Von einem neuen Treck, der aus Richtung Marienburg müde, am Ende aller Kräfte durch den eisigen Tag herankam, wurden wieder Frauen und Kinder durch die Absperrkette auf die Schiffe gelassen. Ein paar Offiziere gingen herum und schrien zu den schon an Bord befindlichen Männern:»Wenn der Platz nicht reicht, müßt ihr wieder runter! Verstanden?!«
«Verstanden!«brüllte Opa Jochen zurück.»Aber dann alle!«Er blickte zu Dr. Bollow hinüber, der unter der Fahne stand, als müs-se er dort Ehrenwache halten.»Ich sag's ihm persönlich!«knurrte Kurowski. Paskuleit hielt ihn am Ärmel fest.
«Bist du verrückt?!«zischte er.»Willste die Rübe abhaben?«
«Von dem da?«Opa Jochen lachte gefährlich.»Wenn ich tief einatme, hängt er mir unter der Nase!«Er riß sich los und stampfte über das Deck zu Dr. Bollow.
«Alle Männer von Bord!«schrie Kurowski.»Es kommen noch mehr Frauen!«
Verwirrt starrte der Oberfeldrichter den alten, großen Mann mit dem wilden Bart an.»Was wollen Sie?«sagte er dann ziemlich unsicher.
«Platz für die Frauen! Was machen Sie auf dem Schiff, he?«
«Ich sorge hier für Ordnung, Mann!«Dr. Bollow straffte sich. Er schlug den Kragen seines Lammfellmantels hoch und ging an Ku-rowski vorbei. Kurz darauf hörte man seine helle Stimme irgendwo schreien:»Alle Männer bis 50 Jahre an der Brücke sammeln! Abzählen lassen! Für jede Frau zwei Männer von Bord!«
«So ein Schwein!«sagte Opa Jochen bitter.»Julius, was für eine dicke Sau! Wenn der den Krieg überlebt, muß mich Pfarrer Heydicke neu missionieren. Dann glaub ich nicht mehr an Gott.«
Gegen Mittag wurden die Stege eingezogen, die Schiffe waren überfüllt. Man wußte zwar, daß noch von allen Seiten mehrere große Trecks heranzogen, aber es hatte keinen Sinn mehr, sie abzuwarten. In der Ostsee sollten sowjetische U-Boote und Minensucher kreuzen und alles zusammenschießen, was von der deutschen Küste abstieß. Keiner wollte das Risiko eingehen, diese vollbeladenen Schiffe auch noch zu opfern. Die Soldaten und die zurückgebliebenen Männer, meistens Bauern und Arbeiter aus ehemals kriegswichtigen Betrieben, die nun längst von den russischen Divisionen überrollt waren, winkten den drei Schiffen nach, als sie langsam die Weichselmündung hinunterglitten zur offenen See. Über den Masten knatterten die Rote-Kreuz-Fahnen, auf den Dächern der Ruderhäuser leuchtete ebenfalls das internationale Zeichen. Hier suchten die Unschuldigsten und die am meisten Getroffenen eines Krieges ihr Le-ben wieder: Frauen, Kinder und Greise, von dieser Minute an heimatlos, erbärmlich arm, angespültes Strandgut der großen Schlachten, Überlebende mit der Chance, irgendwo zu verhungern oder draußen auf der Ostsee in einen russischen Torpedo zu laufen. Denn auch das Rote Kreuz hatte seine Mahnkraft verloren. Es galt nur noch eins: Vernichten! Auslöschen!
Als die Küste im Schneenebel versank, gingen Paskuleit und Opa Jochen durch das Schiff, um zu sehen, was von Adamsverdruß gerettet worden war. Zuerst sahen sie Oberfeldrichter Dr. Bollow. Er saß in der Kapitänskajüte und rauchte gemütlich eine Zigarre.»Er wird durchkommen«, sagte Kurowski in einem Ton, der bei Paskuleit ein Kribbeln unter der Kopfhaut erzeugte.»Wir werden ihn einmal in die Finger kriegen. Mein Jungchen hat er aufgehängt! Wo wären wir jetzt ohne den Oberleutnant?«
In der Masse der Flüchtlinge trafen sie Julia Rambsen wieder, die junge Gutsherrin mit ihrem Säugling.»Nun ist Ihr Trakehnerhengst >Goldener Sommer< auch hin«, sagte Paskuleit.»Ihr einziges Kapital.«
Julia Rambsen lächelte still.»Er steht unten in einem Ladebunker. Er fährt mit.«
«Wie haben Sie das denn fertiggekriegt?«
«Einer der Offiziere ist Turnierreiter. Welch ein Glück. «Ihr Lächeln war wie eine Sonne, die den eisigen Nachmittag aufwärmte.
