffkonzentration für sie zu gering wird, um bei Bewußtsein bleiben zu können, werden ihre Körperfunktionen über Stunden hinweg nur langsam schwächer. Du brauchst dich also vorerst nicht zu beunruhigen. Alle unsere Werkzeuge befinden sich bereits im Einsatz; draußen gäbe es für mich nichts zu tun, und es würde länger dauern, bis ich über euch die Berichte von Reffel erhalte. Vielleicht kannst du mir sagen, wie seine Suche nach Kervenser verläuft. Ich nehme an, daß sie noch erfolglos ist, denn der Scheinwerfer des Seouls ist noch sichtbar und seine Flugweise unverändert. Womöglich könnt ihr mir einige Geländebeschreibunge n durchgeben. Ich würde gern soviel wie möglich über dieses Gebiet wissen.“

Easy unterdrückte erneut eine Äußerung, bevor Benj ihre Absicht bemerkte. Während der Junge seine Aufmerksamkeit dem Bildschirm widmete, der die von dem im Helikopter befindlichen Kommunikatorsatz übermittelten Bilder wiedergab, fragte sie sich, ob Dondragmer ihren Sohn nur abzuwimmeln suc hte, oder ob er einen wirklichen Begriff von dem menschlichen Bedürfnis nach Geschäftigkeit und dem Gefühl der Nützlichkeit besaß. Letzteres war unwahrscheinlich, aber selbst Easy Hoffman, die die mesklinitische Natur wahrscheinlich besser kannte als jeder lebende Mensch, war sich dessen nicht sicher.

Benj hatte den betreffenden Bildschirm nicht beobachtet und mußte sich deshalb erkundigen, ob es inzwischen Neuigkeiten gab. Einer der Beobachter antwortete knapp, daß bis jetzt nichts als eine steinübersäte Oberfläche, unterbrochen von gefrorenen Tümpeln, ähnlich jenem in dem die Kwembly steckte, in Sicht gekommen sei. Noch gäbe es keine Spur von dem anderen Helikopter oder seinem Piloten. Vorerst rechnete auch niemand damit. Hätte Kervenser nur in geringer Entfernung Bruch erlitten, wäre das Ereignis wahrscheinlich vom Fahrzeug aus gesehen worden.

Benj gab die Information weiter und fügte eine Frage hinzu. „Warum sucht Reffel so langsam und sorgfältig in der Nähe des Fahrzeugs? Befand sich Kervenser nicht schon lange außer Sicht?“

Diesmal verschaffte die Antwort der Hilflosigkeit des Jungen ein wenig Erleichterung. „Doch, Benj.

Es schien mir vernünftiger, uns erst einen vollständigen Überblick der unmittelbaren Umgebung zu verschaffen und die Suche dann auszudehnen, zumal sich hieraus der Vorteil ergibt, daß mehr Informationen für eure Wissenschaftler gesammelt werden. Falls sie jedoch darauf warten können, richte Reffel bitte aus, er solle sich westwärts halten, so lange er das Licht der Brücke sehen kann, und die Suche über dieser Stelle fortsetzen.“

„Selbstverständlich, Captain.“ Die Unterhaltung war auf Stennish geführt worden, so daß keiner der anwesenden Wissenschaftler sie verstanden hatte.

Benj hielt sich nicht damit auf, ihre Zustimmung einzuholen, bevor er die Anweisung in derselben Sprache weitergab. Offenbar bereitete Benjs Akzent Reffel keine Schwierigkeiten, denn sogleich wandte sich seine kleine Maschine nach Westen.

„Und was soll mit unseren Karten werden? Wir sind jetzt mitten in der Arbeit“, grollte ein Topografiker.

„Der Captain wollte es so“, antwortete Benj knapp.

