Kapitel 7

Bettina war nicht arm nach Algerien gekommen. Alles Geld, das sie sich erspart hatte, hatte sie von dem Bankkonto abgehoben, bevor sie nach Marseille geflogen war. Nun sah sie, daß die Bank in Bone sehr gern deutsche Mark annahm und einen hohen Kurs in algerischen Franken berechnete. Nur die Hälfte ihres Geldes wechselte sie um, und war für afrikanische Begriffe ein reicher Mensch.

Fünf Tage sah sich Bettina in der Hafenstadt um, dann wußte sie genau, was sie tun würde. Mit der Kaltblütigkeit und dem Mut, die sie schon in Rußland zur eigenen Verwunderung gezeigt hatte, ging sie zu einem arabischen Autovermieter und verlangte einen Jeep und einen wüstenkundigen Fahrer.

«Das ist eine gar nicht so einfache Sache, Mademoiselle«, sagte der Autoverleiher Habib Marmoud. Er sprach ein gepflegtes Französisch und war stolz darauf, vier Jahre die höhere Schule in Constantine besucht zu haben.»Es kommt vor allem darauf an, wohin Sie wollen!«

«Nach Ain Taiba«, sagte Bettina unbefangen.

«Sie wissen, Mademoiselle, daß ich mich strafbar mache, wenn ich Ihnen helfe?«fragte Marmoud zurück.

«Ja. Dafür zahle ich Ihnen auch das Doppelte.«

Es gibt keinen Nordafrikaner, der ein gutes Geschäft vorübergehen läßt. Erst kommt Allah, dann kommt das Geld, und es ist der Wille Allahs, daß jeder auf Erden gut leben soll. Nichts steht im Koran, daß man Geld ausschlagen soll, wenn man es verdienen kann.

«Es gibt nur einen, der den Weg nach Ain Taiba kennt, der nicht über die Ölstraße geht, und das ist Achmed Arbadja. Aber Achmed ist ein merkwürdiger Mensch, Mademoiselle. Man darf keine Angst haben, wenn man mit ihm reist.«

«Ich habe keine Angst, Habib Marmoud«, sagte Bettina fest.»Ich fahre mit diesem Achmed zur Hölle, wenn es sein muß.«

«Dann ist es gut, Mademoiselle. «Marmoud lächelte.»Sie haben es richtig gesagt… zur Hölle. Denn Achmed ist ein Teufel. «Am Abend dieses Tages stand im Hinterhof der Garage, die Marmoud auch noch betrieb, ein Jeep bereit, und im Büro wartete ein Mensch, der Bettina trotz aller Vorwarnungen zutiefst erschreckte.

Er war kein Riese, aber er wirkte wuchtig durch seine breiten Schultern und die Muskelpakete, die durch das dünne Hemd sich wölbten wie hölzerne Kegel. Eine flache, eingeschlagene Nase hatte er, kurzes, schwarzes, wolliges Haar, kleine, stechende Augen, und der Kopf saß fast ohne Hals auf den Schultern wie bei einem Schneemann — Rumpf und Kopf in einem. Über seine breite Stirn zog sich eine wulstige Narbe, auf die Bettina erschrocken starrte, als Mar-moud den finsteren Gesellen vorstellte.

«Die Narbe bekam Achmed Arbadja bei einem Überfall auf eine französische Patrouille in den Aumalebergen. Mit einem Messer schlitzte man ihm die Stirn auf, bis auf den Knochen. Aber trotz der Verwundung kämpfte Achmed weiter, und keiner der Franzosen überlebte. Dann wurde er gesucht. Zehntausend Francs auf seinen Kopf. In den Bergen von Ouled Nail leitete er eine Partisanengruppe. Wie viele hast du getötet, Achmed?«

«Vierhundertdreiundvierzig«, sagte Arbadja. Er hatte eine tiefe, rauhe Stimme, aber sie klang nicht unangenehm.

«Vierhundertdreiundvierzig! Er allein! Mit eigener Hand?«

«Auch neunzehn Deutsche waren dabei. «Achmed sah Bettina ernst an. Sie zog die Schultern hoch, aber hielt seinem Blick stand. Unter ihrer Kopfhaut zuckte es, aber sie dachte an die Wochen in Grusinien, und da wurde sie ruhig und mutiger.»Fremdenlegionäre. Ich mußte sie töten, Mademoiselle. Sie hätten sonst mich getötet. Und es war noch etwas anderes: Sie mordeten für Geld… ich kämpfte für das Vaterland!«

Habib Marmoud setzte sich hinter seinen Bürotisch. Für ihn war die Lage klar, er wartete nur auf Bettinas Worte. Aber als sie nichts sagte, hob er die Schultern.

«Es ist schade, Mademoiselle, aber dieses Geschäft wird wohl nichts, nicht wahr?«

«Warum?«Bettina drehte sich zu Habib um.»Ich nehme Achmed Arbadja! Morgen früh fahren wir los!«Sie griff in die Tasche und zog einen Bündel Geldscheine heraus.»Hier ist das Geld.«

«Nicht morgen früh!«Arbadja erwachte wie aus einer Starrheit. Lautlos glitt der schwere, massige Körper an Bettina vorbei zur Karte des Gebietes Bone, die an der Wand hing. Eine normale Autokarte.»Wir fahren gleich, in der Nacht. Dann ist es kühl für Mademoiselle. Und am Tag schlafen wir. Aber nur, wenn Sie wollen.«

Bettina nickte.»Ich vertraue ganz Ihnen, Achmed. Tun Sie, was Sie für richtig halten. Bringen Sie mich nur bis Ain Taiba und zurück nach Bone.«

«Sie… Sie vertrauen mir, Mademoiselle?«fragte Arbadja leise. Es war, als habe er so etwas zum erstenmal gehört.

«Ja Achmed; wie einem Bruder.«

«Ich werde Ihr Bruder sein«, sagte Arbadja feierlich.»Und ich bringe Sie nach Ain Taiba.«

Habib Marmoud wartete, bis Arbadja das Büro verlassen hatte und sich um den Jeep kümmerte. Von dem kleinen Auto hing in einer Stunde ihr Leben ab; von dem Motor, dem Getriebe, dem Benzinvorrat, dem Wasserreservoir, den Reifen und Achsen und Bremsen. Um alles würde sich Achmed Arbadja kümmern, auch um das Zelt, die Decken, die Büchsen Verpflegung und die Waffen, die er heimlich mitnahm.

«Sie haben einen Teufel gebändigt«, sagte Marmoud anerkennend als sie Arbadja im Hof rumoren hörten.»Allerdings… er ist auch noch nie einem so mutigen Engel begegnet.«

Ein Stunde später fuhr der Jeep durch das nächtliche Bone den Medjerda-Bergen entgegen. Hinter dieser Bergkette, dem letzten Riegel vor der heißen Unendlichkeit, begann die Wüste.

Bettina sah auf ihre Uhr, als sie Bone verlassen hatten. 23.12 Uhr.

Sie merkte sich diese Zeit, auch wenn es sinnlos war. Aber zu dieser Stunde begann die Fahrt in die Hölle, von der sie nicht wußte, wie sie ausgehen würde. Es war wie damals in Tiflis, als sie aus dem brennenden Flugzeugwrack kroch und wegrannte in die Ber-ge.

Achmed Arbadja saß schweigend hinter dem Steuer. Der Jeep kletterte die Bergstraße hinauf, bog dann ab und verließ die normale Route.

Das Abenteuer hatte begonnen.

Ein Abenteuer?

Es war nur die Verzweiflung um Dimitri… und eine Liebe, für die es keine Worte mehr gibt.

Das Ende Jurij Alexandrowitsch Borokins war gekommen. Er hatte es erwartet, und er trug es mit Fassung, wie ein echter Russe, wie ein sowjetischer Offizier.

Wolfgang Wolter hatte seine Braut Irene Brandes eine Stunde nach Borokins Weggang noch immer ohnmächtig auf der Couch gefunden. Nachdem er dreimal angerufen hatte und immer das Besetztzeichen ertönte, war er unruhig geworden und trotz seines Nachtdienstes zu Irene gefahren. Schon während der Fahrt dachte er an Borokin. Um ihn war es in den letzten Wochen so still geworden, das schien verdächtig. Das deutete auf einen veränderten sowjetischen Plan, den keiner kannte.

Nun sah man plötzlich klarer. Die Mißhandlung Irenes, die Frage Borokins nach Dimitri Sotowskij, die Verlagerung der Agententätigkeit von dem nun uninteressant gewordenen deutschen Oberleutnant auf den für die Russen anscheinend wichtigeren Flüchtling aus Liebe ließen vermuten, daß Borokin den Auftrag erhalten hatte, massiv zu werden und notfalls aus dem Schatten der versteckt arbeitenden Spionage herauszutreten. Mit anderen Worten: Borokin wurde gefährlich. Er war zu einem jagenden Wolf geworden.

«Er genießt den Status eines Diplomaten«, sagte der Chef des MAD zu Wolfgang Wolter, der in der Nacht noch um die Erlaubnis bat, Borokin bei der nächsten Gelegenheit auszuheben.

«Er hat Irene zugerichtet wie ein Vieh!«schrie Wolter. Seine Wut kannte keine Grenzen mehr.»Es ist unmöglich, einen solchen Kerl straffrei ziehen zu lassen. Ich werde mit ihm abrechnen.«

«Das würde Sie die Uniform und den Offiziersrang und Ihren Job kosten. Wir müßten Sie bestrafen wie einen normalen Verbrecher, Oberleutnant Wolter. Sie kennen doch die Spielregeln. «Der Oberst schüttelte den Kopf, als er Wolfgangs Augen sah.»Haß ist kein guter Berater.«

«Sie haben Irene nicht gesehen, so wie ich sie gefunden habe, Herr Oberst«, knirschte Wolter.»Wenn es Ihre Gattin — ich bitte um Verzeihung — oder Ihre Tochter gewesen wäre.«

«Wir sind Soldaten, Wolter. Persönliche Gefühle haben zurückzutreten ins dritte Glied! Natürlich würde ich empfinden wie Sie — aber erst kommt die Vernunft.«

«Er darf also mißhandeln, wenn es sein muß, sogar töten, und kommt straffrei aus. Nur, weil er den diplomatischen Status hat? Ist der Diplomatenpaß ein Freibrief?«

«Bei gewissen Nationen ja. Es ist nun einmal so, mein lieber Wolter. Faust in der Tasche geballt, das ist alles. Und wenn Sie sich abreagieren müssen, dann gehen Sie in die Turnhalle und boxen Sie am Sandsack. «Der Oberst sah auf den grünen Schnellhefter, der das Zeichen O/III-b enthielt. Die Akte Borokin.»Wir werden jetzt das Auswärtige Amt benachrichtigen und den Vorgang überstellen. In achtundvierzig Stunden wird er die Bundesrepublik verlassen haben, als unerwünschte Person. Vielleicht tröstet es Sie, Wolter, daß die Sowjets mit Versagern wie Borokin nicht gerade glimpflich umgehen.«

Wolfgang Wolter schwieg. Was in Rußland mit Borokin geschah, war ihm gleichgültig. Irene lag im Krankenhaus. Schlimmer als ihre an sich harmlosen Verletzungen war der Schock, den sie davongetragen hatte. In Abständen von zehn Minuten schrie sie immer wieder auf und bettelte dann mit unverständlichen Worten wie um Gnade. Was im einzelnen mit ihr geschehen war, konnte noch nicht festgestellt werden. Sie gab keine Antworten, sondern starrte jeden, auch Wolfgang, wie einen Fremden an, mit weiten, entsetzten, glasigen

Augen. Nur» Borokin! Borokin!«sagte sie ganz deutlich.

Zwei Tage lauerte Wolfgang Wolter in Rolandseck auf Jurij Alexandrowitsch Borokin. Er saß in seinem Wagen an der Ausfahrt des Privatweges, der zu dem weißen Schlößchen der sowjetischen Botschaft führte. Wie er handeln würde, wenn Borokin wirklich die Straße herunterkam, wußte er nicht; er wollte es dem Augenblick überlassen. Bei seiner Dienststelle hatte er sich einfach krank gemeldet.

«Der Junge dreht durch!«rief der Oberst vom MAD, als er die Krankmeldung am Morgen auf dem Tisch liegen sah.»Nie und nimmer hat er die Grippe, jetzt, Ende September! Gestern war er noch gesund wie ein Baum. Meine Herren, schaffen Sie Wolter heran! Der Junge ist in einer Verfassung, in der Vernunftgründe nicht mehr akzeptiert werden.«

Die Kameraden Wolfgang Wolters bemühten sich einen Tag lang redlich, ihn zu finden. Aber in Göttingen war er nicht gesehen worden, eine Rundfrage bei allen Bonner und Kölner Hotels war eine Fehlanzeige, und als schon alle ziemlich ratlos waren, kam ein Gefreiter — man bedenke, ein Gefreiter! — auf die Idee:»Ich schlage Herrn Hauptmann vor, einmal in Rolandseck nachzusehen. Vielleicht ist der Herr Oberleutnant dort.«

Im allgemeinen sind Ideen aus dem Mannschaftskreis von vornherein Mist. Wo käme man hin, wenn ein Rekrut klüger ist als der Kompaniechef?! Die gesamte Dienstmoral geriete ins Wanken.