Auch Pfarrer Heydicke war auf dem Schiff, und in einer Ecke saß sogar Felix Baum, der Ortsgruppenleiter. Er grinste, als Kurowski und Paskuleit sprachlos vor ihm stehenblieben, und zeigte auf sein rechtes Bein. Es war geschient und dick umwickelt.
«Wann ist'n das passiert?«fragte Opa Jochen.
«Gar nicht. Ich hab's nur verbunden. Verwundete dürfen mit.«
«Du verfluchtes Aas!«sagte Paskuleit leise.»Wenn das 'rauskommt!«
«Ich wollte bei euch bleiben! Verdammt, wir können uns mal gegenseitig notwendig haben. Der Frieden wird furchtbar sein, verlaßt euch drauf. Und wenn ich auch nichts habe, — 'ne große Fresse habe ich!«
«Da hat er recht«, sagte Opa Jochen überwältigt,»'ne große Fresse hat in Deutschland noch immer 'was genützt! Halt dich gut, Felix…«
Langsam, schwer im Wasser liegend, mit stampfenden Maschinen rollten die drei Schiffe durch die Ostsee. Sie fuhren in Küstennähe, um die Halbinsel Heia herum, manchmal so nahe, daß man bei klarem Wetter Feuerschein vom Land sehen konnte und der Wind dumpfes Grollen herübertrug. Die Russen waren schnell, — sie rollten Deutschland auf wie eine Konservendose. Ihre Panzerdivisionen waren die Büchsenöffner.
Bei Stolpmünde stießen zwei Küstenwachboote zu ihnen, hinter Rügenwalde gliederte sich ein Minensuchboot ein. wie ein Geleitzug dampfte die kleine Kolonne durch die eisige See in die Freiheit.
Pfarrer Heydicke betete jeden Tag in einer Art Bordgottesdienst.»Gott, laß uns durchkommen. Mach die U-Boote blind. Leg Nebel zwischen die Russen und uns. Mein Gott, schütze uns. «Gebete, die man nie vergessen sollte.
Sie fuhren vierzehn Tage durch die Ostsee, ohne daß sie ein feindliches Schiff sahen. Dreimal überflogen sowjetische Kampfflugzeuge den Schiffszug, aber sie griffen nicht an. Sie kamen vom Festland und hatten anscheinend alle Munition verschossen.
Ununterbrochen tickte in der Funkkabine der Telegraf. Von den großen Häfen, die man anlaufen wollte, um die Flüchtlinge auszuladen, flogen böse Meldungen heran. Kolberg fiel aus… der Russe näherte sich. Stettin konnte man nicht anlaufen, hier stauten sich andere Schiffe und machten sich Kriegsschiffe zum Landkampfbereit. Greifswald bot keine Chance, aber Stralsund war bereit, die Schiffe zu entladen. Auf den Gleisen des Güterbahnhofs standen Hunderte von Waggons.
«Bis Stralsund kommt kein Russe!«sagte Opa Jochen, als die Nachricht durch das Schiff lief.»Da sind die Engländer schneller, ich sag dir's.«
Nach drei Wochen Angst und Beten erreichten sie Stralsund. Es war ein heller, kalter, sonniger Tag, als die Schiffe mit brüllenden
Sirenen die Stadt und die Rettung begrüßten. Erna Kurowski stand mit ihren Kindern an der Reling und blickte hinüber zu dem Land, das auch Deutschland war, aber so ganz anders als Ostpreußen, so fern und fremd, wie es etwa Afrika oder Amerika für sie gewesen war, wenn man in Adamsverdruß über es sprach.
«Ich habe Angst, Julius«, sagte sie zu ihrem Schwager Paskuleit.»Wir kommen über diese Menschen wie Heuschrecken, und so werden sie uns auch behandeln.«
«Nicht einen Schuster!«Paskuleit klopfte mit breitem Grinsen an seinen Rucksack mit den Werkzeugen.»Eine Sohle unterm Fuß hat noch immer einen Mann ernährt. Erna, — wie ist unser Wahlspruch?«
«Wir lassen uns nicht unterkriegen!«sagten Erna und die Kinder im Chor. Es war ein guter Spruch… aber die Angst von drinnen im Herzen blieb trotzdem.
Am Mittag wurden sie ausgeladen. Zweitausenddreihundertneunundvierzig Frauen und Kinder, Greise und Verwundete. Und siebzig Soldaten und Offiziere als Begleitkommando, unter ihnen Oberfeldrichter Dr. Bollow. Als er an Land ging, knallten die Hacken der Soldaten am Fallreep. Dr. Bollow hob stolz den Kopf und blickte sich um. In seinen Augen lag der Endsieg.
