Kapitel 4

Bettina in Moskau! Es waren ihre Mütze, ihr Paß, ihr Unterhemd. Es gab gar keine Zweifel mehr: Sie war zu einem Druckmittel geworden. Im Kampf der Geheimdienste wurde sie zerrieben.

Wie soll das weitergehen, dachte Wolter, als er in seinem Wagen saß. Die Sonne brannte auf das Dach, es war erstickend heiß, aber er kurbelte nicht die Fenster herunter, um frische Luft in den Wagen zu lassen.

Was wird aus Bettina werden?

Wird man sie in Workuta elend zugrunde gehen lassen, wie Tausende vor ihr?

O mein Gott, in welcher Zeit leben wir!

Warum müssen die Völker sich hassen? Warum benehmen sich die Menschen wie reißende Tiere? Wir haben doch alle Platz auf dieser Welt.

Langsam fuhr er zurück nach Bonn und zur Wohnung seiner Mutter.

Irene Brandes war bei ihr, und als Wolfgang eintrat, sah er an dem fragenden Blick seiner Mutter, daß Irene ihr alles erzählt hatte.

«Warum hast du das getan?«fragte er Irene, ohne nachzuforschen.

«Es ist besser so, Wolf«, sagte Irene.

Agnes Wolter sah ihren Sohn aus müden Augen an. Sie war in diesen wenigen Wochen sehr gealtert. Wer sie jetzt in Göttingen gesehen hätte, die alten Kunden in dem kleinen Wäschegeschäft, wäre entsetzt gewesen. Tiefe Falten lagen um ihre Mundwinkel, das immer sorgsam gepflegte und frisierte Haar war weiß und strohig, ohne Leben, und nur in losen Wellen um den Kopf gelegt. Eine Mutter, die im Leid zusammengeschrumpft war.

«Warum hast du mich belogen, Wolf?«fragte sie leise, als sich Wolfgang auf die Couch setzte und nervös eine Zigarette anzündete, die ihm Irene herüberreichte.

«Ich wollte dir das alles ersparen, Mutter.«

«Ungewißheit ist viel schlimmer, Junge. Nun weiß ich, wo Bettina ist. Nun weiß ich, daß sie lebt! Das ist schön, das macht mich glücklich, auch wenn alles, was damit zusammenhängt, so schrecklich ist. Aber die Ungewißheit. ich habe sie einmal erlebt, als dein Vater in Rußland vermißt wurde, und ich habe sie jetzt noch nicht überwunden. Sicher, er ist tot. Der Kamerad von Vater hat es mir ja damals, als er heimkehrte aus dem Gefangenenlager, erzählt. Aber ich habe es nicht geglaubt, fünfzehn Jahre lang nicht. Ich bin Irene so dankbar, daß sie mich nicht wieder solche Jahre durchleiden läßt.«

«Ich habe Sachen von Bettina gesehen«, sagte Wolfgang Wolter tonlos.»Sie ist in Moskau.«

«Gott sei Dank!«Es war wie ein Aufschrei. Wie ein Glanz durchzog es die müden Augen Agnes Wolters'.»Und nun wird man uns helfen, nicht wahr?«

Wolter sah mit einem qualvollen Blick zu Irene. Was soll man darauf antworten, hieß diese stumme Frage. Soll ich ihr wirklich die Wahrheit sagen: Niemand wird uns helfen können! Was nützt ein Protest? Er würde unbeantwortet zerrissen. Was nützt die Mobilisierung der Öffentlichkeit? Der nächste Boxkampf, das nächste Fußball-Länderspiel wischt den Namen Bettina Wolter aus dem Gedächtnis der Millionen. Und wenn dann noch ein schöner Massenmord kommt, der die Menschen am Morgenkaffeetisch wohlig erschauern läßt — wer denkt da noch an das Mädchen, das in Moskau sitzt?

Was ist schon der einzelne in einer Welt, in der ein Mensch zu einer Zahl, zu einem Objekt geworden ist und sein eigenes Gesicht verloren hat?

«Borokin hat mir versprochen, für die schnelle Rückkehr Bettinas zu sorgen«, log Wolter und sah in den Rauch seiner Zigarette, um dem Blick seiner Mutter auszuweichen.

