Heinz Konsalik Begegnung in Tiflis

Kapitel 1

In der Kanzel des Flugzeugs war es fast dunkel. Nur die schwache Beleuchtung der vielen Uhren, Meßinstrumente, Tachometer und Kontroll-Lampen warf einen fahlen, geisterhaften Lichtschein über die Gesichter der beiden Piloten. Vor den gebogenen Fenstern wischten die Scheibenwischer in eintönigem Rhythmus hin und her, der Regen prasselte gegen die Scheiben, aber jeder Laut von außen ging unter in dem gleichmäßigen Brummen der vier Motoren unter den weit ausladenden Flügeln.

Chefpilot Werner Pohlmann sah kurz hinüber zu Copilot und Funker Paul Andresen und überflog dann die Kontrolluhren. Auf dem Radarschirm geisterte schwach ein flimmernder Finger. Der Flugplatz von Ankara meldete sich.

Paul Andresen nickte zurück und drückte auf die Taste Sendung.

«Hier XA-19-XA-19-XA-19, Flug 27. Alles okay, Jungs. Flughöhe 6.400 Meter. Wetter schlecht. Regenfront. Stellen um auf Blindflug. Bitte Einweisung…«Und dann, nach einer Pause, sagte Andresen:»Abdul, bist du's? Grüß dich, alter Junge. In einer Stunde landen wir auf deiner mistigen Piste! Ich soll dich übrigens grüßen von Bjo-dera, dem süßen Püppchen aus dem >Transatlantik-Club< in Teheran. Ende.«

Werner Pohlmann lächelte und beobachtete Radarschirm und Navigationsinstrumente.»Privatgespräche sind während des Fluges verboten, Paul!«sagte er.»Du lernst es nie! Das kann dir die fünfte Verwarnung einbringen.«

«Scheiß was drauf. «Paul Andresen lehnte sich zurück und sah hinaus in die Nacht. Der Regen peitschte gegen die Fenster, Wolkenfetzen trieben an ihnen vorüber, die Schwärze war undurchdringlich. Eine scheußliche Nacht.»Sieh dir bloß das Barometer an, Werner. Es fällt wie ein k.o.-geschlagener Boxer. Wenn das stimmt, sitzen wir mitten im Auge eines Taifuns. Und das ist Blödsinn. Hier gibt's keine Taifune. Haste schon mal 'n Barometer gesehen, das funktioniert?«

Chefpilot Pohlmann starrte auf die kleine, runde, erleuchtete Scheibe des Instruments. Der schwarze Zeiger zitterte unaufhaltsam nach links. Der Luftdruck fiel und fiel. Pohlmann schüttelte den Kopf. Die Maschine flog ruhig durch das Gewitter, sie sackte weder ab, noch wurde sie von groben Winden geschüttelt.»Wir sollten ausweichen«, sagte er und beobachtete den Radarstrahl, auf dem sie flogen und der sie sicher nach Ankara leitete.»Ruf noch mal Abdul an und sag ihm, daß wir versuchen werden, dem merkwürdigen Wetter auszuweichen — «

«Quatsch!«Andresen bückte sich, nahm eine Schachtel mit Keksen vom Boden und begann zu knabbern.»Das gibt in Ankara großes Geschrei, und außerdem, wo willste hin? Rauf oder runter, und im Bogen über Persien? Das Barometer dreht durch, und dem Mechaniker in Karatschi werde ich nächste Woche dreimal in den Hintern treten! Der hat zuletzt kontrolliert!«

Chefpilot Pohlmann schwieg. Die Maschine schwankte etwas. Wie das Wiegen eines Schiffes auf normaler See war es, nicht unangenehm und doch für Pohlmann das Zeichen, daß außerhalb der Maschine ein heftiger Sturm tobte. Der Windmesser zeigte Stärke 7 an, aber das paßte wiederum gar nicht zu dem unverständlichen Tief des Barometers.

«Frag mal an, was für Wetter die in Ankara haben«, sagte Pohlmann. Andresen nickte, klemmte das Mikrofon wieder an den Mund und suchte die Wellenlänge von Ankara.

In dem langen Rumpf des Flugzeuges war es geisterhaft still. Die Passagiere schliefen auf zurückgeklappten Polstersesseln, die Köpfe in die weißen Daunenkissen gedrückt. Nur ein Herr, ein Inder, saß ganz hinten allein neben einer schwachen Leselampe und las in einem Buch.

Im Wachraum mixte Bettina Wolter einen Cocktail. Sie hatte heute Nachtdienst. Die zweite Stewardeß, Irene Heidfeld, schlief in einer Nebenkoje. In seinem Raum neben dem Gepäckraum lag Chefsteward Uwe Peters ebenfalls in tiefem Schlaf.

Bettina sah auf die elektrische Uhr über der kleinen weißen Anrichte. 3 Uhr morgens war es jetzt. Um 4 Uhr würde Zwischenlandung in Ankara sein. Ausladen der Postsäcke und einiger Kisten. Kein Passagier. 4.20 Uhr ging es weiter nach Istanbul. In der Morgensonne würde dann die herrliche Stadt auftauchen, wie mit Gold übergossen. Die Hagia Sofia, das Goldene Horn, die wie betende Finger zum Himmel gestreckten schlanken Minarette der vielen Moscheen, das Gewimmel der Altstadt, der Lärm und scharfe Geruch des Bazars, die eleganten Straßen der Neustadt, die Hotelpaläste am Bosporus, und über allem ein Flimmern aus Gold und Blau — eine wahrgewordene Fata Morgana. Und sie würden darüber hinwegfliegen, mit einer großen, gleichsam das Wunder begrüßenden Schleife, und wie immer würden sie alle an den Fenstern stehen und sich sagen: wie herrlich ist es, zu fliegen. Wie wunderbar ist doch die Welt. Wie unbeschreiblich schön ist es, zu leben…

Zwei Stückchen Eis, zerschlagen zu kleinen Splittern, den Rand des Glases in Zucker getaucht, eine Maraschino-Kirsche: Der Cocktail war fertig. Bettina trug das Glas auf einem Tablett zu dem lesenden Inder und stellte es auf dem Klapptischchen ab.

«Ein Gewitter«, sagte der Inder auf englisch und warf einen Blick in die brodelnde Nacht.»Werden wir den Flugplan einhalten?«

«Aber ja. «Bettina Wolter lächelte und nahm das Tablett mit dem Rest einiger Sandwichs, die sie zuvor serviert hatte, vom Tisch.»Unser Chefpilot kapituliert nicht vor solchen Kleinigkeiten. Keine Sorge, mein Herr.«

Der Inder lächelte schwach und lehnte sich zurück.»Wir haben heute den 19. Mai?«fragte er.

«Ja, seit drei Stunden. «Bettina zögerte zu gehen. Das Lächeln des Inders war wie erstarrt. Eine Maske war sein Gesicht. So etwas habe ich in Bombay gesehen, bei den Fakiren, dachte Bettina erschrocken. In eine Trance versetzen sie sich, und man kann sie mit Nägeln und Nadeln stechen, Feuer auf ihre Haut legen und Dolche in ihre Muskeln treiben, sie spüren keinen Schmerz mehr, und sie bluten nicht einmal.

«Sie glauben an Gott?«fragte der Inder mit gleichgültiger Stimme.

«Ja«, sagte Bettina leise.

«Dann beten Sie!«

«Soll… soll ich Ihnen lieber ein Glas Wasser bringen, Sir?«fragte Bettina gepreßt. Der Inder schüttelte den Kopf und sah wieder hinaus in die Nacht.

«Jeder Mensch hat sein Schicksal«, sagte er mit einer schwebenden, wie von seinem Körper losgelösten Stimme.»Ein Schicksal, das abläuft wie ein Uhrwerk. Da hilft kein Glas Wasser. Zu ändern ist nichts. Man kann nicht weglaufen, das Schicksal rennt hinterher. Man kann sich nicht verstecken, das Schicksal findet einen doch. Wenn das Meer über die Ufer tritt, hilft da ein Sandsack? Ein dummer Vergleich, ich weiß es, aber man muß das Unabwendbare deutlich machen. Und heute ist der 19. Mai! Beten Sie, Miß Bettina. Wir liegen auf der Handfläche des Schicksals und müssen warten, bis es die Hand umkehrt.«

Bettina Wolter antwortete nicht. Verwirrt ging sie zurück in ihre Koje und setzte sich vor die Anrichte.

Seit vier Jahren flog sie als Stewardeß. Erst innerdeutsche Strecken, dann mit den Europa-Jets nach Rom oder Paris. Seit einem Jahr aber, als Geschenk zu ihrem 21. Geburtstag, wie der Direktor der Luftlinie es ausdrückte, durfte sie die großen Strecken fliegen, und die liebste wir ihr die Strecke Frankfurt-Wien-Istanbul-Teheran-Karatschi und zurück. Die 1001-Nacht-Linie, wie Chefpilot Pohlmann es nannte. Ein Flug, der immer von neuem den Zauber des Orients über sie streute. Die Faszination einer Welt, die sie nie verstehen konnte, aber der sie auch nie entfliehen wollte.

Jetzt jedoch war sie unruhig, von einer merkwürdigen Angst durchzogen, die sie kribbelig machte und aufspringen ließ. Sie ging durch den kleinen Vorraum, der Pilotenkanzel und Kaffeeküche trennte, und in dem in großen Kästen die Aggregate und Verdrahtungen der Funkanlagen hingen, und betrat die Kanzel. Paul Andresen, wieder Kekse knabbernd, winkte ihr zu.

«Unser Süßerli kommt!«rief er.»Langweilig, mein Mädchen?… Alles schläft, einsam wacht nur Bettina in der Nacht. «Er zeigte auf einen Klappstuhl an der Kanzelwand.»Komm, setz dich, Liebling!«

Chefpilot Pohlmann wandte den Kopf zu ihr und nickte ebenfalls. Er war das Gegenteil des immer fröhlichen und oft frivolen Andresen, ein ernster, sachlicher, manchmal kalter Mensch, der nur sein Flugzeug kannte und als Pilot den besten Ruf genoß. Er war Ende der Vierzig, der nur sein Flugzeug kannte und als Pilot den besten Ruf genoß. Er war Ende der Vierzig, hatte ergraute Schläfen und blaue, fast graue Augen, die selten aus einer Freude heraus leuchteten, sondern immer blickten, als spähten sie durch ein Zielfernrohr.

«Etwas Neues?«fragte er und wandte sich dann sofort wieder den Instrumenten zu. Noch flogen sie auf dem Radarstrahl, aber das Unwetter draußen hatte zugenommen, die Maschine schwankte stärker, und wenn Andresen das Barometer ansah, blickte er gleich wieder weg, um sich nicht zu beunruhigen. So dusselig konnte kein Wetter sein, wie das Instrument es anzeigte.

«Nichts. Sie schlafen alle. Bis auf einen Inder. «Bettina setzte sich auf den Klappsitz und strich die kurzen, mittelblonden Haare aus der Stirn.»Der Mann macht mich nervös.«

«Ein Inder?«Andresen lachte.»Das ist was Neues. Inder sind sonst geborene Gentlemen. Was hat er getan, Süßerli? Dir in den Popo gekniffen?«

«Du bist unmöglich, Paul. «Chefpilot Pohlmann korrigierte die Flugbahn. Andresen verzog das Gesicht. Der steife Werner, dachte er. Wo andere lachen, säuft er Essig. Und dabei hat er, wenn man's glauben darf, drei Kinder zu Hause in Hamburg. Es wird ein ewiges Rätsel bleiben, wie er das fertiggebracht hat bei seiner Sturheit.

«Also nicht Popo«, lachte Andresen.»Was sonst?«

«Er sagt, ich solle beten.«

«O Himmel! Ist er von 'ner Sekte?«

«Er sagt, heute sei der 19. Mai, und wir liegen auf der Handflä-che des Schicksals.«

«Ein lieber kleiner Somnambule! Der Mann hat schlecht geträumt. Zuviel gegessen, voller Magen, keine Verdauung. Ich kenne das. Du, da habe ich einmal geträumt, ich liege auf einer Wiese, habe nichts an, gar nichts, verdammt, schlafe ein, und da kommt doch eine Kuh über die Wiese und.«

«Halt endlich den Mund!«sagte Chefpilot Pohlmann hart. Er drehte sich nach Bettina um, die wie ein verschüchtertes Hündchen auf dem Klappsitz hockte, die gefalteten Hände im Schoß. In ihren Augen erkannte er die leise Angst, die sie in sich bezwang und nicht wahrhaben wollte.»Was hat er noch gesagt, der Inder?«

«Wir entgingen dem Schicksal nicht.«

«Sag ich doch… keine Verdauung!«rief Andresen.

«Kümmere dich um die Flugeinweisung!«Chefpilot Pohlmann erhob sich von seinem Sitz und legte den Arm um Bettina. Er spürte, wie sie zitterte, und nickte ihr ermutigend zu.»Ich werde mich mit dem Knaben mal unterhalten«, sagte er.»Ich habe da schon die tollsten Dinge erlebt. Bleib solange bei Paul, Betti. Und wenn er schweinigelt, hau ihm eine runter!«

Werner Pohlmann kam bis zur eisernen Tür der Kanzel, da geschah es.

Nur ein Schlag war es, ein helles Krachen, das den Motorenlärm übertönte. Die Maschine schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Die Metallwände schienen zu singen, sekundenlang nur, mit einer hellen, durchdringenden Falsettstimme; wie ein Frieren war es, das über den langen stählernen Leib glitt. Und wenn es möglich gewesen wäre — das Flugzeug hätte eine Gänsehaut bekommen. Dann war alles wieder vorbei, die Motoren brummten, das Flugzeug lag gerade in der Luft, die Düsen arbeiteten normal… nur die Instrumente versagten: Alle Zeiger, mit Ausnahme des verrückten Barometers, klappten auf Null, das Licht verlosch, um sie herum war es so finster wie draußen in der stürmischen, tobenden Nacht. Und nun, in der völligen Dunkelheit, sahen sie auch das zuckende Leuchten über und unter ihnen, die phosphoreszierenden

Streifen, die aufblitzten und wieder verlöschten.

«O Scheiße!«sagte Andresen in die Dunkelheit hinein. Man hörte ihn hantieren und an Hebeln knacken.»Die gesamte innerelektrische Anlage ist im Eimer! Das war ein Blitzschlag, Werner! Die Funkanlage ist stumm! Und auch das Notaggregat hat's erwischt. Betti, mein Süßes, du mußt deinen Gästen klarmachen, daß es zum Frühstück nur Saft gibt.«

Werner Pohlmann stand vor den dunklen, toten Armaturen und hatte die Lippen zusammengepreßt. Auch der Radarschirm war ausgefallen. Der zuckende, glitzernde Finger war weg. Richtungslos, ohne Orientierung in der Nacht, flog die große Maschine durch die Gewitterfront.

«Was nun?«fragte Bettina leise hinter ihm.»Was passiert nun, Werner?«

Andresen tastete sich näher.»Radar auch weg!«stellte er fest.»O verfluchter Mist! Jetzt schwimmen wir in den Wolken wie ein Paddelboot im Ozean! Willst du runter, Werner?«

Pohlmann schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in seinen Pilotensessel. Er nahm das Steuer in beide Hände und starrte hinaus in die zuckenden Blitze.»Ich gehe auf Höhe«, sagte er gepreßt, und schwenkte ab nach Nordosten.»Ich muß nach Gefühl fliegen. Wohin wir auch kommen, das ist gleichgültig. Sobald es hell wird, kann ich auf Sicht gehen. Ob Elbrus oder Kaukasus oder Wüste — irgendwo wird eine Landung möglich sein! Nur in der Nacht nicht! Bettina.«

«Werner.?«Ihre Stimme klang ganz klein, fast kindlich.

«Sieh nach, ob die Passagiere was gemerkt haben. Beruhige sie. Paul wird unterdessen versuchen, die elektrische Anlage in Gang zu bringen.«

«Du Optimist! Wenn ein Blitz dir den Hintern aufreißt, hilft kein Chirurg mehr! Aber versuchen wir es.«

Mit etwas steifen Beinen verließ Bettina die Kanzel und betrat den langen Passagierraum.

Niemand hatte den Blitzschlag bemerkt. Die dreiundvierzig Rei-senden schliefen. Nur der Inder ganz hinten machte sich bemerkbar, als Bettina an ihm vorbeiging. Durch den Stromausfall war auch seine Leselampe erloschen.

«Haben Sie Angst, Miß Bettina?«fragte er leise.

«Nein, Sir. Warum? Ein kleiner plötzlicher Stromausfall. Er ist gleich repariert.«

«Ich weiß. «Bettina wußte, daß der Inder jetzt wieder lächelte. Sein Gesicht lag in der Schwärze der Dunkelheit.»Es ist gut, daß Sie keine Angst haben. Die ängstlichen Menschen sterben schrecklich. Dabei ist Sterben so leicht.«

Bettina wandte sich ab und rannte in ihre Koje. Und plötzlich hatte sie Angst, wahnsinnige Angst. Sie faltete die Hände und lehnte den Kopf an die glatte Kunststoffwand der eingebauten Küche.

Mutter, dachte sie. O Mutter, wenn mir etwas passiert. Immer warst du dagegen, daß ich Stewardeß werde, und bei jedem Absturz irgendwo in der Welt hast du mich angefleht, wegzugehen und einen anderen Beruf anzunehmen.

Ist es nun soweit? Ist das unser letzter Flug? Stürzen wir ab? Zerbrechen wir irgendwo dort unten bei einer Notlandung? Zerschellen wir an einem Felsen, der plötzlich vor uns auftaucht aus der Nacht?

O Mutter! Ich habe Angst!

Sie wurde auf ihrem Stuhl zurückgedrückt, schwankte und klammerte sich an der Tischkante fest.

Chefpilot Pohlmann zog die Maschine steil nach oben. In achttausend Meter Höhe durchbrach er das Gewitter, und plötzlich war ein Sternenhimmel über ihnen, so ruhig und herrlich, daß sich Ergriffenheit wie ein Ring um das zuckende Herz legte.

Wir fliegen in den Himmel, dachte Bettina. Noch einmal sehen wir die Wunder Gottes, und dann… dann.

Der 19. Mai.

Wie sagte der geheimnisvolle Inder: Man kann seinem Schicksal nicht davonrennen. Es läuft einem nach.

Wladimir Mironowitsch Bubnow saß in seinem Radarkontrollturm und kaute Sonnenblumenkerne. Ein langweiliger Dienst war's, so herumzusitzen, auf die flimmernden Radarfinger zu sehen und zu kontrollieren, wer da in der nächtlichen Luft herumschwirrte und die Nachtruhe des guten, sanften Bubnow belästigte. Er hatte eine Liste der anfliegenden Verkehrsmaschinen vor sich, war über ein Sprechfunkgerät und sechs Telefone mit allen anderen Kontrollstellen verbunden, vor allem mit der Flugleitung- mit diesen vornehmen Genossen, die nur das Allernötigste sprachen und so taten, als sei der liebe Bubnow ein Stückchen vertrockneter Mist.

Dabei ist Radar das Wichtigste auf einem Flugplatz. Was wäre der ganze Flugbetrieb von Tiflis, wenn es Wladimir Mironowitsch nicht gäbe, ich bitte! Über den Schirm mit dem kreisenden Geisterfinger geht einfach alles, was in der Luft ist. Nichts bleibt ihm verborgen, und keiner kann sagen, das stimmt nicht, ich war um diese Zeit nicht am Himmel. Wladimir Mironowitsch zeigte auf sein Berichtsbuch und ließ das besprochene Tonband ablaufen und sagte:»Brüderchen, lüg nicht wie ein Fischweib; du warst um 17.19 Uhr in der Luft!«Das kam allerdings nur bei den Sportfliegern vor, wenn sie den normalen Flugverkehr störten und in die Flugschneisen kamen. Das wurde streng bestraft, und es war immer Bubnow, der als wichtigster Zeuge auftreten mußte. Sie haben also gar keinen Grund, die weiß-hemdigen Genossen von der Flugleitung, die Nase so hoch zu halten, als umgebe den guten Bubnow ständig der Geruch eines entleerten Darmes.