In diesem besonderen Fall jedoch ließ man sich dazu herab, den Gedanken des Gefreiten aufzugreifen. Der Hauptmann gab den Befehl:»Ein Wagen zur Botschaft Rolandseck!«Und als dieser Wagen wirklich kurz darauf per Sprechfunk meldete, man sehe den Oberleutnant Wolter wartend wie eine Katze vor einem Mauseloch, bekam der Hauptmann ein Lob vom Herrn Oberst. Denn der Weg von der Idee zum Befehl ist der Weg eines Feldherrn. Man muß das wissen, wenn man den Marschallstab im Tornister trägt.

Mit verkniffenem Gesicht sah sich Wolfgang Wolter von vier Kameraden in Zivil umringt, die die Tür seines Wagens öffneten und ihn mit freundlichem Schulterklopfen vom Sitze auf die Straße zo-gen.

«Deine Zwiebel fährt der Jupp nach Hause«, sagte der Kamerad, der Wolter freundschaftlich eingehakt zu dem anderen Wagen führte.»Mensch, Wolfgang, aus dem Alter, Old Shatterhand zu spielen, bist du doch heraus!«

«Ihr verhaftet mich?«fragte Wolfgang leise. Seine Augen waren ausdruckslos.

«Der Oberst hat nur gesagt, wir sollten uns etwas um dich kümmern. Ein kranker Mensch, ohne Pflege, der herumirrt.«

«Leckt mich am Arsch!«sagte Wolter dumpf.

«Später, wenn wir Appetit darauf haben. «Sie drückten Wolter in die Polster, sprangen dann in den Wagen und fuhren ab. Aus dem Rückfenster sah Wolter, daß ihnen ein Wagen folgte, am Steuer Leutnant Josef Lobegans, den sie beim MAD den verhinderten Schwan< nannten.

Die >Entführung< Wolfgang Wolters geschah — ohne daß man es wußte — zum richtigen Zeitpunkt. Eine halbe Stunde später verließ ein dunkler Wagen die sowjetische Botschaft und fuhr den Rhein entlang, über die Kennedy-Brücke und auf der anderen Seite zum Flugplatz Wahn. Hinten im Fond saß zurückgelehnt Jurij Alexan-drowitsch Borokin, bleich, eingefallen, um Jahre gealtert. Abgeschoben nach Rußland, das ihn nicht als schützende Heimat, sondern als anklagende Beleidigte erwartete.

Die sowjetische Botschaft und auch Moskau hatten schnell reagiert, als das AA in Bonn die Ausweisung Borokins verfügte. Es gab keinen üblichen Protest, keine Presse- und Rundfunkkommentare in Rußland, es wurde nicht einmal darüber debattiert. Aus dem Kreml kam der Befehl: Zurück mit Borokin! Und reibungslos, fast gespenstisch still schaffte man Borokin nach Wahn zum Flugzeug.

Nur erfolgte, ebenso still, der Gegenzug in Moskau. Ein Attache der Kulturabteilung der deutschen Botschaft wurde von der sowjetischen Regierung für unerwünscht erklärt und nach Deutschland zurückgeschickt. Das AA nahm es gelassen hin. Attaches gab es genug. Und außerdem war es kindisch, dieses Mann-für-Mann-Spiel.

Ein Nadelstich mehr in dem durchlöcherten Ballon, an dem die Verständigung zwischen Ost und West hing.

Was mit Borokin geschah, wer weiß es? Er kam in Moskau an, und keiner sprach mehr von ihm. Rußland hat fast zweihundert Millionen Einwohner; wenn man sich um jeden kümmern wollte, wo käme man dann hin? Es kann sein, daß er jetzt in Alma Ata lebt, oder am Ladogasee, oder in Irkutsk oder sogar in Smolensk. Auch in Jalta wäre möglich oder — seien wir verwegen — sogar in Tiflis. Es kümmerte keinen. Auf jeden Fall verschwand der Name Jurij Ale-xandrowitsch Borokin aus der Politik, und es kann sein, daß man ihn wiedertrifft als Leiter eines Heimes pensionierter sowjetischer verdienter Offiziere.

Es kann sein.

Kritisch — in Bonn wußte man das zunächst nicht, denn niemand kannte ihn — wurde es, als statt Borokin ein neues Mitglied der sowjetischen Botschaft am Rhein eintraf: Ein gewisser Safon Kusma-jewitsch Jassenskij. Ein schiefnasiger Mensch mit braunen Nikotinfingern, unhöflich und grob, und jeder wunderte sich, daß gerade so ein Individuum die Kulturabteilung übernahm.

Und nun geschah etwas in Bonn, das typisch ist: Der MAD war ratlos. Das Amt für Verfassungsschutz dagegen war von der Harmlosigkeit Jassenskijs überzeugt. Der Bundesnachrichtendienst atmete auf. Daß Borokin durch diesen ungebildeten Menschen ersetzt wurde, schien alles leichter zu machen. Nur im Amt Gehlen bekam man helle Augen — und schwieg.

«Es beginnt interessant zu werden«, sagte der Intimus des Generals, ein Oberst aus dem alten Amt Canaris.»Sieh an, der gute Jas-senskij! Man kann jetzt Überraschungen erwarten.«

Schon am Abend nach den Eintreffen Jassenskijs in Rolandseck wurden die V-Männer informiert und begann die Organisation der Exilrussen in München und Frankfurt zu arbeiten.

Bis in die Botschaft reichten die geheimen Fäden… wie das unterirdische Wurzelwerk einer Pilzknolle war es.

Oberst Jassenskij tat keinen Schritt mehr, den nicht der General in München-Pullach wußte. -Aber er war auch der einzige, der informiert war. -

Es gibt Menschen — und davon eine ganze Menge —, die behaupten, sie liebten die Sahara.

Sie haben auch allerhand Erklärungen für diese Liebe, ebenso wie jemand stundenlang reden und schwärmen kann, wenn man ihn fragt: Warum lieben Sie Sibirien? Dabei ist diese Liebe auf den ersten Blick genauso widersinnig wie die Liebe zur Wüste, denkt man an die unendlich glühenden Sanddünen und den bleiernen, gnadenlosen Himmel hier — oder die eisigen Schneestürme und die ewigen, unerforschten Wälder, in denen Bären, Wölfe und Tiger hausen, dort. Und doch, irgendwie kann man diese seltsamen Menschen auch verstehen, die da von der Lena oder dem Jenisseij schwärmen oder von den Salzseen im Hochland der Schotts oder dem geheimnisvollen Hoggar-Gebirge im Inneren der Sahara oder der Wüstenstadt Tamanrasset, wo die Männer schwarz verschleiert gehen und das Recht der Frauen im Stamme der Tuaregs mehr gilt als das der Männer. Für Afrika fast unvorstellbar.

Am herrlichsten aber ist der Nachthimmel über der Wüste. Ein mit Millionen glitzernder Brillanten bestickter Samt liegt über der ewig Schweigenden, und der Mensch, irgendwo in einem Zelt zwischen zwei Sanddünen, umgeben von seinen Kamelen und ganz in der Hand Gottes, begreift die Unendlichkeit und seine eigene Winzigkeit. Und er beginnt, sein Leben zu lieben, denn er erkennt die Gnade, atmen zu dürfen.

Das ist es, was die Menschen immer wieder ergreift, ob in der Sahara oder irgendwo im Urwald, in der Taiga Sibiriens: Der Himmel und das Grandiose der Natur und die Gegenwart Gottes, ohne die man ein Nichts wäre in dieser Fülle von Schweigen, von urweltli-cher Einsamkeit.

Es zeigte sich, daß Achmed Arbadja richtig handelte, indem er nur nachts fuhr und am Tage sein Zelt um Jeep und Luftmatratzen aufbaute, das Zelt mit Sand bewarf und so zu einem unerkennbaren Hügel werden ließ, denn als am Morgen im Gästehaus die Demoiselle Wolter fehlte, fragte man nicht weiter, wo sie geblieben war, sondern alarmierte die Suchstaffel. Drei Hubschrauber stiegen auf und flogen die Route nach Fort Lallemand ab. Aber da sahen sie nichts. Und die Kamelkarawanen, die sie ausmachten, und vor denen sie landeten, führten zwar Frauen mit sich, aber es waren Ou-led-Nails-Mädchen, junge Weiber aus dem Stamm, der in Nordafrika fast ausschließlich die Dirnen stellt und die — nach einer gründlichen Ausbildung in den Liebeskünsten — mit Karawanen zu den einzelnen Oasen transportiert werden, um den Wüstensöhnen die Einsamkeit zu versüßen. Denn das Weib ist geboren für den Mann, sagt Allah durch den Mund Mohammeds. Eine Lehre, die kein Mann verneinen wird.

«Da haben wir es!«schrie der Subdirektor in Algier, als man ihn anrief und mitteilte, Bettina Wolter sei verschwunden.»Sie wollte in die Wüste! Diese Irre! Aber da sitzen in Marseille so alte Lustknaben, die mit den Ohren wackeln, wenn sie gespannte Blusen sehen! Nun haben wir die Schweinerei! Und die algerische Regierung wird wieder mit uns herummeckern und uns vorwerfen, wir könnten unsere Leute nicht unter Kontrolle halten. Scheiße, meine Herren!«

Die Hubschrauber suchten weiter. Unterdessen schliefen Achmed und Bettina in ihrem getarnten Zelt. Und wenn auch um sie herum die Hitze eines Brutofens herrschte — sie schliefen vor Erschöpfung und vor allem durch ein leichtes Mittel, das Achmed aus einer grünen Knolle gewann und das eine wundervolle Müdigkeit erzeugte. Wie betäubt war Bettina nach ein paar Tropfen dieses Saftes. Sobald dann die Nacht kam, fühlten sie sich wieder munter und erfrischt. Es war, als sei ihr Leben völlig verändert, als sei sie dazu geboren, nur nachts zu leben.

Drei Nächte waren sie unterwegs, über eine Piste, die auf keiner Landkarte stand und die Achmed Arbadja von seiner Tätigkeit als

Rebell her kannte; eine jener Wüstenpisten, über die die Berber in den Rücken der französischen Truppen gelangten und wie höllische Gespenster plötzlich über sie hereinbrachen.

Doch dann bekam Bettina Fieber. Ganz harmlos fing es an, mit einem Druck im Nacken, mit ständigem Gähnen und später mit leichten Schmerzen in den Gliedern. Bettina verschwieg diese Anzeichen. Es ist nichts, sagte sie sich vor. Es ist ein Muskelkater. Die Nerven reagieren jetzt auf das wahnwitzige Abenteuer. Morgen ist alles vorbei. Morgen hat sich der Körper an die anderen Verhältnisse gewöhnt.

Aber dieser Morgen war anders.

Bettina hatte einen glühenden Kopf, die Kehle brannte, ihre Arme und Beine konnte sie kaum bewegen, und der Himmel drehte sich um die Wüste, und die goldenen Sanddünen wurden zu Wolken, die hoch am Firmament dahinzogen wie riesige beladene Schiffe.

Achmed Arbadja hob sie aus dem Jeep und legte sie auf einen Teppich in den Sand. Dann baute er sein Zelt um alles auf, bewarf es wieder mit Sand, und kümmerte sich dann um Bettina, die in einer für sie angenehmen Schwäche schwamm, so leicht wie eine Feder auf einem Bach, und so fühlte sie sich auch, weggetragen im leichten Schaukeln.

Arbadja gab Bettina zu trinken. Aus der Autoapotheke hatte er Tabletten gegen Fieber geholt, widerlich bittere, sicherlich Chinin. Er zwang sie, diese Tabletten zu schlucken, und dann tat er etwas, was Bettina fast um den Verstand brachte. In dicke Wolldecken wickelte er sie ein, so daß sie sich nicht rühren konnte, und so lag sie unter der dünnen Zeltleinwand wie in einem Backofen, ihr Körper löste sich in Schweiß auf, keinen Atem bekam sie mehr, das Herz jagte, und Arbadja saß neben ihrem Kopf und überschüttete ihn mit Wasser, wenn sie glaubte, nun müsse er endgültig auseinanderspringen.

«Luft!«röchelte sie einmal.»Achmed, du bringst mich um! Nimm die Decken weg. die Decken. ich zerplatze!«

«Wir treiben das Fieber hinaus, Mademoiselle«, sagte Achmed ganz ruhig.»Haben Sie keine Angst. Sagten Sie nicht, Sie hätten keine Angst vor mir?«

«So ist es, Achmed.«

Bettina schloß die Augen. Ganz ruhig wurde sie auf einmal, der Druck fiel von ihr ab, die Hitze spürte sie nicht mehr, der Hals brannte nicht, und der Kopf zersprang nicht.

