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Als Aegwynn ihre Erzählung, wie sie eine Wächterin wurde, beendet hatte, stellte Jaina fest, dass sie eher überrascht als schockiert war. Die Geschichten, die sie gelesen hatte, hatten immer die Berufung von Aegwynn in einem vollständig positiven Licht gezeigt.

Dass der Rat es zunächst eher fragwürdig fand, sie zu berufen und entgegen der Bedenken wegen ihres Geschlechts hatte, oder dass man ihre Methoden so vehement ablehnte... das alles war ihr völlig neu.

Allerdings waren Aegwynns Erinnerungen an jene Tage mehrere Jahrhunderte alt, weshalb Jaina nicht umhin konnte einzuwerfen: »Eure Darstellung der Dinge deckt sich nicht mit den historischen Schriften, Magna.«

»Nein«, bestätigte Aegwynn seufzend. »So ist es wohl. Sie wollten euch junge Magier glauben lassen, dass alle Zauberer stets in perfekter Eintracht zusammenarbeiten.« Sie schüttelte den Kopf und rutschte etwas tiefer in ihren Sitz. »Aber es ist wahr, sie wollten kein Mädchen und akzeptierten mich nur, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Ich war die Bestqualifizierte. Sicherlich besser als die anderen vier. Und sie bereuten es jede Minute.« Sie richtete sich wieder auf. »Am Ende taten wir das alle. Denn wenn ich nicht gewesen wäre...«

Jaina schüttelte ihren Kopf. »Das ist lächerlich. Ihr habt so viel Gutes getan.«

»Was habe ich denn gemacht? Ich bestand darauf, dass die Tirisfalen im Umgang mit den Dämonen aktiver wurden. Doch was wurde dadurch erreicht? Acht Jahrhunderte lang versuchte ich, die Flut einzudämmen – genützt hat es nichts. Zmoldor war nur der Erste. So viele Dämonen, so viele Schlachten... und am Ende wurde ich von Sargeras einfach ausgetrickst. Ich...«

Dieses Mal brauchte Jaina die Geschichte nicht zu hören, um zu wissen, worauf Aegwynn anspielte. »Ich weiß, was passiert ist, als Ihr auf Sargeras getroffen seid. Ihr zerstörtet seine physische Gestalt, aber seine Seele blieb in Euch. Und wurde an Medivh weitergegeben.«

Aegwynns Lachen war voller Bitterkeit. »Und Ihr glaubt immer noch, dass ich eine große Magierin bin? Ich ließ zu, dass Arroganz mein Urteilsvermögen trübte. Ich nahm an, dass die Tirisfalen eine Gruppe von engstirnigen alten Narren seien, anstatt zu erkennen, was sie wirklich waren: erfahrene Magier, die es besser wussten als ich. Und nachdem ich Sargeras besiegt hatte, wurde ich noch selbstgefälliger – falls das überhaupt möglich ist. Ich ignorierte sogar die Rufe, die der Rat mir sandte, missachtete ihre Verfahren, missachtete ihre Anweisungen. Immerhin, ich hatte Sargeras besiegt, und er war ein Gott, was wussten die denn also schon?« Sie knurrte: »Ich war solch eine Närrin!«

»Macht Euch doch nicht selbst so nieder.« Jaina konnte es nicht fassen. Schlimm genug, dass die größte Zauberin der Welt, die Frau, die sie Zeit ihres Lebens verehrt hatte, sich als eine dermaßen unfreundliche Person entpuppte. Aber jetzt benahm sie sich auch noch einfach völlig... verblendet. »Wir sprechen hier von Sargeras. Jeder Magier hätte den Fehler gemacht, den Ihr begangen habt. Wie Ihr schon sagtet, er war ein Gott. Er wusste, dass er Euch in Anbetracht Eurer Macht und der ihm drohenden Gefahr austricksen musste. Und er wusste, wie man Euch manipulieren konnte. Was Ihr getan habt, war nur natürlich.«

Aegwynn starrte in eine der Ecken der baufälligen Hütte, die sie offenbar ihr Heim nannte.