In dieser Nacht also, am 19. Mai gegen 4 Uhr morgens, saß Wladimir Mironowitsch in seinem Kontrollturm, spuckte die Sonnenblumenschalen gegen die Wand und meldete auf Tonband und an die Kontrollstelle I, daß alles in Ordnung sei, der Himmel sei frei, jenseits des Kaukasus, zwischen dem Iran und der Türkei, herrschte ein ganz mistiges Gewitter, und im übrigen sei es toll, daß Spartak Moskau im Fußball gegen Partisan Kasan 2:0 gewonnen habe. Die ersten Frühnachrichten hätten das Ergebnis gebracht.

Um 4.10 Uhr wurde es jedoch im Kontrollturm bei dem guten Bubnow lebendig. Auf dem Radarschirm zeigte sich ein Punkt, der nicht dorthin gehörte. Es war ein konstanter Punkt, der schnell näher kam und der gut zu bestimmen war.

Ein Flugzeug.

Wladimir Mironowitsch überflog die Flugpläne vor sich auf dem Tisch. Die erste Maschine startete von Tiflis um 4.30 Uhr, die erste landende Maschine aus Taschkent traf um 5.07 Uhr ein. Privatmaschinen waren nicht gemeldet, auch keine Regierungsmaschine. Flugzeuge der sowjetischen Luftstreitkräfte hatten ebenfalls keine Übung. Nach Ansicht Bubnows mußte also der Himmel sauber sein wie ein eben gesaugter Teppich.

Aber der Punkt wurde immer größer. Ganz deutlich erfaßte ihn der kreisende Radarstrahl.

«Genossen!«riefWladimir Mironowitsch aufgeschreckt in das Telefon der Flugsicherung I und gleichzeitig auf das Kontrolltonband, das nach dem Dienst vom Leiter des Flugplatzes abgespielt wurde.»In der Luft ist was! Aus Richtung Iran kommt es! Über den Kaukasus! Ein Flugzeug!«

«Erkannt, Genosse!«Die Flugsicherung schaltete sich ein in das Rundsprechnetz, das bei Alarm alle Stellen aufrief, die für Sicherung und Verteidigung zuständig waren.»Behalten Sie Objekt unter Kontrolle.«

«Unter Kontrolle, Genosse!«Bubnow beobachtete den Punkt auf dem Radarschirm. Objekt, dachte er. Wie vornehm das klingt. Die Leute haben so ihre eigene Sprache, je mehr Rubelchen sie verdienen. Oder sollte es gar kein Flugzeug sein? Objekt! Eine Rakete kann's sein. Ein niederkommender, nicht amtlich bekanntgegebener Satellit?

In Bubnow vermehrte sich die Unruhe. Er schaltete sich in die Rundsprechanlage ein und erlebte zum erstenmal, wie lückenlos, schnell und präzise die Verteidigung der Sowjetunion war.

Um Tiflis herum waren in dieser Minute alle Kommandos der sowjetischen Luftflotte alarmiert. Aus den unterirdischen Bunkern und Abschußrampen fuhren lautlos die Abwehrraketen hervor, die Flakbatterien wurden besetzt, auf ein zentrales Kommando hin flammten rund um die Stadt, bis zu den Rändern des Kaukasus, die Scheinwerferstellungen auf und tasteten mit ihren riesigen, grellen Fingern den Nachthimmel ab. Sogar General Fjodor Nikolajewitsch Oro-nitse hatte man aus dem Bett geholt. In Unterhosen, aber wegen der Nachtkühle mit umgehängter Uniformjacke, saß er neben dem Telefon und ließ sich informieren.

«Flugobjekt ausgemacht!«Die Rundsprechanlage summte. Die Luftbeobachtungen an der Grenze gaben die ersten genauen Meldungen durch.»Es handelt sich um ein großes vierstrahliges Flugzeug noch unbekannter Herkunft. Flughöhe zirka 8.000 Meter. Flugrichtung Tiflis.«

General Oronitse legte den Hörer auf, rannte ins Schlafzimmer und zog sich an. Vor dem Haus fuhr bereits der große Moskwitsch-Wagen vor; im Hauptquartier verfolgte man an der großen Leuchtkarte, die an der Wand hing, den Flug des unbekannten Düsenriesen.

4.23 Uhr.

General Oronitse saß an seinem großen Schreibtisch im Hauptquartier Tiflis und telefonierte mit Moskau. Dort saß im Kriegsministerium ein verschlafener Oberst, der sich weigerte, verbindliche Befehle zu geben.

«Handeln Sie nach der Lage, Fjodor Nikolajewitsch«, sagte er zu General Oronitse.»Es wird kein amerikanischer Angriff sein. Und die U-2 fliegt 12.000 Meter hoch!«

Oronitse warf den Hörer zurück auf die Gabel und befahl zunächst drei Mig-Jäger aufsteigen zu lassen, um das unbekannte Flugzeug zu begleiten und zu beobachten.

Wladimir Mironowitsch in seinem Radarturm schwitzte vor Aufregung. Er hatte das alles entdeckt. Er hatte mit seiner Meldung den ganzen riesigen Apparat der Verteidigung mobilisiert. Welche Macht hatte er! Morgen früh würde er die Herren der Flugleitung in ihren weißen Hemden nicht zuerst grüßen und ihnen» Guten Morgen, Genossen!«zurufen. Was waren sie alle ohne ihn, den Radarmann Bubnow? Armselige Stiefelpisser! Jawohl! Man muß endlich mal die Wahrheit sagen, Brüder.

Über Tiflis jagten die drei alarmierten Mig-Jäger mit heulenden Motoren. Die Scheinwerferbatterien tasteten noch immer den Himmel ab, nun alle Strahlen konzentriert auf einen Himmelsstreifen, an dem die unbekannte Maschine auftauchen mußte.

General Oronitse ließ sich zum Flugplatz fahren, um vom Hauptturm aus mit einem Nachtglas das merkwürdige Ereignis zu beobachten.

«Es kann sich nur um eine verirrte ausländische Verkehrsmaschine handeln«, sagte er zuversichtlich.»Über dem Iran tobt ein schreckliches Unwetter. Sie muß vom Kurs abgekommen sein, obgleich mir das rätselhaft ist. Warten wir ab, Genossen!«

Die drei Mig-Jäger hatten unterdessen das fremde Flugzeug erreicht. Wie Mücken umkreisten sie den fliegenden Riesen, versuchten, in Funkverkehr mit ihm zu kommen und bekamen keine Antwort. Ein paarmal überflogen sie die viermotorige Maschine, jagten neben ihr her in bedrohlicher Nähe und kreisten dann wieder über ihr wie Aasgeier, die auf den Tod ihres Opfers warten.

«Da haben wir es!«sagte General Oronitse, als die erste Funkmeldung des Mig-Staffelführers ihm übergeben wurde.»Eine Maschine der DBOA. Reagiert auf keinerlei Anruf und zieht geradewegs nach Tiflis. Lassen Sie alle militärischen Maßnahmen abblasen. Was jetzt folgt, ist Sache der Zivilluftfahrt. Guten Morgen, Genossen! Ich hätte ruhig weiter schlafen können.«

In Tiflis atmete man auf. Aber es sollte sich zeigen, daß man zu früh aufgeatmet hatte. Auch General Fjodor Nikolajewitsch Oro-nitse sollte nicht ruhig weiterschlafen können.

Was da durch den Nachthimmel heranbrummte, war ein Problem, das von Tiflis bis Moskau noch manche Gehirne heißlaufen ließ.

«Es ist alles Scheiße mit Soße!«sagte Paul Andresen und legte die verschiedenen Schraubenzieher hin.»Ich kriege die elektrische Anlage nicht hin. Zwei Hauptstellen sind durch den Blitzschlag durchgeschmort. Verlassen wir uns auf unsere Äugelchen. «Er sah hinaus in die sternenklare Nacht. Unter ihnen wogte ein grauweißes Wolkenmeer.»Wo fliegen wir eigentlich hin?«

Chefpilot Pohlmann hob die Schultern.

«Nach Nordosten«, sagte er nach einer ganzen Weile. Andresen kratzte sich den Kopf.

«Junge, dann sind wir bald in Rußland.«

«Unter uns muß der Kaukasus liegen, das stimmt. «Pohlmann sah auf den einfachen Kompaß, der unabhängig war von Strom und Meßinstrumenten. Eine Landkarte lag auf seinen Knien.»Wenn wir ganz großes Glück haben, landen wir in Tiflis.«

«Und wenn wir keins haben?«

«In der Kalmückensteppe oder im Kaspischen Meer.«

«Prost Onkel Willi!«

Pohlmann schwieg. Bettina kam in die Kanzel und setzte sich müde auf den Klappstuhl. Ihr Gesicht war bleich, und in ihren Augen lag eine unverhohlene Angst. Ihre Hand zitterte leicht, als sie sich durch das kurze Haar fuhr, eine müde, hilflose Bewegung.

«Was ist hinten los?«fragte Pohlmann hart.

«Noch schlafen sie. Aber ich habe Irene und Uwe geweckt. Sie stehen bereit, um eine Panik zu verhindern.«

«Und der Inder?«

«Er sitzt in seinem Sessel wie versteinert. Und er spricht auch nicht mehr.«

Von draußen hörten sie jetzt ein Heulen. Ein Schatten jagte nahe an ihnen vorbei, zog vor ihnen hoch und verschwand gegen den Sternenhimmel. Ein kurz blitzender, gezackter Pfeil. Pohlmann umklammerte das Steuer und sah hinüber zu Andresen. Der stand am Fenster und drückte das Gesicht gegen die Scheibe.

«Hast du gesehen?«

«Sowjetische Jäger!«Andresen ließ sich auf seinen Copilotensitz fallen.»Wir sind also schon über Rußland.«

Wieder das helle Heulen. Wieder ein Schatten… und noch einer. und ein dritter. Wie Libellen umschwärmten sie das große Flugzeug, stießen von oben und von den Seiten heran und jagten nun neben der gläsernen Kanzel her. In einem Jäger wurde Licht angeknipst. Pohlmann, Andresen und Bettina sahen deutlich den Kopf des Piloten in dem dicken Lederhelm mit dem Kehlkopfmikrofon.

«Er ruft uns an«, sagte Andresen.»Spätestens in drei Minuten muß er merken, daß bei uns alles im Eimer ist. «Er klopfte an die große gebogene Scheibe und winkte.»Wir sind der Fliegende Holländer, Iwan! Mach drei Kreuzchen…«

«Jetzt winkt der Russe!«Bettina umklammerte den Arm Pohlmanns.»Was will er?«

Werner Pohlmann starrte hinüber zu dem gefährlich nahen sowjetischen Jäger. Der Pilot hob die Hand, winkte nach unten und dann in die Ferne. Dann drehte er ab, flog einen Kreis, kam zurück und drehte wieder ab.

«Wir sollen folgen«, sagte Pohlmann. Seine Stimme klang um einen Grad freudiger als sonst.»Er zeigt uns den Weg. Kinder, wir werden sicher in Tiflis ankommen. Wir haben es geschafft!«

Er beugte sich etwas vor und zog die schwere Maschine auf den Kurs, den ihm der sowjetische Jäger angab. Nun flog er hinter der kleinen, schillernden Libelle her, und die Sterne gaben ein trübes Licht, aber genug, um den leitenden Jäger zu sehen.

Paul Andresen wischte sich über das Gesicht. Jetzt erst merkte er, wie sehr er schwitzte, und wie groß innerlich seine Angst gewesen war. Als er ausatmete, war es ein lauter Seufzer.

«Junge, das geht ans Gemüt«, sagte er mit unsicherer Stimme.»Und dann noch der Inder mit seinen dämlichen Reden. Kennst du Tiflis, Werner?«

Chefpilot Pohlmann sah starr geradeaus.

«Nein«, sagte er gepreßt.

«Wie lang ist die Bahn?«

«Keine Ahnung.«

«Von wo mußt du denn anfliegen?«

«Die Mig wird es mir zeigen. Tiflis ist doch noch von keiner europäischen Gesellschaft angeflogen worden. Aber keine Sorge, Paul… wir schaffen es, und wenn's auf dem Bauch ist.«

4 Uhr 42 Minuten.

Die Scheinwerfer hatten die Maschine voll im Licht. General Oronitse, der gerade in seinen Wagen steigen wollte, um noch ein paar Stunden zu schlafen, denn ein übernächtigter General ist so etwas wie eine Naturkatastrophe, stieg wieder aus, stellte sich auf die Straße und hob das Nachtglas an die Augen.

«Keine Positionslichter, alles dunkel. Genossen, da kann eine große Schweinerei herunterkommen! Fahren wir zurück zur Flugleitung!«

Über das Flugfeld rasten bereits sowjetische Feuerwehren und Krankenwagen. Im Hauptgebäude wurden die ersten auf den Morgenflug wartenden Passagiere in eine Nebenhalle geführt, deren Türen man einfach abschloß. Man gibt da keine langen Erklärungen. Gehorchen und Vertrauen ist alles, Genossen! Im nahe gelegenen Grusinischen Krankenhaus Nummer I sprangen die diensthabenden Ärzte aus den Betten und es wurden drei OPs vorbereitet. Dabei kam heraus, daß der junge Arzt Dr. Woroneff bei der Schwester Darja geschlafen hatte; ein fataler Fall, denn Oberarzt Dr. Scheslew war mit Schwester Darja offiziell verlobt.

«Wir reden noch darüber, Brüderchen«, sagte Scheslew zu Woroneff.»Auch Freiheiten im Arbeiterparadies haben doch gewisse Grenzen.«

«Tiflis«, sagte in diesem Augenblick Pohlmann und sah hinunter. Zwischen den Bergen des Kaukasus leuchtete auf einer Hochebene die Stadt auf. An den Hängen roter Hügel, die tagsüber wie in Glut erstarrte Lava aussehen, steigt sie empor über den Fluß Kura, ein orientalisches Märchen mit gewundenen, steilen, in sich verschlungenen Straßen und Gassen der Altstadt und breiten Alleen und Prachtstraßen der Neustadt, gesäumt von kaukasischen Platanen und gebaut auf einem Boden, aus dem die heißen Schwefelquellen sprudeln, die der Stadt ihren Namen gaben. Tbilisi… die Stadt des warmen Wassers.

Jetzt, in der Nacht, flimmerten Tausende von Lichtern über Ebene und Hänge, über den Mtatsminda-Hügel mit dem Pantheon und den Sololaki-Hügel. Pohlmann hatte die Maschine tief heruntergezogen und die Motoren gedrosselt. Vor ihm her flog noch die kleine, schnelle, silbern blitzende Mig und leitete ihn zum Flughafen.

Im Passagierraum hatten die Stewardeß Irene und Chefsteward Uwe Peters die Reisenden geweckt und dreisprachig die immer wiederkehrende Bitte ausgerufen:»Bitte anschnallen! Ganz ruhig bleiben. Wir müssen in Tiflis zwischenlanden. Eine kleine Störung an der elektrischen Anlage. Bitte anschnallen! Es ist völlig ungefährlich. Behalten Sie bitte Ruhe, meine Herrschaften.«

Bettina Wolter ging mit einer Taschenlampe von Sitz zu Sitz und verteilte Orangeade. Sie sah in schreckensweite Augen und bemerkte zitternde Hände, die das Glas annahmen und an die Lippen führten.

«Keine Angst, Madame«, sagte sie zu einer jungen Französin, die leise vor sich hin weinte.»Es ist wirklich nur ein kleiner Schaden an der Elektroleitung.«

«Merci, Mademoiselle. «Die Französin nickte Bettina zu. Sie flog zum erstenmal, und sie bekam Mut, als sie die Ruhe der Stewardeß sah.

«Der Flugplatz!«

Pohlmann und Andresen starrten hinunter. Die Landebahn war hell erleuchtet, am Rand der Betonpiste glühten die Grenzlichter. Ein starker Scheinwerfer vom Hauptturm erleuchtete zusätzlich das Feld. Vor ihnen drehte der kleine sowjetische Jäger ab, stieß steil in den Himmel und verschwand. Er konnte nun nicht mehr helfen.

Pohlmann zog in einer weiten Schleife über den Flugplatz hin, um die Maße abzuschätzen. Der erste Anflug war mißglückt.

«Wir sind zu spät herunter«, sagte Pohlmann mit völlig ruhiger Stimme.»Wir müssen steiler aufsetzen. «Sein Blick überflog noch einmal die Meßinstrumente. Alle Zeiger auf Null. Das Höhenruder, die Kontrolle für das Räderausfahren — nichts.

«Räder raus!«sagte Pohlmann gepreßt. Paul Andresen drückte die nötigen Hebel. Die Kontrolluhren schwiegen. Es war nicht festzustellen, ob das Bugrad und die Haupträder überhaupt aus den Klappen ausfuhren, ob die Landeklappen reagierten. Nur die Motoren gehorchten… Pohlmann drosselte sie und schaltete dann auf Bremswirkung.

Elegant schwebte die schwere Maschine herein, aus der Nacht, von den Bergen des Kaukasus kommend, steil auf die erleuchtete Landebahn zu.

Wladimir Mironowitsch Bubnow in seinem Radarturm blieb der Sonnenblumenkern in der Kehle stecken, als er die dunkle fremde Maschine aus der Nacht herandonnern sah. Dann hieb er mit beiden Fäusten auf den Tisch und schrie.

«Heilige Madonna von Kasan!«brüllte er.»Zu kurz! Wo will er denn hin?! Zu kurz! Zieh hoch, Brüderchen, bei allen Heiligen, zieh hoch! Du springst doch nicht ins Wasser! Zieh hoch!«

Pohlmann erkannte die Lage sofort, als er die Betonpiste vor sich sah und den Landewinkel. Er startete durch, die Maschine gehorchte, ging in die Waagerechte und brauste heulend über das Flugfeld. Dann aber sackte sie durch, als gäbe es keine Luft mehr um sie herum. Wie ein Stein fiel sie herunter, und es half nichts, daß die Motoren aufschrien und Pohlmann auf Vollgas schaltete.

«Oh!«schrie Wladimir Mironowitsch in seinem Radarturm und warf beide Hände vor die Augen.»Madonna, oh! Er fällt in die Maulbeerplantage. Er fällt… er fällt. Genossen, ist das furchtbar!«

Dann war ein Krachen um ihn, so laut und mächtig, daß seine Trommelfelle zitterten, es war, als schrien tausend kleine Kinder mit hellen, sich überschlagenden Stimmen, und durch die Hände, die vor seinen Augen lagen, sah er noch das Aufzucken von Feuer.

General Oronitse, der am Rande des Flugfeldes stand, senkte den Kopf. Sein Nachtglas pendelte vor der breiten Brust mit den Ordensbändern.

«Scheußlich, Genossen«, sagte er leise.»Doppelt scheußlich, weil man nicht helfen kann. Fahren wir hin.«

Über das Flugfeld jagten die Feuerwehren und Krankenwagen. Vom

Hauptturm aus ging der Alarm an das Grusinische Krankenhaus Nr. I. Die Ärzte und Schwestern standen bereit — falls es überhaupt noch etwas zu operieren und zu retten gab.

Die letzten Sekunden vor dem völligen Durchsacken und dem Aufprall auf die Erde erlebten Pohlmann, Andresen und Bettina Wolter gemeinsam in der gläsernen Kanzel.

Als sie merkten, daß die schwere Maschine keinen Luftwiderstand mehr hatte, sahen sie sich alle an. Im Gesicht Andresens stand die Todesangst wie ein stummer Schrei; Werner Pohlmanns Augen waren grau und hart, seine Lippen ein dünner Strich. Ob er jetzt an seine Frau und die drei kleinen Kinder dachte, oder an die dreiundvierzig Passagiere, die hinter ihm in vier oder fünf Sekunden in einem Feuermeer verbrennen würden?

Bettina Wolter hatte die Fäuste gegen den Mund gepreßt und starrte auf das weite Feld der kleinen Maulbeerbaumzucht, über die sie hinwegjagten und in wenigen Sekunden hineinstürzen würden.

