12

Aegwynn wünschte sich sehnlichst, dass diese lästige junge Frau einfach verschwinden möge.

Doch das würde natürlich nicht passieren. Aegwynn war zu sehr Realistin, um etwas anderes zu erwarten. Aber das hielt sie nicht davon ab, es sich von ganzem Herzen zu wünschen. Sie war seit zwei Jahrzehnten allein und hatte es schätzen gelernt, sich selbst genug zu sein. In diesen zwanzig Jahren war sie glücklicher gewesen, als in den Hunderten davor.

Sie hatte gehofft, dass dieses Hochland mit seinen unpassierbaren Bergen abgelegen genug war und niemand in der Lage sein würde, sie zu finden. Aber diese Hoffnung hatte sich als trügerisch erwiesen.

»Ich kann nicht glauben, dass Ihr immer noch lebt.«

Diese Proudmoore-Frau klang wie eine Halbwüchsige. Aegwynn wusste jedoch, dass das eigentlich nicht ihre Natur war, sondern sie sich erst in diese Rolle hineingesteigert hatte, als sie erfuhr, wer Aegwynn in Wahrheit war.

»Ihr wart immer einer meiner Helden. Als ich noch Schülerin war, habe ich die Aufzeichnungen Eurer Taten studiert. Ihr wart der bedeutendste Wächter«, fuhr Proudmoore fort.

Aegwynn schauderte bei dem Gedanken, was diese schlotternden alten Dummköpfe in der Violetten Zitadelle über sie verbreitet und niedergeschrieben haben mochten, und sagte: »Wohl kaum.«

Sie konnte dieses Geschwätz nicht länger ertragen, hob den Wassereimer an und ging zurück zur Hütte. Wenn sie Glück hatte, würde diese Proudmoore sie nicht weiter belästigen.

Aber Aegwynn hatte heute nicht sonderlich viel Glück.

Proudmoore folgte ihr. »Wegen Euch konnte ich überhaupt erst Magierin werden.«

»Grund genug für mich zu bereuen, dass ich eine wurde.«

»Ich verstehe nicht. Warum seid Ihr hier? Warum habt Ihr nicht allen erzählt, dass Ihr noch lebt? Ehrlich gesagt hätten wir Eure Hilfe im Kampf gegen die Brennende...«

Aegwynn schleuderte den Eimer zu Boden und wirbelte zu Proudmoore herum. »Warum ich hier bin, geht nur mich etwas an. Jetzt lasst mich in Frieden.«

Unglücklicherweise führte diese Aktion nur dazu, dass Proudmoore ihr bisheriges Gehabe aufgab und wieder zu jener starken Persönlichkeit wurde, die sie eigentlich war. »Es tut mir Leid, aber das kann ich nicht, Magna. Ihr seid zu wichtig für...«

»Ich bin für niemanden wichtig. Versteht Ihr das nicht? Ihr kleines dummes Kind! Ich bin nicht auf menschliche Gesellschaft vorbereitet – oder orcische, oder die von Trollen, Zwergen... wen immer Ihr wollt.«

Dieser Ausbruch brachte erneut das junge Ding in Proudmoore zum Vorschein. Aegwynn konnte die Magie in ihr sehen und erkannte – mochte sie auch im Vergleich zu ihr ein Kind sein –, dass sie sehr mächtig war. Sie war durch die Barrieren gelangt, ohne dass Aegwynn etwas davon mitbekommen hatte. Das zeugte von einem gewissen Können. »Ich bin kein kleines Mädchen. Ich bin eine Magierin aus Kirin Tor.«

»Und ich bin tausend Jahre alt, und so weit es mich betrifft, habt Ihr noch ein paar Jahrhunderte vor Euch, bevor ich eventuell in Erwägung ziehen könnte, Euch nicht mehr als kleines Mädchen zu bezeichnen, kleines Mädchen... Jetzt geht. Ich möchte allein sein.«

»Warum?« Proudmoore klang ehrlich verwirrt, was Aegwynn zu der Erkenntnis brachte, dass die junge Zauberin ihren Werdegang nicht richtig studiert hatte. Oder ihr Lebenslauf war gründlich verändert – verfälscht worden, bis Proudmoore ihn in die Finger bekommen hatte. Das Mädchen fuhr fort: »Ihr wart diejenige, die Frauen den Weg geebnet hat, überhaupt Zauberinnen werden zu können. Ihr seid einer der besungenen Helden von Azeroth. Wie konntet Ihr Euch nur abwenden...«

»Wie? Hm, ganz einfach – so.« Aegwynn drehte sich um und ging ins Haus. Ihren Eimer ließ sie stehen. Sie würde ihn später holen.

