Kapitel 7


Der erste Versuch, aus dem Lagerleben auszubrechen, mißlang.»Ich schreibe nach Krefeld«, sagte Erna Kurowski, als die Familie die naheliegendsten Möglichkeiten durchgesprochen hatte.»Tante Elfriede bewohnt dort ein großes Haus, — sie kann uns alle aufnehmen. Wenigstens die erste Zeit.«

«Zwei Monate höchstens. «Paskuleit klatschte in die Hände.»Wir suchen uns einen Schuppen, bauen ihn aus und machen eine Werkstatt auf. Es hat noch nie eine Zeit gegeben, in der man einen Handwerker nicht brauchte. Also auf nach Krefeld.«

Nach einer Woche traf ein Brief von Tante Elfriede ein. Die Sache war hoffnungslos.

«Ihr wißt doch«, schrieb die Tante,»daß Onkel Adolf einen hohen Posten in der Partei hatte. Nun haben ihn die Sieger verhaftet und in ein Lager nach Darmstadt gebracht. Unser Haus, das noch gut erhalten war, haben sie auch beschlagnahmt. ich lebe jetzt bei meiner Freundin Monika auf einem Zimmer und warte und bete, daß Onkel Adolf wieder nach Hause kommt. Ihr wißt doch, — Adolf war immer ein guter Mensch, er war nur fehlgeleitet, er ließ sich immer so schnell begeistern… das hat er nun davon. Ich weine Tag und Nacht.«

«Essig!«sagte Opa Jochen.»Das kann lange dauern, bis der Adolf Hammes aus dem Lager zurückkommt. Braune Uniform und dann noch mit Vornamen Adolf. das kann eine Ewigkeit dauern. So lange warten wir nicht. Streichen wir Krefeld. Ehrlich, — wir hätten auch nicht in die stinkfeine Villa gepaßt. Also sehen wir uns hier um. Lübeck ist 'ne schöne Stadt, und die Ostsee ist die gleiche See wie an der Nehrung. Direkt heimatlich ist das.«

Der dicke Lagerleiter von Lager V war der einzige, der Schwierigkeiten machte. Warum er ausgerechnet die Familie Kurowski unter Beschuß nahm, wußte nur Opa Jochen, aber der verriet es nicht. Es war nämlich am vierten Tag nach ihrer Ankunft in Lübeck, als der Dicke bei Julia Rambsen in der Remise erschien und zuschaute, wie sie ihren Hengst >Goldener Sommer< fütterte.

«So 'ne hübsche Frau und geht mit Hengsten um«, sagte er gemütlich.»Aber das Futter wird knapp werden.«

«Wir werden sammeln gehen«, antwortete Julia Rambsen und putzte dem Hengst die Nüstern aus.»Er wird einmal der Stammvater einer neuen Trakehnerzucht werden.«

«Ein Glückspilz. «Der Fette lachte dröhnend.»Der darf immer. Der muß sogar. Kriegt die schönsten Stuten hingestellt. Warum sollen wir Menschen schlechter leben?«Er klatschte Julia auf die Hüften und sah sie lüstern an.

«Lassen Sie das!«sagte sie gefährlich leise.

«Ich weiß, wo man vier Fuder Heu und 'ne Menge Hafer bekommt. «Der Dicke betrachtete mit offenem Wohlgefallen Julias schöne Brüste und leckte sich schnell über die Lippen.»Es gibt da nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird mal der Gaul eines Tages ab-gestochen, weil einige Hundert hier im Lager mit ihrem knurrenden Magen Musik machen können… oder wir holen gemeinsam das Heu und den Hafer. Dann passe ich auf das Vieh auf. Aber das geht nur gemeinsam, schöne Frau… verstehen wir uns? Gemeinsam!«

«Da gibt's auch noch 'ne dritte Möglichkeit!«hatte Opa Jochen gebrüllt. Er war gerade beim letzten Satz unbemerkt in der Remise erschienen.»Wenn 'n Esel bockt, tritt man ihn in den Arsch!«Und ehe der Dicke wußte, was da geschah, wurde er mit kräftigen Tritten und Faustschlägen aus dem Unterstand gejagt. Seitdem hatte die Lagerleitung die Familie Kurowski wie einen Balken im Auge und versuchte alles, diesen Fremdkörper loszuwerden.