Mutter, dachte sie nur. Mutter — Mutter — Mutter -

Dann war das unbeschreibliche Krachen um sie herum, sie wurde gegen das Glas geschleudert, sah noch, wie Pohlmann alle Motoren auf Aus stellte… und wie von einer Riesenhand gehoben wurde sie durch die Luft getragen, die plötzlich um sie war. Sie sah den Sternenhimmel, die Lichter des Flugplatzes, die heranrasenden Rettungswagen, bei vollem Bewußtsein war sie und doch von einer rätselhaften Schwerelosigkeit… dann fiel sie zwischen kleine, dunkelgrüne Bäumchen, die ihren Fall bremsten, rollte über die dünnen Zweige zu Boden und prallte auf, als sei sie nur einmal hoch in die Luft gesprungen.

Hinter ihr flammte Feuer aus den Trümmern des Flugzeuges. Grelle Schreie durchbrachen das Prasseln und das Sirenengeheul von Feuerwehr und Krankenwagen… auf den Knien lag sie und starrte wie gebannt auf ihr Flugzeug, das in der Mitte durchgebrochen in der Schonung lag, von hinten her zu brennen begann und mit zuckenden Flammen die Menschen beleuchtete, die auf allen vieren von dem Wrack wegkrochen oder noch angeschnallt in den Sit-zen hingen.

Was sie in den nächsten Minuten tat, geschah ohne einen eigenen Willen. Sie taumelte zurück zu den Flugzeugtrümmern und kroch über zerbeulte Blechwände, zerknickte Spanten und wild zerrissene Holzverkleidungen in das Innere des auseinandergebrochenen Rumpfes. Mit einer Kraft, die ihr völlig fremd war, schnallte sie die ohnmächtig in den Gurten Hängenden los und schleppte sie nach draußen. An der zerborstenen Wand lag Irene Heidfeld, die zweite Stewardeß. Ihr Kopf war aufgerissen, und das Blut lief in Strömen über den zuckenden Körper. Neben ihr lag unter einem Blechstück Chefsteward Uwe Peters. In der Brust stak, wie ein Speer, eine abgebrochene Sessellehne. Die Augen waren in weiter Ungläubigkeit erstarrt.

In seinem Sessel hing der Inder und brannte. Schaurig war der Anblick. Von den Füßen her flammte das Feuer an ihm hoch, und er hatte die Hände im Schoß, den Kopf geneigt, als schlafe er, und um seinen Mund lag ein Lächeln.

Es ist sinnlos, vor seinem Schicksal wegzurennen… es läuft einem hinterher.

Bettina Wolter riß Irene Heidfeld ins Freie. Dort standen jetzt Feuerwehr und Krankenwagen. Sanitäter zerrten die noch Angeschnallten ins Freie oder sammelten aus den Maulbeerbüschen die Körper, die hinausgeschleudert worden waren oder mit letzter Kraft flüchteten. Über vier brennende Menschen, die brüllend durchs Gras krochen, warf man Decken und erstickte die Flammen. Aus den Feuerwehrwagen zischten die Schaumlöscher und Übergossen den zerborstenen Rumpf wie mit Schnee. Neue Krankenwagen jagten heran, Milizsoldaten sperrten in weitem Umkreis die Absturzstelle ab, ein Mann in einer goldbetreßten Uniform schrie Kommandos — es war General Oronitse —, und vier Männer zerrten aus der Kanzel den schlaffen Körper Pohlmanns, der fast nackt war und wie mit Blut lackiert.

Bettina schwankte inmitten der rettenden Menschenmenge, jemand sprach sie an, sie gab keine Antwort, man nahm ihr den blutüberströmten Körper Irenes ab, legte ihn auf eine Segeltuchtrage; irgendwo zischte es, die Wagensirenen heulten und rasten vom Flugzeug weg, sie sah Menschen wie um ihr Leben rennen und begann selbst zu laufen, irgendwohin, nur weg von dem brennenden Wrack.

Und dann kam die Explosion. Die Tanks mit dem hochexplosiven Benzin sprangen auf, der Druck warf Bettina in die Maulbeerbäume, sie fiel auf das Gesicht, krallte die Finger in die weiche Erde und verlor die Besinnung.

Sie erwachte von einer angenehmen Kühle. Lange mußte sie nicht gelegen haben, denn das Flugzeugwrack brannte noch immer, jetzt durch die Explosion bizarr zerrissen wie eine moderne Plastik. Die Krankenwagen und die Feuerwehren waren wieder so nahe wie möglich heran, aber es war sinnlos, etwas zu unternehmen. Die Glut schien so stark, daß selbst die Männer in den Asbestanzügen und hitzeabweisenden Folien — wie Marsmenschen sahen sie aus — nicht mehr näher als einen Steinwurf an das Flugzeug herankonnten.

Bettina kniete auf der Erde und sah noch einmal auf den glühenden Haufen von Metall, Glas und Holz.

Ich lebe, dachte sie nur. Ich lebe, Mutter. Ich lebe.

Aber wie werde ich leben.

Es ist das eingetroffen, was nie kommen durfte: Ich bin in Rußland. Ich bin in einem Land, das ich nie betreten durfte. Ich lebe… aber ich habe von dieser Stunde an tot zu sein.

Während die Feuerwehren versuchten, die höllische Glut des Metalls einzudämmen, und während die letzten Krankenwagen über das Feld rasten zum Grusinischen Krankenhaus Nr. I, kroch Bettina ein Stück durch die Maulbeerschonung, erhob sich dann und rannte geduckt, wie ein flüchtendes Wild, in einer kleinen Talsenke davon. Nach hundert Metern blieb sie noch einmal stehen, sah zurück und nahm endgültig Abschied von dem brennenden Wrack, in dem auch das Leben der Stewardeß Bettina Wolter zurückblieb.

Dann wandte sie sich ab und lief, so schnell es ihre zitternden Beine vermochten, der dunklen Wand entgegen, die den Himmel in der Ferne teilte.

Das Gebirge. Der Kaukasus. Die Schluchten und Felsen, aus denen einst die heilige Schuschanik herunterstieg, um in Tiflis den Märtyrertod zu sterben.

Und niemand um das brennende Flugzeug herum bemerkte die schmale Mädchengestalt, die in den weiten Plantagen verschwand. Auch nicht General Oronitse, der rußgeschwärzt noch immer ausharrte und Befehle gab. Auch er sah das Mädchen nicht.

Das war ein Fehler, denn mit dieser Nacht begann ein unruhiges Leben für Fjodor Nikolajewitsch.

Gegen 10 Uhr vormittags sah man endlich klar.

Die Toten und Verletzten waren vollzählig zusammen. Die Toten — neunzehn Männer und Frauen — lagen im Keller des Grusinischen Krankenhauses Nr. I, im Kühlraum 4, um genau zu sein, und wurden eingefroren, denn nun begann ein langes Verfahren mit Untersuchungen, Identifizierungen, diplomatischen Noten und Überführungen in verlöteten Zinksärgen an die Heimatorte der Toten. Die Verletzten — vierundzwanzig — lagen zwei Stockwerke höher in sauberen weißen Betten, unter Sauerstoffzelten, an Blutplasmaflaschen, zwei sogar an künstlichen Nieren. Professor Klimenti Kus-manowitsch Semlakow, der Chef des Krankenhauses, hatte eine kurze, aber klare Besprechung mit seinen Ärzten gehalten.

«Genossen!«hatte er gesagt.»Ab morgen blickt die Welt nach Tiflis! Vor allem die kapitalistische Welt, denn alle Verletzten kommen aus den westlichen Ländern. Wir haben Gelegenheit, endlich zu demonstrieren, wie fortschrittlich und den anderen Ländern weit überlegen nicht allein die sowjetische Medizin, sondern auch die grusinische Chirurgie ist! Es ist deshalb klar, daß keiner der Verletzten sterben darf! Wir verstehen uns? Danke, Genossen!«

Die Ärzte gingen stumm zu ihren Stationen. Wer Professor Sem-lakow kannte, der wußte, was diese Ansprache bedeutete. Ein Ausspruch Semlakows war geradezu klassisch geworden:»Ein sowjetischer Chirurg ist in der Lage, dem Teufel den Schwanz zu amputieren und ihn einem Engel zu transplantieren!«Und so wurde jeder der vierundzwanzig Verletzten von zwei Schwestern betreut und bekam an ärztlicher Pflege, was nur menschenmöglich war.

Der einzige, der nicht zufrieden war, war General Oronitse. Er hatte per Funk die Passagierliste aus Karatschi bekommen und die Zusatzliste aus Teheran. Beide lagen vor ihm auf der Schreibtischplatte, und Oberst Safon Kusmajewitsch Jassenskij, ein widerlicher Mensch, wie Oronitse fand, mit dünnem, asketischem Gesicht und abstehenden Ohren unter der Offiziersmütze, aber mit aller Macht der GRU ausgestattet, beugte sich über die Schulter des Generals.

Man muß wissen, was diese GRU ist, um zu verstehen, daß Oronitse den Oberst Jassenskij widerlich fand. GRU ist die sowjetische Abkürzung für das >Hauptdirektorat für Nachrichtenwesen im Generalstab der Sowjetarmee<, ein langes Wort, aber nüchtern betrachtet nichts anderes als die gefürchtete Spionageabwehr des sowjetischen Militärs. Die Männer der GRU, die auch die wichtige Kremlwache stellen, sind Soldaten wie alle anderen auch, aber ihre interne Macht in der Armee ist so groß, daß soldatenbewußte Männer wie etwa General Oronitse in Gegenwart eines GRU-Offiziers rote Ohren bekommen und einen höheren Blutdruck vor innerer Abwehr.

«Die Zahlen stimmen nicht«, sagte Oberst Jassenskij und tippte mit einem Finger, der braun von Tabakbeize war, auf die Passagierliste.»Einer fehlt!«

«Natürlich!«General Oronitse lehnte sich zurück.»Ich kann ja lesen, Genosse Safon Kusmajewitsch. Wir haben neunzehn Tote im Keller, vierundzwanzig Verletzte im Spital, macht zusammen dreiundvierzig! An Bord waren aber vierundvierzig! Neununddreißig Fluggäste und fünf Besatzungsmitglieder. Und um ganz klar zu sein: An den Uniformen haben wir die Besatzung identifiziert. Es fehlt eine Stewardeß.«

«Sind Sie sicher, Genosse General?«Oberst Jassenskij überlas noch einmal die Namen auf den Listen.»Es kann auch sein, daß die Stewardeß unter den Toten ist — wer kann an einer verkohlten Leiche noch erkennen, was sie trug? — und ein Passagier ist verschwunden?«

«Es kann, Safon Kusmajewitsch. Aber es ist nicht. «General Oro-nitse putzte sich die Nase. Der Mensch stinkt, dachte er. Er stinkt nach Arroganz und Überheblichkeit.»Alle Toten sind in einem, sagen wir es pietätlos, verhältnismäßig guten Zustand. Die meisten sind nicht verbrannt, sondern sind durch mechanische Einwirkung getötet worden. Drei an einem Herzschlag sogar. Der einzige Verbrannte ist ein Inder. Man kann also Ihre Theorie ausschließen. Es ist ganz klar: Es fehlt ein Mädchen.«

«Nervenschock? Lief weg und irrt herum.«

«Haben wir in Erwägung gezogen. Aber es irrt kein fremdes Mädchen lange durch Tiflis, ohne daß es nicht aufgesammelt wird. Das ist die große Frage: Wo ist das Mädchen?«

«Und warum ist sie weg?«Oberst Jassenskij tippte mit seinen unästhetischen Tabakfingern die Namen der Liste ab.»Wer ist es? Irene Heidfeld oder Bettina Wolter?«

«Das werden wir in einer Stunde wissen. Der Copilot Andresen ist vernehmungsfähig. Er wird uns genaue Angaben machen können. Fahren Sie mit ins Spital, Safon Kusmajewitsch?«

«Aber ja, Genosse General. «Das klang, als habe man Safon in das Gesäß getreten und dann gesagt:»Hei, was sind wir fröhlich, Brüderchen!«Wie kann man fragen, ob ein Oberst Jassenskij mitfahren will.

Im Grusinischen Krankenhaus Nr. I war Paul Andresen schon frisch verbunden worden und lag auf einem Rollbett im Verbandszimmer V, als Oronitse und Jassenskij eintraten. Seine Verletzung war verhältnismäßig leicht. Ein Beinbruch, eine Zertrümmerung der linken Kniescheibe und eine Kopfwunde mit einer Gehirnerschütterung. Sein Schädel brummte wie ein Bienenschwarm, aber daß er lebte, war für ihn so unfaßbar, daß er sich öfter aufrichtete und laut Hallo rief, nur um zu hören, daß er wirklich noch eine Stimme besaß und sich selbst hörte.

«Wie gäht es Ihnän?«fragte General Oronitse in hartem Deutsch. Auf der Schule hatte er es gelernt, auf der Kriegsakademie aufgefrischt und es bis zum fließenden Sprechen verbessert als Stadtkommandant von Frankfurt/Oder.»Kopf kaputt?«

«Er ist noch drauf. «Paul Andresen lächelte schwach. Er musterte die Uniform des Besuchers. Viel Gold, eine Menge Orden. In Deutschland ist so was General, in Rußland sicher auch.»Ich habe großes Glück gehabt, Herr General. Ich bin mit eingezogenem Kopf durch das Fenster geflogen. «Andresen sah sich um. Zwei Ärzte in weißen Kitteln standen stumm an der gekachelten Wand.»Wieviel Tote hat's gegeben, Herr General?«fragte Andresen leise.»Die Ärzte und Schwestern sagen es nicht, die können plötzlich kein Deutsch mehr, wenn man sie fragt. Ich bitte Sie, Herr General, sagen Sie mir wenigstens eins: Leben die Mädchen noch? Die Stewardessen?«

«Darum bin ich hier. «General Oronitse legte tröstend die Hand auf die Schulter Andresens. Das war von einem sowjetischen Militär so ungewöhnlich, daß Andresen tief aufatmete und rötliche Augen bekam.

«Also tot… beide.«, stammelte er.

«Njet. «Oberst Jassenskij sah die Zeit kommen, seine Methode anzuwenden, die nichts mehr mit Pietät zu tun hatte. Ein GRU-Mann hat da eigene Ansichten.»Sie läbben beidä. Nur Sie müssen uns sa-gän, wär ist wär.«

«So zugerichtet sind sie?«fragte Andresen leise.»Mein Gott. und Werner! Unser Chef! Werner Pohlmann?«

«Weiß nicht. Määdchen wichtigär. «Oberst Jassenskij winkte zwei Krankenpflegern, die hinter Andresens Kopf standen und die er bisher noch nicht bemerkt hatte.»Dawei! Gehen wir.«

Man rollte Andresen zum Fahrstuhl, fuhr mit ihm in den zweiten Stock und schob ihn durch blitzende weiße Gänge bis zu einem Zimmer, vor dem eine Schwester saß wie eine Wache. Die Tür schwang auf, das Bett mit Andresen rollte lautlos ins Zimmer und hielt vor einem anderen Bett. Unter einem Sauerstoffzelt lag ein blasses, ohnmächtiges Mädchen mit dick verbundenem Kopf. Volle Lippen hatte es, ein rundes Gesicht, und ein Grübchen im Kinn.

«War ist das?«fragte Oberst Jassenskij.

«Irene Heidfeld«, sagte Andresen ohne zu zögern.

«Sind Sie sichär?«

«Ganz sicher. So ein Grübchen hat nur die Irene. «Andresen sah die Ohnmächtige genau an.»Unter dem Verband, man sieht es ja nicht, muß sie schwarze Haare haben.«

«Hatte sie schwarze Haare?«fragte General Oronitse die wachhabende Schwester.

«Ja, Genosse General!«

«Na also!«Oronitse nickte zufrieden zu Oberst Jassenskij.»Nun wissen wir es ganz klar: Die Verschwundene ist Bettina Wolter.«

Bei dem Namen warf Andresen den Kopf herum. Über sein Gesicht zuckte es.»Bettina?«rief er.»Ist sie tot? Sagen Sie es mir, Herr General!«

«Leidär kann ich Ihnen nichts sagen, Mädchen ist wäg. Einfach wäg. «Oronitse hob die Schultern.»Nix da.«

«In… in den Trümmern.«, sagte Andresen leise.

«Nix! Wir habän Trümmer einzeln untersucht. Nix! Ist wäg. Ver-stähn Sie das?«

«Nein«, sagte Andresen ehrlich.»Das ist mir ein Rätsel.«

«Nix Erklärungen?«fragte Oberst Jassenskij scharf.»Hat Mädchen gemacht Sabotage mit Flugzeug?!«

Andresen sah den Oberst groß an. Dann nickte er und streckte sich aus.»So war es«, sagte er mit bitterer Stimme.»Bettina griff in die Luft, holte sich einen Blitz aus den Wolken und feuerte ihn auf das Flugzeug! Es war glatte Sabotage.«

«Gähen wir!«

Oberst Jassenskij drehte sich um und verließ mit stampfenden Schritten das Zimmer. Auf dem Flur wartete er auf General Oro-nitse, der sich noch von Andresen verabschiedete. Schließlich war er ein höflicher Mensch.

«Sie muß einen Grund gehabt haben, warum sie als einzige im Flugzeug verschwunden ist«, sagte Jassenskij und steckte sich eine Papirossa an.»Es kann kein Schock gewesen sein. Auch keine Angst. Ein Mädchen, das Angst hat, sucht Schutz, aber es läuft nicht in eine dunkle Nacht hinein, in einem fremden Land. Das hat andere Gründe, Genosse General.«

«Wie Sie wollen, Safon Kusmajewitsch. «Oronitse hob die Schultern.»Ihr Leute vom GRU seht hinter jedem schwanzlosen Fuchs einen Agenten! Tun Sie, was Sie für richtig halten. Was schlagen Sie also vor?«

«Zunächst Nachrichtensperre über dieses Vorkommnis.«

«Die besteht schon, Genosse. «Oronitse lächelte.»Das ist immer das erste. Und weiter?«

«Wir suchen das Mädchen!«

«Weidmannsheil!«

«Ihr Humor in Ehren, Genosse General, aber das ist ein ernster Fall. Wir werden die Genossen in Rolandseck einschalten müssen. Diese Bettina Wolter ist eine Westdeutsche. Wissen wir, mit welchen Aufträgen man dort Stewardessen in die Luft schickt?«Oberst Jas-senskij sog nervös an seiner Papirossa.»Ich sage Ihnen, Fjodor Ni-kolajewitsch: Wenn wir das Mädchen innerhalb drei Tagen nicht haben — und das ist ein langer Toleranzraum —, dann bin ich überzeugt, daß wir eine Laus im Pelz haben. Und Sie können sich darauf verlassen, daß ich mich so lange kratzen werde, bis ich sie unter den Fingernägeln zerdrücke.«

General Oronitse schwieg. Natürlich. Was soll man darauf noch sagen?

Das Wäsche- und Ausstattungsgeschäft der Witwe Agnes Wolter in Göttingen lag in einer Nebenstraße, fern des großstädtischen Verkehrs, und war ein kleiner Laden mit einem schmalen Schaufenster. Frottierhandtücher, bedruckte Decken, Badetücher, Bettbezüge in weißem Damast und buntem Druck, Bettücher, Aussteuerwaren mit verstärkter Mitte, Gedecke mit sechs Servietten, Spitzendeckchen, Bademäntel und Waschlappen, Fäustlinge, weich und sehr saugfähig, lagen hinter der blanken Scheibe. Aber sie lockten kaum Kun-den heran. Wer bei Agnes Wolter kaufte, war Stammkunde, durch Weitersagen informiert, und so hatte es sich durch Göttingen geflüstert, daß man bei Agnes Wolter gut und billig kaufen könne und sie eine so nette, tapfere und immer freundliche Frau sei. Manches war zwar im Konsum oder im Kaufhaus noch billiger, und die Auswahl war auch größer, aber weder Konsum noch Kaufhaus hatten den Mann im Krieg verloren und hatten es nötig gehabt, mit eigenen Händen die Trümmer wegzuräumen und selbst — 1947 war's — mit Truffel und Speisbottich Stein auf Stein zu mauern. Nach dem Tode ihres Mannes in russischer Gefangenschaft hatte sie ihre beiden Kinder großgezogen, ohne Hilfe, nur mit ihrem Mut zum Leben und ihrer Energie, für die Kinder zu schaffen.