„So? Hätte ich ihn verstanden, ich hätte mich dagegen ausgesprochen, aber ich vermute, daß es nun zu spät ist. Darf man wenigstens annehmen, daß sie diese Lücke später ausfüllen werden?“

„Ich frage Dondragmer“, antwortete der Junge mit einem unsicheren Blick zu seiner Mutter. Sie trug jene ausdruckslose Miene zur Schau, die er nur allzu gut kannte. Glücklicherweise verließ der Wissenschaftler, nicht ohne einige erboste Bemerkungen zu murmeln, den Kommunikationsraum, und Benj wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu, der mit dem Kommunikatorsatz von Reffels Helikopter korrespondierte, bevor Easy ihre Gefaßtheit verlor.

Mehrere andere der Anwesenden, die den Inhalt des Gesprächs mit Dondragmer ebenfalls erfaßt hatten, mußten sich nicht minder anstrengen, ernste Gesichter zu bewahren. Aus mancherlei Gründen bereitete es ihnen Vergnügen, wenn die Wissenschaftler eins ausgewischt bekamen. Benj bemerkte davon nichts. Er sorgte sich noch immer um Beetchermarlf.

Dondragmers Versicherung, daß Wasserstoffmangel kein akutes Problem sei, hatte ihn ein wenig beruhigt, aber der Gedanke, die beiden vermißten Steuerleute könnten ebenfalls im Eis festfrieren, quälte ihn genug. Unter dem Rumpf der Kwembly mochte dies längere Zeit beanspruchen, doch ausbleiben würde es letztlich nicht. Es konnte sogar schon geschehen sein. Etwas mußte getan werden können.

Hitze schmilzt Eis. Hitze ist Energie. Die Kwembly enthielt genug Energie, um unter dem Einfluß von Dhrawns Gravitation fahren zu können, aber es gab keinen Weg, ihre Energie zum Schmelzen des Eises zu verwenden. Besaß das Fahrzeug nicht irgendwelche Wärmequellen innerhalb seines Versorgungssystems, die sich demontieren und auf der Oberfläche einsetzen lassen konnten?

Nein. Es war unwahrscheinlich, daß die Meskliniten auf Dhrawn jemals Wärmequellen benötigten. Selbst jene Gebiete des Planeten, die der Eigenwärme zu entbehren schienen, wurden von der Sonne auf Temperaturen um fünfzig Grad gehalten. Jene Regionen, in denen sie noch für viele Jahre hauptsächlich zu tun haben würden, zum Beispiel das Zentrum des Tiefdruckgebiets Alpha, waren für sie eher zu warm als zu kalt. Die Kwembly besaß ein Kühlsystem, das sich mittels der Konverter in Betrieb setzen ließ, doch soweit Benj wußte, war es seit dem ersten Testlauf niemals mehr benutzt worden. Man erwartete, es erst während der Erkundungen im Zentralbereich des Tiefdruckgebiets Alpha, also nicht vor Ablauf eines weiteren Erdjahres, vielleicht sogar erst später gebrauchen zu müssen. Das Schicksal der Esket hatte einige der ursprünglichen Pläne ein wenig ins Wanken gebracht.

Aber eine Kühlanlage war unvermeidlich auch eine Wärmepumpe. Soviel war Benj klar. Und wenigstens theoretisch ließ die Funktion der meisten Pumpen sich umkehren. Das Kühlsystem mußte irgendwo außerhalb der Fahrzeughülle eine Vorrichtung zur Abgabe von Wärme haben. Wo befand sie sich? Konnte sie verlegt werden?

Dondragmer mußte es wissen. Aber war ihm dieser Gedanke nicht auch schon gekommen? Vielleicht nicht. Er war alles andere als einfältig, aber seine Entwicklung war nicht analog der eines Menschen verlaufen. Seine Kenntnisse der Physik hatte er erst lange nach Abschluß seiner mesklinitischen Reife von Nichtmeskliniten erhalten. Sie waren vermutlich nicht Bestandteil jener Grundkenntnisse, die die meisten intelligenten Wesen mit der Vorstellung von Allgemeinwissen verbanden. Bei diesem Gedanken nickte Benj, brauchte noch zwei oder drei Sekunden, um sich zu versichern, daß die Sache einen Versuch wert war, und langte nach seinem Mikrofonschalter.