«Das hier ist kein Dauerlager, sondern ein Durchgangslager«, sagte der Dicke zwei Monate nach Kriegsende zu Paskuleit, — es war die siebente Ermahnung dieser Art.»Immer neue Flüchtlinge kommen aus den russischen Gebieten herüber. Wir brauchen Platz! Man hat Ihnen Zeit gelassen, sich zu kümmern. Sie müssen in Kürze raus! Mein Gott, Sie müssen doch endlich wissen, wo Sie hingehören.«

«Nach Ostpreußen!«sagte Paskuleit finster.»Sorgen Sie dafür, daß Adamsverdruß frei von Russen ist… schon eine Stunde später sind wir auf dem Rückweg!«

«Das ist doch dämliches Gequatsche!«schrie der Dicke.»Wir haben den Krieg verloren!«

«Wir! Das ist es! Nicht nur wir Ostpreußen oder Schlesier, sondern auch Sie, Sie dickes Schwein! Sie haben nur Glück gehabt, daß hierhin der Engländer gekommen ist, aber wir können ja tauschen. Ich hatte in Adamsverdruß ein schönes Haus, — ich schenke es Ihnen. Gehen Sie hin, setzen Sie sich 'rein, — ich nehme dafür gern Ihre miese Dreizimmerwohnung. Abgemacht?«

Der Dicke drehte sich wortlos um und ging.»Polacken!«hörte ihn Paskuleit murmeln. Es war ein Wort, das er von da an nicht mehr vergaß.

«Das also sind wir für die hier im Westen«, sagte er zu Opa Jochen und Felix Baum.»Polacken! Verdammt, ich habe so eine Ahnung, als ob auch dieser Krieg den Deutschen die Hirne nicht frei-geblasen hat! Gibt es eigentlich nichts, was den Deutschen ändert? Auch nicht die Millionen Toten, die zerstörten Städte, der Hunger, das völlige Chaos? Bleibt denn dieser Deutsche immer der arrogante Trottel?! Opa, ich ahne: Der Frieden wird schrecklich!«

Am nächsten Abend wurde der dicke Lagerleiter in die Waschbaracke gezogen, nachdem jemand ihm einen Sack über den Kopf geworfen hatte. Quiekend, später stumm und ergeben, ließ er sich verprügeln, bis er ohnmächtig zusammensank. Bis heute weiß noch niemand, wer die Attentäter waren. Man weiß nur, daß die Baracke II, in der die Kurowskis wohnten, zusammenlegte und zwei Flaschen Schnaps von den Engländern kaufte. Es wurde eine fröhliche Nacht.

«Trotzdem müssen wir hier 'raus!«sagte Paskuleit später.»Der Dicke hat in einem Recht: Das hier ist kein Dauerzustand. Hier verschimmeln wir. Die Paskuleits und Kurowskis waren immer freie Menschen. Und wenn ich mich unter ein Bretterdach draußen vor das Lager setze und Schuhe besohle, — ich bin draußen! Ich habe mein eigenes Dach! Opa —?«

«Hier!«brüllte Jochen Kurowski.

«Was die anderen können, schaffen wir auch: Wir gehen auf Mag-geltour!«

«Und womit willste tauschen, du Idiot?«

«Mit >Goldener Sommer

Jochen Kurowski starrte Paskuleit mit offenem Mund an.»Biste total verrückt.«, sagte er dann leise.»Erstens gehört dir der Hengst nich, und zweitens fresse ich lieber Gras, ehe ich das Pferd hergebe.«

«Euch fehlt die Phantasie. «Paskuleit tippte an seine breite Bauernstirn. Als er jetzt lachte, war es, als wäre die Sonne über den masurischen Seen aufgegangen.»Wir machen mit Julia zusammen einen Reitstall auf. fünf Minuten reiten, eine Nähnadel. Eine halbe Stunde: Einen Feuerstein. Zehn Minuten: Ein Stück Seife. Eine ganze Reitstunde: Ein halbes Pfund Speck! Für Engländer Sondertarife: Jede halbe Stunde ein Frühstückspäckchen. Offiziere zahlen mit Butter und Schinken oder mit Ham 'n eggs.«

«Er ist übergeschnappt!«Opa Jochen sah sich hilflos um. Die Ku-rowskis, Felix Baum, Franz Busko und Julia Rambsen schienen anderer Meinung zu sein — sie nickten Paskuleit zustimmend zu.»Wer will denn auf 'nem Gaul rumhopsen, wenn er nichts zu fressen hat?!«

«Abwarten. «Paskuleit setzte seine Mütze auf.»In Baracke VI ist ein Maler, der soll ein Schild malen. >Reiten — ein Volkssport! Gönnen Sie sich ein paar frohe Minuten auf dem Rücken eines feurigen Pferdes<. Mehr als auf die Schnauze fallen, können wir dabei nicht.«

Sie fielen nicht auf die Schnauze. Schon am ersten Tag, nachdem das Schild — der Maler aus Baracke VI verlangte für Pappe und Arbeit ein halbes Pfund Butter von der ersten Einnahme — von dem zehnjährigen Ludwig Kurowski herumgetragen wurde, meldeten sich zwanzig Kinder aus dem Lager und drei britische Sergeanten. Von den Eltern der Lagerkinder nahm Paskuleit Seife, Waschpulver oder Gummibänder an, — die Engländer bezahlten mit dicken Nahrungspaketen.