Sie wurde besinnungslos und glitt in das Vergessen mit dem Gedanken: Nun wird es besser… ich habe keine Angst vor Achmed Arbadja.

Zwei Tage und Nächte saß Arbadja neben Bettina, kühlte ihre Stirn, flößte Wasser zwischen die verkrampften Lippen, rieb ihre Brust mit Öl ein und wickelte sie wieder in die höllischen Decken. Zwei Tage und Nächte war Bettina ohne Besinnung und phantasierte. Sie glühte und war eiskalt, und der Wechsel wurde immer schneller und die Miene Achmeds immer ernster. Dann, in der dritten Nacht, lag sie ruhig und atmete nicht mehr stoßweise, sondern langgezogen und tief. Aus der Ohnmacht war richtiger Schlaf geworden… der Schlaf der zur Gesundheit führte.

Mit glänzenden Augen stand Achmed Arbadja auf und trat hinaus in die kalte Wüstennacht. Nach Osten wandte er sich, dort wo Mekka lag, und kniete sich in den pulverfeinen Sand. Dann beugte er den Kopf weit vor und legte ihn auf seine in den Sand gedrückten Hände.

«Allah sei Dank!«sagte er laut.»Ich war ein kleingläubiger Mensch. Du läßt sie weiterleben.«

Und dann schlief auch er, eng an Bettina gepreßt, wie ein Hund, der sich mit Anhänglichkeit bei den Menschen bedankt für ein Streicheln, ein liebes Wort oder eine Scheibe Wurst.

Drei Bohrtürme, sieben Baracken, eine Energiestation, ein Magazin und vier Garagenhallen — das ist die Bohrstelle VI südlich der winzigen Oase Ain Taiba.

Hier leben siebenundvierzig Männer, und sie kommen sich vor wie siebenundvierzig Verdammte.

Jeden Tag landen Transportflugzeuge auf dem gewalzten Sandsteifen hinter den Bohrtürmen. Zweimal wöchentlich kommt eine Lastwagenkolonne von Ouargla herunter, der nächsten größeren Wüstenstadt, wo sich auch die Büros, die Magazine und vor allem die Mädchen befinden, die monatlich einmal für zwei Tage Pause von Staub und Hitze besucht werden dürfen. Hier gibt es Bars und Bistros, von denen die siebenundvierzig Männer in der glühenden Einsamkeit träumen, und jeder hat einen Kalender im Spind hängen, auf dem er die Tage abstreicht… noch vierzehn Tage bis zu Jeannes weichen Armen. noch zehn Tage, noch neun, noch fünf Tage, und dann hat man ein Bett und einen weißen Körper neben sich und pfeift auf die Wüste, den Ölgestank, das schal schmeckende Wasser und auch auf die guten, harten Francs, denn man wird gut bezahlt für die Kraft und den Mut, mitten in einem Sandmeer zu leben und sich mit Sandflöhen und Skorpionen zu unterhalten.

Dimitri hatte sich schnell in die Gemeinschaft der rauhen Burschen von Ain Taiba eingelebt. Man nannte ihn schlicht Iwan, dem Sammelbegriff für Russen, und Dimitri ließ es über sich ergehen. Ihm war alles Äußere gleichgültig, auch daß man ihn als ausgebildeten Ingenieur zunächst in den Maschinensaal — wie man die glutheiße Baracke mit den Elektromotoren nannte — steckte, wo er stundenlang nur eine Schalttafel bewachte, die Lager ölte, dauernd Kurzschlüsse zu beheben hatte, weil das Stromnetz überlastet war; eine sture Arbeit, vor der sich jeder andere drückte. Dimitri war es recht so. Hier hatte er Zeit, an Bettina zu denken und an sein schönes Leben, das in Tiflis geblieben war.

Drei Tage nach seiner Ankunft in Ain Taiba kam einer der leitenden Ingenieure zu ihm — mit einem Hubschrauber war er extra wegen Dimitri von Ouargla gekommen — und bestellte ihn in die Vorarbeiterbaracke.

«Es wird Schwierigkeiten geben, Sotowskij«, sagte er ohne lange Einleitung.»Ihre Braut ist in der Wüste verschwunden.«

«Wer?«fragte Dimitri. Er begriff nicht, was der Oberingenieur von ihm wollte. Er hatte keine Braut in Afrika.

«Sie wissen nicht, daß Ihre Braut in Algerien ist?«fragte der Mann aus Ouargla verblüfft.

«Ich habe keine Braut«, sagte Dimitri.»Sie verwechseln mich, Monsieur.«

«Unmöglich!«Der Oberingenieur sah Dimitri irritiert an.»Aus Bone kam die Meldung, daß Ihre Braut, Bettina.«

«Wanduscha!«schrie Dimitri auf. Er schnellte hoch und warf die Arme in die Luft.»Wanduscha ist hier?«Sein Gesicht glänzte, fast wäre er durch das Zimmer getanzt wie ein Tscherkesse.»Brüderchen Oberingenieur, sie ist mir nachgefahren? Sie hält zu mir! Wo ist sie? Wo? Sag schnell, wo ich meine Wanduscha finden kann!«

«Es scheint wirklich ein Irrtum zu sein«, sagte der Oberingenieur und wischte sich über die Augen.»Nicht Wanduscha — Bettina heißt das gesuchte Mädchen.«

«Sie ist es! Sie ist es!«jubelte Dimitri. Er riß den verblüfften Oberingenieur an sich, küßte ihn auf beide Wangen und drehte ihn um sich selbst, als sei er ein großer Kreisel.»Wo ist sie?«schrie Dimitri dabei.»Brüderchen, wo ist sie denn? Ich fahre ihr entgegen.«

«Einen Dreck werden Sie!«sagte der Oberingenieur grob. Er flüchtete aus dem Griffbereich Dimitris und wischte sich den perlenden Schweiß aus dem Gesicht.»Ihre Wanduscha, oder wie das Weibsstück heißt, beschäftigt schon die algerischen Behörden. Allein ist sie in die Wüste, anscheinend, um nach Ain Taiba zu kommen.«

«Ein mutiges Weibchen, ein tapferes Weibchen. sie war es immer«, sagte Dimitri glücklich.

«Ein idiotisches Weibchen!«schrie der Oberingenieur aus Ouar-gla.»Allein durch die Wüste! Das macht nicht einmal ein Irrer! Und wir haben die dicken Köpfe! Himmel und Hölle noch mal, wir haben hier einen knallharten Job, für den es ebenso harte Francs gibt, wir schlafen nicht auf Rosen, sondern auf Pritschen, und als Sie sich bei uns meldeten, wußten Sie, was Sie hier erwartet! Hier ist eine Bohrstelle nach Öl, aber kein Privatpuff!«

Dimitri sah den schreienden Oberingenieur stumm und wehmütig an. Meine Wanduscha, dache er. Kommt durch die Wüste zu mir, und er nennt sie eine Hure. Oh, was sind dies nur für Menschen? Haben sie kein Herz mehr? Verstehen sie nicht mehr, was die Liebe alles vermag? Daß es weder Grenzen noch Völker noch nackte Vernunft gibt, wenn man liebt? Ist er eine Maschine, die Geld produziert?

Und dann tat er etwas, was er in Rußland getan hätte, wenn ein Genosse seine Wanduscha eine Hure genannt hätte: Er trat einen Schritt vor und gab dem Oberingenieur eine schallende Ohrfeige.

An diesem Tage wurde Dimitri von neunzehn Arbeitern der Bohr-stelle VI von Ain Taiba zusammengeschlagen. Er ahnte es vorher, als der Oberingenieur nach dieser Ohrfeige stumm die Baracke verließ und der Vorarbeiter nach einer halben Stunde ins Zimmer kam, mit dem Daumen zur Tür zeigte und sagte:»Komm mal raus, Iwan, aber schnell!«

Und Dimitri trat vor die Tür und sah vor sich eine Gasse von halbnackten, muskelstarken Männern, die ihn mit ausdrucklosen Gesichtern anstarrten und die Hände zu Fäusten ballten.

«Lauf, Iwan!«sagte der Vorarbeiter hinter ihm dumpf und gab ihm einen Stoß in die Nieren.»Bei uns benimmt man sich nicht wie in Sibirien. «Dimitri wollte etwas erklären. Sibirien, wollte er sagen. Was habt ihr bloß alle gegen dieses herrliche Land? Wie benimmt man sich denn da, he? Friedliche Menschen sind's. Menschen wie wir. Und Freunde hat man in der Taiga, Freunde bis an den Tod! Aber er schwieg. Sinnlos war's, jetzt noch zu reden. Er sah in die harten Augen der Männergasse, er fühlte einen neuen Stoß in seinem Rücken, und er sah den Oberingenieur an einem Auto stehen und das Strafgericht beobachten.

Da ging er… ja, er ging, ganz langsam, nicht wie man erwartet hatte, daß er renne wie um sein Leben… die Hände auf dem Rücken, den Kopf weit in den Nacken, schritt er durch die Gasse der halbnackten schwitzenden Männerleiber, und die harten Fäuste hatten plötzlich keine Kraft mehr, nicht die, die man gern hineinlegen wollte, denn so einen Menschen hatte man noch nicht gesehen, auch nicht in der Wüste, der durch eine schlagende Gasse ging und die Hiebe hinnahm wie ein Streicheln.

Am Ende des Weges fiel Dimitri in den Sand, mit dem Gesicht zuerst, ebenso stumm, wie er seinen Weg gegangen war. Man ließ ihn liegen, nur der Vorarbeiter schüttete einen Eimer Wasser über ihn, das aber verdunstete, bevor Dimitri aus seiner Ohnmacht erwachte.

Er kroch in seine Baracke und legte sich auf sein Bett, aber in der Nacht schlich er sich wieder hinaus, kletterte auf das Dach der Garage und hockte sich hier auf das Wellblech, sah hinaus in die jetzt kalte, unter den Sternen herrliche Wüste und wartete auf Bettina.

Am nächsten Tag kümmerte sich keiner um ihn. Seinen Arbeitsplatz hatte ein Türke eingenommen. Er bekam von der Küche kein Essen mehr. Er war wie Luft, man sah durch ihn hindurch und rannte ihn um, wenn er jemandem im Wege stand. Ain Taiba hatte ihn ausgestoßen. Er war vogelfrei.

Dimitri kümmerte es nicht. Er hatte noch etwas zu essen, ein paar Büchsen, die er kalt hinunterschlang, denn ein offenes Feuer war verboten. Man hätte ihn erschlagen, wenn er es getan hätte. In der Nacht aber saß er wieder auf dem Garagendach und starrte in die Wüste.

Und dann, in der dritten Nacht, sah er weit hinten über den Sanddünen eine kleine Staubwolke gegen den Nachthimmel steigen, aus einer Richtung, die genau entgegengesetzt der Route nach Fort Lal-lemand war. Eine Staubwolke, die größer und größer wurde, als schabe jemand durch den Sand und werfe ihn dann gegen den Himmel.

Wanduscha. dachte Dimitri und kroch an den Rand des großen Wellblechdaches. Ist sie es? Und dann richtete er sich auf, stand auf dem Dach und winkte mit beiden Armen, und der Mond schien auf ihn und hob ihn gegen den Nachthimmel ab, und die Staubwolke kam näher, und es sah aus, als hüpfe ein großer schwarzer Floh durch die Wüste.

Dimitri kletterte von dem Dach und rannte um den letzten Bohrturm herum. Eine Sanddüne versperrte ihm den Blick, aber er hörte schon das Brummen des Motors.

«Wanduscha!«schrie er.»Wanduscha!«Und dann lief er durch den knietiefen Sand, stolpernd und ächzend wie ein Verdurstender, mit ausgebreiteten Armen und wie im Fieber glänzenden Augen, und ganz sicher war er sich, daß dort aus dieser Staubwolke Bettina auftauchen und daß sein Leben wieder schön werden würde.

Aus den Sanddünen tanzte der kleine graue, mit gelbem Sand bestäubte Wagen. Die Staubwolke, die ihn einhüllte, verhinderte jede Sicht, aber Dimitri taumelte mit flatternden Armen weiter, und seine Schreie» Wanduscha! Wanduscha!«prallten nach kurzer Zeit gegen eine Sandwand, die ihn einhüllte, ihm den Atem nahm, seine Mundhöhle mit Tausenden kleinen, harten Körnern füllte und ihn umwarf. Er kniete im Sand, mit erhobenen Armen, als bete er die Sterne an, die im Staubnebel versunken waren.

«Himmel! Wer ist denn dieser Idiot?«schrie eine Stimme auf französisch. Der Jeep bremste einen Meter vor dem knienden, vom wirbelnden Sand blinden Dimitri, und die Wolke sank in sich zusammen und überfiel den ächzenden Menschen wie ein Wasserguß.»Den hätte ich bald überfahren!«schrie die Stimme wieder.»Was läuft so ein Vollidiot auch in der Nacht herum! He! Aufstehen! Wohl besoffen, was?«

Dimitri Sotowskij öffnete langsam die sandverklebten Augen. Seine Kehle war ausgedörrt, sein Körper schien wasserlos, wie eine verdorrte Tamariske war er, ein toter Baum in der Wüste.