Natürlich gab Proudmoore nicht auf, sondern folgte ihr durch die klapprige Holztür. »Magna, Ihr...«

Sie standen jetzt in dem Raum, den Aegwynn scherzhaft das Wohnzimmer nannte. Es war zugleich der einzige Raum in der Hütte und diente auch als Schlafstube, Küche und Esszimmer. Aegwynn rief erbost: »Hört auf, mich so zu nennen. Ich bin keine Magierin mehr. Ich bin auch kein Held, und ich will Euch nicht in meinem Haus haben. Ihr sagtet, dass ich Frauen den Weg zum Magiersein geebnet hätte. Wenn ich mir überhaupt etwas anrechnen darf, dann ist es, der beste Grund zu sein, warum Frauen niemals Magierinnen werden sollten.«

»Ihr liegt falsch«, sagte Proudmoore. »Es ist, weil Ihr...«

Aegwynn presste ihre Hände auf die Ohren und sagte: »Um Himmels willen, würdet Ihr bitte damit aufhören?«

Ruhig antwortete Proudmoore: »Ich sage nichts, was Ihr nicht schon wüsstet. Wenn Ihr nicht gewesen wärt, wären die Dämonen schon viel früher gekommen, und wir...«

»Und welchen Unterschied genau hätte das ausgemacht?« Aegwynn lächelte das Mädchen hohntriefend an. »Die Dämonen kamen trotzdem, und Lordaeron wurde trotzdem zerstört, der Lich-König regiert immer noch, und Sargeras hat immer noch gewonnen.«

Proudmoore zuckte bei der Erwähnung des Lich-Königs aus irgendeinem Grund zusammen. Aber Aegwynn interessierte das Warum nicht. Das Mädchen antwortete: »Ihr könnt Eure Beteiligung leugnen, so lange Ihr wollt, aber das ändert gar nichts. Ihr wart eine Inspiration für alle...«

Sie lächelte. »Für alle ,kleinen Mädchen', die Magierinnen werden wollten. In der Zitadelle war meine Lieblingsgeschichte immer die, wie Ihr von Scavell als erster weiblicher Wächter auserwählt wurdet. Dem ersten Magier, der den Wert weiblicher Schüler erkannt hat – und wie die Wächter von Tirisfal die Wahl begrüßt haben, und...«

Aegwynn musste lachen. Sie lachte lang und laut. Sie hatte sogar Schwierigkeiten, Luft zu bekommen vor lauter Prusten. Sie fing an zu husten, bekam sich aber wenig später wieder unter Kontrolle. Nach tausend Jahren begann ihr Körper jetzt zu altern, aber sie hatte immer noch genug Lebenskraft, um sich von ein bisschen Gelächter nicht umwerfen zu lassen.

Genau genommen war es der beste Lacher, der seit Jahrhunderten aus ihr herausgebrochen war.

Proudmoore schaute wie jemand, der in eine Zitrone gebissen hatte. Ihr Gesicht war wutverzerrt. »Ich verstehe nicht, was daran so komisch sein soll.«

»Natürlich nicht.« Aegwynn lachte und atmete ein paar Mal tief ein und aus. »Wenn Ihr all den Müll glaubt, der über mich kursiert, seid Ihr selber schuld.« Sie tat einen weiteren Atemzug, der sich in ein Seufzen verwandelte. »Nun, wenn Ihr wahrhaftig darauf besteht, in meine Privatsphäre einzudringen, Lady Jaina Proudmoore aus der ach so noblen Stadt Theramore, dann setzt Euch.« Sie wies auf den geflochtenen Stuhl, für dessen Herstellung sie das gesamte dritte Jahr ihres Exils geopfert hatte, sich aber nach seiner Fertigstellung weigerte, je darauf Platz zu nehmen.