So entstand das Geschäft wieder, das kleine Wohnhaus, der Laden. Das Schicksal der Witwe Wolter sprach sich herum. Als das Wirtschaftswunder kam, ging es an Agnes Wolter vorbei. Die Wunderschlucker, eben die Kaufhäuser, wurden zur Konkurrenz, die den zaghaften Einzelhandel in die Knie zwang. Aber Agnes Wolter klagte nie. Das lag ihr gar nicht. Sie lebte, sie konnte ihre Kinder satt machen, sie gab ihnen eine gute Ausbildung. Wolfgang machte sein Abitur mit einer glatten Zwei und ging zur Bundeswehr und wurde aktiver Offizier. Bettina, ein überaus kluges Kind, bestand schon mit achtzehn Jahren ihre Reifeprüfung und meldete sich dort, worüber Agnes Wolter zum erstenmal verzweifelt war: Sie wurde Stewardeß.

Aber auch das war nun vorbei, an alles gewöhnt man sich, auch an die tägliche Sorge: Kommt sie wieder aus Karatschi oder Tokio, ist sie gut angekommen in New York oder Toronto? Bettina verhalf ihr sogar durch einen Direktor zu einem großen Auftrag: Agnes Wolter durfte zweihundert Badetücher liefern. (Sie wurden später zu Weihnachten verschenkt, aber das wußte Agnes Wolter nicht und erfuhr es auch nie.)

An diesem 19. Mai zog sie wie jeden Morgen ihre Scherengitter hoch, mit dem sie ihr Geschäft gegen Einbruch sicherte, putzte schnell mit einem Fensterleder über die Scheibe und ging dann ins

Hinterzimmer des Ladens, wo der Kaffeetisch für sie allein gedeckt war. Wie jeden Morgen stellte sie das Radio an, denn es aß sich allein besser in Begleitung flotter Musik. Mit achtundvierzig Jahren ist man noch keine alte Frau, auch wenn die Haare grau geworden sind, denn zuviel Sorgen hatte der Kopf zu speichern gehabt.

Agnes Wolter goß sich Kaffee in die Tasse, griff zur Zeitung und hörte gleichzeitig Musik. Vor neun Uhr kam kein Kunde, das wußte sie aus zehnjähriger Erfahrung. Und — zugegeben — was gibt es Schöneres als einen geruhsamen Morgenkaffee.

Die Musik im Radio schwieg. Die Morgennachrichten. Politik, Innenpolitik, Parteien, Gewerkschaften, Sport. Und dann, nach einem Stocken des Sprechers:

«Soeben kommt folgende Meldung aus der Sowjetunion. Ein viermotoriges Flugzeug vom Typ Zero 9 der Fluggesellschaft DBOA ist heute morgen gegen 4.50 Uhr Ortszeit bei einer mißglückten Notlandung auf dem Flugplatz in Tiflis, Sowjetunion, abgestürzt. Das Flugzeug zerschellte auf dem Boden, brach in der Mitte auseinander, fing Feuer und explodierte trotz Großeinsatz aller verfügbaren Feuerwehren. Bisher sind 19 Tote und 24 zum Teil schwer Verletzte zu beklagen. Die Ursachen werden noch untersucht. Eine Kommission von Sachverständigen ist auf dem Weg nach Tiflis.«

Agnes Wolter hatte zugehört, ohne sich zu rühren. Wie erstarrt saß sie da, die Tasse mit Kaffee, die sie gerade an den Mund führen wollte, in der Hand. Dann aber, mit dem letzten Wort des Nachrichtensprechers, fiel die Tasse aus ihrer Hand und zerschellte auf dem Boden. Der Kaffee spritzte über den Teppich und über die Strümpfe Agnes Wolters.

«Bettina.«, stammelte sie.»Mein Gott, es wird doch nicht Bettina sein. Sie ist in Indien. wenn es die Maschine aus Indien ist. die Maschine. die Maschine. O Gott, mein Gott.«

Agnes Wolter konnte kaum die Hände falten. Aber dann löste sich ihre Erstarrung so plötzlich, wie sie von ihr überfallen worden war. Sie sprang auf und rannte, den Tisch zur Seite stoßend, zum Telefon. Aus dem Radio kam wieder flotte Musik, Schlager, Filmchansons. sie hörte überhaupt nichts mehr, sie drehte mit zitternden Fingern die Nummer der Fluggesellschaft in Hamburg und wartete, bis sich jemand meldete, mit dem Kopf an der Wand, mit geschlossenen Augen.

«Wolter. hier Wolter, Agnes Wolter, die Mutter von Bettina Wolter. Stewardeß bei Ihnen. Indienstrecke. Haben Sie das eben im Radio gehört? Haben Sie schon nähere Angaben? Ist… ist meine Tochter. ich bitte Sie, sagen Sie mir etwas.«

Und die Stimme in Hamburg sagte nüchtern:»Einen Augenblick, ich verbinde Sie mit der Direktion.«

«Meine Tochter.«, stammelte Agnes Wolter, als sich einer der Direktoren meldete.»Der Absturz in Tiflis… ist meine Tochter… bitte!«Alle Kraft verließ sie, sie lehnte sich gegen die Wand und warf den Kopf zurück und schnappte nach Luft.»Sagen Sie doch etwas!«schrie sie in höchster Qual.

«Wir können noch gar nichts sagen, Frau Wolter. «Die Stimme aus Hamburg klang gepreßt.»Wir erwarten selbst noch genaue Meldungen. Aber soviel scheint sicher, daß Ihre Tochter nicht dabei ist.«

«Nicht? War es denn ihr Flugzeug? War es die Maschine aus Karatschi?«

«Bitte, rufen Sie in einer Stunde noch einmal an.«

Klick. Tot die Leitung. Tot wie Bettina.?

Frau Wolter drückte die Gabel hinunter. Rufzeichen. Neue Nummer. Bonn. Das Bundesverteidigungsministerium. Die Anmeldung.»Oberleutnant Wolter. Abteilung IIIc/A? Einen Augenblick. «Und dann die Stimme von Wolfgang.

«Was ist, Mama?«

«Bettina. Junge, hast du gehört. Eben im Radio? Eine Maschine der DBOA! Kann es Bettinas Maschine sein? O Gott, Wolf, Junge, hilf mir, ich werde verrückt! Kann es Bettina sein? Kannst du das feststellen lassen? Keiner hilft mir. In Hamburg weichen sie aus. Junge, ich werde verrückt. Wenn es Bettina ist. «Agnes Wolter sank auf einen Stuhl neben dem Tisch. Ihr Kopf fiel auf die Kante, sie weinte.

«Mama, sei ganz ruhig. «Die Stimme Wolfgangs klang beschwörend.»Mama, reg dich nicht auf. Ich werde, so gut ich es von hier aus kann, sofort Erkundigungen einziehen. Wo ist die Maschine abgestürzt?«

«In Tiflis«, weinte Agnes Wolter.

«In Tiflis?«Die Stimme Wolfgangs schien viel ruhiger zu sein.»Wirklich Tiflis?«

«Ja, mein Junge.«

«Dann ist es nie und nimmer Betti! Sei ganz ruhig, Mama. Bettis Linie fliegt nie und nimmer Tiflis an! Tiflis liegt doch in Rußland, Mama. Da fliegen wir gar nicht hin. Das muß ein Irrtum sein! Reg dich nicht mehr auf, Mama.«

Klick. Tot die Leitung.

«Es ist kein Irrtum!«schrie Agnes Wolter und schüttelte verzweifelt den Hörer in ihrer Hand.»Junge! Höre doch! Eine Maschine der DBOA! Abgestürzt.«

Sie ließ den Hörer vom Tisch pendeln und lief in den Laden. Was soll ich jetzt tun, sagte sie sich immer wieder. Was soll ich tun? Schreien? Weglaufen zu den Nachbarn? Ganz ruhig sein und warten. Aber das macht mich wahnsinnig! Das halte ich nicht aus! Das kann keiner, keiner von mir verlangen.

Und dann saß sie doch allein, klein und grau im Hinterzimmer ihres Ladens, hatte die Hände hilflos im Schoß gefaltet und sah aus dem Fenster hinaus in den schmutzigen Hinterhof mit den Mülltonnen.

«Bettina«, sagte sie.»Meine kleine Bettina.«

Und die Tränen rannen ihr lautlos über die kleinen Runzeln in den halboffenen Mund.

19. Mai, abends 20 Uhr 19 Minuten.

Oberst Jassenskij hatte sich bei General Oronitse melden lassen und brachte einen Stapel Papiere mit. Glänzender Laune war er, und seine abstehenden Ohren leuchteten rot wie bei einem zufriedenen Schweinchen.

«Sagte ich es nicht, Fjodor Nikolajewitsch?«rief er und breitete seine Papiere vor Oronitse aus.»Ein dicker Fisch hat sich selbst ausgesetzt. Aber ich fange ihn, bei Lenins Bart, ich fange ihn.«

«Lassen Sie Lenin schlafen«, sagte General Oronitse und sah über die Papiere.»Was macht Sie so fröhlich, Brüderchen?«

«Die erste Information unserer Botschaft in Rolandseck! Lesen Sie, Genosse. Bettina Wolter, Tochter eines in sowjetischer Gefangenschaft gestorbenen Feldwebels. Ihr Bruder ist Oberleutnant der Bundeswehr bei der Abteilung >Fremde Heere Ost<. Na, sagt das nicht alles? Und wie gründlich sie gearbeitet haben, die Genossen in Bonn. In ein paar Stunden haben sie alles herausbekommen. Nun, Ihre Meinung, Genosse General.«

«Gratuliere, Safon Kusmajewitsch. «Oronitse überlas die Funkmeldungen aus Deutschland und von der GRU-Zentrale in Moskau. Sie ließen keinen Zweifel mehr zu: Diese Bettina Wolter hatte sich abgesetzt, um einen Auftrag zu erfüllen. War auch der Absturz über Tiflis gewollt?

Oronitse sah Jassenskij groß an. Der Oberst nickte mit glänzenden Augen.

«Genau das denke ich auch«, sagte er.»Ich lese die Frage in Ihren Augen, Fjodor Nikolajewitsch. Ein Blitzschlag im Flugzeug. Das kommt in unserem Jahrhundert einmal oder zweimal vor. Sie müssen uns für armselige Bettnässer halten, die Kapitalisten. Alles, vom Blitz bis zum Absturz, war geplant. Überlegen Sie, Genosse General… alle sind schwer verletzt oder tot, nur sie lebt weiter wie ein munteres Vögelchen im Frühling. Das sieht ein Blinder, Genosse. Und wir haben scharfe Augen.«

«Ihre Logik ist zwingend, Safon Kusmajewitsch. «General Oronitse erhob sich seufzend.»Ich werde sofort Miliz und Militär alarmieren für eine Suchaktion.«

«Sie sind es bereits. Moskau hat befohlen. «Oberst Jassenskij lächelte selbstzufrieden. Die Macht der GRU war wieder spürbar.»Vier

Bataillone sind im Einsatz. Gegen ein einziges Mädchen. Keinerlei Chancen hat sie, Genosse. Wir brauchen nur zu warten, bis man sie uns bringt.«

Es sah alles wie eine harmlose Übung aus. Die großen Mannschaftswagen fuhren zum Flugplatz. Miliz und Rotarmisten formierten sich zu vorher genau festgelegten Gruppen und schwärmten sternförmig von den noch immer qualmenden Flugzeugtrümmern aus. Ein fahrendes Kommando aus zwanzig Jeeps kontrollierte alle Häuser und die zu den Bergen hin verstreut liegenden Höfe der Weinbauern und Seidenraupenzüchter, und es kam zu bösen Begegnungen zwischen den Soldaten und den Bauern, die um diese Zeit schon im Bett lagen und von der Seite ihrer Weibchen getrommelt wurden.

«Was wollt ihr, Genossen?«schrie man.»Ein Mädchen sollen wir versteckt haben? Ein deutsches auch noch? Bei meiner Seele, das ist eine Frechheit! Sind wir nicht gute Kommunisten, he? Melden würden wir es sofort, wenn so etwas bei uns auftaucht! Welches Mißtrauen, Brüder!«

Die Straßen in die Berge wurden gesperrt. Jeder Wagen, selbst der dreckigste Eselskarren, wurde kontrolliert. Man mußte Säcke, Kisten und Kästen auf die Straße werfen, und alles Haareraufen nutzte nichts. erst, wenn die Wagen leer waren, sagten die Rotarmisten:»Kann passieren!«und machten plötzlich ein gelangweiltes Gesicht.

Über die einsamen Felspfade des Kaukasus kletterten die Gebirgs-truppen und suchten in den Höhlen und zerklüfteten Schluchten. Die Grenzstationen erhielten strenge Anweisungen. Hier stauten sich bald die Wagen, und selbst eine Kamelkarawane, die von Lenina-kan nach Kars in der Türkei ziehen wollte, mußte auf freiem Feld übernachten, weil die sowjetischen Grenzbeamten jeden gerollten Teppich aufrollen ließen. Gibt es ein besseres Versteck als einen Teppich, Freunde? Erinnern wir uns an Kleopatra. Auch sie ließ sich in einen Teppich gerollt zu Caesar bringen, und das Unglück begann für Rom.

General Oronitse hielt wenig von dieser Suche. Aber er sagte es Oberst Jassenskij nicht. Er hat's angeordnet, dachte er hämisch. Er wird's auch ertragen, wenn die Suche erfolglos ist. In Moskau ist man da kleinlich; Blamagen drücken mehr als Hühneraugen, auf die man mit einem Stiefel tritt.

«Ich habe eine Nachricht von Professor Semlakow hier«, sagte Oro-nitse gegen 22 Uhr zu Oberst Jassenskij.»Alle Überlebenden sind jetzt so weit außer Gefahr, daß sie Aussagen machen können. Sollten wir uns nicht anhören, was sie über diese Bettina Wolter sagen? Es könnte möglich sein, daß vielleicht ein Satz alles klärt.«

«Ein guter Gedanke, Genosse General. «Jassenskij packte seine Papiere aus Moskau und Rolandseck ein.»Fahren wir.«

Im Grusinischen Krankenhaus Nr. I erwartete sie Professor Semlakow persönlich. Er war stolz und doch tief beleidigt.

«Was soll das, Genossen?«rief er gleich zur Begrüßung.»Eine vollkommene Nachrichtensperre, höre ich? Wieso? Warum? Erklären Sie mir das? Wir vollbringen hier medizinische Leistungen, über die man in der Welt reden soll, und was tut man? Man verbietet uns den Ruhm! Ist das im Sinne einer Verbreitung sowjetischer Überlegenheit?«

«Es hat politische Gründe, Genosse Semlakow. «Oberst Jassenskij lächelte nachsichtig.»Man wird noch über Sie reden, keine Sorge. Die Verletzten sind vernehmungsfähig?«

«Wir haben sie dem Tode entrissen«, sagte Semlakow etwas dramatisch.»Wohl fühlen sie sich, nur der Flugkapitän macht uns Sorgen.«

General Oronitse sah auf die Liste, die er aus der Tasche zog.»Werner Pohlmann heißt er?«

«Wahrscheinlich. Mich interessiert der Mensch als medizinischer Fall, nicht als Name. «Professor Semlakow war rechtschaffen böse. Das sind mir Genossen, dachte er. Politik! Da stürzt ein verirrtes Flugzeug ab, und sie machen daraus gleich einen internationalen

Konflikt. Immer diese Militärs. Mit dem Säbel rasseln müssen sie, und wichtig tun sie sich, und eine große Schnauze haben sie unter der Uniformmütze. So böse dachte Semlakow.

«Dann fangen wir bei dem Flugkapitän an bevor er stirbt«, sagte Oberst Jassenskij.»Den Copiloten haben wir schon… er ist ein Idiot.«

Werner Pohlmann lag allein in einem kleinen Zimmer, und auch an seinem Bett saß eine Nachtschwester und wachte über ihn. Er war bei Besinnung, aber vor seinen Augen war es dunkel. Eine dicke Binde lag über seinem Gesicht, die Augen brannten, und er versuchte vergeblich, sich zu erinnern, was geschehen war, als sein Flugzeug auf der Erde auseinanderbrach. Vom Pilotensitz war er geschleudert worden, das wußte er. Dann waren Flammen um ihn, er hörte tierische Schreie, war herumgekrochen, ohne etwas zu sehen, denn gleich nach der Explosion und dem Flammenschein war etwas gegen seinen Kopf geprallt und hatte Nacht um ihn gebracht. Dann stürzte er in die Tiefe und verlor die Besinnung. Nun lag er in einem Bett, er hatte es vorsichtig abgetastet, eine sanfte Mädchenstimme sprach zu ihm, russisch, das er nicht verstand, die Augen brannten höllisch, und in seinem Herzen quoll die Angst auf, blind zu sein.

Eine Tür hörte er leise klappern, Schritte kamen näher, hielten vor seinem Bett. Er hörte die Schwester etwas sagen. Dann sprach eine tiefe Männerstimme zu ihm, und es waren harte, deutsche Worte.

«Hären Sie mich?«fragte General Oronitse. Er beugte sich über das Bett und berührte Pohlmann an der Schulter.

«Ja«, sagte Pohlmann leise.»Wer sind Sie?«

«General Oronitse. Isch habbe Fragän an Sie.«

«Bitte. «Der Kehlkopf Pohlmanns zuckte wild.»Bin. bin ich blind?«

«Nein. «Oronitse sagte es gleichgültig. Es war der beste Tonfall zur Tröstung.»Kännän Sie Bettina Wolter?«

«Ja, natürlich. «Pohlmann wollte sich aufrichten. Er ächzte, in seiner Brust sprang ein höllischer Schmerz auf, und da war auch schon die warme, weiche Hand der Schwester, die ihn ins Bett zurückdrückte.»Was ist mit Bettina? Ist sie tot?«

«Wäg ist sie«, sagte Jassenskij hart.»Wie lange kännän Sie Bettina?«

«Zwei Jahre. Wieso ist sie weg?«Pohlmann atmete röchelnd. Er wußte nicht, daß eine abgesplitterte Rippe in die Lunge gestoßen war und sie zerfetzt hatte. Nur wahnsinnige Schmerzen spürte er bei jedem tieferen Atemzug.

«War Bettina eine Spionin?«fragte Jassenskij rücksichtslos. Pohlmann wollte sich wieder erheben.

«So ein Blödsinn«, keuchte er.»Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie… Sie, der andere. Ein Blitz hat eingeschlagen, alle Instrumente fielen aus, ich flog einfach nach Gefühl und kam so nach Tiflis. Ein reiner Zufall war das. Das ist alles. «Er hob die Arme und preßte sie auf seinen brennenden Brustkorb.»Es war meine Schuld. Ich habe die Maschine zu steil gelandet.«

Oronitse und Jassenskij verließen das kleine Zimmer mit dem Gefühl, indirekt Idioten genannt worden zu sein. Vor allem Jassens-kij, der Eifrige, war sehr nachdenklich.

«Gut«, sagte er draußen auf dem Flur.»War es ein Blitz, Genosse General. Sie haben sich verirrt. Er ist zu steil gelandet, Sie haben es ja selbst gesehen. alles war so, wie wir es schon seit Stunden wissen. Aber warum versteckt sich das Mädchen, dessen Bruder in Westdeutschland bei der Abwehr ist?«

«Vielleicht deshalb«, sagte General Oronitse ruhig. Beleidigend war es, wie er an Jassenskijs abstehenden Ohren vorbeisah.»Stellen Sie sich vor, dieses Mädchen hat Angst: der Vater in Rußland vermißt, angeblich in Gefangenschaft gestorben, der Bruder bei der Abwehr in Bonn — und nun fällt sie vom Himmel und ausgerechnet nach Rußland hinein. In ein Rußland, von dem man im Westen Wunderdinge erzählt.«

«Infame Lügen, Genosse!«rief Jassenskij laut.