Diesmal entstand, während er seine Durchsage machte, keine Heiterkeit. Keiner war ausreichend über die technischen Details der Fahrzeuge informiert, doch alle kannten sich in der Physik genug aus, um sich darüber zu ärgern, nicht selbst schon früher auf diesen Gedanken verfallen zu sein.

Sie erwarteten Dondragmers Antwort mit der gleichen Ungeduld wie Benj.

„Das Kühlsystem ist eine unserer elektronischen Anlagen, deren Funktion ich, wie ich zugebe, nicht in allen Einzelheiten begreife“, lautete die Antwort des Captains, als sie endlich den Satelliten erreichte. Zum Unmut einiger Zuhörer bediente er sich noch immer seiner eigenen Sprache. „Seit dem Abnahmetest war es nicht mehr in Betrieb; das Wetter war bisweilen ziemlich warm, aber nicht unerträglich. Zu beschreiben ist die Anlage ziemlich leicht; in allen Räumen des Fahrzeugs befinden sich Metallplatten, die kalt werden, wenn wir dem Kühlsystem Energie zuführen. Da ist eine Metallstange, eine Art von Schleife, die von beiden Seiten der Hülle aus bis zur Oberseite verläuft. Sie beginnt in Hecknähe, führt auf der Backbordseite ungefähr bis zur Rumpfmitte, dann etwa vier Körperlängen hinter der Brücke über den Rumpf und auf der anderen Seite wieder nach hinten zum Heck und endet dort. Ich vermute, daß diese Schlinge der Hitzeradiator ist. Mir ist klar, daß das Kühlsystem ein solches Teil haben und daß es sich außerhalb des Rumpfs befinden muß. Allerdings könnte diese Stange gar nicht höher über dem Eis liegen, als es schon der Fall ist, und selbst wenn sie sich genug erhitzen würde, um Eis zu schmelzen, könnte ich mir nicht vorstellen, daß sie es aus dieser Höhe über dem Eis vermag. Ebenso sehe ich ein, daß sie sich hinreichend erhitzen läßt, indem man Elektrizität hindurchleitet, aber der Gedanke, sie für diesen Zweck von der Hülle zu lösen, mißfällt mir ein wenig.“

„Ich nehme an, es würde das Kühlsystem zerstören“, pflichtete Benj bei. „Vor allem, falls man die Stange nachher nicht mehr montieren kann. Doch vielleicht ist es halb so schlimm. Ich werde einen Techniker zu finden versuchen, der das Kühlsystem genau kennt. Ich werde mich wieder melden.“

Ohne auf eine Antwort von Dondragmer zu warten, stemmte sich der Junge aus dem Sessel und eilte aus dem Kommunikationsraum.

Kaum war er verschwunden, baten die Observer, die die mesklinitische Sprache nicht beherrschten, Easy um eine Zusammenfassung des Gesprächs.

Als Benj mit einem Techniker zurückkehrte, der ebenfalls kein Stennish konnte, so daß der Junge für ihn zu übersetzen gezwungen war, hörte man unter den übrigen Anwesenden manchen erleichterten Stoßseufzer. Die beiden nahmen vor den Bildschirmen Platz, und Benj ließ sich von dem Techniker genau informi eren, was er zu sagen hatte, bevor er sein Mikrofon einschaltete. „Ich soll dem Captain ausrichten, daß die Radiatorstange vorwiegend mit Nägeln auf der Hülle der Kwembly befestigt ist, die nicht tief in der Hülle sitzen und entfernt werden können, ohne den Rumpf zu beschädigen. Um die Stange wieder zu befestigen, kann man die unter den Materialvorräten befindliche Verbundmasse benutzen. An den Austrittstellen beiderseits des Hecks wird man sie jedoch absägen müssen. Einmal entfernt, kann man die Stange als Erhitzer verwenden, indem man ihre Enden einfach mit den Kontakten einer Energieeinheit verbindet. Ich kann dem Captain sagen, daß die Gefahr eines Kurzschlusses nicht besteht, da die Konverter eigene Sicherheitsvorrichtungen enthalten. Ist es so richtig, Mr. Katini?“

