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»Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, wo das Problem liegt, Oberst...«

Lorena blickte aus dem Fenster des kleinen Wachraums in der Feste Northwatch. Die Antwort kam von Major Davin, dem Festungskommandanten, der Lorena frustrierte, seit sie und ihr Sechs-Mann-Trupp vor einer Stunde eingetroffen waren.

Von seinem Platz an dem kleinen Tisch in der Mitte des Wachbüros hatte Davin, ein stämmiger Mann mit einem dichten Vollbart, Lorena eröffnet, dass sich ein Patrouillenschiff im Nebel verfahren hatte. Möglicherweise war es dieses Schiff gewesen, das die Orcs behaupteten gesehen zu haben.

Lorena drehte sich um. Sie schaute auf ihn herab – was leicht war, weil er saß. Aber auch stehend wäre Lorena größer als der Major gewesen. »Das Problem, Major, ist, dass die Orcs von uns Hilfe erwarten. Und dass sie die auch hätten kriegen müssen.«

»Wieso?« Davin klang ehrlich überrascht.

»Sie sind unsere Verbündeten.« Lorena konnte nicht glauben, dass sie das erklären musste. Davin war ein Held im Krieg, der einzige Überlebende eines brutalen Massakers an der Eskorte eines Zauberers. Die Informationen, die er mitgebracht hatte, waren unbezahlbar gewesen.

Aber jetzt zuckte der Kriegsheld nur die Achseln. »Sie haben mit uns zusammen gekämpft, sicher, aber das geschah aus purem Selbstzweck, Oberst. Diese Wesen sind nicht mal zivilisiert. Der einzige Grund, weshalb wir uns mit denen zusammentaten, war Thrall. Und der ist es auch nur deshalb wert, weil er von Menschen aufgezogen wurde... Was mit denen passiert, soll nicht unsere Sache sein.«

»Lady Proudmoore ist nicht dieser Ansicht«, sagte Lorena mit gepresster Stimme, »und genauso sehe ich das auch.« Sie drehte sich wieder um. Der Anblick der Großen See hier oben vom Fenster aus war spektakulär, und Lorena hätte diesen Anblick jederzeit Davins verdrießlichem Gesicht vorgezogen. »Ich habe meine Leute losgeschickt, um Kapitän Avinal und seine Mannschaft zu finden, damit ich ihre Version der Geschichte erfahre.«

Jetzt stand Davin auf. »Bei allem gebührenden Respekt, Oberst, es gibt keine Version. Avinals Boot hat sich verfahren. Sie haben zurück auf Kurs gefunden. Sie kamen heim. Wenn ein Orc-Boot von Piraten angegriffen wurde, dann gut, aber es ist nicht unser Problem.«

»Doch, genau das ist es.« Sie dachte nicht daran, sich ihm zuzuwenden. »Piraten sind generell nicht gerade wählerisch darin, wen sie attackieren. Sie greifen Gnome, Orcs, Trolle, Oger, Elfen, Zwerge oder Menschen an. Und wenn es Piraten gibt, die so nah bei Ratchet operieren, dann geht es uns sehr wohl etwas an.«

»Ich bin bereits seit drei Jahren auf diesem Posten.« Davin klang nun gereizt. »Ich brauche Euch nicht, um etwas über die Mentalität oder die Vorgehensweise von Piraten zu lernen.«

»Wenn das der Fall ist, solltet Ihr mich auch nicht dafür nötig haben, Euch erst daran erinnern zu müssen, warum ein angegriffenes Orc-Schiff Euch – und uns alle – etwas angeht.«

Ein kleiner Gefreiter, dessen Uniform aussah, als wäre sie für jemanden gemacht worden, der einen ganzen Kopf größer war, klopfte schüchtern an die Tür der Wachstube. »Ähm, Sir, da sind Leute, die Euch sehen möchten – und Oberst Lorena ebenfalls, Sir, wenn das in Ordnung geht, Sir.«

»Wer?«, fragte Davin.

»Ähm, Kapitän Avinal, Sir, und ein Soldat, den ich nicht kenne.«

»Das muss Strov sein«, sagte Lorena. »Er ist derjenige, dem ich befohlen hatte, den Kapitän herzuschaffen.«

Davin warf Lorena einen wütenden Blick zu. »Und wozu soll es gut sein, einen Mann zu beschämen, indem man ihn hier auf die Wache bringt wie einen gewöhnlichen Gauner?«

Lorena begann in Gedanken einen Brief an Lady Proudmoore und General Norris zu schreiben, in dem sie empfahl, Davin zum Küchendienst zu versetzen. »Erstens, Major, hatte ich angenommen, Ihr würdet es begrüßen, wenn ich Euren Kapitän in Eurer Gegenwart vernehme. Zweitens, verfrachtet Ihr gewöhnliche Gauner etwa hierher statt in eine Zelle?«

Davin begnügte sich damit, weiterhin finster dreinzublicken. Eine Antwort auf die gestellte Frage gab er nicht. Deshalb wandte sich Lorena an den jungen Offizier. »Schickt sie beide herein, bitte, Gefreiter.«

Irritiert sah der Gefreite zuerst zu Davin. Der Major nickte widerwillig, und da erst gehorchte er.