«Natürlich. Aber ein Mädchen glaubt es. Und es wird versuchen, entweder nach dem Iran oder nach der Türkei durchzubrechen. Zumal sie Russisch sprechen kann.«

«Ein großes Verdachtsmoment, Genosse General. «Jassenskij blätterte wieder in seinen Papieren.»Warum lernt ein junges Mädchen Russisch?«

«Warum nicht, Genosse? Wir sprechen doch auch Deutsch.«

«Das brachte der Krieg mit sich. Aber ein junges, modernes Mädchen?«

«Englisch, Französisch und Spanisch kann sie bereits. Ein kluges Täubchen, Safon Kusmajewitsch. «General Oronitse winkte ab, als Jassenskij etwas sagen wollte.»Seien wir klüger, Brüderchen. Lassen Sie uns keinen Mist riechen, wo es nach Rosen duftet.«

Bis 23 Uhr dauerten die Verhöre der Überlebenden, und sie waren sinnlos wie alle Verhöre vorher. Die Passagiere lobten die Stewardeß Bettina, mehr konnten sie nicht sagen. Und auch Paul Andresen, den sie noch einmal sprachen, brachte nichts Neues. Im Gegenteil, er sagte:»Meine Herren, ich habe es Ihnen doch schon erzählt: Bettina holte sich einen Blitz vom Himmel, sagte zu Petrus >Danke schön, Väterchen mit dem weißen Bart< und lenkte den Blitz auf das Flugzeug.«

«Ein unangenehmer Mensch«, sagte Jassenskij nach diesem letzten Verhör.»Lächerlich macht er sich über uns. Bevor wir ihn abschieben nach Deutschland, sollte man ihn noch einmal verprügeln. Aus Versehen, verstehen Sie, Genosse?«

Nach dem Besuch im Grusinischen Krankenhaus Nr. I fuhr man noch einmal zu den Trümmern des Flugzeugs. Oronitse und Jas-senskij krochen selbst durch die ausgeglühten und mit dem Schaum des chemischen Löschmittels überzogenen Wrackteile und ließen sich vom Major der Flugplatzfeuerwehr alles erklären.

«Hier ist kein Toter mehr drin«, sagte der Major.»Alle Überreste haben wir zusammengetragen. Sie waren so beschaffen, daß man sie noch identifizieren konnte. Eine Stewardeß war nicht darunter. Ganz sicher ist das, Genosse General.«

«Über die Grenze kommt sie nicht. «Oberst Jassenskij steckte sich nach der Besichtigung der Trümmer eine Papirossa an. Ein wenig bebten seine Finger, denn es war entsetzlich, die verkohlten Sessel anzusehen und sich vorzustellen, wie die angeschnallten Menschen dort verbrannten.»Zur Türkei und zum Iran ist alles abgeriegelt, und es ist nicht anzunehmen, daß sie das Kaspische Meer oder das Schwarze Meer durchschwimmt.«

Es sollte ein Scherz sein, aber Oronitse nahm ihn wonnevoll auf.

«Ein Glück, daß Sie wenigstens das nicht ernst nehmen, Safon Kus-majewitsch«, sagte er.»Es wäre schwierig, sie daran zu hindern, indem man die Meere trockenlegt.«

Oberst Jassenskijs abstehende Ohren glühten wieder. Ein widerlicher Mensch, dieser Fjodor Nikolajewitsch, dachte er. Ein General mit zersetzendem Intellektualismus. Man wird ihn im Auge behalten müssen, denn nicht jeder General ist ein guter Kommunist.

20. Mai, morgens 9 Uhr.

Das Mitglied der sowjetischen Botschaft in Rolandseck bei Bonn, Jurij Alexandrowitsch Borokin, sah ungeduldig auf seine Armbanduhr. In einem Cafe am Rheinufer saß er, wo man einen herrlichen Blick hinüber zu den Rheininseln Nonnenwerth und Grafenwerth hatte, auf Bad Honnef und das Siebengebirge mit den sagenumwobenen Bergen Drachenfels, Petersberg und Ölberg. Es war ein heißer Maitag, der Himmel lag fahlblau hinter der Sonne, und über dem Rhein flimmerte die verdunstende Feuchtigkeit wie Glas eines Zerrspiegels. Borokin saß in einer Ecke, an einem Fenster der Rheinterrasse, trank ein kühles Bier und rauchte eine amerikanische Zigarette.

Er fiel in keiner Weise unter den anderen Gästen auf, die an diesem Morgen schon das Cafe füllten. Meist waren es Autofahrer, die eine kurze Rast einlegten, ehe sie weiterfuhren zu dem schönsten Teil des Rheins, dem romantischen Strom mit seinen Burgen auf den Weinhängen. Borokin trug einen hellgrauen Anzug, einen diskret gemusterten Schlips, flache Sandalen, und sein Gesicht war alltäglich, von einer langweiligen Regelmäßigkeit. Sogar sein dunkelbraunes Haar war glatt und zurückgekämmt und damit fast übersehbar.

Ein wenig lebhafter wurde er, als auf dem Parkplatz vor dem Cafe ein weißer, kleiner Sportwagen vorfuhr und eine junge Dame mit leuchtend blonden Haaren ausstieg. Sie hatte lange, schlanke Beine, trug ein Kleid mit einem Rock, der gerade die kleinen Knie bedeckte, und als sie jetzt mit trippelnden, wiegenden Schritten auf das Cafe zukam, ein Gesichtchen mit roten Lippen und nachgezogenen Augenkonturen, war sie eine Augenweide für einen Mann und ein Ärgernis für andere Frauen, vor allem für die verheirateten. Borokin beobachtete durch das Fenster, wie sie näher kam. In ihrem Gang drückte sich das Wissen aus, einen schönen, wohlgeformten Körper zu haben. Und wer ihre Augen sah, dunkelblau und samtweich, dachte an eine Schlafpuppe, die man in den Arm nimmt und nach hinten beugt, und die dabei die Wimpern schließt und leise >O Mama< flüstert.

«Da sind Sie ja«, sagte Borokin wenig höflich, als die schöne Dame an seinen Tisch trat und ihre weißen Handschuhe auf einen Stuhl warf. Ein wenig hatte er sich erhoben, aber nicht zu voller Höhe, und er saß schon wieder, als sich die Dame ebenfalls setzte und ihre langen blonden Haare ordnete.»Nachts sollten Sie lieber schlafen.«

«Lassen Sie bitte Ihre schweinischen Reden, Borokin«, sagte die Dame. Eine sanftklingende Stimme hatte sie, obwohl die Worte nicht gerade Glockentöne waren.»Was wollen Sie?«

«Zunächst sollte man Sie erinnern, daß Ihre Mutter noch immer in Küstrin in Untersuchungshaft sitzt. Die Anklage des Staatsanwaltes ist noch nicht erfolgt, wir halten sie noch zurück.«

«Ich weiß. «Irene Brandes sah hinaus auf den flimmernden Rhein. Ein Kellner brachte eine Karaffe mit schwarzem Johannisbeersaft, den Borokin schon vorsorglich bestellt hatte.

Mutter, dachte sie. Wenn du wüßtest, was sie hier mit mir tun. Aber vielleicht halten sie ihr Wort und lassen dich frei. Nur darum, weil ich daran glaube, tue ich es. Sie haben mich in der Hand.

Das Leben der Irene Brandes war nicht aufregend gewesen. Als die Welle der Roten Armee, von Ostpreußen und Oberschlesien kommend, gegen Berlin rückte und auch Küstrin eroberte, war sie mit einem Treck noch in letzter Stunde den sowjetischen Panzerspitzen entkommen. Vier Wochen lang zogen sie durch Deutschland bis nach Husum, ein klappriger Leiterkarren und zwei magere Pferde, und in dem Karren zwei Großmütter und ein vor Gram irr gewordener Großvater. Die Mutter saß auf dem Bock und lenkte die Pferde, der Vater war irgendwo an der Front, und man hörte nie wieder etwas von ihm; und sie, die kleine Irene, kaum vier Jahre alt, lag meistens zwischen den beiden Großmüttern im Stroh oder hockte neben der Mutter auf dem Kutschbock und betrachtete die sich auflösende Welt mit staunenden, weiten, nichts begreifenden Kinderaugen.

Nach zwanzig Jahren sah diese Welt nun anders aus. Satter als je zuvor, glänzender, lockender, brutaler, herzloser und kälter. Irene Brandes nahm nach der mittleren Reife eine Lehre in Flensburg an, wurde Sekretärin bei einer Lebensmittelgroßhandlung, erhielt, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war, ein Angebot nach Bonn und übernahm den Posten einer Chefsekretärin in einer Kohle- und StahlExportgesellschaft.

In Bonn lernte sie Reiner Burckhardt kennen, einen jungen Leutnant der Bundeswehr. Sie verlobten sich, aber vier Wochen vor der Hochzeit fuhr ein betrunkener Autofahrer ihn um und verletzte Burckhardt tödlich. Es war ein mysteriöser Unfall, den Autofahrer entdeckte man nie. Aber Augenzeugen berichteten, daß der Wagen mit einer Nummer, die es gar nicht gab, plötzlich Zickzack gefahren sei, über den Gehsteig raste und den jungen Leutnant gegen die Hauswand quetschte. Dann war das Auto, diesmal ohne Anzeichen eines betrunkenen Fahrers, mit heulendem Motor in der Nacht davongefahren.

Ein paar Wochen später erhielt Irene in ihrer kleinen Appartementwohnung in Bad Godesberg Besuch. Ein Herr, der sich zunächst Albrechten nannte, überbrachte Grüße der Mutter aus Husum, und

Irene ließ ihn ahnungslos in das Wohnzimmer. Dort setzte sich Herr Albrechten in einen der kleinen Sessel, musterte Irene mit dem sachverständigen Blick eines Frauenkenners und nickte mehrmals.

«Sie haben die Begabung, die man ausbauen kann«, sagte er ruhig.»Bitte starren Sie mich nicht so an, Irene — es hat gar keinen Sinn, mir etwas vorzuspielen.«

«Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, hatte Irene gesagt.»Woher kennen Sie meine Mutter?«

Und Herr Albrechten hatte leise gelacht und geantwortet:»Ich habe Ihre Mutter nie gesehen. Aber ich kannte Reiner Burckhardt. Geben wir das Versteckspielen doch auf. Ich heiße Jurij Alexandrowitsch Borokin, und wir beide wissen nur zu genau, warum der betrunkene Autofahrer< Reiner getötet hat.«

Als Borokin eine Stunde später ging, hatte er Irenes Zukunft in den Händen. Sie erfuhr, daß Reiner Burckhardt einer der kleinen Kontaktmänner gewesen war, die der sowjetische Geheimdienst in die Bundeswehr eingeschleust hatte; ein winziges Auge Moskaus, das plötzlich beschlossen hatte, blind zu werden und sich weigerte, weitere Informationen zu liefern. Um allen Unannehmlichkeiten zu entgehen, ließ man das kleine Auge Moskaus vollends erblinden.

Verzweifelt hatte sich Irene dagegen gewehrt, das alles gewußt zu haben. Borokin lächelte über ihre Beteuerungen.

«Mein Täubchen«, sagte er freundlich, aber diese Güte war gefährlich wie das Zähneblecken eines Wolfes,»geben Sie sich keine Mühe. Keine deutsche Behörde würde Ihnen das glauben. Es werden Zeugen auftreten, die gegen Sie aussagen, man wird beeiden, daß Sie an den Treffs mit den Kontaktmännern teilgenommen haben. «Und dann verbeugte sich Borokin im Sitzen und sagte:»Es ist angenehm, mit einem so schönen Mädchen zusammenzuarbeiten.«

Das war vor zwei Jahren gewesen. Ein Jahr darauf — Irene hatte nie wieder etwas von Borokin gehört — erhielt ihre Mutter einen Brief aus Küstrin, daß der zurückgebliebene Onkel gestorben sei und ihr ein Haus und 8.000 qm Ackerland vererbt habe. Wenn sie selbst nach Küstrin komme, könne sie die Erbschaft antreten und dann, das nehme man an, verkaufen.

Frau Brandes fuhr nach Küstrin und wurde dort verhaftet mit der Begründung, im Krieg deutschen Werwölfen Unterschlupf gewährt zu haben (obgleich sie zu dieser Zeit schon auf dem Treck in den Westen war). Als sie in Untersuchungshaft saß, erschien Jurij Ale-xandrowitsch Borokin wieder in Irenes Wohnung und sagte:

«Nun ist es soweit, mein Täubchen. Sie können Ihre Mutter vor Strafe bewahren, wenn Sie ein kluges Mädchen sind und Ihre Schönheit in den Dienst der Völkerverständigung stellen.«

Und Irene Brandes sagte zu.

Seitdem hatte sie fünf kleinere Aufträge erledigt. Fotokopien von Staatsaufträgen, das Protokoll ihres Chefs über eine Besprechung in Tel Aviv. Nichtigkeiten, wie sie glaubte, aber für ihre Mutter ein neues Stück Weg in die Freiheit.

«Was denken Sie?«fragte Borokin jetzt, als sich Irene vom Anblick des Rheins und der Insel Nonnenwerth abwandte.

«Wann kommt meine Mutter frei?«fragte Irene Brandes hart.

«Nach Erledigung dieses neuen Auftrages. «Borokin schüttelte den Kopf, als ihn Irene kritisch ansah.»Ich habe die Vollmacht, Ihnen die Fotokopie der Freilassung Ihrer Mutter zu zeigen. Es fehlt nur noch die Unterschrift. Sie wird daruntergesetzt, wenn dieser Auftrag beendet ist. «Borokin griff in die Brusttasche, aber Irene winkte ab. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Nur noch dieses eine Mal, dachte sie. Dann ist Mutter frei. Dann werde ich Bonn verlassen, am gleichen Tag, und weit, weit weg gehen. nach München, oder an die Nordseeküste oder an die Ostsee. Nur weg von hier, wo vier Jahre lang jeder Atemzug Angst einsaugte, jedes Klingeln an der Wohnungstür das Herz vor Schreck stillstehen ließ. Und den Namen Borokin werde ich hassen wie den Satan.

«Um welche Fotokopie handelt es sich jetzt?«fragte sie rauh.

«Um gar keine. Es geht um einen Menschen.«

Irene Brandes sah Jurij Alexandrowitsch Borokin mit gesenktem Kopf an. Ihre umrandeten Augen glitzerten in der Sonne.

«Wie soll ich das verstehen?«fragte sie.

«Kommen Sie, mein Täubchen. «Borokin sah schnell auf seine Uhr.»Wenig Zeit bleibt uns. Sie haben keinen Sinn für Pünktlichkeit. Ich fahre Sie. Ihren Wagen holen wir gegen Mittag ab.«

Borokin bezahlte beim Hinausgehen, dann stiegen sie in den unauffälligen dunklen Wagen des Kulturattaches und fuhren zurück nach Bonn. Auf der Zufahrtsstraße zum neuen Bundesverteidigungsministerium hielt Borokin am Straßenrand, holte eine Packung Zigaretten aus dem Rock und bot Irene Brandes eine Zigarette an. Rauchend saßen sie darauf im Wagen und sahen die Straße hinunter.

«Er kommt um zehn Uhr«, sagte Borokin.»Immer zu Fuß. Seine Wohnung liegt zehn Minuten entfernt, und es macht ihm Spaß, durch den Morgen zu gehen. Da, sehen Sie, mein Täubchen?«

Die Straße herauf kam ein junger Mann in der Uniform eines Oberleutnants. Er ging schnell und mit weit ausgreifenden Schritten. Über seinem Jungengesicht lag die strahlende Morgensonne, unter der Mütze quollen blonde Haare hervor. Auf der anderen Straßenseite ging er an den schwarzen Wagen vorbei, ohne einen Blick zur Seite zu werfen. Borokin stieß Irene Brandes leicht an.

«Ein netter Mensch, nicht wahr?«Er lächelte breit.»Sie müßten keine Frau sein, Täubchen, um jetzt zu sagen: Mir gefällt er nicht.«

«Er sieht so ahnungslos aus«, sagte Irene leise.»So unbekümmert. Was wollen Sie von ihm?«

«Er heißt Wolfgang Wolter. Siebenundzwanzig Jahre alt. Offizier der Abwehr, Abteilung >Fremde Heere Ost<. Der Vater in Rußland vermißt, die Schwester seit gestern bei Tiflis verschwunden. Irgendwie gibt es einen Zusammenhang zwischen Schwester und Bruder, so vermutet man in Moskau. Das herauszubekommen, ist Ihre Aufgabe, Irene. «Borokin lehnte sich zurück. Wolfgang Wolter war stehengeblieben und sah einem Mann nach, der einen Hund, einen Spaniel, spazierenführte.»Beobachten Sie ihn genau. Täubchen. Oberleutnant Wolter ist Tierliebhaber. Ein Hundenarr. Er hat selbst einen einjährigen Schäferhund, den er ab nächste Woche zur Dressur führen wird. Im >Verein Deutscher Schäferhunde< in Bonn-Duisdorf. Kommenden Sonntag, um 10 Uhr, ist die erste Stunde.«

«Warum erzählen Sie mir das alles?«fragte Irene Brandes. Ihre Stimme war plötzlich klein und kindlich. Sie sah Wolfgang Wolter nach, wie er sich bückte, den Spaniel streichelte, ein paar Worte mit dem Mann sprach und dann weiterging zu dem großen Gebäudekomplex des Ministeriums. Borokin lächelte breit.

«Ein schöner Mann, nicht wahr, Irene? Es freut mich, daß Ihr Herz Anteil nimmt. So wird es leichter für uns alle. «Borokin wurde plötzlich ernst und dienstlich.»Sie werden die Bekanntschaft Wolters suchen und — ich zweifle nicht daran — auch machen, und es wird Ihnen nicht schwerfallen, zu erreichen, daß er sich in Sie verliebt. Ich wüßte keinen Mann, der an Ihnen vorbeigehen könnte.«

«Das ist gemein, Borokin!«sagte Irene laut.»Das ist niederträchtig!«

«Aber notwendig, mein Täubchen. Ihre Mutter wartet auf eine Unterschrift, Moskau auf eine wichtige Information. Gemein und niederträchtig ist allein das Jahrhundert, in dem wir leben, und aus dem wir machen müssen, was sich daraus machen läßt.«

Borokin ließ den Motor an, drehte auf der breiten Straße und fuhr zurück nach Bonn und an den Rhein zu dem kleinen Cafe, wo Irenes kleiner weißer Wagen in der Sonne stand. Stumm fuhren sie die ganze Strecke, nur Irene rauchte mit hastigen Zügen zwei Zigaretten hintereinander. Erst als sie auf dem Parkplatz hielten, sprach Bo-rokin wieder.

«Sie werden morgen einen kleinen Boxerhund bekommen«, sagte er.»Ein Weibchen. Wolters Schäferhund ist ein Rüde. Auch Ihr Hund — er heißt übrigens Anette von der Hardthöhe, schön, nicht wahr? — ist bereits zur Dressur angemeldet. Ein leichteres Kontaktnehmen gibt es nicht. Die beiden Hunde werden sich begrüßen, es ist ein besonders schönes Boxerweibchen. Sie werden Oberleutnant Wolter sofort sympathisch sein.«

«Und wenn ich mich in Wolter ernsthaft verliebe, Borokin?«Das war eine Drohung, und Jurij Alexandrowitsch verstand sie sofort.

«Damit rechnen wir, mein Täubchen. Aber wir rechnen auch mit Ihrer Liebe zur Mutter. «Borokin öffnete die Tür seines Wagens, und

Irene Brandes stieg aus.»Heute abend bringe ich Ihnen die schöne Anette von der Hardthöhe«, sagte er und winkte Irene fröhlich zu.»Ein wirklich süßes Tierchen. An Ihrer Seite — man wird staunen, wie verschwenderisch die Natur sein kann bei Mensch und Tier.«

Ohne sich umzublicken, stieg Irene Brandes in ihren Wagen, und in einer Staubwolke jagte sie hinüber zu der breiten Rheinstraße.

Jurij Alexandrowitsch Borokin sah ihr nachdenklich nach. Er liebte keine Geschäfte mit Frauen, das Herz ist ein zu großer Unsicherheitsfaktor. Aber gab es eine andere Möglichkeit, an Wolfgang Wolter heranzukommen? Moskau verlangte eine Aufklärung; um die Wege kümmerte es sich nicht.