Am Abend zählten Paskuleit und Opa Jochen die Einnahmen. Es war überwältigend.

«Wer ist nun der Idiot?«fragte Paskuleit.»Wenn wir das zwei Monate lang machen, hat >Goldener Sommer< einen richtigen Stall, und wir bauen eine Schusterwerkstatt.«

«Und besohlen tuste mit Rotz, was?«brüllte Opa Jochen.

«Auch das Problem lösen wir. «Paskuleit faltete die Hände über dem Bauch. Er spürte in sich die Ahnung, daß mit dem Sommer 1945 inmitten einer zertrümmerten Welt die Familie Kurowski neu zu leben begann.»Ich mache den Reitstall weiter, ihr«- er zeigte auf Opa Jochen, Felix Baum und Franz Busko —»wandert mal durch die Gegend und seht euch um. In Deutschland liegt jetzt viel herum, mit dem man ganze Konzerne gründen könnte. Man muß nur 'nen Blick dafür haben! Sehen können, Opa.«

«Das laß ich nicht auf mir sitzen!«Jochen Kurowski ging beleidigt weg. Er bummelte hinüber zu >Goldener Sommer<, setzte sich neben den herrlichen Kopf des Hengstes und sagte:»Mein Lieber, die werden 'was erleben! Morgen nehm ich die Umgebung von Lübeck unter die Sohlen. Und du sollst mal 'ne Krippe aus Marmor haben, das versprech ich dir.«

Drei Wochen florierte der Reitbetrieb vorzüglich. Morgens drei Stunden, nachmittags drei Stunden. ein hartes Pensum für das Pferd, aber >Goldener Sommer< hielt es durch, als ahne er, daß sein schöner Rücken nicht nur elf Personen ernähren mußte, sondern die ganze Hoffnung einer besseren Zukunft trug. Ab der zweiten Woche hatte Paskuleit seine Stammkundschaft: Am Nachmittag ritten die britischen Offiziere. Vormittags die Deutschen. Das waren meistens Kinder, die ihre Eltern so lange anbettelten, bis diese mit geradezu rührenden Angeboten zu Paskuleit kamen. Für zehn Minuten ein Paar Schnürsenkel, gebraucht natürlich. Für drei Runden um die Baracke V das Lederband einer Armbanduhr. Eine Mutter brachte drei Windeln. für eine halbe Stunde Glück ihres jetzt vierjährigen Jungen.

Paskuleit nahm alles an.»Jedes hat seinen Wert«, sagte er ahnungsvoll.»Die große Zeit des Elends kommt erst noch — «

Am Samstag, nach drei Wochen, kehrten Opa Jochen und Felix Baum von einem zweitägigen Ausflug zurück. Baum, der sein Motorrad in Stralsund zurücklassen mußte, hatte aus Einzelteilen, die er zusammensuchte, ein Fahrrad zusammengebaut, und auf dem wackelten sie nun über Land, Opa Jochen hinten drauf, die langen Beine angezogen, in normalen Zeiten eine eklatante Verkehrsgefährdung, aber was war in diesen Tagen noch normal und was bedeutete Gefahr, wenn man der Hölle Ostpreußen und den Trecks entronnen war? Diese Überlandfahrten waren genau eingeteilt, Ku-rowski und Baum lösten sich beim Strampeln ab, sie besuchten alle um Lübeck liegenden Dörfer, tauschten die Dinge, die >Goldener Sommer< sammelte, bei den Bauern gegen Naturalien ein und feilschten um jedes Gramm Butter, jede Kartoffel, jeden Kohlkopf, jede

Zuckerrübe. Aber es klappte: Wenn Baum und Opa Jochen abends heimkamen, hatten sie ihre Rucksäcke voll.

An diesem Abend, nach zwei Tagen, kamen sie leer zurück. Paskuleit sah ihnen entgeistert entgegen.

«Hat man euch beraubt?«schrie er ihnen zu, noch bevor das Gefährt, das man Fahrrad nannte, aber eigentlich einen eigenen neuen Namen verdiente, bremste.

«Einen Kurowski beraubt man nicht!«brüllte Opa Jochen vom Gepäckträger.»Komm zum Gaul, Julius! Und halt jetzt die Klappe — «

Sie trafen sich in der Remise bei >Goldener Sommer< wie Verschwörer, und Opa Jochen benahm sich auch so.»Junge, mir sind die Augen übergegangen«, sagte er.»Felix, habe ich zu dem dämlichen Nazi gesagt, Felix, halt mich fest, ich krieg 'nen Herzschlag.«

«Es war überwältigend«, sagte Felix, heiser vor Erregung.»Grandios — «

«Und redet mal vernünftig!«Paskuleit stieß Kurowski an.»Was ist grandios?«

«Fünftausend Autoreifen. «Opa Jochen schluckte vor Ergriffenheit.