Zwei Männer betraten das kleine Büro. Strov war die durchschnittlichste Person, die Lorena kannte. Allerweltsgröße, Allerweltsgewicht und Allerweltskörperbau, braunes Haar, braune Augen, schmaler Schnurrbart. Er sah aus wie viele männliche Erwachsene, was einer der Gründe dafür war, warum er ein so exzellenter Spürhund war. Er war ein so unscheinbarer Mensch, dass selten jemand seine Anwesenheit überhaupt bemerkte.

Der Mann, der Strov folgte, hatte das wettergegerbte Aussehen eines erfahrenen Seemanns. Sein Gang wirkte unbeholfen, als erwarte er, dass ein Schiffsdeck unter ihm schwankte. Sein Gesicht war von Falten durchzogen und gerötet, was von langen Aufenthalten an der frischen Luft zeugte.

»Kapitän Avinal«, sagte Davin und kehrte zu seinem Stuhl zurück, »das ist Oberst Lorena. Lady Proudmoore hat sie von Theramore hierher geschickt, um herauszufinden, warum das Piratenschiff das Orc-Schiff angriff.«

Avinal zuckte mit den Achseln. »Ich denke, das ist offensichtlich, Oberst.«

Einen Moment lang zögerte Lorena. Sie nutzte die kurze Spanne, um Davin einen finsteren Blick zuzuwerfen. Dann widmete sie sich Avinal. »Der Grund, den der Major für mein Hiersein angegeben hat, ist nicht ganz korrekt. Ich weiß, warum ein Piratenschiff einen Orc-Händler angreift. Was ich nicht weiß, ist, warum Ihr ihm nicht beigestanden habt.«

Avinal zeigte auf Strov und fragte: »Ist es das, warum dieser Mann und seine Leute mich und meine Mannschaft belästigt haben?«

»Strov und seine Kameraden haben nur die Befehle der Lady befolgt – genau wie ich.«

»Ich habe eine Patrouille zu führen, Ma'am. Das kann dann ja wohl noch warten, bis...«

»Nein, Kapitän, das kann es nicht.«

Avinal blickte zu Davin. Davins Schulterzucken schien sagen zu wollen, dass er es nicht mehr in der Hand hatte. Dann sah der Kapitän wieder zu Lorena. »Na gut. Wann soll dieser Angriff stattgefunden haben?«

»Vor fünf Tagen. Wie wir von Major Davin erfahren haben, stecktet Ihr an diesem Morgen im Nebel fest.«

»Ja, Ma'am, genau so war es.«

»Habt Ihr irgendwelche anderen Schiffe an dem Morgen gesehen?«

»Schon möglich. Ein paar Umrisse, die ein Boot gewesen sein könnten. Ich bin mir nicht sicher. An einer Stelle waren wir aber auf jeden Fall nah an einem Boot. Es ließ sein Nebelhorn erklingen.«

Lorena nickte. Das deckte sich mit dem, was die Orcs Lady Proudmoore berichtet hatten.

»Aber wir haben nichts Eindeutiges gesehen. Man konnte die eigene Hand nicht vor Augen ausmachen. Ich segle schon fünfzig Jahre, Oberst, aber ich habe nie einen derartigen Nebel gesehen. Sargeras persönlich hätte übers Deck wandeln können, und ich hätte es nicht bemerkt. Das Letzte, was uns interessiert hat, war ein Haufen Grünhäute.«

Mehrere Sekunden lang starrte Lorena dem Kapitän tief in die Augen. Dann seufzte sie. »Sehr gut, Kapitän, danke. Das ist alles.«

»Verdammte Zeitverschwendung«, murmelte Avinal und verließ den Wachraum.

Nachdem der Kapitän gegangen war, sagte Strov: »Der größte Teil der Mannschaft lässt genau das Gleiche verlauten, Ma'am.«

»Natürlich tun sie das«, knurrte Davin. »Und zwar weil es die Wahrheit ist, so wie es für jeden, der auch nur kurz darüber nachdenkt, auf der Hand liegt.«

Lorena wirbelte herum. »Sagt mir, Major, warum habt Ihr nicht erwähnt, dass Kapitän Avinal einem anderen Boot nahe kam oder dass es sein Nebelhorn blies?«

»Ich dachte nicht, dass es wichtig wäre.«

Lorena änderte ihren Brief im Geiste, sodass Davin nun doch eher zum Latrinendienst verdonnert wurde. »Es ist nicht Euer Job, Wichtigkeit zu werten. Es ist Euer Job, Eure Pflicht, den Befehlen Eurer Vorgesetzten zu folgen.«

Davin atmete tief aus. »Oberst, Ihr wurdet hierher geschickt, um herauszufinden, ob Kapitän Avinal irgendetwas falsch gemacht hat. Das hat er nicht. Und was zählt es, ob eine Horde Grünhäute ihre Ladung verloren hat?«

»Das haben sie gar nicht. Denn sie haben die Piraten selbst und sehr erfolgreich bekämpft.«

Jetzt stand Davin ruckartig wieder auf. Er musterte Lorena, als zweifele er an ihrem Verstand. »Bei allem gebotenen Respekt, Ma'am, warum dann diese Befragung? Es ist ja nicht so, dass die Grünhäute unsere Hilfe nötig gehabt hätten. Weshalb werden wir also wie Verbrecher behandelt? Wie ich schon sagte, wir haben nichts Falsches getan und uns auch sonst nichts zuschulden kommen lassen!«

Lorena schüttelte den Kopf. Sie konnte dieser Sicht der Dinge absolut nicht zustimmen.

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