»Setzt Euch, und ich werde Euch die wahre Geschichte erzählen, wie ich zur Wächterin von Tirisfal wurde... und warum ich die Letzte bin, die Ihr als irgendeine Art von Heldin feiern solltet...«

Achthundertvierundsiebzig Jahre zuvor

Zum ersten Mal seit Jahren jagte Tirisfal Aegwynn Angst ein. Die Wälder nördlich der Hauptstadt von Lordaeron waren immer ein Ort der Schönheit und Ruhe gewesen, fern vom Alltag. Ihre Mutter hatte sie das erste Mal auf einem Ausflug hierher mitgenommen, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war. Die kleine Aegwynn hatte die Landschaft gleichzeitig als erschreckend und faszinierend empfunden. Sie war überrascht, dass die Tiere frei herumliefen, war fasziniert von der unglaublichen Farbenpracht der Vegetation und begeistert, wie viele Sterne sie des Nachts sehen konnte, weit weg von den Lichtern der Stadt.

Im Laufe der Zeit war die Angst verschwunden. Sie wich Freude, Verwunderung und immer wieder Erleichterung.

Bis heute. Heute war die Angst mit aller Macht zurückgekehrt.

Seit ihrer Kindheit war sie eine Schülerin des Zauberers Scavell, zusammen mit vier anderen, die aber natürlich Jungen waren. Aegwynn wollte schon immer Magierin werden, aber ihre Eltern hatten ihr stets gesagt, dass sie irgendwann irgendjemandes Frau werden würde. Und dass ihr Herumspielen mit Kräutern im Augenblick noch in Ordnung sei. Aber bald schon würde sie wichtigere Dinge lernen – wie Nähen und Kochen...

Diese Predigten ließ sie so lange über sich ergehen, bis sie Scavell traf und er sie bat, seine Schülerin zu werden. Dabei machte er deutlich, dass er ein Nein als Antwort nicht akzeptieren würde. Ihre Eltern jammerten, sie würden ihr kleines Mädchen verlieren. Aber Aegwynn war begeistert. Aus ihr würde eine Magierin werden!

Damals gab es nur drei andere Schüler: Falric, Jonas und Manfred. Sie waren genauso merkwürdig wie alle anderen Knaben, die Aegwynn kannte, aber immerhin ein wenig erträglicher. Der vierte, Natale, stieß erst ein Jahr später zu ihnen.


Heute Morgen hatte Scavell verkündet, dass er Mitglied eines geheimen Ordens wäre, den man die Wächter von Tirisfal nannte. Aegwynns erste Assoziation, die sie damit verknüpfte, war, dass der Wald, den sie so liebte, danach benannt worden war. Aber es stellte sich heraus, dass es genau umgekehrt war. Sie nannten sich so, weil sie sich schon seit vielen Jahrhunderten auf dieser Lichtung trafen. Das erstaunte Aegwynn, weil sie nie solche Treffen bemerkt hatte, obwohl sie seit Jahren regelmäßig Ausflüge in die Glades unternahm.

Dann hatte Scavell ihnen erklärt, dass sie nun in die Glades gehen würden, um die Tirisfalen zu treffen.

Die Knaben unterhielten sich über Geheimgesellschaften und wie aufregend das alles war. Als wenn es sich um eine Art Abenteuer gehandelt hätte. Aber Aegwynn blieb still. Sie wollte genau wissen, was diese Tirisfalen darstellten. Scavell blieb äußerst vage in diesem Punkt. Während die Knaben auf Scavells Wort vertrauten, wollte Aegwynn mehr wissen.

»Das wirst du schon noch früh genug herausbekommen, mein Mädchen,« hatte Scavell auf ihre Frage geantwortet. Er nannte sie immer »mein Mädchen«.