Das Auffanglager war eine große Fabrik. In den Werkhallen lagerten die Flüchtlinge auf Stroh, Rote-Kreuz-Helfer verteilten Decken und heiße Suppe aus Bohnen und wäßriger Bouillon, Malzkaffee und Brote mit einem nach Leberwurst schmeckenden Kunstaufstrich. Die Grundlage war Mehl und Grieß. In vier Schreibstuben wurden alle namentlich erfaßt und nach Verwandten im Westen gefragt. Als Erna Kurowski ihre Schwägerin in Krefeld angab, winkte man ab. Krefeld war kein Ziel mehr… wer aus der Hölle kommt, den schickt man nicht in neue Trümmerhaufen. Aber wo war Deutschland noch heil? In der Lüneburger Heide, im Sauerland, im Bayerischen Wald, in der Holsteinischen Schweiz, im Münsterland, im Frankenwald? Noch war man so höflich, zu fragen: Wo wollen Sie hin? Noch konn-te man mit Zügen fahren, auch wenn Tausende von britischen und amerikanischen Bombern die Luft über Deutschland beherrschten und ab und zu auch die langen Züge angriffen. Noch war Deutschland ein Schwamm, der sich nicht vollgesogen hatte und die Menschen aus dem deutschen Osten aufnehmen konnte.
Paskuleit und Pfarrer Heydicke wurden beim Leiter des Auffanglagers, einem Gauleiter in babyschißfarbener Uniform, vorstellig.»Wir bitten darum, daß das Dorf Adamsverdruß — oder was noch davon übrig ist — zusammenbleibt«, sagte Paskuleit.»Es sind nicht mehr viel. Vierzehn Familien nur. Ist das möglich?«Und einer Eingebung folgend, fügte er hinzu (er hatte so etwas einmal von Felix Baum gehört):»Es ist der Wille des Führers, daß Dorfgemeinschaften als Grundzelle des Staates zusammenbleiben.«
Heydicke schielte zu Paskuleit und verbiß ein Lachen, als er dessen ernstes Gesicht sah. Der Gauamtsleiter war beeindruckt über soviel Nationalismus.»Lübeck ist frei«, sagte er.»Im Lager Lübeck könnte Adamsverdruß — welch ein Name! — noch unterkommen. Vierzehn Familien, das geht. Wollen Sie nach Lübeck?!«
«Das war immer mein Wunsch. «Paskuleit sagte es fast feierlich.»Lübeck ist gut. Dort halten wir aus, bis der Endsieg uns die ostpreußische Heimat wiederbringt und wir die Russen hinter den Ural zurückjagen!«
«Heil Hitler!«rief der Gauamtsleiter.
Nach zehn Minuten hatte Pfarrer Heydicke als Chef der Adams-verdrusser den Marsch- und Einweisungsbefehl nach Lübeck in der Tasche.»Sie sind ein verdammter Hund, Paskuleit«, sagte er draußen.
«Und Sie haben als Pfarrer eben verdammt gesagt, Herr Pfarrer!«Paskuleit lächelte.»Wir sind jetzt ein Wolfsrudel und müssen heulen wie die Wölfe! Sie sehen, Herr Pfarrer, — das versteht man!«
Nach fünf Tagen rollten die vierzehn Familien von Adamsverdruß mit drei Waggons weiter nach Nordwesten, nach Lübeck. Im letzten Waggon, zwischen Heu- und Strohhaufen, betreut von Franz Busko, stand der Trakehnerhengst >Goldener Sommer<. Für das Heu hatte Opa Jochen seine wertvollste Habe eingetauscht: Die goldene Uhr der Kurowskis, seit 1813 in Familienbesitz. Der Bauer Hermann Poltin hatte sie angenommen.
«Das vergesse ich Ihnen nie«, sagte Julia Rambsen mit Tränen in den Augen. Opa Jochen winkte ab.»Ich hol se mir wieder. Ich kenn ja den Namen. Vergessen Sie nicht: Wir Kurowskis sind unausrottbar wie die Wanzen.«
Von Stralsund bis Lübeck fuhr der Güterzug zwei Tage und zwei Nächte. Das heißt, — am Tage versteckte er sich irgendwo auf der Strecke und fuhr nur des Nachts. Was keiner in den drei letzten Waggons wußte: Vorne, in zwölfWagen, wurden Granaten transportiert. Hätte Opa Jochen das geahnt, wäre er nicht so fröhlich gewesen wie auf dieser Fahrt durch ein noch erstaunlich stilles, vom Kriege kaum berührtes Land. Zwei Tage und zwei Nächte lang war es, als lebe man auf einem anderen Stern, der >Frieden< hieß —
Lübeck war ein einziges Heerlager.