Borokin seufzte tief und fuhr langsam ebenfalls zum Rhein hinunter. Das Leben eines Kulturattaches ist schwer, wenn er sich nicht nur mit der Kultur beschäftigen muß.

An diesem 20. Mai geschah noch manches. In Göttingen und in Tiflis.

Agnes Wolter erhielt nach einer schlaflosen Nacht, in der sie unruhig hin und her wanderte und die Spät- und dann die Frühnachrichten aller Sender abhörte, Besuch von einem Herrn, der sich Erich Hornberg nannte. Er war der Göttinger Vertreter der Fluggesellschaft DBOA, und er war sehr verlegen, als er von Frau Wolter zu einer Tasse Kaffee eingeladen wurde. Er sah ihre rotumränderten, verweinten Augen, ihre zitternden Hände, das Zucken in den Mundwinkeln, und er wußte auch, daß sie die Nacht nicht geschlafen hatte, denn wer kann Schlaf finden, wenn sein Kind irgendwo einen grauenhaften Tod gefunden haben soll.

«Sie bringen mir die Nachricht, nicht wahr.?«sagte Agnes Wolter tapfer, als sie den Kaffee eingegossen hatte. Erich Hornberg drehte den Löffel stumm in der Tasse, obwohl er gar keinen Zucker genommen hatte, der sich auflösen mußte.»Bitte, sagen Sie es! Ich habe die ganze Nacht Zeit genug gehabt, mich auf diese Nachricht vorzubereiten. Ich habe gegen Gott gemurrt, und ich habe gebetet, und danach wurde mir leichter. Es ist doch nicht zu ändern, nicht wahr? Man begreift es nicht, man will es einfach nicht begreifen, aber es ist ja wahr. Damals, als mein Mann nicht wiederkam, habe ich jahrelang gehofft. Vermißt ist nicht tot, sagte ich mir immer. Vermißte können zurückkommen. Und dann wußte ich, nach zehn Jahren, daß Karl nie wiederkommen würde. Ein Kamerad aus der Gefangenschaft besuchte mich. Karl war an Typhus gestorben. Im Lager Porsu-Burun. Auf der Karte habe ich es dann gesucht… ein kleiner Ort am Kaspischen Meer. Es ist ein Name geworden, den ich nie vergessen werde… wie Tiflis. «Agnes Wolter faltete die Hände vor der weißen Schürze, die sie auch im Laden immer trug. So sauber sah sie darin aus, so mütterlich und ehrlich.»Sie… sie ist tot, nicht wahr?«

Erich Hornberg zog den heißen Löffel aus der Kaffeetasse. Sein rundes, gebräuntes Gesicht — er hatte in Göttingen ein kleines Haus und lag nach Dienstschluß immer im Garten — wirkte etwas fahl.

«Die Maschine, die Ihre Tochter flog, die XA-19, war es, ja. «Hornberg atmete ein paarmal auf. Er verfluchte innerlich den Auftrag der Direktion in Hamburg. Davor drücken sie sich, dachte er erbittert. Das überlassen sie den kleinen Angestellten. Im Namen der Direktion… das ist so einfach für die in Hamburg.»Es hat neunzehn Tote gegeben. Aber Ihre Tochter ist nicht darunter.«

In Agnes Wolter zerriß der dünne Panzer, den sie sich in der Nacht um ihr Herz gelegt hatte. Sie schrie auf und klammerte sich an der Kante des Wohnzimmerschrankes fest. Erich Hornberg sah schnell zur Seite, er spürte ein Brennen in seinen Augen.

«Sie… sie. Bettina lebt?«stammelte sie.

«Die Toten sind sämtlich identifiziert worden. Auch die Verletzten. Sie sind, mit Ausnahme von Chefpilot Pohlmann, alle außer Lebensgefahr. Aber. «Hornberg stockte. Erst der Mann vermißt, dachte er. Jetzt muß man ihr sagen, daß auch die Tochter in Rußland. Oh, dieser Mist! Diese verfluchte Welt! Er sah aus dem Fenster hinaus in den Hinterhof mit den Mülltonnen.

«Aber.?«wiederholte Agnes Wolter leise.»Was ist mit meiner Bettina geschehen. Ist. ist sie schwer verletzt. Mußte man etwas amputieren? Oder ist sie blind? Sagen Sie es ruhig, Herr Hornberg. es ist alles nicht so schlimm. Sie lebt ja. ich habe sie wieder. sie wird jetzt immer bei mir bleiben.«

Erich Hornberg trank etwas Kaffee. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Man muß es sagen, dachte er bei den kleinen Schlucken. Man kann sie nicht länger belügen. Wie gemein das Schicksal sein kann, wie hundsgemein!

«Bettina ist vermißt«, sagte er leise.

Die Augen Agnes Wolters wurden weit, ungläubig, voll grenzenlosen Entsetzens.

«Vermißt.«

«Ja. Bei den Toten ist sie nicht und nicht bei den Verletzten, auch nicht in den Trümmern. Sie ist einfach weg. Wir alle, auch die russischen Behörden, stehen vor einem Rätsel.«

«Fängt das jetzt wieder an.«, sagte Agnes Wolter leise.»Ist es wieder wie bei Karl. zehn Jahre lang warten. warten. warten. und glauben: sie lebt. Sie kommt wieder. Irgend etwas ist geschehen. Sie hat das Gedächtnis verloren, einen Nervenschock hat sie, lebt woanders, und eines Tages erinnert sie sich und kommt zurück. Und so wartet man und wartet und wartet. und die Jahre gehen dahin, bis man weiß: sie kommt nie wieder. Herr Hornberg, das halte ich nicht mehr aus! Das halte ich nicht noch einmal zehn Jahre aus!«

«Ich kann Ihnen nichts anderes sagen, Frau Wolter. «Erich Hornberg legte die Hände um die Kaffeetasse. Er mußte Halt suchen, denn seine Finger zitterten gleichfalls.»Es sind ja auch nur die ersten Meldungen aus Tiflis. Vielleicht ist morgen alles ganz anders. Vielleicht jetzt schon. Die Direktion wollte nur, daß ich Ihnen eine Nachricht bringe, damit Sie nicht ganz ohne Informationen sind. Es kann ja sein, daß Bettina jetzt schon gefunden worden ist.«

Agnes Wolter nickte, aber es war ein mechanisches Nicken.

«Glauben Sie daran?«fragte sie mit tonloser Stimme.

«Nein«, sagte Hornberg ehrlich.

«Das ist schön, daß Sie eine alte Frau nicht belügen.«

«Sie sind doch nicht alt, Frau Wolter.«

«Über hundert Jahre. Eine Greisin unvorstellbaren Alters. Das Äußere. es hat nichts zu sagen, Herr Hornberg. Im Inneren bin ich uralt. «Agnes Wolter setzte sich an den Tisch. Ihre bebenden Hände lagen in ihrem Schoß.»Jetzt habe ich nur noch meinen Jungen. Meinen Wolfgang. Er ist Offizier in Bonn, Oberleutnant. Ein schöner, großer, kluger Junge. Ich werde ihn nachher anrufen. Er soll mich nach Bonn holen. Das Geschäft kann ich ruhig für ein paar Wochen schließen. Aber ich kann jetzt nicht allein sein. Es ist mir, als falle die Decke runter, wenn ich allein bin.«

Erich Hornberg verließ das kleine Wäschegeschäft mit gesenktem Kopf und geröteten Augen. Er hatte noch ein Stück Kuchen essen müssen, und er hatte es hinuntergewürgt, als sei es ein Riesenknäuel Watte. Dann war er gegangen, obgleich er sah, wie sehr sich Agnes Wolter an seine Gegenwart klammerte, wie schrecklich ihr das Alleinsein war.

Auch Erich Hornberg hatte nur normale Nerven, und sie waren jetzt überfordert.

Er ging in die nächste Wirtschaft und trank drei Kognaks hintereinander. Und er schwor sich, einen solchen Weg nie mehr zu machen.

Um die gleiche Zeit, am 20. Mai gegen Mittag, überreichte ein Kurier aus dem Kreml dem deutschen Botschafter in Moskau einen Protest. In dürren Worten wurde darin behauptet, daß ein westdeutscher Geheimdienst unter Hinmordung neunzehn unschuldiger Menschen und unter Gefährdung des ganzen Flughafens Tiflis eine Agentin abgesetzt habe. Die sowjetische Regierung halte es unter diesen Umständen für nötig, einige deutsche Journalisten auszuweisen und keine neuen Agreements zu erteilen, bis die gewisse Bettina Wolter gefunden sei.

«Das ist doch vollendeter Blödsinn«, sagte der Botschaftsrat, als er die sowjetische Note übersetzt hatte.»Das ist doch an den Haaren herbeigezogen. Hält man uns für solche Dilettanten?«

Und er brachte die Note zum Botschafter, der sofort ein Gespräch mit dem Außenminister in Bonn führte.

Der >Fall Bettina Wolter< war geboren.

Im Kreml, bei der Leitung der GRU, bekam sie ein besonders hellrotes Aktenstück.

Und General Oronitse sagte in Tiflis zu Oberst Jassenskij:»Safon Kusmajewitsch, man soll es nicht für möglich halten: Aus einem Furz wird ein Taifun.«

Es war unter der Würde Jassenskijs, darauf zu antworten. Oronitse war ein Außenseiter, und wenn er unhöflich sprach, war es besser, Diskussionen auszuweichen. Wie konnte ein General auch einsehen, daß die Politik immer wieder neue Nadeln braucht, die man dem Gegner in den Hintern sticht?

Bettina war drei Stunden gelaufen, quer durch die Felder und Schonungen, über unbefestigte Wege und durch steinige, ausgetrocknete Bachläufe. Ab und zu, wenn die Füße zu sehr brannten und das Herz zu schnell schlug, setzte sie sich auf einen Stein und ruhte sich aus, oder sie umfaßte den Stamm eines Baumes, drückte den Kopf gegen die rauhe Rinde und atmete tief durch, um ihre flatternden Lungen zu beruhigen.

Vor sich sah sie die grandiosen Umrisse der Kaukasusberge, Felsen, die schwarz in den Himmel stießen, die greifbar nahe schienen und doch viele Kilometer entfernt waren. Zwischen ihr und den Bergen lag ein Fluß: die Kura, die steil aus den Felsen herunterkommt nach Tiflis. Sie stürzt in ein tief ausgeschabtes Bett, bildet zwei Inseln, Maidatowski und Ortaschala, und rauscht dann weiter zwischen siebenhundert Meter hohen, fast kahlen Bergen.

Dort, hinter den schwarzen Felsen, liegt die türkische Grenze, dachte Bettina. Sie saß am Zaun eines wie verfallen aussehenden Bauernhofes und hatte die zerrissene und angesengte Jacke ihrer Stewardeß-Uniform ausgezogen. In zerfetztem Rock und einer ölverschmierten Bluse saß sie da, und sie wußte, daß sie in dieser Kleidung nie die Grenze erreichen konnte. Jeder Mensch, der sie sah, würde sie festhalten.

Die Stadt lag unter ihr. Vor ihr dehnte sich eine Ebene mit Wein und Obstbäumen, und dazwischen lagen Scheunen und Schuppen und vereinzelte Bauernhäuser aus Holzbrettern, bunt bemalt und mit geschnitzten Giebeln.

Der Anblick der Stadt und der schwarzen Felsen machte sie unendlich müde. Sie lehnte den Kopf zurück an die morschen Latten des Zaunes und starrte in den Himmel, an dem Wolkenfetzen dahintrieben. Ich darf nicht schlafen, sagte sie sich. O Gott, ich darf nicht schlafen. Weiter muß ich, weiter! Ich muß in die Berge, und irgendwo wird eine Höhle sein, in die ich kriechen kann und abwarten, bis die nächste Nacht kommt.

Aber als sie aufstand, taumelte sie und hielt sich am Baum fest. Jeder Schritt war eine Qual, die von den Fußsohlen bis unter die Schädeldecke zog und den Körper wie ein schleichendes Gift lähmte. Mit letzter Kraft erreichte sie einen Schuppen, fiel gegen die Tür, stolperte in die Dunkelheit hinein, spürte, wie sie gegen einen hohen Haufen Maisstroh fiel, und so blieb sie liegen, halb nach hinten gesunken, halb stehend, mit weit ausgebreiteten Armen.

Aber es war nur der Körper, der ihr nicht mehr gehorchte. Ihre Gedanken arbeiteten weiter, und sie hörte die Geräusche außerhalb des Schuppens, das Bellen von zwei Hunden, ein Pferdescharren hinter der Nebenwand, ein Rascheln wie von Ratten und Mäusen unter dem Maisstroh, und das Knarren alter Holzbalken unter dem schwachen Druck des Windes, der von den Bergen hinunter nach Tiflis wehte.

Was hat Wolfgang einmal zu mir gesagt? dachte sie, und sie wunderte sich, wie deutlich die Gedanken in einem solch erschöpften Körper sein konnten.»Wenn der Teufel es will, Betti, und ihr müßt einmal in Rußland notlanden, gib dich nie in die Hand sowjetischer Behörden. Versuch unter allen Umständen, durchzukommen in ein westliches Land. Du weißt, was ich in Bonn tue — Mutter weiß es nicht, sie kann sonst nicht mehr schlafen, du weißt ja, wie sie ist —, und wenn die Sowjets dich in die Hand bekommen, hätten sie ein wirksames Erpressungsmittel gegen mich. Sie kennen keine Rücksicht. In unserem Metier ist alles erlaubt.«

Das war es, was Bettina eingefallen war, als sie außerhalb des brennenden, explodierten Flugzeugwracks zwischen den kleinen Maulbeerbäumen lag und wegkroch aus dem Flammenschein. Das Leben Wolfgangs konnte man zerstören, und sie war sich sicher, daß die Russen diese Möglichkeit ausgenutzt hätten, wenn sie sich bei ihnen gemeldet hätte. Sie schauderte bei dem Gedanken an die Gefängnisse und an die Frauenlager, über die so viel geschrieben worden war, und sie dachte an die Verhörmethoden und die Gnadenlosigkeit sowjetischer Justiz. Da war zu der Angst um Wolfgang die eigene große Angst gekommen, und sie war fortgerannt mit dem Ziel, sich durchzuschlagen in die Freiheit, zur türkischen Grenze jenseits der Kaukasusberge.

Wie lange sie an dem Maisstrohhaufen gelehnt hatte, wußte sie nicht. Bei dem Gefühl der geringsten Kraft raffte sie sich auf und kroch auf allen vieren den Strohberg hinauf, wühlte sich in die harten, stechenden Halme und schlief ein, als sie ausgestreckt lag und über ihr die Dachbalken im Wind seufzten.

Der Morgen war hell und sonnig. Durch das schadhafte Dach fiel das Sonnenlicht auf Bettina, und sie erwachte seufzend und mit starren Gliedern. Einen Tag und eine Nacht hatte sie in völliger Erschöpfung geschlafen.

Von draußen hörte sie Stimmen. Jemand schrie nach seinem Beutel Wein, eine Frauenstimme beschimpfte den Schreier und nannte ihn einen Dummkopf, und Bettina wunderte sich, wie gut sie die russische Sprache verstand. Leise sprach sie die Sätze nach, die sie von draußen hörte, dann kroch sie auf dem Strohhaufen zur Wand und sah durch eine Ritze der Bretter hinaus. Auf vier Leiterwagen mit Traktoren davor fuhren Bauern in blauen Hosen und weißen Hemden auf die Felder, Mützen oder Strohhüte auf den Köpfen, und die Frauen in langen, weiten Röcken oder ebenfalls in blauen Drillichhosen saßen auf einem Lastwagen, der gerade anfuhr und den Staub in dicken Wolken aufwirbelte.

Dann war es still zwischen Haus und der Scheune. Bettina rutschte den Strohhaufen hinunter und wartete an der angelehnten Tür. Aber niemand kam aus dem Haus, selbst die Hunde bellten nicht. Man hatte sie mitgenommen auf die Felder.

Bettina wartete noch eine halbe Stunde in der Scheune, bis sie langsam die Tür öffnete und hinaustrat. Ein Wagnis war's, und doch war es der erste richtige Schritt in die Freiheit.

In der Hütte rührte sich nichts, als Bettina die angelehnte Tür aufstieß. In einem kleinen Flur stand sie, in dem an Nägeln Schürzen und Hosen hingen, auch einige Pelze aus Schafsfell, denn der Winter in den Bergen ist erbarmungslos und eisig. Noch einmal blieb Bettina stehen, lauschte mit angehaltenem Atem, dann stieß sie die Tür zu ihrer Rechten auf und betrat einen großen Raum, den Wohn-raum des Hauses. Gegenüber der Tür war die gemauerte Wand mit dem Kamin und der offenen Feuerstelle. Ein Wasserkessel hing an einer eisernen Kette über den Flammen, und auf der Ofenbank saß eine alte, eisgraue Frau und entkernte Maiskolben. Mit ihren rissigen Händen schabte sie über die Kolben, und die Körner fielen in einen Trog zu ihren Füßen. Dann bückte sie sich, warf den leeren Kolben weg, einfach in die Stube, und griff nach einem neuen Maiskolben aus dem Korb zu ihrer Linken.

Den Windzug von der Tür her spürte sie. Das alte Weibchen hob den Kopf und starrte zu Bettina, aber die Augen waren grau und glanzlos und stierten ins Leere.

«Was ist, Axinja?«schrie sie mit fast quiekender Stimme.»Ein Weibsstück ist das! Immer vergißt sie etwas! Schleicht sich ins Haus wie andere in das Bett fremder Ehefrauen! Zum Teufel… was fehlt denn, Axinja?«

Bettina kam leise näher. Die toten Augen der Alten sahen an ihr vorbei, aber man sah, daß sie lauschte.

«Was schleichst du herum, he?«Sie nahm einen vollen Maiskol-ben und warf ihn zur Tür, weit an Bettina vorbei, die schräg durch das Zimmer ging.»Wo ist Piotr?«

«Gott grüße Sie, Mütterchen«, sagte Bettina. Sie stand neben der Alten, und der Kopf der Greisin fuhr herum in die Richtung, aus der die fremden Laute gekommen waren.

«Wer ist da?«schrie sie. Den Korb stieß sie weg und auch den Trog mit den Körnern, und ihr runzeliges Gesicht mit den verschleierten Augen nahm einen schrecklichen, verzerrten, ängstlichen Ausdruck an.»Piotr!«schrie sie grell und schlug mit den Armen um sich.»Piotr, mein Söhnchen! Wo bist du? Hinaus mit dir! Wenn Piotr kommt, die Knochen bricht er dir. Ein Bär ist er, mein Piotr. Hinaus!«

«Ich bin ein armes Mädchen, Mütterchen. «Bettina lief leise zu dem Fenster an der Längswand und sah hinaus. Nichts war zu sehen. Die Bauern waren weit weg auf den Feldern, und bei ihnen schien auch der Bär Piotr zu sein.»Mitleid solltest du haben mit mir, getreten und gekniffen hat man mich, hungern mußte ich und den Stall mit den Händen misten. sag, Mütterchen, ist das eine menschenwürdige Behandlung?«

«Woher kommst du?«fragte die Alte. Sie hatte sich an die Ofenwand zurückgelehnt, und ihre blassen Augen starrten an die Decke.»Blind bin ich, fast blind. Ein Nebel ist um mich, verstehst du? Vor vier Jahren fing es an, und dann wurde es immer schlimmer, und die Ärzte… anspucken sollte man sie. Was wissen sie denn, he? Ein Geschwür können sie aufschneiden, und wenn Piotr und Iwan sich streiten, dann flicken sie sie wieder zusammen. Aber meine Augen… fremde Wörter haben sie dafür, die studierten Idioten!«Die Alte pendelte mit dem Kopf hin und her und schmatzte mit den Lippen, hinter denen keine Zähne mehr waren.»Hast du Hunger?«

«Ja, Mütterchen.«

«Dann such dir etwas. Im Kessel links neben dem Feuer. Kascha ist's mit Hammel. Und mit Thymian gewürzt. Magst du Thymian?«

«Sehr, Mütterchen. «Bettina starrte die Alte an.»Hast du Kleider für mich?«

«Bist du nackt, he?«schrie die Alte.»Komm her, ich will dich anfassen! Läuft nackt herum, das Hurchen. Welche Zeiten! Komm her, du Bastard!«

Bettina trat näher. Die Hände der Alten tasteten sie ab, blieben an der Bluse hängen und an den Ölflecken, strichen über die Brust, hinunter zum Leib und zu dem zerfetzten Rock.