„Das ist es“, nickte der kleine grauhaarige Techniker. Er gehörte zu jenen Leuten, die am Entwurf und an der Herstellung der Fahrzeuge beteiligt gewesen waren, und war überdies einer der sehr wenigen Menschen, die sich häufig für längere Zeit im Gebiet von Mesklins 3-G-Äquator aufzuhalten pflegten. „Ich glaube nicht, daß es schwierig sein wird, Dondragmer das zu erklären, auch ohne Übersetzung; ich kann es ihm auch persönlich sage n. Er und ich sind in menschlicher Sprache immer gut zurechtgekommen.“

Benj nickte, begann jedoch auf Stennish in sein Mikrofon zu sprechen. Easy hatte den Verdacht, daß er sich im Moment unerhört wichtig fühlte, und hoffte, daß er sich keine herbe Enttäuschung bereitete, aber sie sah keine Notwendigkeit zum Eingreifen. Sie mußte zugeben, daß er seine Dolmetschertätigkeit ausgezeichnet bewältigte. Er mußte aus den Gesprächen mit seinem Freund Beetchermarlf viel gelernt haben. In mancher Beziehung war er sogar besser als sie; er knüpfte Analogien, die ihr niemals eingefallen wären.

Bei seiner nächsten Antwort bediente der Captain sich der menschlichen Sprache. Der Junge schaute ein wenig verblüfft drein und bestätigte den Verdacht seiner Mutter durch den raschen, unsicheren Blick, den er ihr zuwarf. Sie hielt ihren Blick eisern auf den Bildschirm gerichtet.

„Ich habe verstanden“, ertönte die Stimme des Meskliniten mit leichtem Akzent, den er nicht immer ganz vermeiden konnte. „Dennoch möchte ich zuvor zwei Erklärungen. Erstens, wie können wir die Stange anschließend wieder mit dem Kühlsystem verbinden? Ich bezweifle, daß Verbundmasse allein die richtige Methode ist. Ich möchte die Anlage nicht für immer außer Betrieb haben, da Dhrawn sich seiner Sonne nähert und das Wetter allmählich wärmer wird. Zweitens, wenn wir Elektrizität in das Eis oder ins Schmelzwasser leiten, besteht irgendeine Gefahr für Personen, die sich darin aufhalten? Können die Anzüge genug Schutz bieten? Ich vermute, sie sind wegen ihrer Transparenz ziemlich gute Isolatoren.“

Der Techniker begann sofort, die Antwort durchzugeben, während Benj sich wunderte, welcher Zusammenhang zwischen Transparenz und Elektroleitfähi gkeit bestehen möge und wieso Dondragmer sich damit auskannte.

„Die Montage läßt sich einfach bewerkstelligen.

Drückt die Metallenden fest aneinander und umwickelt die Kontaktstellen mit in Verbundmasse getränktem Gewebe. Deine Zweifel an der Leitfähigkeit der Verbundmasse sind berechtigt.