«Wanduscha…«, stammelte er und starrte um sich, als erkenne er seine Umwelt nicht mehr.

«Was sagt das betrunkene Schwein?«rief die Stimme wieder.»Mann, steh auf!«

Aus dem Jeep kletterten vier Männer in Uniform. Ein Offizier war dabei, der nun zu Dimitri ging und ihn aus dem Sand hochriß. Wie einen nassen Hund schleifte er ihn zum Jeep und lehnte ihn dagegen.

Dimitri sah um sich. Vier Männer. Uniformen. Soldaten. Er begriff es zunächst nicht.»Wo ist Wanduscha?«fragte er. Während er sprach, spuckte er Sand aus. Seine Augen wurden rot; der Staub brannte wie Pfeffer.»Habt ihr sie nicht mitgebracht?«

«Aha! Das ist ja der Russe!«Der junge Leutnant betrachtete Dimitri mit Interesse. Er war aus Fort Lallemand abkommandiert worden, Patrouille bis zur Oase Ain Taiba zu fahren und alle Fahrzeuge auf der Route zu kontrollieren.

Aus Bone war die verrückte Meldung gekommen, daß ein Mädchen allein quer durch die Wüste fahren würde, um aus Ain Taiba ihren Bräutigam, einen russischen Ingenieur, wegzuholen. Zuerst hatte man in Fort Lallemand darüber gelacht und Witze darüber gerissen, aber als es hieß, daß der Wagen des Mädchens nirgendwo zu sehen sei und alle Hubschrauber ohne Ergebnis zurückkamen, wurde es ernst, und von allen Militärstationen wurden Patrouillen ausgeschickt, die Wüste rund um Ain Taiba zu überwachen.

«Ihretwegen haben wir vielleicht einen Zirkus hier!«sagte der junge Leutnant zu Dimitri. Ein Soldat hatte ihm zu trinken gegeben, und nun lehnte Dimitri am Wagen und verfiel sichtlich in Hoffnungslosigkeit.

«Wo ist Wanduscha?«fragte er und starrte auf die Sanddünen. Der Himmel war wieder klar, die Sterne glitzerten wie auf blauschwarzen Samt gestickt. Und es war wieder kalt.

«Wenn wir das wüßten, lägen wir jetzt im Bett. «Der junge Leutnant steckte sich eine Zigarette an und bot seine Packung Dimitri an. Dieser schüttelte den Kopf.»Seit ein paar Tagen ist sie verschwunden.«

«Verschwunden?«stammelte Dimitri mit hohlen Augen.

«Genau gesagt: Wir haben sie nie gesehen. Sie ist aus Bone weg. Womit, ob allein oder mit Führer, in welche Richtung, das alles wissen wir nicht. Sicher ist nur, daß sie nach Ain Taiba will.«

«Zu mir«, sagte Dimitri dumpf.»Freunde, zu mir!«

«Über die normalen Routen ist sie nicht gefahren, das ist auch sicher. Sie muß also einen der Karawanenwege der Nomaden gefahren oder geritten sein, und das ist absoluter Wahnsinn.«

«Wir müssen sie suchen!«schrie Dimitri. Erst jetzt kam ihm voll zum Bewußtsein, in welcher Gefahr sich Bettina befand.»Brüder, wir müssen sie suchen! Sie verdurstet! Der Sand weht sie zu! Die Sonne dörrt sie aus! Freunde, sucht sie!«

«Was meinst du, was wir seit Tagen tun?«Der junge Leutnant spuckte in den Sand, warf die Zigarette weg und zertrat sie mit den Stiefelspitzen.»Sag mal, Russki, was hast du dir da bloß für ein Weibsstück angelacht? Das muß ja eine Furie sein.«

«Ein Engel ist's, Freunde. Ein wahrer Engel«, sagte Dimitri leise.»Wenn ich wüßte, wo sie jetzt ist, ich liefe ihr zu Fuß entgegen.«

Der Leutnant wandte sich ab, stieg in den Jeep und winkte den anderen Soldaten.»Der ist genauso blöd. Muß in der Familie liegen. Los, Jungens, weiter! Zurück nach Hassi el Gassi! Von dort muß sie kommen. Wenn sie in den Erg geraten ist, sehen wir sie sowieso nie wieder. Aber das sag ich dir, Russki«, der Leutnant beugte sich zu Dimitri vor, der starr hinaus in die Wüste sah,»wenn wir deine Mamuschka oder wie du sie nennst, in die Finger bekommen, hauen wir ihr erst den süßen kleinen Hintern voll. Sie hat's verdient.«

Dimitri schwieg. Er sah dem ratternden, tanzenden kleinen Jeep nach, der wieder zur Straße wendete und neue Staubwolken über ihn schüttete. Wieder füllte sich sein Mund mit Sand, jeder Atemzug knirschte, und als die Wolke sich verzogen hatte, war er wieder allein zwischen den Sanddünen, unter dem kalten nächtlichen Wüstenhimmel, und er kam sich so einsam vor wie nie zuvor.

Wanduscha, dachte er. Wenn ich dir helfen könnte, wenn ich dir wirklich entgegenlaufen könnte… mein Fehler war's, einfach wegzugehen. Meine wilde grusinische Art hatte ich nicht in der Gewalt, und nun mußt du büßen für mich. O Wanduscha, ich bin ein Lump gewesen!

Und dann stand er im Sand zwischen den Dünen, ein langer, dürrer Schatten, und schluchzte. Und er hatte unsagbares Heimweh nach Tiflis und den Weinhängen rund um die Stadt. Heimweh nach den blühenden Aprikosenbäumen und den wilden Kirschen. Heimweh nach Rußland… es ist stets das größte Gefühl eines Russen in der

Fremde. -

Bis heute weiß keiner, welchen Weg Achmed Arbadja gefahren war. Er selbst schwieg darüber, Bettina konnte es nicht erklären. Für sie sah die Wüste in allen Himmelsrichtungen gleich aus. Sand, Himmel, flimmernde Hitze, Staubwolken, das Gefühl unendlicher Verlassenheit. Nur ein Mensch wie Arbadja hatte Namen für Sandhügel, die keinem anderen auffallen. Nur für ihn war ein gebleichtes Kamelgerippe, ein ausgetrocknetes Wadi, ein unbekannter Salzsee, von Wanderdünen zugewehte Bäume und Büsche ein Zeichen am Wege. Wie das Innere seiner Tasche kannte er die Sahara.

Dimitri lag auf seinem Bett und schlief, als Arbadja und Bettina in Ain Taiba eintrafen. Nicht von Fort Lallemand, wie alle vermuteten, sondern von Süden her, aus dem Erg heraus, von der geheimnisvollen Karawanenstraße, die von Ghadames bis nach In Sa-lah führt und die noch kein Europäer entdeckt, geschweige denn entlanggezogen war.

Plötzlich waren sie da, spukhaft aus den Dünen auftauchend, fast lautlos umfuhren sie die drei Bohrtürme, die wie Skelettfinger in den Nachthimmel ragten, und hielten vor der großen Verwaltungsbaracke. Die Nachtwache, in einem Wachhäuschen neben dem Maschinenhaus, schlief. Es war gegen drei Uhr morgens. Was sollte hier schon passieren? Die Zeit der Rebellenüberfälle war vorbei. Niemand zerstörte mehr die Pipeline oder steckte die Bohrtürme in Brand, denn auch Algerien verdiente gut an den Erdöl- und Erdgasvorkommen, die französische Geologen entdeckt und erschlossen hatten. Wozu also noch die dumme Wache?

Der leitende Ingenieur von Ain Taiba staunte nicht schlecht, als man an seine Tür klopfte. Er sah auf die Uhr, fluchte und sprang aus dem Bett. Als er die Tür aufriß und auf dem Flur ein staubbedecktes Mädchen mit einem grinsenden Araber stehen sah, fragte er nicht lange, wer das sein könnte. Er seufzte tief auf, schüttelte

den Kopf, trat zur Seite und zeigte ins Zimmer.»Treten Sie ein, Mademoiselle«, sagte er nicht gerade ausgesprochen freundlich.»Seit Tagen erwarten wir Sie. Entschuldigen Sie meine Aufmachung, aber ich bin auf nächtliche Besuche nicht eingerichtet. «Er war einen Bademantel über seinen Schlafanzug, machte Licht und betrachtete Bettina, die zögernd ins Zimmer kam. Eingefallen und elend sah sie aus, mit tiefliegenden Augen und unendlich müde. Arbadja, der ihr folgte, zeigte keinerlei Ermüdungserscheinungen. Nur machte er den Eindruck, als sei er in einen Mehltrog gefallen, so mit Staub überzogen war er.

«Sind Sie krank?«fragte der Ingenieur und holte aus einem Eisschrank Wein und Mineralwasser.

«Ich habe gerade mit knapper Not ein Fieber überstanden. «Bettina setzte sich an den Tisch, der vor dem Fenster stand. Nun, da sie am Ziel war, verließen sie alle Kräfte. Sie kam sich vor wie hundert Jahre alt, gebrechlich und von einer unstillbaren Sehnsucht nach ewiger Ruhe.

«Trinken Sie. «Der Ingenieur hielt ihr ein großes Glas mit kaltem Wasser vermischten Weins vor den Mund. Dann sah er sich um zu Achmed Arbadja und musterte ihn mit einer gewissen Hochachtung.»Ihr seid durch den Erg gekommen?«

«Ja!«antwortete Arbadja kurz.

«Das war doch Selbstmord!«

«Für einen Europäer«, sagte Arbadja stolz.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis Bettina sich soweit erholt hatte, daß sie klarer denken und handeln konnte.»Ich werde Sotowskij holen«, sagte der Ingenieur.»Nein, bleiben Sie sitzen, Mademoiselle, ich hole ihn allein.«

Das hatte seinen guten Grund. Die Gemeinschaft von Ain Taiba hatte Dimitri nach der Prügelszene formell ausgestoßen. Man warf sein Bettgestell aus der Baracke, und er schleppte es in den alten, baufälligen, nicht mehr gebrauchten Materialschuppen, der noch aus den Anfängen der Bohrtätigkeit übriggeblieben war, und zwischen alten Maschinenteilen, verrosteten Eisenträgern und abge-

schabten Bohrköpfen, zwischen Kisten und Säcken, in denen sich Skorpione und Sandvipern eingenistet hatten, schlief Dimitri, hauste wie ein Einsiedler, mußte von seinem ersparten Geld sich das Essen kaufen — aber erst dann, wenn die anderen des Trupps schon gegessen hatten, und meist war es nur ein halber Teller, der übrigblieb, und niemand kümmerte sich um den verrückten Iwan, der sibirische Manieren einführen wollte, wie der Vorarbeiter gebrüllt hatte.

Dimitri schrak hoch, als ihn jemand an den Schultern rüttelte.»Aufstehen!«schrie ihm eine Stimme ins Ohr.»Besuch aus Deutschland.«

«Wanduscha!«schrie Dimitri hell. Mit einem Satz war er aus dem Bett, stieß den Ingenieur zur Seite, rannte hinaus, sah den Jeep vor der Verwaltungsbaracke stehen, und dann wiederholte sich die nächtliche Szene von drei Tagen vorher, er warf die Arme hoch und brüllte in die Nachtstille hinein und stolperte durch den Sand, und Ar-badja ließ ihn vorbeilaufen und ging ihm aus dem Weg, als er ihm im Flur begegnete.»Wanduscha!«stöhnte Dimitri, als er die Tür aufriß.»Ich habe gebetet. zum erstenmal im Leben habe ich gebetet. und du bist da! Du bist da! O mein Gott!«

Vor dem Haus hielt Arbadja den Ingenieur fest, der Dimitri folgen wollte.»Laß sie jetzt allein, Herr«, sagte er.»Das Glück der Liebenden ist ein Geschenk Allahs und gehört nur ihnen allein.«

«Ihr habt für alles einen Spruch«, meinte der Ingenieur und lächelte sauer.»Aber ich will nur in die Telefonzentrale. Erlaubt das mein Wüstenfuchs?«

Achmed Arbadja zog die Lippen hoch. Sein weißes Gebiß leuchtete aus dem staubigen Gesicht. Er gab keine Antwort, aber er ließ den Ingenieur los. Stolze Teufel sind sie alle, diese Weißen, dachte er. Aber was hilft's? Man muß mit ihnen leben.

In Bone fluchte der Direktor nicht minder kräftig wie sein Ingenieur in der Sahara, als ihn das Telefon aus dem schönsten Morgenschlaf schreckte. Neben ihm lag eine dunkelhaarige Schöne, die trotz des Klingelns weiterschlief.