Als Scavell sie in die Glades brachte, war Aegwynn verwirrt, weil sich niemand auf der Lichtung befand. Doch nur Augenblicke später, gerade als sie Scavell fragen wollte, was denn nun sei, gab es einen Lichtblitz. Danach wurden sie, Scavell und ihre Mitschüler von sieben Gestalten umstanden – in einem perfekten Kreis. Drei waren Menschen, drei waren Elfen, und einer war ein Gnom. Alle waren Männer.

»Wir haben gewählt«, sagte einer der Elfen.

Falric echote: »Gewählt?«

Der Gnom antwortete: »Schweig, Junge, das wirst du schon bald selbst herausfinden.«

Der Elf wandte sich an Scavell. »Du hast alle fünf Schüler gut ausgebildet, Magna Scavell.«

Aegwynn runzelte die Stirn, sie hatte diese Ehrenbezeichnung noch nie zuvor gehört.

»Trotz allem gibt es einen Schüler, der aus den anderen hervorsticht. Ein Schüler hat sich auf den wissbegierigen Wegen der Magie bewiesen – was über normale Neugierde weit hinausgeht. Einer hat eine Begabung beim Wirken von Zaubern gezeigt, die ohne Gleichen ist, und er hat sogar schon die Schriftrollen des Meitre gemeistert.«

Jetzt raste Aegwynns Herz. Der Nachtelf Meitre war ein großer Zauberer gewesen, der vor vielen tausend Jahren gelebt hatte. Elfenmagier versuchten sich nicht vor dem letzten Jahr ihrer Ausbildung an Meitres Sprüchen. Und Menschenmagier versuchten es während ihrer Ausbildung oft überhaupt nicht. Aegwynn aber beherrschte Meitres Sprüche schon seit Ende ihres ersten Jahres.

Sie hatte es in aller Heimlichkeit getan. Scavell hatte darauf bestanden, weil es sonst »die Knaben ärgern würde«.

Falric schaute seine Mitschüler der Reihe nach an. »Wer beherrscht Meitres Sprüche?«

Mit einem Grinsen sagte Aegwynn triumphierend: »Ich.«

»Wer hat dir das erlaubt?«, fragte Manfred ärgerlich.

Mit seiner brüchigen Stimme sagte Scavell: »Das war ich, junger Manfred. Und du und Falric wärt gut beraten, nicht noch einmal unaufgefordert zu sprechen.«

Falric und Manfred neigten ihre Köpfe. »Ja, Meister.«

Der Elf fuhr fort. »Was ich euch jetzt sagen muss, euch allen, ist, dass ein Krieg tobt. Er ist der Öffentlichkeit nicht bekannt, nur der Gemeinschaft der Magier, von der ihr alle eines Tages ein Teil sein werdet. Dämonen sind in unsere Welt eingedrungen, und sie werden mit jedem Jahr aggressiver, egal, was wir auch dagegen unternehmen.«

»In der Tat«, warf der Gnom ein, was ihm einen tadelnden Blick des Elfen einhandelte. »Eigentlich werden sie wegen unserer Erfolge immer aggressiver.«

»Dämonen?« Natale klang entsetzt. Er hatte sich immer schon vor Dämonen gefürchtet.

»Ja«, sagte einer der Menschen. »Bei jedem Umlauf versuchen sie, uns zu vernichten. Nur Zauberer können gegen sie ankämpfen.«

»Den Tirisfalen wurde aufgetragen«, ergänzte der Elf mit einem Blick auf den Menschen, der verriet, dass er die Unterbrechung nicht schätzte, »diese Welt zu beschützen, und wir haben einen Wächter dafür berufen. Die besten jungen Magier im Land werden vom aktuellen Wächter zusammengebracht, eurem Meister Scavell in diesem Fall, der sie ausbildet. Dann bestimmen wir, welcher der Begabteste ist und der neue Wächter werden soll.«

»Die Wahl war nicht einfach«, sagte der Gnom.

Jonas murmelte: »Es ist eine dumme Wahl.«

»Was hast du gesagt, junger Mann?«, fragte ein anderer Elf.