»Ich habe viel, viel mehr als das getan. Da war auch noch Medivh.«

Jetzt war Jaina noch verwirrter. »Ich kannte Medivh, Magna. Er war...«

Aegwynn wirbelte herum, sah Jaina an und fauchte: »Ich spreche nicht davon, was mein Sohn war. Ich spreche davon, wie er war.«

»Was meint Ihr damit?« Jaina Verwirrung stieg. »Medivh wurde von Nielas Aran gezeugt, und...«

»Gezeugt?« Aegwynn machte ein Geräusch, das wie berstender Fels klang. »Das ist ein vielleicht doch etwas zu weit hergeholter Begriff dafür...«

Vor neunundsechzig Jahren

Der Ruf war dieses Mal drängend, was der einzige Grund war, weshalb Aegwynn darauf reagierte. Die Wächter von Tirisfal hatten sich mit der Zeit verändert. Die drei Elfen waren dieselben geblieben, aber die Menschen und der Gnom waren allesamt gestorben und ersetzt worden – und auch deren Nachfolger starben und hatten ihrerseits Nachfolger. In mancherlei Hinsicht aber hatten sie sich rein gar nicht verändert. Doch anstatt sich mit ihnen oder mit einem Schüler abzugeben, hatte Aegwynn ihre Magie dafür benutzt, um ihr Leben zu verlängern. So konnte sie ihr Wächter-Amt immer noch versehen.

Einmal wäre sie beinahe gestorben, als sie gerade auf einer Balkonbrüstung in Lordaeron gestanden hatte und einen Zauber wirkte. Damit hatte sie einen von Sargeras früheren Sklaven ausfindig machen wollen, der sich irgendwo in der Nähe aufhalten sollte. Mitten in der Beschwörung hatte der Rat sie mit einem so drängenden Ruf zu sich zitiert, dass sie fast die Balance verloren hätte. Es war der dritte Ruf in ebenso vielen Tagen gewesen, aber der erste, der zu einer solchen Beeinträchtigung ihrer Fähigkeiten geführt hatte.

Sie erkannte, dass es nicht aufhören würde, wenn sie nicht endlich darauf reagierte. Deshalb teleportierte sie sich nach Tirisfal Glade. Sie stand auf dem Felsen, den Falric, der schon vor langer Zeit gestorben war – genauso wie die drei anderen Schüler und alle im Kampf gegen Dämonen – in Falschgold verwandelt hatte. Die Zeit hatte ihn verwittern lassen. Ein dumpfes Braun ersetzte den hellen Goldton, den der Stein achthundert Jahre zuvor noch hatte.

»Was ist so wichtig, um mich in meiner Arbeit zu unterbrechen?«

»Die dauert jetzt schon acht Jahrhunderte, Aegwynn«, sagte einer der nachgerückten Menschen. Aegwynn hatte sich nie die Mühe gemacht, sich seinen Namen zu merken. »Es ist höchste Zeit, dass Ihr Eure Aufgaben abgebt.«

Aegwynn richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, was sie größer als jeden Mann auf der Lichtung machte, und erwiderte: »Korrekterweise werde ich mit ,Magna' angeredet. Das ist nur eine dieser lächerlichen Formalitäten, auf die Ihr besteht und der magischen Welt aufzwingt.«

Das Wort war zwergischen Ursprungs, bedeutete »Beschützer« und stellte die Ehrenbezeichnung für jeden Wächter dar. Aegwynn kümmerte sich nicht um Titel, aber weil der Rat auch sonst auf allen Regeln und Regularien bestand, fand sie es nur recht und billig, solche Dinge anzumahnen – zumindest in der gereizten Verfassung, in der sie gerade war.

Relfthra rief: »Ach, auf einmal klebt Ihr an Bestimmungen, wie?«

Der Mensch warf Relfthra einen Blick zu und sagte dann: »Der Punkt, Magna, ist, dass Ihr Euch der Risiken Eurer Arbeit ebenso bewusst seid wie wir. Je öfter Ihr Euer Leben verlängert, desto größer wird das Risiko, dass es schief geht. Die Verjüngungsmagie ist keine exakte Wissenschaft und noch weniger ist sie verlässlich. Es kann jederzeit mitten in einem Kampf oder beim Wirken eines Zaubers passieren, dass man plötzlich auf sein tatsächliches Alter zurückgeworfen wird. Wenn das passiert, ohne dass ein Nachfolger bestimmt wurde...«

Aegwynn hob die Hand. Das Letzte, was sie brauchen konnte, war eine Lektion in Sachen Magie. Sie war eine stärkere Zauberin als alle anderen zusammen. Hatten sie Sargeras persönlich gegenübergestanden?