«Was ist?«schrie der Direktor ungnädig.»Ain Taiba? Himmel noch mal, was soll das? Brennt ihr ab? Das wäre der einzige Grund, mich aus dem Schlaf zu holen.«

Aber es zeigte sich, daß es auch noch einen anderen Grund gab. Mit immer größerer Verblüffung hörte er sich den Bericht aus der Wüste an und schabte sich dabei mit den Fingernägeln über die Brust.

«Das hat es noch nicht gegeben!«sagte er ehrlich, als der Ingenieur in Ain Taiba schwieg.»Wie sieht das Weib denn aus?«

Direktor Paul Servante war einen Tag später aus dem Urlaub gekommen, nachdem Bettina aus Bone verschwunden war. Er hatte auf seinem Schreibtisch nur die Berichte vorgefunden und Bettina eine >hysterische Ziege< genannt. Zu Hause in Lyon hatte er eine liebende Gattin und drei Kinder, womit erklärt ist, daß die schwarzhaarige Schönheit in seinem Bett lediglich zur Wüstenverpflegung gehörte.

«Hübsch ist sie auch noch?«rief Direktor Servante verblüfft.»Was man nicht alles erlebt! Natürlich, ich spreche heute morgen gleich mit Marseille. Wenn dieser Dimitri nach Hause will.«

«Er hat einen Dreijahresvertrag unterschrieben«, sagte der Ingenieur in Ain Taiba.»Aber, ehrlich, wir sind froh, wenn er wieder geht. Er mag ein hervorragender Fachmann sein, aber für die Wüste ist er nichts. Wenn es möglich ist, lassen Sie ihn ziehen. Annullieren Sie den Vertrag.«

Die Antwort aus Marseille kam schnell, und Direktor Servante in Bone freute sich darüber. Der Vertrag war ungültig, wenn Dimitri das Handgeld zurückzahlte, das er bekommen hatte.

«Ich zahle jede Summe, wenn Dimitri zurück kann nach Deutschland«, sagte Bettina in Ain Taiba, als der Ingenieur die Nachricht überbrachte.

«Wir sind ja keine Raubtiere«, antwortete der Ingenieur mit einem Anflug von Galanterie.»Und gerade wir Franzosen haben das größte Verständnis für die Liebe.«

Es war lustig anzusehen, wie Bettina darauf rot wurde und zu Boden sah wie ein kleines, verliebtes Mädchen, und Dimitri umarm-te den Ingenieur, was dieser gar nicht gern hatte, auf jeden Fall nicht von Dimitri.

Von nun an ging es sehr schnell. Mit einem Lastwagen fuhren sie nach Fort Lallemand, und weder Bettina noch Dimitri blickten zurück, als sie Ain Taiba verlassen hatten und die einsamen Bohrtürme zwischen Wüste und glutendem Himmel wegschwammen. Sie wollten nicht zurücksehen. Einem Irrtum trauert man nicht nach. Was Ain Taiba aber für Dimitri bedeutet hatte, das sagte er keinem, weder Bettina noch seinem Ziehvater Kolka. Nie mehr sprach er über die kleine Oase. Nur zwei Narben an seinem Körper erinnerten ihn stumm an jenen Tag, an dem er durch die Gasse der Schlagenden gegangen war, hocherhobenen Hauptes wie ein Bär, der aufrecht stirbt, weil er der König Grusiniens ist.

Hinter dem Lastwagen hüpfte der Jeep mit Achmed Arbadja am Steuer. Auch er hatte einen Triumph im Herzen. Nicht das verdiente Geld machte ihn fröhlich, sondern der Sieg über die Weißen. Er hatte Ain Taiba erreicht trotz Patrouillen, Hubschrauber und Bewachung. Er hatte die Wüste bezwungen, und Allah war sichtbar bei ihm gewesen.

Welcher Mann kann da nicht stolz sein?

Zwei Tage später landeten Dimitri und Bettina in Düsseldorf und verließen Hand in Hand das Flugzeug.

Unten, an der Gangway, stand Karl Wolter, und er benahm sich wieder wie der alte Kolka Iwanowitsch Kabanow. Er winkte und rief und schrie auf russisch:»Willkommen, mein Söhnchen! Willkommen!«Aber er kam ihm nicht entgegen, sondern blieb stehen.

Dagegen trat ein großer, schlanker, blonder Mann in der Uniform eines Bundeswehr-Oberleutnants an Dimitri heran und streckte ihm beide Hände entgegen. Und er schämte sich auch nicht, als Bettina sich von Dimitri löste und ihm weinend um den Hals fiel.

«Ich freue mich, Dimitri«, sagte Wolfgang Wolter mit fester Stimme,»daß du zurückgekommen bist. Laß uns Freunde sein.«

«Das wollen wir«, sagte Dimitri.»Die Welt ist so leer, wenn man keine Freunde hat. Ich habe es gesehen.«

Und dann erst trat Karl Wolter heran, umarmte Dimitri und küßte ihn nach alter russischer Sitte dreimal auf jede Wange.»Christus sei mit dir!«sagte er wie ein alter Bauer.

Und Dimitri antwortete ergriffen:»Er sei auch mit dir, Väterchen. «Die Flucht war zu Ende, das spürte er jetzt. Endgültig war sie nun vorbei. Er war wieder zu Hause.

Denn die Heimat — Mütterchen Rußland — lebt in uns, Freunde. Es ist ganz unmöglich, von ihr wegzulaufen.

Ein Mensch wie Oberst Safon Kusmajewitsch Jassenskij kann einem den Glauben verleiden, der Mensch stammte aus der formenden Hand Gottes. Man kann höchstens annehmen, daß Gott, als er das Geschlecht der Jassenskijs schuf, denkbar schlechter Laune war.

In der sowjetischen Botschaft hatte man noch nie solche Ausdrücke gehört, wie sie Jassenskij durch die Räume schrie, als man ihm meldete, daß Dimitri wohlbehalten zurück sei und man im MAD ziemlich spöttisch über die sowjetische Spionage in Deutschland sprach, die im Falle Wolter mehr als einen Tritt in den Hintern bekommen hatte.

«Schluß damit!«schrie Jassenskij wie ein Paralytiker.»Schluß! Schluß! Es muß etwas geschehen! Ein Exempel muß statuiert werden! Jawohl, ein Exempel! Und ich will in lauwarmer Eulenscheiße ersticken, wenn es diesmal ein Mißerfolg wird!«

Das war gut gebrüllt, aber es war auch ein unerfüllbarer Wunsch — denn wo bekam man soviel Eulen her, um Jassenskijs letzten Willen zu erfüllen? Das stille Lächeln seiner Umgebung aber verflog, als Jassenskij wirklich aktiv wurde und auf die Methoden der alten, seligen GRU zurückgriff.

«Genossen!«sagte er zu seinem kleinen Stab, sah zum Fenster und blickte über den Rhein hinüber nach Bad Honnef.»Oberleutnant Wolter befindet sich auf einer Dienstfahrt entlang der Grenze der DDR. Er wird dabei auch einen Streifen berühren, der nicht vermint ist, was keiner im Westen weiß. Es ist der sogenannte Sickergraben, über den wir unsere Agenten einschleusen. Ich bin der Ansicht: Wenn jemand von Osten nach Westen kann, kann man auch von Westen nach Osten. Verstehen wir uns, Genossen?«

Die um Jassenskij Stehenden nickten. Wer verstand das nicht? Nur war es ein Rückschritt, einen Menschen zu entführen, und dann noch auf so plumpe Art, wie es Jassenskij plante.

Der Oberst schien die Gedanken zu erraten. Er lächelte böse, als er sich wieder der Karte der Grenzgebiete zwischen Hünfeld und Coburg zuwandte.

«Natürlich ist es altmodisch«, sagte er.»Aber wir essen unseren Kascha auch schon seit tausend Jahren, und er schmeckt noch immer.«

Man wundert sich immer wieder, wie leicht es ist, ein Verbrechen auszuführen, wenn man keinerlei Hemmungen hat und die Sicherheit der Menschen ausnutzt, in der sie sich wiegen. In dieser Hinsicht war Oberst Jassenskij eine Art Naturtalent, was er bei der Entwicklung eines Plans bewies, über den seine Untergebenen staunten, als habe man ihnen einen Blick in einen Mondkrater gewährt.

«Es ist so einfach, Genossen«, bemerkte Jassenskij völlig richtig.»Man muß nur am richtigen Tage an der richtigen Stelle das Richtige tun. Oberleutnant Wolter fährt also, wie gesagt, seit gestern entlang der Grenze. In Hünfeld hat er begonnen. Sehen Sie, hier ist die wunde Stelle. «Jassenskij legte seinen tabakgebeizten Zeigefinger auf einen Punkt der Karte. Es war ein dichtes Waldgebiet, das auf westdeutscher Seite so belassen worden war, während auf Seiten der Ostzone ein Kahlschlag von hundert Metern Breite als Schußfeld gerodet war. An den Stacheldrahtzäunen hingen in Abständen von fünfzig Metern Schilder: Achtung! Lebensgefahr! Minen! Aber diese Schilder waren nur eine Tarnung. Gerade in diesem Todesstreifen lag nicht eine einzige Mine. Auch waren die Pfähle des Stacheldrahtes nicht fest in den Boden gerammt, sondern steckten in unsichtbaren Buchsen, so daß man den Zaun einfach herausheben konnte und gefahrlos hinüberkam auf westdeutsches Gebiet. An dieser Stel-le waren bisher neunundvierzig Agenten mit sowjetischem Propagandamaterial über die Grenze gekommen. Männer und Frauen, bepackt mit Flugblättern, Broschüren, Aufrufen, Falschgeld und insbesondere Magazinen für die jungen Bundeswehrsoldaten.

Jassenskij tippte mit dem braunen Finger immer wieder auf diese Stelle der Karte.»Wir wissen, daß Wolter die Grenze nachts inspiziert, um einen günstigen Ort für die Aufstellung eines der fahrbaren Propagandasender zu suchen. Er fährt mit zwei Feldwebeln als Begleitung in einem grünen Volkswagen. Am Freitag wird er hier eintreffen. Es ist eine Lappalie, ihn im Wald aus dem Wagen zu holen und hinüber in die DDR zu schaffen. Er wird einfach verschwunden sein, und man wird sich die Köpfe darüber zerbrechen, am Zaun stehen, hinüber auf das Minenfeld starren und nicht verstehen können, was hier passiert ist. «Jassenskij sah seine Mitarbeiter mit dem Ausdruck unterdrückten Stolzes an.»Sagte ich nicht, es ist so einfach wie Kascha essen? Noch Fragen, Genossen?«

Man hatte keine Fragen mehr. Es war wirklich alles so klar, wie weiß einfach weiß ist und nicht rot.

«Dann an die Arbeit!«sagte Jassenskij fröhlich.»Kleine Nadelstiche in den Bauch sind wirksamer als grobe Ohrfeigen. Und Wolter wird ein besonders gut sitzender Stich sein.«

Es lief alles wie ein Uhrwerk ab.

Mit einem unauffälligen Privatwagen fuhr Jassenskij über die Autobahn und betrat bei Herleshausen das Gebiet der Zone. Dort wurde er von zwei sowjetischen Majoren mit großer Ehrfurcht begrüßt, denn Jassenskij flog der Ruf voraus, ein Abkömmling vom Schwanzhaar des Satans zu sein. Ohne Aufenthalte, nur eine Tasse Tee trank er, fuhr er weiter nach Meiningen und kehrte von dort an die Grenze zurück, an den hundert Meter breiten Todesstreifen, der hier nur eine Attrappe war. In einem Bauernhaus, das man beschlagnahmt hatte und in dem der Abschnittskommandant der Grenztruppe wohnte, stieg Jassenskij ab und lächelte dünn, als die deutschen Grenzsoldaten ihn begeistert mit» Freundschaft! Freundschaft!«begrüßten und in die Hände klatschten.

Sklavenvolk, dachte Jassenskij angewidert. Ihre Väter haben noch» Heil! Heil!«gebrüllt. Und ihre Söhne schreien vielleicht» Amerika! Amerika!«, was der Himmel und der Kommunismus verhüten mögen. Er legte sich hin, schlief zehn Stunden und inspizierte dann die Grenze. Er war danach sehr zufrieden. Blinkzeichen aus dem dichten westdeutschen Wald sagten ihm, daß seine Mitarbeiter zur Stelle waren.

Oberleutnant Wolfgang Wolter konnte kommen.

In Göttingen waren der Rückkehr Dimitris aufregende Tage gefolgt. Nicht nur Agnes Wolter und viele gute Bekannte begrüßten Dimitri, auch die Presse war wieder da — keiner wußte, woher die Journalisten die Informationen hatten —, und Karl Wolter hatte alle Grobheiten aufzubieten, um auch diesmal sein Familienleben vor Tatsachenberichten und Bildreportagen zu retten. Dann kamen die Behörden. Als erste trafen drei Offiziere aus Bonn ein, um Dimitri in aller Freundlichkeit zu verhören und dann etwas verwirrt abzufahren.