«Zehntausend.«, sagte Baum.»Mindestens zehntausend! Haufen über Haufen.«

«Alte und neue. Julius… wir haben ein Reifenlager der ehemaligen Wehrmacht entdeckt. Nur 'n einfacher Stacheldraht drum. Englische Pendelposten. Wir haben zwei Tage im Gras gelegen und alles beobachtet. Wie bei uns: Ablösung alle zwei Stunden… aber da ist eine Mannschaft dabei, die spart sich das Herumlatschen und pennt. Von zwei Uhr nachts bis fünf Uhr morgens ist kein Posten zu sehen. «Baum lehnte sich müde an die Remisenwand.»Stell dir das vor: Da liegen mindestens zehntausend Reifen, und die Engländer wissen nichts damit anzufangen und pendeln nur so um sie herum.«

«Damit könnten wir 'ne Riesenschuhfabrik aufmachen, Julius. «Jochen Kurowski umarmte den mit gespitzten Ohren zuhörenden Hengst und küßte ihn auf die weichen Nüstern.»Du olles Vieh.

ich hab se entdeckt! Und mich wollten se zum Zittergreis machen! Mich, den Jochen Kurowski! Und du kannst aufhören mit der dämlichen Herumtraberei… du kriegst deine Marmorkrippe. Versprochen ist versprochen, mein Jungchen.«

«Wo?«fragte Paskuleit kurz.

«Zwischen Curau und Malkendorf. Zwischen zwei Hügelketten. «Felix Baum griff in die Tasche, — er hatte sogar eine Zeichnung angefertigt. Die Hügel, das riesige Reifenlager, der Stacheldrahtzaun, die britische Wachbaracke, die Scheinwerfermasten, die aber nie brannten, der Weg der Pendelposten, der nur bei der Wachgruppe II rund ums Lager ging. Die meisten Posten, vor allem nachts, sparten das hintere Drittel aus, denn dort mußten sie durch unebenes Gelände.»Hier können wir rein, ohne daß einer etwas merkt.«

«Und da ist das Lager auch am sichersten. Von dort bis zum nächsten Weg quer durch die Hügel ist eine Miststrecke. Willst du jeden Reifen erst über hundert Meter tragen, ehe du ihn aufladen kannst?«

«Ich ja!«sagte Opa Jochen laut.»Ich bin kräftig genug. Ich bin ein Kurowski! Ob die Paskuleits soviel Mumm haben — «

«Also dann übermorgen nacht!«Paskuleit blickte Opa Jochen herausfordernd an.»Ein Paskuleit schafft zwanzig Reifen.«

«Ein Kurowski einundzwanzig!«schrie Kurowski.»Macht nur bei uns beiden einundvierzig. Wie kriegen wir die weg?«sagte er nüchtern.»Willste deine einundzwanzig vor dir herrollen?«

«Auch daran habe ich gedacht«, sagte Opa Jochen und verließ den Stall.

Am frühen Morgen, nach der ersten Andacht im Lager, saß Kurowski bei Pfarrer Heydicke in der Bürobaracke.

Heydicke hatte dort ein Dienstzimmer bekommen; er war zum Lagerpfarrer ernannt worden. Trotz besserer Angebote aus dem Hinterland blieb er bei seinen Flüchtlingen.

«Eine Frage, Herr Pfarrer«, sagte Jochen Kurowski mit gefalteten

Händen,»liegt mir sehr am Herzen und muß ein Pfarrer entscheiden: Bestraft Gott jemanden, der ein neues Leben aufbaut?«

«Aber nein, Jochen — «antwortete Heydicke verwirrt.»Gott ist bei ihm!«

«Das ist gut, Herr Pfarrer!«Opa Jochen stand auf.»Ich brauche einen kleinen Lastwagen, der so um die fünfzig Autoreifen transportieren kann. Für eine Nacht. Können Sie das organisieren?«

Pfarrer Heydicke konnte es, nachdem Kurowski ihm alles erzählt hatte. Der britische Lagerkommandant selbst lieh dem Pfarrer einen kleinen Dodge.»Ich komme mit«, sagte Heydicke.

Opa Jochen nickte.»Sie sagten ja: Gott ist bei uns! Morgen abend um neune.«

In der Abenddämmerung des nächsten Tages rumpelte der Lastwagen hinaus in das Land zwischen die Flüßchen Helisau und Schwartau. Am Steuer saß, Paskuleit neben sich, Pfarrer Heydicke. Ein einmaliges Abenteuer begann.

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