»Sehr gut. Ich werde also einen Nachfolger finden und die Macht des Wächters an diese Person übertragen.«

Der Mensch widersprach mit drohendem Unterton: »Wir werden Euren Nachfolger aussuchen, so wie wir es auch bei Scavell taten. Und bei jedem Wächter davor.«

»Falsch. Ich werde die Wahl treffen. Ich glaube, ich weiß besser als irgendein anderer, worauf es ankommt, um ein Wächter zu sein. Auf jeden Fall weiß ich es besser als ihr alle, die ihr hier auf dieser Lichtung steht und nur Reden schwingt, während andere die Drecksarbeit erledigen.«

»Magna...«, begann der Mensch, aber Aegwynn wollte nichts mehr hören.

»Ich habe Euren Rat gehört, und zum ersten Mal ist er es wert, ihm Beachtung zu schenken.« Sie lächelte. »Ich nehme an, es musste ja mal passieren. Selbst ein Dorftrottel mag ab und zu über wertvolle Ideen stolpern. Wenn mein Nachfolger gefunden ist, werdet ihr von mir informiert. Das ist alles.«

Ohne darauf zu warten, entlassen zu werden, teleportierte sie zurück auf die Balkonbrüstung, wo der Ruf sie ereilt hatte. Auch wenn der Hinweis des Rates tatsächlich vernünftig war, musste sie doch immer noch in erster Linie ihre Pflicht erfüllen.

Sie sprach noch einmal den Suchzauber, um zu überprüfen, ob wirklich ein Dämon Lordaeron unsicher machte. Aber es stellte sich heraus, dass kein solcher hinter den aktuellen Geschehnissen steckte, nur ein paar Halbwüchsige, die mit Magie herumspielten. Hätten sie weitergemacht, wäre der Dämon vielleicht gerufen worden, aber Aegwynn kam den Bemühungen der Unwissenden zuvor.

Danach reiste sie nach Stormwind ins Haus von Nielas Aran.

Aran war schon seit vielen Jahren einer ihrer Verehrer. Aegwynn schenkte ihm kaum Aufmerksamkeit, obwohl er über mehr Talent verfügte als die meisten anderen Magier, die zu den Tirisfalen gehörten. Glücklicherweise teilte er die Vorurteile des Rates nicht und beherrschte – als Hofmagier von König Landan Wrynn – sein Handwerk hervorragend. Wäre sie mehrere Jahrhunderte jünger gewesen, hätte sie vielleicht die stahlblauen Augen, seine breiten Schultern und sein angenehmes Lachen mehr geschätzt.

Aber sie war nicht mehrere Jahrhunderte jünger und hatte deshalb weder Lust noch Verlangen, auch nur sein Interesse an ihr anzuerkennen. Sie hatte zahlreiche Liebschaften in ihren jüngeren Tagen gehabt, angefangen bei Jonas, aber sie hatte schon lange die Geduld dafür verloren.

Nach achthundert Jahren war für sie Romantik nur eine Anhäufung von Täuschungen und Tricks, auf die sie mittlerweile keine Zeit mehr verwenden wollte.

Aber immer noch konnte sie ihren Charme einsetzen, den sie als Halbwüchsige zuerst an Jonas erprobt hatte, und so begann sie, mit Aran zu flirten. Urplötzlich war sie von seinen Hobbys fasziniert und teilte sein Interesse für zwergische Musik. All das diente nur einem einzigen Zweck – und lief darauf hinaus, dass er das Bett mit ihr teilte.

Am nächsten Morgen wusste sie, das sie schwanger geworden war. Sie war ein wenig niedergeschlagen, als sie erkannte, dass die Frucht in ihrem Leib zu einem männlichen Kind heranwachsen würde, denn insgeheim hatte sie auf eine Tochter gehofft – als weiteren Dorn im Auge des Rates. Aber nichtsdestotrotz würde dieser Junge den Zweck erfüllen, für den er gedacht war.

Sie trennte sich von dem mehr als enttäuschten Aran, der sich sehr viel mehr erwartet hatte, und verließ Stormwind. Neun Monate lang erledigte sie ihre Aufgabe als Wächterin so gut sie es vermochte und gebar schließlich Medivh.

Erst dann kehrte sie zu Aran zurück, übergab ihm das Kind und erklärte es zu ihrem Nachfolger.