«Ja«, sagte Dimitri nämlich,»ich bin Kommunist. Warum soll ich etwas anderes sein, ich kenne ja nichts anderes. Nein, ich weiß nichts, was den Westen interessieren könnte. Ich war Angestellter des Ölkombinats. Wissen bei Ihnen die Angestellten etwa die Geheimnisse der Betriebsleitung? Ja, ich will in Deutschland bleiben, weil ich Bettina liebe und heirate. Nein, ich stelle mich nicht irgendeiner politischen Organisation zur Verfügung. Politik ist ein Verbrechen; das ist das einzige, was ich jetzt erkannt habe. Man sollte es allen Menschen sagen: Lebt als Freunde und jagt die weg, die immer behaupten, die anderen hätten unrecht.«

Man sieht, es waren Ansichten, die so fremdartig waren wie etwa die Liebe der Tataren zu saurer Eselsmilch.»Man wird noch viel an ihm erziehen müssen, lieber Wolter«, sagte der die Untersuchung leitende Hauptmann aus Bonn zu Wolfgang Wolter.»Er ist noch weltfremd. Man sollte nicht meinen, daß in einer so großen Stadt wie Tiflis solch eine politische Kurzsichtigkeit vorherrscht.«

«Wir haben Zeit«, antwortete Wolter ausweichend. Plötzlich sah er eine Kluft zwischen sich und seinen Kameraden aus Bonn. Plötzlich verstand er Dimitri und wunderte sich, daß die anderen ihn nicht verstanden oder nicht verstehen wollten.

Frieden! Ruhe in der Welt! Laßt jeden leben, daß er satt und zufrieden ist. Seid Brüder. Alle!

Ist das verwerflich? Ist das kommunistisch?

Es ist nur undurchführbar… aber das ist eine Tragödie der Menschheit für sich.

Irene Brandes hatte man ins Allgäu in ein Sanatorium gebracht. Dort heilte man ihren tiefen seelischen Schock aus, den die letzte Begegnung mit Borokin hinterlassen hatte. Jeden zweiten Tag schrieb sie sehnsuchtsvolle Briefe an Wolfgang.

«Mir geht es immer besser. Wann holst Du mich zurück? Keine Nacht vergeht, ohne einen Traum von Dir. Ich liebe Dich. Ich vermisse Deine Zärtlichkeit. Nie habe ich geglaubt, daß ich einmal so lieben könnte.«

«Noch drei Wochen muß sie bleiben«, sagte Wolfgang nach dem letzten Brief Irenes.»Ich habe mich beim Chefarzt erkundigt.«

«Und wenn sie wiederkommt, heiraten wir alle!«rief Dimitri.

«Hast du's so eilig?«lachte Wolter.

«Er nicht, aber ich«, sagte Bettina und umarmte Dimitri.»Oder soll ich ihn wieder aus irgendeiner Wüste zurückholen?«

Dann fuhr Wolfgang fort zur Zonengrenze, und Dimitri bekam am nächsten Tag einen Anruf aus Frankfurt.

«Für dich«, sagte Agnes Wolter, die das Gespräch angenommen hatte.»Es klingt, als ob ein Russe deutsch spricht.«

Nachdenklich, mit harten Augen und zusammengepreßten Lippen nahm Dimitri den Hörer ans Ohr. Die Blicke Agnes', Karl Wol-ters und Bettinas verfolgten sein Mienenspiel.

«Dimitri Sergejewitsch«, sagte er laut. Und dann schwieg er, denn jemand sprach russisch zu ihm und erzählte ihm etwas, das fast nicht zu glauben war.»Wer ist da?«fragte Dimitri dazwischen, aber die Stimme antwortete nur:

«Seien Sie nicht neugierig, Brüderchen. Glauben Sie uns, daß wir unser Vaterland lieben wie Sie. Und handeln Sie. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Langsam legte Dimitri den Hörer zurück. Karl Wolter trat einen Schritt auf ihn zu.

«Wer hat angerufen?«

«Ich weiß es nicht. Es müssen russische Emigranten sein, die Mittelsmänner in der Botschaft haben. «Dimitri wischte sich über das Gesicht, und damit löste sich seine Erstarrung.»Wir müssen Bonn anrufen!«rief er erregt.»Die Dienststelle Wolfgangs. Er ist in Gefahr. Man will ihn entführen. Ein Oberst Jassenskij hat einen ganz sicheren Plan ausgearbeitet. Er muß sofort gewarnt werden. «Er drehte sich zu Bettina, die ihn aus weiten Augen ansah.»Wie lange fahren wir bis Fladungen?«

«Fladungen? Wo liegt denn das?«rief Wolter und nahm den Hörer ab.

«Südöstlich von Fulda, an der Wasserkuppe«, sagte der Anrufer.

«Himmel! Das ist eine lange Fahrt!«

«Was will man mit Wolfgang machen?«stammelte Agnes und begann zu weinen.»Hört das denn nie auf? Was ist aus unserer Welt geworden.«

«Entführen will man ihn. Nach drüben!«Dimitri rang die Hände.»Und wenn wir ihn nicht warnen können, gelingt es auch. Oh, ihr kennt nicht die GRU. Dem Teufel sägen sie ein Horn ab, wenn es verlangt wird!«

Es wurde ein turbulenter Tag.

Das Ministerium in Bonn bedankte sich höflich für die Information und beendete das Gespräch mit einem kurzen, militärischen» Ende«. Aber dann summte der Draht zur Zonengrenze, wurden Befehle wei-tergegeben, zirpte es in den kleinen Kurzwellensendern bis zu den Posten an den Stacheldrahtzäunen. Von Fulda fuhr ein Mannschaftswagen zur Wasserkuppe und von dort in der Nacht bis Fladungen. In der Turnhalle der Schule wurden die Soldaten wieder zu Zivilisten verwandelt, und zwar in Waldarbeiter mit durchschwitzten, nach Moos und Harz riechenden Anzügen. Auf Bauernwagen fuhren sie in den Wald, und dort verschwanden sie spurlos, nach einem Aufmarschplan, der in aller Eile von Spezialisten des MAD ausgearbeitet worden war.

Und auch die Familie Wolter traf in Fladungen ein. Ohne Unterbrechung waren Karl Wolter und Bettina gefahren. Als sie ankamen und im >Hessischen Hof<, einem Landhotel, abstiegen, kam ihnen Wolfgang entgegen.

«Wenn das stimmt, Dimitri«, sagte er und legte den Arm um So-towskijs Schulter,»wenn es nicht bloß ein blinder Alarm ist, um Unruhe zu stiften und zu sehen, wie wir reagieren, hast du uns einen Dienst erwiesen, den wir dir gar nicht genug danken können.«

«Das ist ein Irrtum«, sagte Dimitri und sah Wolfgang dabei ernst an.»Ich will keinen Dienst erweisen. Mich kümmert nicht die Politik. Ich will nur dich retten. weil du mein Bruder geworden bist. Es geht schlicht um dein Leben, um weiter nichts.«

Die Experten des MAD dachten allerdings anders, und sie taten gut daran. Unbemerkt von allen Einwohnern, begann an der Zonengrenze ein gefährliches, ein bitterernstes Theater. Darsteller waren Wolfgang Wolter und seine beiden Feldwebel mit ihrem kleinen grünen Wagen. Den Chor bildeten die als Waldarbeiter verkleideten Soldaten. Und die Gegenspieler saßen irgendwo entlang des Todesstreifens im Wald. Man hatte sie noch nicht entdeckt, denn alle Streifen wurden eingestellt, um die Leute Jassenskijs in völlige Sicherheit zu wiegen.

Als sei er wirklich ahnungslos, fuhr Wolter mit seinen Begleitern seine vorgeschriebene Strecke ab. Einige Kontaktmänner gaben kurze Funkberichte zu dem Bauernhaus auf der anderen Seite, wo Jas-senskij ungeduldig der großen Stunde entgegenfieberte.

«Alles in Ordnung, Genosse Oberst«, sagte der Abschnittskommandeur der Grenztruppe, ein sächsischer Hauptmann.

«Wir können uns gratulieren.«

In der Nacht stand Jassenskij selbst im Todesstreifen und überwachte das Herausziehen der Stacheldrahtpfähle. Bis zum vordersten Wachturm war ein kleiner geschlossener Lastwagen gefahren. Mit ihm sollten Wolter und seine beiden Feldwebel sofort nach Meiningen gebracht werden.

«Es kann nicht mißlingen«, sagte Jassenskij immer wieder.»Sie wissen nichts von der minenlosen Strecke. Wir werden den Kapitalisten ein Wunder vormachen.«

«Eene scheene Sache, Genosse Oberst. Die wär'n gucken.«, sagte der sächsische Hauptmann. Er war stolz, mit dieser Aufgabe betraut worden zu sein.

Ab Mitternacht rollte das Schauspiel wie in einer vorzüglichen Inszenierung ab.

Oberleutnant Wolter kam in das Gebiet, von dem aus er entführt werden sollte. Und siehe da… zur größten Verblüffung der MAD-Männer, die im Wald in Deckung lagen, saßen plötzlich vier scheinbar harmlose Zivilisten neben der Straße, die durch den Wald entlang der Zonengrenze führte. Woher sie plötzlich kamen, hatte keiner gesehen. Wie müde, verirrte Wanderer saßen sie auf einem Baumstamm, aßen hartgekochte Eier und tranken Tee aus einer Thermosflasche.

«Von den Waffen wird nur im Notwehrfalle Gebrauch gemacht!«hatte der wichtigste Befehl geheißen, aber Wolfgang Wolter umkrampfte doch den Griff seiner Pistole in der Tasche, als sich der Wagen den letzten Metern näherte.

Es war eine normale Nacht von durchschnittlicher Helligkeit, schon etwas kühl und herbstlich. Die Wachtürme auf der Zonenseite ragten dunkel in den Himmel, als seien sie unbewohnt. Auch der Turm, unter dem Oberst Jassenskij wartete, lag in völligem Schweigen.

«Da gommt er«, flüsterte der Hauptmann der Volksarmee und zeigte zum Wald. Ein Lichtstreifen kroch über die Straße, schwach vernahm man das Brummen des Motors. Oberst Jassenskij nickte. Er schwitzte trotz der Nachtkühle, und immer wieder mußte er die Okulare seines Nachtglases wischen, weil sie beschlugen.

«Gleich gommt der Gnall!«flüsterte der Hauptmann erregt. Für einen Mann aus Pirna an der Elbe ist so eine Nacht ein unvergeßliches Erlebnis.

Oberst Jassenskij verfluchte den Mann an seiner Seite. Jetzt hätte er allein sein müssen, um diese Minuten zu genießen.

Die vier Männer auf dem Baumstamm legten ihre Thermosflaschen ins Gras, als sie den Wagen von weitem kommen sahen. Dann gingen zwei auf die andere Straßenseite, zwei blieben am Baumstamm stehen, und zwischen ihren Händen hielten sie nun ein dünnes Nylonseil, strafften es und spannten es in Brusthöhe über die Straße.

«Eine Sauerei!«sagte der Hauptmann, der mit drei >Waldarbeitern< zehn Meter seitlich der vier Männer lag.»Die im Wagen sehen das dünne Seil nicht. Die Schrecksekunde, wenn sie dagegenfedern, nutzen die Burschen aus und überwältigen sie. Ein verrückt einfacher Anhalterplan. «Was dann geschah, war keineswegs romantisch oder aufregend. Es hatte nichts von der Dramatik überspitzter Agentenfilme oder der sprudelnden Phantasie von Romanschreibern. Die Wirklichkeit ist trocken und einfach logisch.

Oberleutnant Wolter prallte gegen das straffe Nylonseil.»Scheiße!«brüllte der Feldwebel am Steuer, würgte den Motor ab und riß die Tür auf.

Vier Männer stürzten auf den Wagen, so schnell, wie sich Jagdfalken auf ein Kaninchen fallen lassen. Geübte Boxer waren es, denn die beiden Feldwebel erhielten einen gut gezielten Hieb gegen das Kinn, so wunderbar geschlagen, daß sie lautlos umsanken und die Besinnung verloren.

Das war die einzige Tat, die gelang. Bevor sie Oberleutnant Wolter überwältigen konnten, der den völlig Erstarrten spielte, aber den Finger an den Abzugsbügel seiner Pistole gelegt hatte, wurde es um den Wagen herum lebendig, man hörte Keuchen und Stöhnen, Schläge klatschten dumpf durch die Finsternis, ein Körper fiel gegen den

Wagen, über die Straße wälzten sich zwei Leiberknäuel, jemand fluchte russisch und wimmerte dann auf, und plötzlich war die Straße hell erleuchtet, ein Militärlastwagen raste heran und stoppte mit kreischenden Bremsen vor den noch immer miteinander ringenden Menschen.

Drüben am Wachturm ließ Jassenskij sein Nachtglas sinken. Als die Schweinwerfer aufflammten, wußte er, daß alles verloren war. Er senkte den Kopf und lehnte sich gegen die Stützen des Turmes. Der Volksarmee-Hauptmann nagte an der Unterlippe.