»Ich sagte, die Wahl ist dumm. Aegwynn ist ein Mädchen. Sie taugt als weise Frau, die Kräutertränke an die Dörfler verteilt, aber das ist schon alles. Wir anderen werden Magier sein.«

Aegwynn sah Jonas empört an. Sie war ihm sehr nahe gekommen. Die beiden hatten ein paar Mal miteinander geschlafen, ihre Verbindung aber vor den anderen Schülern geheim gehalten, obwohl Scavell davon wusste. Es gab nichts, was dem alten Magier entging. Das Letzte, was sie erwartet hätte, waren diese Worte aus seinem Mund. Von Falric vielleicht, er war oft unausstehlich, aber doch nicht Jonas. Aegwynn schwor sich, dass er sie niemals wieder in sein Bett bekommen würde...

»Es ist wahr«, sagte ein alter Mensch mit einem Seufzen, »dass Frauen emotional reagieren und zu unkontrollierten Ausbrüchen neigen, die einem Magier nicht zustehen. Aber es ist auch wahr, dass Aegwynn das größte Potenzial von allen hat, und wir können es uns nicht leisten, dass nicht der Beste Wächter wird. Selbst wenn das bedeutet, die Position einer Frau zu geben.«

Daraufhin entgegnete Aegwynn zornig: »Bei allem Respekt, gute Meister. Ich werde ein genauso guter Magier sein wie diese heranwachsenden Männer da. Ich glaube sogar, dass ich besser sein werde. Weil ich viel mehr Hindernisse zu überwinden hatte, um hierher zu kommen.«

Der Elf lachte. »Sie trägt ein gutes Argument vor.«

»Wartet mal«, sagte Natale, »ihr meint, dass sie dieses Wächter-Dings wird und wir anderen gar nichts kriegen?«

»Nicht doch«, sagte der Elf. »Ihr werdet alle wichtige Rollen bekleiden. Alle Zauberer in unserem Orden kämpfen in dieser Schlacht. Es ist nur so, dass die Rolle des Wächters noch wichtiger ist.«

Aegwynn sah ihren Mentor an und fragte: »Scavell, was wird mit Euch? Warum müsst Ihr das Amt des Wächters aufgeben?«

Scavell lächelte. »Ich bin alt, mein Mädchen, und sehr müde. Horden von Dämonen zu bekämpfen ist etwas für Junge. Ich wünsche die mir verbleibenden Jahre damit zu verbringen, die nächste Generation vorzubereiten.« Er betrachtete seine Schützlinge. »Seid beruhigt, ich werde euer Mentor bleiben.«

»Na großartig«, murmelte Falric. Alle vier Knaben schmollten.

»Die Tatsache« sagte der Gnom gereizt, »dass ihr euch so unreif benehmt, ist exakt der Grund, warum wir Aegwynn vorziehen.«

»Außerdem«, ergänzte der ältere Mensch, »ist der Wächter das Werkzeug des Rats. Ich vermute, dass ein Mädchen weniger willensstark ist und die Befehlskette besser achtet.«

»Das ist keine militärische Operation«, sagte einer der anderen Menschen.

Aegwynn konnte nicht anders als anzumerken: »Ihr habt es selbst als einen Krieg beschrieben.«

»Ganz richtig«, sagte der Elf mit einem verhaltenen Lachen. Dann schaute er Aegwynn aus Augen an, die sich direkt in ihre Seele zu brennen schienen. »Du hast noch Vorbereitungen zu treffen, Mädchen, bevor du dich der Übertragung der Kraft unterziehen musst. Die Magie aller Tirisfalen wird dir gewährt. Begreife Folgendes, Aegwynn: Du übernimmst die größte Verantwortung, die ein Magier nur tragen kann.«

»Ich verstehe«, sagte Aegwynn, obwohl sie sich nicht sicher war, ob das stimmte. Aber sie wollte mehr als alles andere ein Magier sein, und sie wusste, die oberste Pflicht eines Zauberers war, die Welt zu schützen. Im Idealfall wurde Magie von Zauberern nur dafür eingesetzt, um Ordnung in die chaotische Welt zu bringen, und Aegwynn ahnte schon jetzt, dass eine Menge Arbeit auf sie zukam.