«Es scheint ein guter Mensch zu sein, dieser Borokin«, sagte Agnes Wolter in völliger Verkennung der Situation. Sie war eine alte, gütige Frau ohne Falsch und Lüge. Sie kannte keine Intrigen, verstand nichts von der Politik, sah in den Menschen nur das Gute, glaubte an die menschliche Seele. Auch in Jurij Alexandrowitsch Boro-kin sah sie den guten Menschen, der versprach, Bettina aus Moskau zurückzuholen. Daß er lügen konnte, daß Wolfgang, Irene und auch sie, Agnes Wolter, Akteure eines Spiels geworden waren, das keine Gnade kannte und noch weniger Menschlichkeit, das alles kam ihr nicht in den Sinn. Sie war Bettinas Mutter, und sie glaubte an die Rückkehr ihrer Tochter.

Der Preis? Kein Preis war hoch genug, um das eigene Kind zurückzuerhalten. Eine Mutter denkt anders als ein Politiker. Vielleicht sähe die Welt anders aus, wenn die Politiker Mütter wären.

An diesem Tage war Agnes Wolter glücklich. Die scharfen Falten in ihren Mundwinkeln schienen wie weggebügelt. Ihre Augen hat-ten wieder Glanz bekommen. Sie machte zum Abendessen das Leibgericht Wolfgangs: Farsumagru, die italienische Art einer gefüllten Kalbsroulade, mit Salami, Rahmquark, Speck, Tomaten, Hackfleisch und hartgekochten Eiern.

Wolfgang und Irene aßen nur wenig. Jeder Bissen blieb ihnen in der Kehle stecken, als säße ein Pfropfen zwischen Mund und Magen.

Agnes Wolter aber war sichtbar glücklich. Bettina lebte. Es ging ihr gut. Daß sie, wie man sagte, in Moskau war, hatte für Agnes Wolter keinerlei Bedeutung. Ob Moskau oder London oder Rom — Bettina würde bald zurückkommen.

Nach dem Essen fuhren Wolfgang und Irene wieder nach Köln. Außerhalb der Stadt, in einer Villa in Lindenthal, trafen sie mit einem Mann zusammen, den Wolfgang Wolter >Herr Oberst< nannte.

«Wir haben die Bänder abgespielt«, sagte der Oberst,»die man am Rhein bei Ihrem Treff aufgenommen hat. Ist ja ein tolles Ding, was? Wir müssen diesen Kontakt unter allen Umständen beibehalten.«

«Und meine Schwester, Herr Oberst?«fragte Wolter.

«Tja, das ist ein Problem. «Der ungenannte Oberst schüttelte die Eisstückchen in seinem Whiskybecher.»Rechtlich ist da gar nichts zu machen. Wenn die Sowjets sie nicht freiwillig herausgeben.«

«Ich weiß, Herr Oberst«, antwortete Wolter gepreßt.

«Sie wissen doch hoffentlich auch, daß diese Absprache: Bettina gegen Meldungen — daß dies ein Windei ist? Wenn die Sowjets nicht wollen.«

«Das heißt also, daß meine Schwester abgeschrieben ist?«sagte Wolter laut.»Ich kann tun, was ich will. ich bin angewiesen auf die Gnade der anderen.«

«Leider, leider!«Der Oberst trank vorsichtig seinen eiskalten Whisky. Er war magenkrank und empfindlich gegen große Unterkühlung.»Es ist ein Scheißdreck — verzeihen Sie —, so zwischen die Mahlsteine der Geheimdienste zu kommen.«

Wolfgang Wolter trat ans Fenster und starrte hinaus in den nächt-

lichen Garten. Rosensträucher blühten, Jasmin und Holunder.»Wir haben keine Möglichkeit, zu intervenieren?«fragte er.»Keine. Im Osten, ich bitte Sie!«

Wolter schloß die Augen. Sein Kopf sank gegen die kühle Scheibe.

Er wußte nun, daß er nach dem Vater jetzt auch die Schwester in Rußland verloren hatte.