«Das ist verraden wor'n«, sagte er heiser.»Nu gucke mal da, wie die loofen.«

Jassenskij ging zurück zu dem dunklen Bauernhaus. Er war jetzt der einsamste Mensch auf der Welt. Ihn interessierte nicht mehr, was jetzt an der Grenze geschah. Seine Niederlage war so vollkommen, daß ihm jeder Atemzug in der Brust schmerzte.

Nicht nur Wolter war für immer verloren, auch der minenfreie Streifen war nun bekannt. Selten war ein Mann glückloser zurückgekehrt.

Und plötzlich blieb er stehen, wie von einer Faust zurückgestoßen. Von drüben dröhnte eine Stimme durch ein Elektromegaphon.

«Leben Sie wohl, Oberst Safon Kusmajewitsch Jassenskij! Dimitri Sotowskij bittet Sie, für ihn das schöne Tbilisi zu grüßen.«

Jassenskij heulte innerlich wie ein angeschossener Wolf.

Diese Schmach, dachte er. Dieser Spott! Ist jemals ein Mensch so tief gedemütigt worden?

Er ging weiter, mit hängenden Schultern, und es war bezeichnend, daß niemand ihm folgte, nicht einmal der sächsische Hauptmann, der» Freundschaft! Freundschaft!«geschrien hatte, als Jassenskij eintraf.

Ratten, alles Ratten, dachte er bitter. Und für sie soll man seinen Kopf hinhalten?

Er spuckte aus, und danach wurde es ihm viel wohler.

Auf der anderen Seite wurden vier Männer in Handschellen in den Militärlastwagen geschoben. Sie hatten verquollene, zerschlagene Gesichter, denn sie hatten sich gewehrt wie eingekreiste Bären.

«Ein guter Fang«, sagte zwei Tage später der General in Bonn und bot Wolfgang jovial eine Zigarette an.»Nur wieder ein Schlag ins Wasser. Haben alle vier den diplomatischen Status. Sind schon auf dem Rückweg nach Moskau. Und die Botschaft reagiert so kalt, als stehe sie auf dem Nordpol.«

Auch Jassenskij flog von Meiningen über Berlin nach Moskau zurück. Genau wie bei Borokin war es: Nie wieder hörte man etwas von ihm. Rußland ist ein weites Land, es hat genug Platz für einen kleinen, glücklosen Menschen.

Heiraten ist, entgegen der Ansicht alter Ehemänner, nicht nur ein schöner Brauch, sondern in erster Linie ein Herzensbedürfnis und eine öffentliche Bestätigung, daß man für ein ganzes Leben zusammenbleiben will. Zumindest hat man am Tage der Hochzeit diese Absicht und tut sie mit seinem Ja in bester Überzeugung kund.

Bevor man aber zu dieser öffentlichen Meinungsäußerung kommt, organisieren die Behörden ein kleines Hürdenlaufen — nicht, um den Heiratswilligen menschenfreundlich Zeit zum Nachdenken zu geben, sondern um zu beweisen, daß es keinen Schritt im Leben gibt, der nicht aktenkundig und mit Schwierigkeiten verbunden ist. Zur Zeit Moses schickte Gott als Plage die Heuschrecken, wir Modernen haben statt dessen die Verwaltung. Heuschrecken fliegen weiter, Verwaltungen bleiben und vermehren sich sogar. Wie herrlich waren die Plagen des Altertums!

Mit Wolfgang Wolter und Irene Brandes gab es keinerlei Schwierigkeiten; sie hatten alles, was ein richtiger Mensch braucht, um überhaupt Mensch zu sein: Geburtsurkunde, Taufschein, Impfschein, Heiratszeugnis der Eltern. Ein rundes, glattes, beamtenwohlgefälliges Leben. Aber Dimitri und Bettina. das war ein Kreuzweg, den Karl Wolter mit dem Dickschädel eines Kolka Iwanowitsch zu gehen begann.

«Es geht nicht!«sagte man ihm, als er Dimitri in das Amtszimmer schob und schrie, man solle ihn ansehen und auch anfassen, er sei wirklich ein Mensch, er sei geboren, erwachsen und geschlechtsreif.»Wir können keinem trauen, der keinerlei Papiere hat.«

«Die sind in Rußland!«schrie Wolter.»Er ist geflüchtet!«

«Dann hätte er mit Papieren flüchten sollen.«

«Man hat sie ihm abgenommen!«

Das sind Grenzfälle, die kein subalterner Beamter entscheiden kann. In den Ehegesetzen steht, daß nur heiraten darf, wer großjährig oder für großjährig erklärt ist, wer seine Identität nachweisen kann, kurzum: Wer beweisen kann, daß er wirklich er ist.

Wolter rannte herum, fluchte wie ein Muschik, dessen Kuh eine Euterentzündung hat, rief Bonn an und bat durch Wolfgang um Unterstützung der vorgesetzten Behörden. Aber auch das war keine Lösung des Problems; selbst das Wohlwollen von Generälen und Ministerialräten kann nicht überdecken, daß hier ein Mensch heiraten will, der keine Papiere besitzt.

«Er nennt sich Sotowskij«, sagte ein Beamter bedauernd.»Ebensogut kann er Malinowskij heißen und bereits in Rußland verheiratet sein. Wissen wir es?«

«Er ist Sotowskij! Ich kenne doch meinen Stiefsohn! So wahr ich Kolka Iwanowitsch Kabanow bin.«

«Da haben wir es ja«, sagte der Beamte fast traurig.»Sie sind doch Karl Wolter. Bringen Sie bitte keine Verwirrung in die Dinge. Besorgen Sie die Papiere, und alles ist gut.«

Wolter seufzte tief, bedauerte, nicht in Tiflis zu sein, wo man in solchen Fällen fluchen durfte, und ging. Und dann tat er etwas, von dem ihm jeder abgeraten hätte, wenn er darüber mit anderen gesprochen hätte. Er fuhr nach Bonn und ließ bei der sowjetischen Botschaft in Rolandseck anfragen, ob man ihn empfangen könne.

«Um Himmels willen!«schrie Wolfgang Wolter, als er durch das Telefon von seiner Mutter erfuhr, was Wolter plante.»Sie halten ihn dort fest! Für die Russen ist er doch ein flüchtiger Genosse! Und keine Macht der Welt kann verhindern, daß sie ihn zurück nach Rußland bringen und dort aburteilen!«

Aber es war bereits zu spät, um etwas zu unternehmen.

Karl Wolter war schon im Gebäude der sowjetischen Botschaft, bevor Wolfgang in ohnmächtiger Verzweiflung unten am Rhein stand und hinaufstarrte zu der weißen, pompösen Villa aus der Gründerzeit.

Der Besucher brauchte nicht lange zu warten. Man war begierig, den Mann zu sehen, dem es gelungen war, mit einem Fischerkahn über das Kaspische Meer Rußland zu verlassen. Man behandelte ihn höflich, ja wie einen Freund, bot ihm eine Papirossa an und servierte ihm einen grusinischen Kognak.

Und dann saß er einem Mann gegenüber, der ihn mit schiefgestelltem Kopf betrachtete und auf russisch sagte:

«Sie haben uns schwere Köpfe gemacht, Kolka Iwanowitsch. Und daß Sie jetzt so keck hier in der Botschaft sitzen, hat doch einen Grund, nicht wahr? Bedenken Sie, daß wir uns nur bis zu einer gewissen Grenze provozieren lassen.«

Karl Wolter — oder sollen wir ihn jetzt wieder in dieser Umgebung Kolka Iwanowitsch nennen? — beugte sich etwas vor. Merkwürdig war es ihm ums Herz, als er wieder russisch sprechen konnte und irgendwie, er spürte es fast auf der Zunge, lag um sein Herz der Duft der Gärten von Tiflis.

«Ich will nicht provozieren«, sagte er langsam und mit Bedacht.»Ich bin gekommen, um zu bitten.«

«Und der Oberleutnant, der unten am Rhein vor unserer Auffahrt hin und her geht? Ihr Sohn, Kolka Iwanowitsch?«

Kolka hob die Schultern und lächelte mild.»Ich weiß nicht, daß er unten auf mich wartet. Aber wenn er es tut… er ist ein guter Sohn, Genosse. Ich bin ein glücklicher Mensch, wer hätte das gedacht?«

«Ein Verräter sind Sie!«schrie der Mann hinter dem Schreibtisch, der — wie sich später herausstellte — Pjotr Nikiforowitsch Lepka hieß.»Und ich betrachte es als Frechheit, daß Sie hier vor mir sitzen und lächeln wie eine Kaulquappe! Was wollen Sie?«

«Menschlichkeit«, sagte Kolka still.

«Was bitte?«stotterte Lepka verblüfft.

«Ich habe fast zwanzig Jahre, fast die Hälfte meines bisherigen Le-bens, in Rußland gelebt. Ich habe gelernt, nach Doktrinen zu leben, ich bin hinter der roten Fahne hermarschiert und habe zu Lenins Geburtstag und zur Feier der Oktoberrevolution im Sprechchor mitgebrüllt. Frieden! Freiheit! Brüderlichkeit!«Kolka wischte sich über die Augen. Der Alte aus Tiflis war er wieder, und er sehnte sich jetzt nach einem kleinen, hohen Gläschen Wodka, damit seine Stimme klarer klang.»Frieden… das ist ein Wort, über dessen Sinn man sich noch einigen muß. Freiheit… sie habe ich mir genommen. Aber um die Brüderlichkeit, Genosse, da steht's schlecht! Darum sitze ich hier.«

«Was soll's?«sagte Lepka rauh.»Stammeln Sie nicht herum, Kol-ka Iwanowitsch!«

«Ich bitte um die Papiere für meinen Ziehsohn Dimitri Sergeje-witsch Sotowskij.«

«Ach!«Lepka lächelte böse.

«Heiraten will er, mein Söhnchen.«

«Die deutsche Stewardeß Bettina Wolter.«

«Mein leibliches Töchterchen. Empfinden Sie die Freude und das Glück eines Vaters nach, Genosse.«

«Man sollte weinen«, sagte Lepka böse.»Oder man sollte Ihnen den Schädel einschlagen. Hat man je schon solche Frechheit gesehen? Flüchtet dieser Kerl Dimitri aus der Sowjetunion, nutzt den ehrenvollen Auftrag in Beirut aus, um sein Vaterland zu verraten.«

«Er hat nichts verraten!«schrie Kolka und hieb mit der Faust auf den Tisch.»Nichts hat er verraten! Verhört haben sie ihn, und er hat gesagt: Ich liebe mein Rußland! Ich bin Kommunist! Aber ich bin nach Deutschland gekommen, weil ich ein Mädchen liebe.«

«Ist das Charakter?«schrie Lepka zurück.»Die Liebe zum Vaterland hat stärker zu sein als die Liebe zu einem Weiberrock! Ein schwacher, haltloser Mensch ist dein Dimitri! Und da kommt er noch hierher und will um Papiere betteln! Sage ich es nicht: Eine Provokation ist's!«

«Brüderlichkeit!«brüllte Kolka.»Ohne Papiere kann er nicht heiraten!«

«Was braucht er heiraten? Wozu Papiere? Um sich ins Bett zu legen und Kinder zu machen, braucht man keine Fragebogen!«

«O Himmel, welch ein Mensch sind Sie!«stöhnte Kolka.»Welche Gemeinheit! Kein Herz hat er!«

Lepka stand auf. So plötzlich sprang er auf, daß der Stuhl umkippte. Im Nebenzimmer erhob sich der Sekretär. Man konnte nie wissen, was gleich passierte.

«Um es klar zu sagen, Kolka Iwanowitsch: Dimitri Sergejewitsch bekommt weder einen Paß noch ein einziges Fetzchen Papier von uns. Wenn er heiraten will. bitte, er soll zurück nach Tbilisi kommen. Dort wird man ihm die Genehmigung erteilen, ausnahmsweise eine Deutsche zu heiraten. Das ist alles, was ich zu sagen habe. «Lep-ka grinste breit.»Einer Einreise steht nichts im Wege.«

«Aber nach der Einreise zehn Jahre Zwangsarbeit in Karaganda«, sagte Kolka dumpf.

«Man wird das Verhalten des Genossen Sotowskij natürlich untersuchen müssen. Schließlich sind wir ein Rechtsstaat.«

Kolka Iwanowitsch erhob sich gleichfalls. Er sah ein, hier war mit Bitten nichts zu erreichen. Gedacht hatte er es sich von Anfang an, und er hatte sich selbst gesagt, daß es Dummheit sei, in die Botschaft zu gehen — aber was unternimmt ein Vater nicht alles, wenn es um das Glück seines Kindes geht?