»Ich kann von Eurem Gesicht ablesen, dass Ihr entsetzt seid.« sagte Aegwynn mit einem boshaften Grinsen.

»Allerdings.« Jaina hatte zusammen mit Medivh gekämpft. Er war es gewesen, der sie ermutigt hatte, sich mit Thrall gegen die Brennende Legion zu verbünden. Aber sie hatte nicht geahnt, dass die Herkunft des Propheten derart... geschmacklos war. Eigentlich wusste sie sehr wenig über ihn. Nur dass er von den Toten zurückgekehrt war und versuchte, für seine Sünden zu büßen, indem er alles in seiner Macht Stehende tat, um die Legion zu stoppen.

»Deshalb habe ich Euch diese Geschichte erzählt«, sagte Aegwynn. »Ich bin keine Heldin, ich bin kein Vorbild, ich bin keine Lichtgestalt, die Zauberer gleich welchen Geschlechts inspiriert. – Ich bin ein arrogantes Arschloch, das zugelassen hat, dass die eigene Macht und die List eines cleveren Dämons sie zerstörten... und mit ihr den Rest der Welt.«

Jaina schüttelte den Kopf. Sie erinnerte sich an viele Gespräche mit Kristoff, in denen klar geworden war, dass man die Lehren der Geschichte selten aus den niedergeschriebenen Worten zu ziehen vermochte. Weil solche Darstellungen immer von den Meinungen des Verfassers beeinflusst wurden. Und jetzt sah sie sich darin bestätigt, dass dies tatsächlich so war – dass dies auf die Geschichten, die sie in Antonidas Bibliothek über die Wächter von Tirisfal gelesen hatte, ebenso zutraf wie auf die historischen Schriften, von denen Kristoff gesprochen hatte.

Dann, plötzlich, spürte sie ein Prickeln in ihrem Nacken. Jaina stand auf.

Aegwynn tat es ihr gleich. Zweifellos spürte die alte Frau dasselbe. Was sich bestätigte, als sie sagte: »Die Barrieren sind wieder aktiv.«

Jaina fand es interessant, dass Aegwynn dies bemerkte. Insbesondere, wenn sie bedachte, dass Aegwynn es bei ihr, als sie sie überlistete und aufhob, nicht bemerkt hatte. Das nährte einen ganz bestimmten Verdacht.

Viel besorgniserregender war allerdings, dass diese Barrieren stärker waren als zuvor. Und sich völlig falsch anfühlten.

»Etwas stimmt hier nicht«, murmelte sie.

»Ja, ich kenne diese Magie. Hätte nie gedacht, dass ich ihr noch einmal begegnen würde, um ehrlich zu sein.« Aegwynn schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, wie das überhaupt möglich ist.«

Bevor sie Aegwynn um eine Erklärung bitten konnte, musste Jaina sicherstellen, dass sie diese Barrieren ebenfalls durchdringen konnte. Sie versuchte einen Teleport-Spruch und fügte dieses Mal eine Beschwörung zur Barrierendurchdringung bei. Dann bereitete sie sich auf den Schmerz vor, sollte der Spruch seine Zweck nicht wie erhofft erfüllen.

Natürlich scheiterte sie. Beim ersten Mal hätte es vielleicht funktioniert, aber da hatte sie darauf verzichtet. Sie hatte den Durchdringungsspruch beim Teleportieren der Donnerechsen nur deshalb nicht benutzt, weil sie das Hochland erst untersuchen wollte, bevor sie Hunderte gereizte Tiere herbrachte.

Sie schloss kurz ihre Augen, um den Schmerz zu blockieren, und schaute dann Aegwynn an. »Ich komme nicht durch.«

»Das hatte ich befürchtet.« Aegwynn seufzte. Offensichtlich wenig begeistert davon, mit dem »kleinen Mädchen« festzusitzen.

Jaina war von dieser Aussicht auch nicht sonderlich angetan. Hauptsächlich, weil sie ihr Versprechen, das sie Thrall gegeben hatte, nicht erfüllen konnte, so lange sie im Hochland gefangen war.

»Ihr sagtet, Ihr kennt die Magie?«

Aegwynn nickte. »Erinnert Ihr Euch an Zmoldor, den ersten Dämon, dem ich begegnet bin und der die Schulkinder einsperrte?«

Jaina nickte.

»Nun, diese neuen Barrieren stammen von ihm.«

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