«Ein schönes Weibchen. «Die Alte schmatzte wieder mit den runzeligen Lippen.»Ein strammes Weibchen. Kennst du Piotr? Gefallen wird er dir. Eine Frau sucht er, seit drei Jahren, aber was ist schon zu finden? Die einen schminken sich, die anderen stinken nach saurer Milch. Nichts für meinen Piotr. Aber du bist ein gutes Weibchen. Ich fühl's. Aber du klebst.«

«Ich bin in eine Öllache gefallen, Mütterchen. Darum frage ich, ob du Kleider für mich hast.«

«Wie heißt du?«

Es war eine Frage, auf die Bettina gewartet hatte. Und ohne Zögern sagte sie:»Wanda Fjodorowa, Mütterchen.«

«Geh in die nächste Kammer, Wanduscha, und such dir etwas. Und dann komm her und erzähle mir von dir. Kannst du Maiskolben ausnehmen?«

«Natürlich, Mütterchen. «Bettina sah sich um. Eine schmale Tür führte in einen Nebenraum, und sie stieß die Tür auf und sah vier Betten an den Wänden stehen. An einer Holzstange mit eisernen Haken hing Männer- und Frauenkleidung, und Bettina suchte sich einen alten Rock aus Baumwolle, blau gefärbt mit roten Streifen, eine hellgraue Bluse und eine gestrickte, oft geflickte Jacke aus ausgewaschener, farbloser Wolle aus. Zu einem Bündel rollte sie ihre zerfetzte Uniform und klemmte sie unter den Arm. So kam sie zurück in das große Zimmer, wo die Alte am Ofen stand und den Topf mit dem Hammel-Kascha aufs Feuer geschoben hatte.

«Was hast du genommen?«fragte die Blinde und rührte in dem Brei.

«Einen alten blauen Rock, Mütterchen.«

«Von Axinja ist er. «Die Alte drehte sich um. Mit ihren toten Augen suchte sie Wanda Fjodorowa. Ein beklemmender Anblick war's.»Wo willst du hin, Vögelchen?«

«Zu Onkelchen Wanja«, sagte Bettina.»In Tiflis hat er eine Schuhsohlerei.«

«Ein hübsches Mädchen, und geht zu einem Onkelchen. Ha!«Die Arme warf sie empor, die blinde Alte, und schlug mit dem hölzernen Kochlöffel gegen die Wand. Der Kascha spritzte in ihre eisgrauen Haare, und was ihr dabei übers Gesicht lief, leckte sie ab.»Onkel-chen sind Gauner, Täubchen. Die Flügelchen stutzt er dir, und dann baut er einen Käfig um dich, und singen mußt du, wenn er winkt. Ein so schönes Weibchen, und geht zu einem Onkelchen Wanja. Willst du nicht bei Piotr bleiben?«

«Ich kenne deinen Piotr nicht, Mütterchen. «Bettina ging langsam durch das Zimmer. Eine Tasche fand sie aus braunem Wachstuch, und da hinein legte sie, was sie auf dem Tisch, auf dem Bord neben dem Feuer und in den Fächern eines offenen Bretterschrankes fand. Ein großes Stück Brot, eine harte Eselswurst, ein schwarzgeräuchertes Stück Speck und zwei in der Hand gedrehte Käsekugeln aus Ziegensahne. Die blinden Augen der Alten wanderten mit. Auf dem Feuer blubberte der Kascha.

«Sieh dir alles an, Täubchen«, sagte sie.»Piotr ist ein schöner Mann. Ein großer Mann. Ein starker Mann. Na ja, auf einem Bein hinkt er, ein Unfall war's, ein dummer Unfall. Mit der Rübenhacke schlägt er sich ins Bein, das Jungchen. Bis auf den Knochen. Und keinen Laut hat er von sich gegeben, nicht einen Piepser. So ein Kerl ist mein Piotr. Sieh dir alles an. Wer geht zu einem Onkelchen in die Stadt? Du bleibst hier, und ein neues, strammes Töchterchen habe ich.«

Bettina hatte eine große, offene Flasche in die Tasche gelegt und schöpfte nun aus einem Kessel Wasser hinein. Dann knotete sie einen Lappen darüber, gewiß, ein primitiver Verschluß, aber was sollte sie anderes tun?

«Gefällt es dir, Wanduscha?«fragte die Alte. Sie hatte den Kessel vom Feuer geschwenkt und tastete nach einer irdenen Schüssel, die neben dem Feuer stand. Der Geruch von Thymian zog würzig durch das Zimmer, und in Bettinas Magen knurrte der Hunger.

«Ist Piotr auf dem Feld?«fragte sie.

«Gewiß, gewiß. Im Weinberg ist er, mit den anderen.«

«Ich gehe zu ihm, Mütterchen, und frage ihn, ob ich bleiben kann.«

«Ein liebes Töchterchen. «Die Alte setzte sich wieder hinter ihren Trog und den Korb mit den Maiskolben. Und sie lächelte, als die Tür klappte und dann auch die Außentür zuschlug.

«Ein Töchterchen«, sagte sie verzückt.»Und nicht solch ein faules Schweinchen wie Axinja.«

Bettina lehnte draußen an der Wand des Hauses und sah hinüber zu den Feldern und Weinhängen. Im Tal lag unter der gleißenden Morgensonne die Stadt Tiflis mit ihren Hügeln und breiten Straßen der Neustadt und dem Gewirr von Gassen und ineinander gebauten Häusern der Altstadt. Und mit der alten Metechi-Kirche, von der man sagt, sie stamme aus dem 5. Jahrhundert.

Der Weg geht nach Süden, dachte Bettina und schaute hinter sich. Durch Armenien muß ich, vorbei am Massiv des Ararat, auf dem die Arche Noah gelandet sein soll, nachdem Gott die Sintflut geschickt hatte. An den Südhängen Armeniens entlang läuft die türkische Grenze. Ein lächerlich kurzes Stück für russische Weiten ist es; nur 150 Kilometer ungefähr, und irgendwo wird es einen Bauern geben, der sagt:»Steig ein, Täubchen, und ruh dich aus. «Oder ein Lastwagen wird zur Grenze fahren, und zwischen Kisten und Körben vergeht die Zeit und schrumpfen die Entfernungen.

Bettina stieß sich von der Hauswand ab. Ein klarer Weg, dachte sie. Noch einmal sah sie zurück auf Tiflis und auf die Weinhänge, über die weiße Tupfen sich bewegten wie weiß gestrichene Ameisen. Leb wohl, Piotr, dachte sie. Mamuschka wird sehr böse sein, wenn du am Abend nach Hause kommst.

Dann lief sie weiter die Hochebene hinauf, den in der Ferne im Sonnenglast schwimmenden armenischen Bergen entgegen. Heiß war es, und in einem Hohlweg voller Steine — im Frühjahr raste hier ein Strom von Schmelzwassern aus den Bergen ins Tal — vergrub sie die zusammengerollte Stewardeßuniform in einer Mulde und häufte Steine darüber. Bis gegen Mittag ging sie nach Süden, ruhte sich aus unter mächtigen Ulmen oder Buchsbäumen und verkroch sich — als die Hitze es unmöglich machte weiterzuwandern — in einem Hain von wilden Feigenbäumen, aß ein Stück Brot und etwas Käse, trank ein paar Schlucke des warm gewordenen Wassers und kroch in eine Aushöhlung der Felswand.

Sie wachte auf vom Lärm ratternder Motoren und wußte erst da, daß sie eingeschlafen war. Dreißig Meter von ihr, zur anderen Seite — und deshalb hatte sie es nicht gesehen — war eine Straße, und über diese Straße fuhren Lastwagen mit Soldaten der Roten Armee ins Gebirge. Jeeps und Motorräder folgten, ein regelrechter Aufmarsch war's, Kolonne nach Kolonne, und die Soldaten scherzten und sangen, und der Geruch von Papirossyqualm zog bis zu Bettinas Feigenhain.

Mit großen, starren Augen sah sie auf die Rotarmisten. Flach auf der Erde lag sie, die braune Wachstuchtasche über den Kopf geschoben, damit ihr blondes Haar nicht in der Sonne leuchtete, und als zwischen Lastwagen und neuen Kolonnen ein kleiner Zwischenraum war, riß sie vom Saum des Rockes ein Stück ab und band es als Kopftuch um die Haare.

So lag sie flach unter den wilden Feigenbäumen und mußte hilflos zuschauen, wie man ihr den Weg nach Süden und zur türkischen Grenze versperrte. Daß der Aufmarsch ihr galt und General Oro-nitse in einem Tagesbefehl unter Geheimstufe I an die Truppen mitteilte, daß die Entdeckung der deutschen Agentin lebensnotwendig für Rußland sei, ahnte sie nicht. Sie glaubte an eine Übung; aber welch ein Unterschied war's schon? Der Weg zur armenischen Grenze wimmelte von Soldaten, und eine Maus hätte man entdeckt, wenn sie in die Türkei gelaufen wäre.

Bettina kroch zurück in ihre Höhle und lehnte sich an die rissige Wand. Aller Mut, alle Kraft waren aus ihr gewichen. In einer zugeschlagenen Falle sitze ich, dachte sie.

Ein riesiger Käfig, und ich kann in ihm herumirren: im Süden Ar-menien, im Norden der Kaukasus, im Westen das Schwarze Meer, im Osten das Kaspische Meer — gibt es ein besseres, sichereres Gefängnis?

Sie schloß die Augen und stellte sich das Land vor, wie sie es von der Karte her kannte. Einen Weg vielleicht gab es, hinunter in den tiefen Süden, nach Aserbeidschan und zur iranischen Grenze. Man konnte ihn nicht verfehlen; man brauchte nur an der Erdölleitung entlangzugehen, die von Baku nach Batum führt, quer durch Georgien und durch das Tal von Tiflis. Bei Baku erreichte man das Kaspische Meer, und an der Küste entlang war es leichter, nach Persien zu kommen, als über die Gebirge in die Türkei.

Welch ein Weg, dachte Bettina, und ein Frieren überzog sie trotz der Hitze des Mittags. War er jemals zu überwinden? Und wieviel Wochen brauchte man dazu, denn nur nachts konnte sie wandern, auf dem schmalen Streifen zwischen Erdölleitung, Bauernpfaden und der Eisenbahnlinie, die von Tiflis nach Baku führt.

So saß sie den ganzen Tag über in dem Hain wilder Feigenbäume und lauschte auf die Geräusche, die von der Straße zu ihr drangen. Einmal zog eine Kamelkarawane an ihr vorbei, beladen mit Ballen gepreßten Tees, Teppichen und Seidenstoffen. Dann erneut ein Wagen mit Soldaten. Und sie kroch wieder in ihre Höhle und wartete auf die Nacht.

Dimitri Sergejewitsch Sotowskij war ein schöner Mann. Schwarze, lockige Haare hatte er, schwarze, feurige Augen, ein gut gebautes Körperchen mit Muskeln und stählernen Sehnen, und wenn er lachte, o Genossen, man kann es den Weibchen nicht übelnehmen, daß sie dann kindisch wurden und sich drehten wie Hündinnen auf den Gassen. Und ein kluger, fleißiger Mann war er. Mit 25 Jahren leitender Ingenieur der Tiflis-Ölkombinate — ich frage, wer hat schon eine solche Karriere hinter sich? Die Bauern, die an der Ölleitung wohnten, nannten ihn immer nur >Das Herrchen<, aber die Genossen in der Hauptverwaltung — der Teufel hole die Beamten — betrachteten ihn böse und bezeichneten ihn als einen >westlich angehauchten Affen<. Purer Neid war das, Freunde, denn wo Dimitri Sergejewitsch hinkam, zum Direktor Polowoj zum Beispiel, oder in ein Cafe auf der Ketschoweli-Straße, überall grüßte man ihn höflich, sprach ein paar nette Worte mit ihm, sah ihm dann nach und sagte ehrlich:»Ein angenehmer Mensch. Er wird noch einmal ein großer Mann werden.«

Zur Aufgabe Dimitri Sergejewitsch Sotowskijs gehörte es, die Ölleitung zwischen Tiflis und Kasach zu kontrollieren. Nicht, daß sie auseinanderbrechen konnte, denn sie war aus bestem Rohrstahl, nahtlos und glänzend, als poliere man sie jeden Tag, und sie war der große Stolz von ganz Grusinien, ein Weltwunder gewissermaßen und die Lebensader von Mütterchen Rußland, denn wie hätte man den Großen Vaterländischen Krieg gewonnen ohne das Öl aus Baku — o nein, nur Angst hatte man um die schöne Leitung. Ein Russe ist mißtrauisch, überall sieht er Saboteure und Agenten, und man hat's ja erlebt in den vielen Jahren, daß immer wieder böse Menschen kamen und den Aufbau störten. Und so war es die Aufgabe von Dimitri Sergejewitsch Sotowskij, zweimal in der Woche und nachts — denn nachts kommen sie immer, die Saboteure — die Ölleitung abzufahren, hier zu klopfen, dort ein Pumpventil zu kontrollieren und am Morgen einen Bericht zu schreiben, daß alles in Ordnung sei.

Einmal in zwei Jahren nur hatte er erlebt, daß jemand an der Pipeline Unrechtes tat. Ein alter, schnauzbärtiger Bauer war's, der einmal wöchentlich in der Nacht in einer Schlucht, durch die die Ölleitung sich zog, einige Fässer Rohöl abzapfte. Ein Löchlein hatte er einfach in das Stahlrohr gebohrt, und daraus sprudelte es lustig in die Fässer. Waren sie voll, verschloß er das Loch mit einem eisernen Stöpsel, den er mit einem Splint sicherte. So raffiniert war das schnauzbärtige Väterchen, aber Dimitri entdeckte es, fing das Bäuerchen ein wie eine wilde Stute, jawohl, mit einem Lasso — ha, welch ein Kerl, der Dimitri Sergejewitsch! — und brachte ihn ins Gefängnis. Heraus kam dabei, daß das schnauzbärtige Väterchen seit einem Jahr Öl abzapfte und es auf dem Markt verkaufte. Man gab Dimitri die Hand, beglückwünschte ihn und nannte ihn einen >Held der Arbeit<.

Genossen, was gibt es Herrlicheres für einen Russen, als ein >Held der Arbeit< zu sein?

In dieser Nacht war es wieder nötig, die Leitung abzufahren. Dimitri Sergejewitsch zog seine Stiefel an und über die Stiefelhose einen handgestrickten Pullover mit Rollkragen, denn kalt ist es in der Nacht im Gebirge, wenn auch am Tage die Sonne glutete. Er setzte sich in seinen Jeep und fuhr durch das nachtstille Tiflis hinaus zur Pipeline. Sein Vater, Kolka Iwanowitsch Kabanow, der zweite Mann seiner Mutter, war noch wach, sah aus dem Fenster und winkte ihm zu und rief:»Dimitri, bring zweihundert Gramm Wodka mit, wenn du morgen zurückkommst!«

Und Dimitri Sergejewitsch rief zurück:»Ich vergesse es nicht, Väterchen!«

(Wobei man wissen muß, daß in Rußland der Wodka nicht nach Flüssigkeitsmaßen, sondern nach Grammgewicht verkauft wird.)

Gegen zwei Uhr früh war es, als Dimitri seinen Jeep verließ und hinunterstieg in einen Hohlweg, durch den sich die stählerne Schlange der Pipeline zog. Ein böser Ort war das, steinig und mit Dornenhecken bewachsen, und hier hatte es sogar einmal einen Bruch gegeben, weil ein dicker Stein von den Felsen herunterrollte und mit spitzer Kante das Stahlrohr einschlug. So eine Wucht hatte er, oben vom Gipfel kommend. Wie gesagt, eine böse Gegend war's.

Dimitri stand oben auf dem Pfad und sah hinab auf die im Mondlicht glitzernde Stahlröhre. Den Jeep hatte er zurückgelassen auf der Straße, jenseits des Hügels, denn auf dem Trampelpfad konnte man nicht fahren. Und plötzlich sah er einen Schatten, der durch die Schlucht wanderte, an der Ölleitung entlang, eine große, huschende Fledermaus, die an der Pipeline entlangrannte, dem einzigen von Dornenbüschen freien Weg.

Dimitri trat zurück in den Schatten der Felsen. Eine Pistole zog er aus der Hosentasche und drückte mit dem Daumen den Sicherungsflügel herum.

Der Schatten wanderte weiter. Ein freies Stück kam jetzt, im Mondlicht glänzte die Stahlröhre, und der Schatten trat in die bleiche Helligkeit. Ein Kopftuch, ein flatternder Rock, nackte, im Mondschein schimmernde Beine. Dimitri Sergejewitsch schüttelte den Kopf, sicherte die Pistole wieder und steckte sie zurück in die Hosentasche.

Ein Frauchen, dachte er. In der Nacht läuft sie an der Pipeline entlang. Was soll das? Verboten ist's doch, jeder weiß das. Man muß sie erschrecken, daß sie es nie vergißt.

Dimitri Sergejewitsch trat an den Rand des Hohlweges und legte die Hände trichterförmig vor den Mund. Schrecklich dröhnte seine Stimme zwischen den Felsen, als er brüllte.

«Stoij!«schrie er.»Stoij, Mütterchen! Ich schieße, wenn du nicht stehenbleibst!«

Der Schatten wirbelte herum. Das Kopftuch rutschte ab, und Dimitri sah im Mondlicht blonde Haare und ein erschrockenes, bleiches Gesicht, das zu ihm hinaufstarrte. Dann duckte sich die Gestalt wieder und rannte mit flatterndem Rock die Ölleitung entlang ins Dunkel.

Ein Mädchen, dachte Dimitri verblüfft. Wirklich, ein junges Mädchen ist's. Was sucht sie an der Pipeline? Kommt sie von einem Lie-bestreffen? Oder hat man wieder irgendwo die Leitung angezapft, o verflucht noch mal.

«Stoij!«brüllte er noch einmal.»Ich schieße. Komm heran!«Aber während er rief, lief er schon in den Hohlweg hinunter, denn wenig Sinn hatte es, zu drohen, wo man niemanden mehr sah.

Dimitri erreichte die Pipeline, indem er rücksichtslos durch das Dornengestrüpp brach. Zwanzig Meter vor ihm jagte der Schatten an der Stahlröhre entlang, mit schlenkernden Armen und wehendem Rock.

Kein Problem für Dimitri, dachte er und streckte sich wie ein Rennpferd. Dann lief er, mit großen, weiten Sätzen, so wie eine große Wildkatze läuft, mit den Muskeln federnd und fast lautlos.

Bettinas Herz schlug wie wild, ihre Lungen keuchten, und sie spürte, wie ihre Beine nachließen und weich in den Knien wurden. Da sah sie sich um, und zwei Meter nur hinter ihr, wie ein schwarzer Panther, schnellte der fremde Mensch durch den Mondschein, die Hände vorgestreckt, um sie sofort greifen zu können, wenn er sie erreichte. Da schrie sie auf, und alle Not, alle Angst, alle Hoffnungslosigkeit lagen in diesem Schrei. Sie warf sich herum, duckte sich, streckte die kleinen Fäuste vor und hieb Dimitri beim letzten Satz gegen die Brust und zwischen die Augen. Zwei harte Schläge waren es, in die er hineinsprang, er taumelte zurück, griff an seinen Kopf, aber dann knirschte er mit den Zähnen und rannte weiter, erreichte das Mädchen, riß es an der Schulter herum, warf sich auf sie wie ein Wolf auf ein zitterndes Lamm, und so fielen sie zu Boden, ineinander verkrallt, und sie trat um sich und kratzte und biß und spuckte, und Dimitri Sergejewitsch hatte alle Mühe, sein Gesicht vor ihren Nägeln zu schützen und sie mit seinem Körper auf die Erde zu drücken.