Achtet darauf, daß nichts davon zwischen die Kontaktstellen gerät. Wegen der Anzüge brauchst du dich nicht zu sorgen. Sie gewähren ausreichenden Schutz. Ich nehme an, es würde ohnehin eine beträchtliche Voltstärke erfordern, um einem von euch Schaden zuzufügen, weil sich eure Körperflüssigkeiten nicht polarisieren. Auf jeden Fall, wenn die Sache überhaupt funktioniert, dann wird sie gut funktionieren. Es könnte allerdings zu heiß für euch werden, um in der Nähe zu bleiben.“

Katini schwieg und wartete auf Dondragmers Antwort. Benj war noch in Gedanken versunken, und alle anderen innerhalb der Hörweite befindlichen Personen hatten ihren Blick auf den Bildschirm gerichtet, der mit der Brücke korrespondierte. Nachdem der Captain sich der menschlichen Sprache zu bedienen begonnen hatte, interessierten sich nunmehr auch jene für die Vorgänge, die andernfalls geduldig eine Übersetzung abgewartet hätten.

Für die Menschen war dies unglücklich, wogegen Barlennan es später einen wahren Glücksfall nannte.

„In Ordnung“, kam schließlich Dondragmers Antwort. „Wir werden die Metallstange abmontieren und als Erhitzer zu verwenden versuchen. Wir werden einen der Kommunikatorsätze draußen aufstellen, so daß ihr die Arbeiten verfolgen und uns rechtzeitig darauf hinweisen könnt, wenn wir etwas falsch machen.

Die ganze Situa tion gefällt mir überhaupt nicht — es mißfällt mir, Dinge tun zu müssen, deren Folgen mir unklar sind, und dies außerdem zu einem Zeitpunkt, an dem die Wetterentwicklung sich nicht absehen läßt. Ich habe den Befehl über dieses Fahrzeug, und ich wünschte, ich hätte mehr von eurer Technologie und Wissenschaft gelernt. Ich bin überzeugt, daß ich bei dem Wissen und eurem Urteil in jenen Fragen, in denen ich mich nicht auskenne, mich auf euch verlassen kann, aber dies ist das erste Mal seit Jahren, daß ich in so wenigen Dingen sicher bin.“

Benj antwortete, wobei er seiner Mutter um einen Sekundenbruchteil zuvorkam.

„Soviel ich weiß, warst du der erste Mesklinit, der die volle Bedeutung der Naturwissenschaften wirklich erfaßt hat und der sich am meisten um das Zustandekommen der Lehrtätigkeit auf Mesklin bemüht hat. Was meinst du damit, du wünschtest dir, mehr gelernt zu haben?“

Easy mischte sich ein. Wie zuvor Benj bediente sie sich Dondragmers Sprache.

„Du weißt viel mehr als ich, Don, und hätten dich Katinis Worte nicht überzeugt, du würdest diese Befehle nicht erteilen. Du stehst wieder vor einer neuen Herausforderung. Es ist wie damals vor fünfzig Jahren, lange vor meiner Geburt, als dir plötzlich zu Bewußtsein kam, daß unsere euch fremdartig anmute nde Wissenschaft lediglich aus Kenntnissen bestand, die die euren überschritten.

Nun stehst du vor der Tatsache, daß niemand, nicht einmal ein Captain, alles wissen kann und daß du manchmal fachmännischen Rat benötigst. Finde dich damit ab, Don, und beruhige dich!“

Easy lehnte sich zurück und sah ihren Sohn an, der als einziger im Raum ihre Durchsage vollständig mitbekommen hatte. Der Junge blickte verwirrt, beinahe erschrocken drein. Welchen Eindruck auch immer ihre Äußerungen bei Dondragmer hinterlassen würden, wenn die Durchsage ihn erreichte, Benjamin Ibsen Hoffman jedenfalls hatten sie schockiert. Diese Erkenntnis war unangenehm für eine Mutter, und sie mußte gegen den Drang ankämpfen, etwas zu sagen. Der Ausruf einer menschlichen Stimme half ihr dabei.

„He! Was ist denn mit dem Helikopter?“

Alle Augen richteten sich auf den Bildschirm, der Reffels Kommunikatorsatz betraf. Eine Sekunde lang herrschte völliges Schweigen. Dann schnauzte Easy: „Benj, gib Dondragmer Bescheid, während ich Barlennan verständige!“

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