Die Stadt, obgleich auch stark durch Bombenangriffe beschädigt, war vollgestopft von Menschen. Verschiedene Flüchtlingszüge waren bereits aufgenommen worden, und als die vierzehn Familien aus Adamsverdruß mit ihrem Hengst >Goldener Sommer< im Lager V erschienen, rauften sich die Männer der Lagerleitung die Haare.
«Was heißt hier Einweisung und Marschbefehl?«schrie ein dicker Mann, der anscheinend viel zu sagen hatte.»Der Gauheini in Stralsund kann gut solche blöden Zettel ausschreiben! Wohin mit Ihnen, das frage ich?! Wir sind so voll, daß sich schon das Dach hebt! Und dann auch noch'n Pferd dabei!«
«Ein Trakehnerhengst. >Goldener Sommer
«Leckt mich im Arsch mit eurem Hengst! Und >Goldener Som-mer Jawoll, das wird noch'n goldener Sommer! Ihr werdet das Vieh auffressen!«
«Nie!«sagte Paskuleit laut.
«Wetten?«Der dicke Mann hieb auf den Tisch.»Pro Woche gibt's fünfzig Gramm Fett und 100 Gramm Wurst… wenn se da ist! Und ihr führt ein paar Zentner bestes Fleisch spazieren! Ihr Vollidioten! Gut, ihr seid im Lager! Aber ich habe keine Betten, keine Decken, keine Ecke, wo ihr liegen könnt, — nur scheißen könnt ihr im Gemeinschaftslokus und euch waschen in der Waschbaracke! Sieg Heil!«
«Nicht aufgeben!«sagte Paskuleit draußen. Die vierzehn Familien und >Goldener Sommer< standen vor der Lagerleiterbaracke.»Wichtig ist: Wir sind erfaßt. Wir haben eine Nummer, wir sind im Westen, wir sind eingegliedert. Wir gehören jetzt dazu! Man kann uns nicht mehr weiterjagen. Lübeck ist ein Ort wie jeder Ort auf der Karte — wir werden hier leben! Los, Leute, Quartier suchen! Wir zeigen denen mal, was da aus Adamsverdruß gekommen ist!«
Und sie zeigten es! >Goldener Sommer< wurde in einer Remise neben der Lagerküche untergebracht.»Jungs, wenn ihr ihn abstecht, zerhacke ich euch!«sagte Opa Jochen ernst.»Ich gucke jede Stunde nach ihm!«Dann verteilten sich die Adamsverdrusser über alle Baracken, und Paskuleit und Busko begannen, schon am ersten Tag Schuhe zu reparieren, und besohlten sie mit zerschnittenen Autoreifen. Dafür bekamen sie einen Platz zum Schlafen. die anderen rückten eben zusammen.
Der Anfang einer neuen Schuhmacherwerkstatt war gemacht. Nach zehn Tagen kannte jeder im Lager den Julius Paskuleit. Es war erstaunlich, wieviel heimliche Lebensmittel kursierten und bei Paskuleit, dem Schuster, hängenblieben. Es gab im Lager Genies, die spazierengingen und mit vollen Taschen zurückkamen.»Von denen werde ich lernen«, sagte Opa Jochen.»Jungchen, ich gehe für mein Leben gern spazieren — «Aber die Organisationsgenies ließen den alten Kurowski nicht in ihre Reihen. Sie hängten ihn mit allen Tricks ab.
«Die kennen mich noch nicht«, sagte Opa Jochen knirschend.»Ich muß hier erst mal warm werden. Bei einem Kurowski dauert das nicht lange.«
Plötzlich waren die Engländer da.
Sie rückten in Lübeck ein ohne großen Lärm, besetzten die Stadt, übernahmen nominell das Lager, ließen die alte Lagerleitung bestehen und pflanzten nur einen jungen Captain in die Kommandanturbaracke, der deutsch sprach, sehr freundlich war und bei seinem Antritt eine Rede vor allen Flüchtlingen hielt.
«Meine Eltern wurden in Auschwitz vergast«, sagte er.»Aber ich weiß, - ihr armen Schweine könnt nichts dafür. Wenn ihr Sorgen habt, — kommt ruhig zu mir.«
Für Lübeck, das Flüchtlingslager und die Leute aus Adamsverdruß war der Krieg zu Ende. Sie hatten ihn überlebt.
«Jetzt geht es los«, sagte Paskuleit an einem Morgen zu der Familie Kurowski.»Jetzt beginnt der Kampf um ein Plätzchen an der Sonne — «