«Es ist ein trauriger Tag«, sagte er langsam und sah an Lepka vorbei aus dem Fenster und auf den spiegelnden Rhein.»Dimitri wird aufhören müssen, ein Russe zu sein.«

«Das hat er bereits. «Lepka tat es wohl, solches zu sagen. Man sah es ihm an. Nichts ist befriedigender als die billige Rache eines kleinen Mannes.»Wir haben daran gedacht, daß Sotowskij Schwierigkeiten machen könnte. Das Innenministerium hat ihn ausgebürgert. Wir verzichten auf Menschen, die keine Ehre haben.«

Kolka atmete tief auf.»Dimitri ist nun Staatenloser?«fragte er heiser.

«Ja! Er ist vogelfrei! Von uns aus kann er sich wie eine Schwalbe auf einen Telefondraht setzen und sich dort paaren. Sotowskij in-teressiert uns nicht mehr!«

«Aber er will doch Russe bleiben!«schrie Kolka.»Er liebt seine Heimat! Sie können einem Russen alles nehmen, das wissen Sie doch… nur nicht das Bewußtsein, noch Russe zu sein!«

«Wenn er zurückkommt, wird man mit ihm darüber sprechen.«

Kolka Iwanowitsch hob die Schultern. Das Gespräch war beendet, er wußte es. Er kannte so etwas aus Tiflis, er hatte es selbst so gemacht, tausendmal. Man senkte die Stimme beim letzten Wort, und das hieß Punkt. Schluß. Keine Diskussionen mehr, Brüder. Macht den Mund zu, Genossen, und geht.

Und Kolka ging. Ungehindert ließ man ihn aus der Botschaft gehen, ohne Belästigung stieg er den Weg hinunter zur Rheinstraße. Der Posten in seinem Wachhäuschen am Wege ließ ihn passieren, als sei er eine unsichtbare Wanze. Und während er so hinunterging zum Rhein, wo noch immer Wolfgang hin und her lief und sich sagte, daß er noch eine Stunde warten würde, ehe er Alarm schlug, kam er sich vor wie ein schmählich Verjagter; wie ein Schuft, den man mit Fußtritten weggetrieben hatte, und nicht wie ein Mensch, der mit seinem Leben um seine Freiheit gekämpft und sie endlich erreicht hatte.

«Komm, Vater«, sagte Wolfgang Wolter und legte den Arm um die Schulter des Alten, als Kolka auf die Rheinstraße trat und sich umschaute, als blicke er geblendet in die grelle Sonne.»Komm. Wir warten alle auf dich. Mein Gott, haben wir Angst gehabt.«

«Angst? Um mich? Warum?«

«Du weißt nicht, in welcher Gefahr du warst.«

«Dort oben?«Kolka sah zurück auf den Weg und die hohen Büsche und Bäume, hinter denen sich das weiße Haus undeutlich abhob.»Ihr verkennt sie alle. Sie sind nicht gefährlich. Sie sind nur Fachleute im Zerreißen von Seelen.«

In sich versunken, mit hängendem Kopf, saß Karl Wolter hinten im Wagen, als Wolfgang zurück nach Bonn fuhr. Alle waren in der kleinen Wohnung versammelt, als sie eintraten, und Agnes lief mit einem Aufschrei der Erleichterung auf ihren Mann zu und umarmte ihn.

Über ihren Kopf hinweg sah Wolter mit großen Augen Dimitri an. Er erwiderte seinen Blick, und Dimitri wußte, was geschehen war.

«Nun bist du ganz hier, Söhnchen«, sagte Wolter auf russisch.»Die Welt hört wenige Werst östlich von hier für uns auf.«

Dimitri nickte. Um seine schönen dunklen Augen legte sich ein Schleier.»Ich kann nie mehr zurück?«fragte er leise.

«Nie mehr, Dimitri.«

«Sie haben mich verstoßen?«

«Ein Staatenloser bist du. Man wird dir eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland geben, du darfst hier arbeiten, du darfst hier Steuern zahlen, sogar heiraten darfst du und Kinder bekommen — aber du wirst nie mehr ein Vaterland haben.«

«Ich habe es im Herzen, Väterchen«, sagte Dimitri heiser.»Im Herzen stirbt Rußland nie.«

Karl Wolter nickte. Er empfand es auch so. Ein merkwürdiges Gefühl war es, nicht zu erklären und nicht zu verstehen für den, der nicht sein Leben geführt hatte: Er stand auf dem Boden seiner Heimat, und er träumte von den Weinhängen in Tiflis. Er war ein doppelter Mensch, und er konnte sich mit sich selbst unterhalten: Hör mal, Karl Wolter, sagte dann Kolka Iwanowitsch. Und Karl Wolter antwortete: Ich höre, Kolka Iwanowitsch.

Wer von uns kann so etwas?

Und Wolter begriff plötzlich, daß dies ein Leben war, das man wunderbar nennen konnte.

Kurz vor Weihnachten war die große Hochzeit im Hause Wolter. Dimitri und Bettina und Wolfgang und Irene unterschrieben vor dem Standesbeamten die Heiratsurkunde und knieten nebeneinander in der Kirche. Für Dimitri war es ein besonders anstrengender Tag, denn er heiratete gleich dreimal: Nachdem sie die Kirche verlassen und in einer Hochzeitskutsche mit Schimmeln davor nach Hause gefahren waren, wartete im Hause Wolter ein emigrierter Pope, den die Vereinigung russischer Emigranten in Frankfurt zu dieser Feierlichkeit nach Göttingen geschickt hatte.

Und wieder knieten sie auf zwei Kissen nieder, und der Küchentisch war zum Altar geworden, der Pope sang mit seiner tiefen Baßstimme und Wolfgang und Irene hielten nach dem alten orthodoxen Ritus zwei kleine goldene Kronen über die gesenkten Köpfe von Dimitri und Bettina, während der Pope ihre Hände ineinander legte.

Dimitri schloß die Augen, und auch Wolter, der gute alte Kolka, träumte.

Die alte Klosterkirche bei Tiflis. Die Ikonostase mit den uralten Ikonen und Heiligenfiguren, fast farblos an den Füßen von den Millionen Küssen der Gläubigen in fünf Jahrhunderten. Im Hintergrund singt der Chor, eine Riesenorgel aus menschlichen Stimmen. Die Kerzen flackern, nach Wachs riecht es und nach Erde und Moos; ein Geruch, der aus den Kleidern der Bauern und Bäuerinnen strömt, ein Geruch von der Ewigkeit russischer Erde.

Und der Pope segnet das Brot, und jeder weiß, daß Gott die Sonne und den Regen, den Wind und die Wolken schickt, und es blühen, reifen und Frucht tragen läßt, unabhängig von Fünfjahresplänen und Sollbestimmungen. Der Mensch vergeht, aber die Erde Rußlands wird bleiben, ein fruchtbarer Schoß bis zur Unendlichkeit.

Gott segne es, das Mütterchen Rußland.

Es war eine feierliche Trauung auf den beiden Sofakissen, vor dem mit einer Brokatdecke und mit drei Ikonen geschmückten Küchentisch.

Viel hatte sich in diesen Wochen geändert. Dimitri hatte eine Stelle bei einer deutschen Erdölgesellschaft in Niedersachsen bekommen. Bettina hatte bei der DBOA gekündigt, und es ist ihr nicht schwergefallen, was sie sehr verwunderte, denn nie hatte sie geglaubt, daß sie im Leben etwas anderes sein könnte als Stewardeß und in der ganzen Welt zu Hause. Nun hatte sie Dimitri, und ihre Welt war zusammengeschrumpft zu einer kleinen Dreizimmerwohnung, aber sie war so glücklich, als habe sie das Paradies gefunden.

«Nun ist Ruhe!«sagte Karl Wolter, als die beiden Paare am nächsten Tag das Haus verlassen hatten und auf die Hochzeitsreise gegangen waren. Wolfgang und Irene nach Rom, Dimitri und Bettina in die Dolomiten, wo sie in einem ganz kleinen Bergdorf wohnten, nahe den Zinnen, die aussehen wie ein riesiger Kamm, der den Himmel kämmt und die Wolken frisiert.»Nun ist endlich Ruhe, Agnes.«

«Wir haben sie verdient, Karl. «Agnes Wolter sah über den Rand der Brille auf ihren Mann. Sie stopfte an einer Küchenschürze, und er saß unter der Stehlampe und las die Zeitung. Das sind wir nun, dachte sie. Zwei alte Menschen, die ihre beste Zeit mit Warten vertan haben. Niemand gibt uns die Jahre wieder. nun stopfe ich, und er liest die Zeitung, und in der Ecke brummelt der Ölofen. Gleich wird er aufstehen, in die Küche gehen und sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holen. Dann kommen die Nachrichten im Fernsehen und dann ein Bericht über die alpinen Skimeisterschaften, die er sich ansehen wird, obgleich er gar keine Ahnung vom Skilaufen hat. Und so werden die Tage und die Abende hingehen, und man wird weiter immer älter und ist doch glücklich, daß man beisammensitzen kann, an einem Tisch, beim Bier, beim Stopfen, beim Fernsehen. Ein gemeinsames Leben, das so lange Zeit brauchte, bis es gemeinsam wurde.

«Bist du nun glücklich?«fragte sie leise. Wolter hob den Kopf und lächelte.

«Sehr, Agnes. Du nicht auch?«

«Ja, Karl. Soll ich dir Bier holen?«

«Das wäre schön, Agnes.«

«Ich stell auch den Apparat an. Ist gleich acht Uhr.«

Karl Wolter nickte und streckte die Beine aus. Kolka und Karl verschmolzen miteinander… so hatte er auch immer in Tiflis gesessen, nach dem Essen, beim Klang seiner alten Schallplatten, und Dimitri hatte ihm zweihundert Gramm Wodka geholt, und das Pfeif chen mit Machorka dampfte. Ein schöner Abend. Wie rund und glatt kann doch die Welt sein!

«Wann kommen die Kinder wieder?«fragte Agnes, als sie die Flasche Bier entkorkte.

«In genau fünf Tagen.«

«Ich freue mich auf sie, Karl.«

«Ich auch, Agnes. «Er legte den Arm um ihre Hüfte, und tatsächlich, sie wurde sogar noch rot.»Es ist schön, alt zu sein«, sagte er tief aufatmend.»Ich hätte es nie gedacht.«

«Die Welt sieht ganz anders aus«, sagte Agnes leise.

«Wie ein reifer Aprikosenbaum.«

«Oder wie ein reich gedeckter Tisch.«

«Das ist es, Agnes. Das ist es! Ein Tisch voller Köstlichkeiten. Man sieht, wofür man gelebt hat.«

Es war ein sanfter Winterabend. Draußen schneite es.

Am Fenster des Bauernhauses gegenüber den Zinnen der Dolomiten saß Dimitri und starrte in die weißschimmernde Dunkelheit. Bettina schlief fest in dem breiten, geschnitzten Bett, und er hatte sich leise weggeschlichen und an das Fenster gesetzt. Fast jede Nacht saß er dort, wenn Bettina schlief, und sah auf die Berge, auf den Schnee, in den Himmel, auf die vorbeitreibenden Wolken, auf die Bergwälder und die Lichtschimmer der anderen Häuser.

Ein paarmal schrak er zusammen. Bettina wälzte sich im Bett und murmelte im Schlaf… da lief er zurück und beugte sich über sie.

Sie lächelte im Schlaf, und auf ihren Lippen lag es wie Tau auf einem Rosenblatt.

Bettina Sotowskija träumt von einem Kind, dachte er dann glücklich.

O Gott, wie glücklich ich bin.

Und dann ging er doch wieder zurück zum Fenster, setzte sich, und in der hohlen Hand hielt er eine kleine Taschenlampe und be-schien mit ihr eine billige grellbunte Postkarte, die ihm der Pope beim Abschied in die Hand gedrückt hatte wie ein Heiligenbildchen.

Tiflis. Die weiße Stadt zwischen den Berghängen. Rosen leuchteten, und der Wein kletterte die Felsen hinauf, und es war, als röche man die Blüten und Früchte, wie es immer war, wenn der Wind von den Bergen herabwehte.

Grusinien und seine süßen Trauben. Im Morgennebel tappt der Bär durch die Felsen des Kaukasus. Dann bricht die Sonne über die Gipfel der Berge, und es ist, als schütte Gott flüssiges Gold über dieses Land, von dem die Dichter sagen, daß sich Gott hier in seine eigene Schöpfung verliebt habe. Dann leuchtet die Stadt auf wie ein riesiger geschliffener Diamant, und die Wärme des Himmels taucht ein in das Herz der Trauben.

Wer kann das vergessen?

Und so saß Dimitri am Fenster, es schneite draußen, und der dünne Strahl der Taschenlampe beschien das blühende Tiflis, und das Heimweh ergriff ihn und schüttelte ihn und ließ seine Zähne klappern wie im Frost.

Doch als der Morgen kam, lag er glücklich neben Bettina und zog sie an sich.

«Wanduscha«, sagte er dann.»Ich könnte nie mehr anders leben!«

Seht, so schön, weit und herrlich kann eine liebende Seele sein. Mann sollte Dimitri um sie beneiden.

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