«O du Satanchen!«keuchte er.»Du wildes Adlerchen! Laß das Beißen, du! Ich will dir nicht die Knöchelchen zerbrechen! Lieg still, kleine Katze!«

Er faßte ihre Arme, bog sie über ihren Kopf zurück und lag auf ihr mit seinem ganzen Gewicht. Da streckte sie sich, alle Gegenwehr zerschmolz, nur ihre Augen starrten ihn wild und haßerfüllt an, und ihre Lippen zitterten, als friere sie.

Tief atmend sah Dimitri sie an, und er sah, wie schön sie war, wie jung und wie fest ihr Körper. Die Bluse hatte er ihr zerrissen, und ein Teil ihrer Brust schimmerte im Mondlicht.

«Welch eine Nacht«, sagte er keuchend, aber er hielt ihre zuckenden Arme noch wie mit Eisenzangen umklammert.»Nichtsahnend fährt man durch die Berge, und was geschieht? Ein Engel fällt vom Himmel.«

Bettina schloß die Augen. Den Kopf wandte sie ab, drückte ihn in das harte Gras, und dann weinte sie.

Da ließ Dimitri Sergejewitsch sie los, kniete sich neben sie, beugte sich vor und zog die zerrissene Bluse über ihre entblößte Brust.

Und plötzlich, als er sie wieder ansah, das weinende, zerbrochene Täubchen, wußte er, daß diese Nacht eine ganz besondere Nacht war und daß ein neuer Abschnitt im Leben des Dimitri Sergejewitsch Sotowskij begonnen hatte.

Nun lag sie da und weinte. Ein schmutziges Gesichtchen hatte sie, von den Dornenhecken zerkratzte Beine, vom Rocksaum fehlte ein Fetzen, und an den Füßen, man soll's nicht glauben, trug sie moderne Halbschuhe, wie sie Dimitri noch nie in Tiflis gesehen hatte. Ein jammervoller Anblick war's, und man wußte in den ersten Minuten auch gar nicht, was man sagen sollte. Da läuft ein Mädchen nachts die Ölleitung entlang, flüchtet beim Anruf, wehrt sich wie eine Tigerin, und dann ist sie plötzlich ein wehrloses Täubchen und zittert und bebt und macht einem das Herz schwer mit den Tränen.

«Warum weinst du?«fragte Dimitri nach einer ganzen Weile stummer Betrachtung und einem zu nichts führenden Nachdenken.»Gebissen hast du wie ein Frettchen… sieh es dir an… meine Hand blutet.«

«Ich bitte um Verzeihung«, sagte Bettina leise.»Du hast dich auf mich geworfen wie ein angeschossener Bär.«

«Ich bin verantwortlich für die Ölleitung. «Dimitri Sergejewitsch stand auf und klopfte Gras und Erde von seinen Hosen.»Wer nachts hier entlangrennt, hat kein gutes Gewissen.«

«Ich habe eins, Genosse. «Bettina drehte den Kopf zurück und sah empor an Dimitri. Die Stiefel, die Stiefelhose, ein Pullover mit einem Rollkragen, darüber ein schönes, scharf geschnittenes Gesicht mit einem Kranz aus schwarzen Locken. Als er den Kopf jetzt etwas neigte, fiel das Mondlicht in seine Augen, und sie leuchteten wie geschliffene und polierte Glasperlen. Und als sie diese Augen sah, wich alle Angst aus ihr; sie setzte sich, raffte die zerrissene Bluse über der Brust zusammen und starrte hinauf zu den im Nachtschatten schwarzen Felsen.»Du wirst mich jetzt gehen lassen, nicht wahr, Brüderchen?«fragte sie leise.

Dimitri Sergejewitsch war etwas enttäuscht. Hundert langweilige Nächte liegen hinter einem, dachte er. Immer die gleiche Nacht, die gleiche Stahlröhre, die gleiche Meldung am Morgen: Keine Vorkommnisse, Genossen! Und nun erlebt man etwas — natürlich würde man das nicht melden, sondern ebenfalls langweilig am Morgen in den Bericht schreiben: Nichts Neues! — , ein schönes Vögelchen ist herbeigeflattert, man hat's gefangen, und jetzt soll man's wieder fliegenlassen, auf Nimmerwiedersehen, irgendwohin in die Berge… ein böser Gedanke ist das, man muß das zugeben.

«So einfach ist das nicht, Genossin«, sagte Dimitri.»Ein Protokoll müssen wir aufsetzen, das ist Vorschrift.«

«Ein Protokoll? Worüber?«

«Du hast die Ölleitung belästigt. «Dimitri lächelte freundlich.»Das gehört in das Berichtsbuch. Ich muß dich mitnehmen.«

«Und wenn ich mich weigere, Brüderchen?«

«Es ist schwer, mein Täubchen, sich gegen mich zu weigern. «Dimitri zog den Pullover gerade; ein peinlich ordentlicher Mensch war er, der in seinem Büro die Bleistifte der Größe nach geordnet in der Schale liegen hatte und nie vergaß, sich täglich zu rasieren, was allen denen mißfiel, die dazu zu faul waren, und das waren die meisten.»Mein Name ist Dimitri Sergejewitsch Sotowskij«, sagte er.»Ingenieur bin ich beim Tiflis-Ölkombinat. Es hat keinen Sinn, sich zu weigern.«

Bettina erhob sich. Dimitri stützte sie, und er tat es gern, denn er spürte ihre glatte, warme Haut, und als sie sich etwas schwach noch an ihn lehnte, atmete er einen verwirrenden Duft aus Heu, einem fremden Parfüm und süßlichem Schweiß, was ihn unruhig und befangen machte.

«Ich bin Wanda Fjodorowa«, sagte sie und wischte sich ein paarmal über die brennenden Augen.»Auf dem Weg zu Onkelchen Wan-ja bin ich.«

«In der Nacht?«

Dimitri gab ihr sein Taschentuch, sie putzte sich die Nase, er nahm das Tüchlein zurück und beschloß im Inneren, es nicht zu waschen, so verrückt war er plötzlich, der schöne Dimitri.

«Ich bin ein armes Mädchen. «Bettina hielt mit beiden Händen die zerrissene Bluse über der Brust zusammen, und die Schultern zog sie ein, als friere sie.»Eine lange Geschichte ist's, Dimitri Sergejewitsch. Mit dem Tode von Mamuschka beginnt sie, an einem Bluthusten starb sie, vor vier Jahren, auf dem Feld, neben dem Garbenbinder… und sie hört auf mit Dunja, dem zweiten Weibchen von Papuschka. Ein schönes, junges, wildes Weibchen, das er sich da genommen hat. Nicht viel älter als ich, aber ich mußte >gnädiges Mütterchen< zu ihr sagen, bedienen mußte ich sie, ihr die Schürzen waschen und die Strümpfe flicken und Hemdchen bügeln. Und geschlagen hat sie mich… mit einem hölzernen Löffel, mit der Na-gaika, mit einem Stock, an dem eine eiserne Spitze war, gestochen hat sie mich mit ihr, und es war die Hölle, Dimitri Sergejewitsch. Da bin ich weggelaufen, einfach weg nach Süden, zu Onkelchen Wanja, der in Tiflis wohnen soll. Und nun kommst du und überfällst mich wie ein Wolf und willst auch noch ein Protokoll machen. Soll ich zurückgeschickt werden zum Teufelsmütterchen Dunja? Soll ich sterben unter ihren Schlägen? Willst du das?«

Sie sah ihn aus großen blauen Augen an, und in Dimitri entstand ein Sternenhimmel, und es war ein ganz großer Stern, der herumflog und alle anderen blank putzte.

«Diese Dunja muß ein Satan sein«, sagte er gepreßt.»Gut war's, wegzulaufen, Wanda Fjodorowa! Seien wir Mensch und nicht Beamter — du weißt, wie selten so etwas ist — und schreiben wir in den Bericht: Nichts Neues!«

«Ich danke dir, Dimitri Sergejewitsch. «Bettina stellte sich auf die Zehenspitzen, machte die Lippen kraus und gab Dimitri einen Kuß. O Freunde, kennt ihr die Wirkung, wenn zwischen hohen Bergen ein Donner grollt? Dann schwankt die Erde, die Ohren dröhnen, das Herz wird schwer, der Kopf scheint zu zerspringen — kurzum, man ist nicht mehr normal. Und so erging es Dimitri nach diesem Kuß. Er schluckte mehrmals, in seinen Handflächen sammelte sich Feuchtigkeit, sein Hirn sagte: Oje, bist du ein glücklicher Mensch!

Gratuliere, Dimitri, aber sein Mund blieb stumm, und nur seine dunklen Augen wurden trübe vom Herzbluten, und sein Kehlkopf zuckte. Dann umarmte er Wanda Fjodorowa, entschuldigte sich vorher:»Man muß dich trösten, armes Vögelchen«, und küßte sie dann mit einer Glut, die Bettinas inneren Widerstand wegsengte wie eine Feuersbrunst.

Dann standen sie sich gegenüber, schwer atmend, sahen sich an und waren sehr verlegen. Dimitri war's, der zuerst sprach.»Der Mondschein macht's«, sagte er stockend.»Ich bin empfindlich gegen diesen Magnetismus.«

«Es ist ein schöner Mond«, sagte Bettina und lehnte sich gegen die stählerne Röhre der Ölleitung. Was ist mit mir, dachte sie erschrocken. Ich habe keine Angst mehr. Nicht einmal das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, beunruhigt mich. Es ist, als hätte das alles seine Richtigkeit, daß ich hier stehe, und vor mir steht Dimitri und hat mich geküßt.»Ich liebe den Mond«, sagte sie leise.

«Noch schöner ist die Sonne.«

«Ich habe Angst vor der Sonne.«

«Warum, Wanduscha?«

«Der Mond gehört jetzt uns — die Sonne wird uns auseinandertreiben.«

«Das wird nicht so sein. «Dimitri beugte sich etwas vor, streckte die Arme aus und zog den Pullover über den Kopf. Ein hellblaues Baumwollhemd trug er darunter, und in dem Gürtel, der die Hose hielt, stak ein Futteral mit einer Pistole.»Zieh den Pullover an«, sagte er.»Kühl ist's. Du zitterst.«

Bettina nahm den Pullover und streifte ihn über. Viel zu groß war er. Bis zu den Knien fast reichte er ihr. Und in den Ärmeln verschwanden ihre Hände, als habe man sie abgehackt. Dimitri lachte, und sie dachte: Schöne Zähne hat er. Ein gefährlicher Mensch ist er, zu schön fast für einen Mann, zu ebenmäßig, zu sicher, zu jungenhaft und doch männlich bewußt. Und was das Gefährlichste ist und den meisten schönen Männern fehlt: Klug ist er auch.

Sie nahm sich vor, auf der Hut zu sein und sich ganz fest zu zwingen, nicht dem Zauber nachzugeben, der sich um ihr Herz auszubreiten begann.

«Jetzt siehst du wie ein Junge aus«, sagte er lachend.»Wie ein verwahrloster, verlauster, trotziger, böser Junge.«

«Vielleicht ist das besser so, Dimitri Sergejewitsch.«

«Nur deine Lippen sind anders.«

«Wohin willst du mich bringen?«fragte Bettina und vermied es, ihn anzusehen.

«Zu deinem Onkelchen Wanja, natürlich.«

«Ich weiß nicht, wo er wohnt. Nur Tiflis, das wußte ich.«

«Und wie heißt er?«

«Wassilij Iwanowitsch Tschigirin«, sagte Bettina schnell. Ein Name, der ihr gerade einfiel, aber Dimitri zog das Kinn an und kraulte sich in den schwarzen Locken.

«Doch nicht der Genosse Tschigirin, der in der Zentralverwaltung sitzt?«

Ein eisiger Schreck durchzog Bettina. Es gibt diesen Tschigirin wirklich, dachte sie. O Gott, was wird daraus? Sie hob die Schultern, aber sie war zu müde, um weiter zu lügen.

«Wenn er Wassilij Iwanowitsch heißt.«

«Ich glaube es. «Dimitri sah sich um. Neben der Ölleitung lag ein zusammengeschnürtes Bündel. Er ging hin, hob es auf und klemmte es unter den Arm. Dann blieb er stehen und neigte lauschend den Kopf. Von der Straße hinter dem Berg hörte er Motorenlärm. Lastwagen oder sogar Panzer rollten dort durch die Nacht.

«Ein Manöver haben sie«, sagte er, denn auch er wußte nichts von einem gesuchten Mädchen aus einem deutschen Flugzeug. Die Nachrichtensperre Oberst Jassenskijs war vollkommen.»Ganz ungewöhnlich ist das. Und die Straßen kontrollieren sie wie im Krieg. An jeder Kreuzung muß man seinen Ausweis zeigen. Nehmen sich sehr wichtig, die Genossen vom Militär. «Er betrachtete Wanda Fjodo-rowa wieder und schüttelte den Kopf. Man soll nicht glauben, wie schön sie unter diesem häßlichen Pullover ist, dachte er.»Du hast keinen Ausweis?«fragte er.

«Dimitri Sergejewitsch«, Bettina lächelte ihn an,»wer denkt an ein Papierchen, wenn er aus der Hölle flüchtet? Nur weg wollte ich von Dunja, dem Teufelchen. Nur weg!«

«Das kompliziert alles noch mehr. «Dimitri lauschte auf die Geräusche jenseits der Felsen. Er hörte das helle Knirschen der Panzerketten und das Rumpeln der schweren Motoren. An jeder Kreuzung stehen sie, dachte er. Und streng sind sie, weiß der Teufel, warum. Was haben wir mit den Manövern zu tun? Aber es hat ja keinen Sinn, zu protestieren. Nur Ärger hat man mit den Uniformen, und Recht bekommen sie auch immer.

«Wir wollen es versuchen«, sagte er.»Auch Soldaten haben zuweilen ein Herz.«

Sie kletterten den Hang hinauf, und Dimitri bog die Dornenbüsche auseinander, damit Wanda Fjodorowa ohne Kratzer den Pfad erreichen konnte.

Oben küßte er sie noch einmal, und eigentlich wußte er gar nicht, warum. Doch ja, wenn man genau darüber nachdachte — Freude war's, daß sie da war, daß man den Pfad erreicht hatte, daß man gleich gemeinsam nach Tiflis fuhr, daß man morgen Onkelchen Wan-ja suchte. Genossen! Eine Wonne ist's, zu leben! Man muß es nur im richtigen Augenblick erkennen.

Dann saßen sie in dem kleinen Jeep Dimitris, bogen auf die Hauptstraße ein und stießen nach dreihundert Meter Fahrt, die wortlos war, denn jeder dachte über den anderen nach, und es waren zärtliche Gedanken, das sei verraten, Freunde, auf die erste Militärkontrolle. Ein Feldwebel und drei Rotarmisten standen mitten auf der Straße, schwenkten zwei rote Laternen und schrien:»Stoij! Stoij!«als wollten sie eine ganze Armee anhalten.

Dimitri hielt und beugte sich aus dem Jeep heraus.

«Ingenieur Sotowskij vom Ölkombinat!«brüllte er.»Der Teufel hole die leeren Hirnschalen! Schon sechsmal bin ich kontrolliert! Bin ich ein Chamäleon, das sich von Minute zu Minute verändert?«

O ja, brüllen konnte er, der gute Dimitri. Dabei fuchtelte er mit seinem Ausweis herum, und der Feldwebel bekam rote Ohren, einen wütenden Blick und rückte an seinem Koppel.

«Daß Sie kein Kamel sind, Genosse, sehe ich«, sagte er beleidigt.

«Chamäleon!«schrie Dimitri.»Soll man's für möglich halten? Aus dem Weg, Genossen, ehe mir die Hose platzt!«

«Wer ist neben Ihnen?«schrie der Feldwebel zurück.

«Ebenfalls kontrolliert! Wanda Fjodorowa, meine Assistentin!«

«Der Himmel segne die Sprache, die immer neue Wörter für bestimmte Dinge erfindet«, sagte der Feldwebel anzüglich. Mit einer Taschenlampe leuchtete er Bettina an. Dann grunzte er.»Haben Sie den Mondschein studiert und kontrolliert, Genosse Ingenieur?«

«Mondschein und Idioten gehören zum täglichen Leben!«brüllte Dimitri zurück.

«Ein ungehobelter Mensch. Passieren!«sagte der Feldwebel.»Immer müssen sie sich wichtig machen vor ihren Weibchen. Man sollte ihnen in die Schnauze schlagen dürfen.«

Bis Tiflis kontrollierte sie niemand mehr. Als die Straße sich senkte und aus den Bergen trat, und die Stadt vor ihnen lag — ein Meer von Lichtern, das gegen die Berge spülte und über die Hügel und Ebenen spritzte —, lehnte Bettina den Kopf wieder an Dimitris Schulter.

«Wohin fahren wir?«fragte sie leise. Und es war gar keine Furcht in ihrer Stimme. Nicht einmal Neugier.

«Zu mir, Wanduscha.«

«Zu dir?«Sie sah ihn von der Seite an. Das Profil seines Gesichtes war wie ein scharfer Scherenschnitt.»Schickt sich das, Dimitri Sergejewitsch?«

«Ich wohne nicht allein. Mein Väterchen ist bei mir. Kolka Iwa-nowitsch Kabanow.«

«Ich denke, du heißt Sotowskij?«

«Väterchen Kolka ist mein zweiter Vater. Mütterchen nahm ihn zum Mann, als ich schon siebzehn Jahre alt war. Mein Vater starb in Deutschland. In Gefangenschaft. In Moers liegt er begraben. An Furunkulose starb er. Unter Tage, im Kohlenbergwerk mußte er arbeiten, obgleich er ein Architekt war. Der Krieg, Wanduscha. Aber

Väterchen Kolka ist ein guter Vater. Ich liebe ihn, weil auch Mütterchen ihn so liebte. Bis zu ihrem Tode sagte sie, sie sei ein glücklicher Mensch, denn zweimal habe Gott ihr einen guten Mann gegeben.«

Bettina schwieg. Möge er nie erfahren, daß ich eine Deutsche bin, dachte sie. Möge das Schicksal so gnädig sein, ihm die Augen zu verschließen, bis ich aus Tiflis flüchten kann. O Himmel, was wird sein, wenn er die Wahrheit erkennt! Über die Berge zog der fahle Schein des Morgens, als sie vor dem Haus hielten, in dem Dimitri wohnte. Hinter einem der Fenster schimmerte Licht durch die Gardinen, und Dimitri zeigte nach oben.

«Väterchen Kolka ist schon wach«, sagte er.»Das Frühstück hat er fertig, wenn ich von der nächtlichen Runde komme. Eier brät er in der Pfanne, und dazu Speck und kleine, runde Kartoffeln. Und saure Milch hat er aufgesetzt, mit gezuckerten Erdbeeren. Er wird staunen, wenn er dich sieht, Wanduscha.«

Sie standen vor der Tür, und Dimitri schloß auf.

«Ich habe plötzlich Angst«, sagte Bettina leise. Es war, als verkröche sie sich in dem viel zu weiten Pullover.

«Angst? Warum, mein Täubchen?«

«Ich weiß es nicht, Dimitri«, sagte sie kläglich.

«Vor Kolka, dem Väterchen?«

«Ich glaube. Ein merkwürdiges Gefühl habe ich. Wie vor einem Gewitter ist's, wenn die Kühe sich zusammendrängen und stumm werden. O Dimitri, ich ahne ein Gewitter.«

«Müde bist du. Und du wirst schlafen, wenn Väterchen Kolka dich erst einmal umarmt und dich >Töchterchen< begrüßt hat. Und morgen suchen wir dann deinen Onkel Wanja.«

Bettina nickte. Die Tür knirschte etwas, als sie aufging. Wie eine gefährliche Höhle gähnte ihr das dunkle Treppenhaus entgegen.

Was wird oben sein? Wie wird dieser Kolka Iwanowitsch Kaba-now mich ansehen? Wie soll es überhaupt weitergehen? O Gott, wer kann darauf eine Antwort geben?

«Komm, Wanduscha«, sagte Dimitri, und seine Stimme klang wie der Anschlag einer Cellosaite.»Augen wird er machen, das Väterchen, wenn ich ihm zeige, welches Vögelchen ich eingefangen habe.«

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