Sie hatte nur nicht geahnt, wie viel Arbeit es wirklich werden würde. Oder was Scavells wahre Gründe waren, als er ihr Meitres Schriftrollen gezeigt hatte...

Falric trat vor. »Verdammt, ich bin so gut wie jedes Mädchen. Besser noch. Ich kann auch einen von Meitres Sprüchen wirken. Seht!« Falric schloss seine Augen, öffnete sie dann wieder und starrte auf einen Felsen, der aus dem Boden ragte, genau neben der Stelle, wo der Elf stand. Er murmelte eine Beschwörung, dann wiederholte er sie. Meitres Sprüche bedurften immer der doppelten Beschwörung, was, wie Scavell gesagt hatte, eine Sicherheitsvorkehrung war.

Licht blitzte, und der Fels glühte schwach in einem leichten Gelb. Falric grinste Aegwynn höhnisch an und lächelte dann in Richtung der Magier.

»Stein zu Gold«, sagte der Gnom. »Wie wenig originell.«

»Eigentlich,« sagte der Elf mit einem Lächeln, »ist es Falschgold.«

Falrics Grinsen verschwand. »Wie kann das sein?« Er wirkte einen schnellen Identifizierungsspruch, und dann wurde sein Gesicht noch länger. »Verdammt!«

»Du hast eine große Gabe zu lernen«, sagte der Elf, »aber du hast noch viel mehr Potenzial. Ihr alle, Falric, Manfred, Jonas, Natale, ihr werdet als Scavells Schüler euer Potenzial zur Entfaltung bringen.« Wieder sah er sie mit dem seelendurchdringenden Blick an. »Aegwynn, deine Bestimmung wird ein wenig eher kommen. Wir werden uns auf dieser Lichtung in einem Monat wieder treffen, um die Kraft zu übertragen. Es gibt noch viel, worauf du dich vorbereiten musst.«

Damit verschwanden sämtliche Mitglieder des Bundes in einem Lichtblitz.


Einen Monat später übergab Scavell die Macht des Wächters an Aegwynn. Vorher hatte er ihr alles über die Dämonen und ihre schrecklichen Diener beigebracht, die stetig versuchten, in die Welt einzudringen. Einzig Wächter wie Scavell hatten das erfolgreich verhindert. Es war mit nichts vergleichbar, was sie je zuvor erlebt hatte. An Zauber, die einst ihre volle Konzentration erfordert hatten, verschwendete sie inzwischen kaum mehr als einen flüchtigen Gedanken. Auch ihre Auffassungsgabe verbesserte sich sprunghaft, weil sie nun den Kern der Dinge sehen konnte. War es einst mit großem Aufwand verbunden gewesen oder benötigte gar einen komplexen Spruch, die Natur einer Pflanze oder den emotionalen Zustand eines Tieres zu erfassen, schaffte sie das nun mit einem einzigen Blick.

Ein Jahr später starb Scavell friedlich im Schlaf. Als er erkannte, dass er sterben würde, arrangierte er es, dass neue Lehrer für Jonas, Natale und Manfred gefunden wurden. Falric konnte zu der Zeit schon auf eigenen Beinen stehen. Scavell vermachte Aegwynn all seine Besitztümer.

Weniger als einen Monat nach Scavells Tod kam Aegwynn gerade aus dem kleinen Dorf Jortas zurück, als der Rat sie auf magischem Weg rief.

Kaum war sie in Tirisfal Glade eingetroffen, sagte der Gnom, dessen Name, wie sie erfahren hatte, Erbag lautete: »Was hast du eigentlich in Jortas getrieben?«

»Die Menschen vor Zmoldor retten.« Aegwynn dachte, dass die Antwort auf der Hand läge.

»Und glaubst du, du hast von Zmoldor noch etwas erfahren, bevor du ihn vernichtet hast? Hattest du eine Strategie, wie man ihn loswerden konnte, ohne dass die Bevölkerung von Jortas die Wahrheit erfahren würde? Oder bist du blind losgerannt in der Hoffnung, du würdest schon gewinnen?«

Müde und verärgert verhielt sich Aegwynn etwas freimütiger, als es ihr vor dem Rat zugestanden hätte. »Weder noch, Erbag, wie du sehr wohl weißt. Ich hatte keine Zeit, um eine Strategie auszuarbeiten oder mehr herauszufinden. Sonst hätte ich die Kinder in der Schule, die Zmoldor besetzt hatte, in Gefahr gebracht. Es waren Kinder. Sollte ich abwarten und...«

»Wir haben von dir erwartet«, sagte Erbag, »dass du tust, was man dir befielt. Hat Scavell dich nicht die Prinzipien der Tirisfalen gelehrt? Wir gehen mit Vorsicht zu Werke und mit...«

Aegwynn unterbrach den Gnom. »Ihr reagiert nur, Erbag. Das ist alles. Deshalb habt ihr auch kaum Fortschritte gemacht, während der letzten Jahrhunderte. Zmoldor war in der Lage, eine ganze Schule zu übernehmen und wollte die Kinder von Jortas für ein Ritual missbrauchen, das ihre Seelen vergiftet hätte. Es war purer Zufall, dass ich den üblen Geruch der Dämonenmagie bemerkte und deshalb rechtzeitig eingreifen konnte. Eure Methoden sind nicht mehr zeitgemäß und nicht der Bedrohung angepasst. Wenn es nach euch ginge, würden wir stets nur reagieren und nicht selbst das Heft des Handelns in die Hand nehmen.«

»Selbstverständlich ist das so!« Erbag warf seine Arme vor und zurück. »Der Rat wurde geschaffen, um genau das zu tun: zu reagieren auf die Bedrohung der...«

»Und es hat nicht funktioniert. Wenn wir wirklich gegen diese Monster erfolgreich sein wollen, die in unsere Heimat eindringen und sie zu zerstören trachten, können wir ihnen nicht erlauben, sich hier so leicht einzuschleichen und Kinder gefangen zu nehmen, bevor wir überhaupt davon erfahren. Wir müssen bei der Suche nach ihnen aktiv werden und sie eliminieren, bevor ihr Tun Wirkung zeigt – oder wir werden überrannt.«

Erbag war nicht überzeugt. »Und wenn die Leute erkennen, dass ihre Leben in Gefahr sind und dann in Panik verfallen?«

Statt auf die Frage zu antworten, blickte Aegwynn zu den anderen Ratsmitgliedern. »Spricht Erbag für euch alle, oder ist er nur der lauteste?«

Der älteste der Elfen im Rat, Relfthra, bedachte Aegwynn mit einem Lächeln. »Beides, Magna.« Das Lächeln verschwand. »Erbag hat Recht, dass du zu rücksichtslos bist.

Zmoldor war ein niederer Dämon im Dienste von Sargeras, er hätte uns mit nützlichen Informationen über seinen Meister versorgen können.«

»Ja, und er könnte auch all die Kinder getötet haben, bevor er uns die Informationen gegeben hätte.«

»Vielleicht. Aber dieses Risiko müssen wir manchmal eingehen, um diesen Krieg zu gewinnen.«

Aegwynn war entsetzt. »Wir reden über das Leben von Kindern. Außerdem ist das gar kein Krieg, es ist nur eine Verschleppungsschlacht, im besten Fall. Und wenn wir nicht aufpassen, wird sie uns alle umbringen, egal ob Kinder oder Erwachsene.« Bevor einer der anderen Magier etwas erwidern konnte, sagte sie: »Erhabene Magier des Rates, bei allem Respekt, ich bitte euch. Ich bin erschöpft und brauche Schlaf. Gibt es sonst noch etwas?«

Relfthras Miene verfinsterte sich. »Bedenke deine Stellung, Magna Aegwynn. Du bist der Wächter, aber du dienst diesem Amt als der Arm des Rates der Tirisfalen. Vergiss das nie.«

»Ich bezweifle, dass ihr mir das jemals gestatten würdet«, murmelte Aegwynn. »Wenn das jetzt alles war...?«

»Für diesmal«, sagte Relfthra.

Die Worte hatten kaum seinen Mund verlassen, als Aegwynn auch schon todmüde zurück zur Violetten Zitadelle teleportierte.

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