In Beirut empfing eine Abordnung der sowjetischen Handelsmission die Genossen aus Tiflis mit Händeschütteln, Bruderkuß und Umarmungen. Sechs Wissenschaftler und Ingenieure waren es, die zum Kongreß der Ölfachleute aus der Sowjetunion angeflogen kamen und nun den Boden Libanons betraten. Sie waren alle ein wenig unmodern gekleidet, mit zu weiten Hosenbeinen und sackähnlichen Jacketts, aber sie fühlten sich wohl, das sah man, freuten sich wie beschenkte Kinder auf die acht Tage Beirut, von denen die wissenschaftlichen Sitzungen die unwichtigsten waren. Im Beirut des Jahres 1966 gab es Nachtlokale, so hatte man ihnen in Tiflis zugeflüstert. Bauchtänzerinnen, mit Diamanten im Nabel. Nackttänzerinnen, die nach dem Auftritt an die Tische kamen und sich den Männern auf den Schoß setzten. Verschwiegene Hinterzimmer, wo orientalische Nächte zelebriert wurden, wie sie in keinem Märchenbuch standen. Oha, Genossen, das muß man kennenlernen! So etwas gehört zur Kenntnis von der Dekadenz des Westens! Wie soll man über Dinge reden, wenn man an ihnen nur vorbeigegangen ist?

Und so freuten sich die sechs aus Tiflis ehrlich auf Beirut und erwiderten die Bruderküsse ihrer sowjetischen Landsleute mit Enthusiasmus. Nur Dimitri Sergejewitsch Sotowskij war etwas verschlossener. Er küßte auch, ließ sich umarmen, sagte nette Höflichkeiten, lachte über die Vorfreude der anderen, die von Betten mit Spiegeln an der Decke träumten, aber das war nur Theater.

Schon während des ganzen Fluges hatte er still auf seinem Platz gesessen, hatte in die Wolken gestarrt, in das Blau der Atmosphäre, über das unter ihm vorbeifliegende, meist öde und felsige Land, das überging in Steppe und in eine Wüste, in der wie grüne Kleckse die Oasen lagen, als seien sie aus Schweißperlen geboren, und er dachte nur an Wanda Fjodorowa, die nun plötzlich Bettina heißen sollte.

Ab und zu sah er auf seine Uhr.

Noch drei Stunden. noch zwei Stunden. nur noch eine halbe Stunde bis zur Freiheit.

Beirut. Eine weiße Märchenstadt, umbrandet von einem tintenblauen Meer mit weißen Schaumkronen. Ein Wald von Minaretten. Die Kasbah; enge, überdachte Gassen, flache Dächer, auf denen die Frauen unter Sonnenschirmen lagen, ohne Schleier, den Blicken fremder Männer entzogen. Die Neustadt. Hochhäuser. Paläste aus Beton und Glas.

Das Leben einer Millionenstadt. Ansammlung ungeheuren Kapitals, Konzentration von Millionen Dollar auf einem kleinen Platz. Wirtschaftswunder des Orients 1966, geboren aus dem Wettlauf der Nationen um den Markt des Nahen Ostens. Vom kommenden Bürgerkrieg ahnte noch niemand etwas.

Dimitri starrte hinunter auf die weiße Stadt, die für ihn den Abschied von Mütterchen Rußland bedeutete.

Mit dem Aufsetzen des Flugzeuges auf die Betonpiste von Beirut endete sein russisches Dasein. Sein erster Schritt auf libanesischen Boden bedeutete den Verlust der Heimat.

Dann war er vogelfrei. Ein Heimatloser. Ein Geächteter. Ein Gejagter. Ein Nichts.

Man möchte jetzt halt rufen, dachte Dimitri und umklammerte die Polsterlehnen des Sitzes. Halt, Genossen! Zurück nach Tiflis! Hier sitzt jemand, der seine Heimat verraten will! Hier sitzt ein russisches Schwein! Haltet an, dreht um oder bindet mich fest, Brüder, laßt mich nicht aus dem Flugzeug heraus! Rettet mich vor dem Nichtssein! Landet nicht, Freunde, o landet nicht! Mein Herz wird zerrissen werden, sobald ich dieses neue Land betrete.

Und dann dachte er wieder an Bettina, die für ihn immer Wanda Fjodorowa blieb; er sah ihre großen blauen Augen, er spürte ihre Lippen auf seinem Mund, er hörte ihre Stimme:»Wie können sich Menschen bloß so lieben wie wir, Dimitri? Diese Liebe ist unfaßbar.«, und er sah sein Väterchen Kolka, wie er ihn segnete, auf dem Flugplatz von Tbilisi, heimlich, wie ein alter Bauer, der zur Osterzeit die Hausikone aus der Truhe holt, sie heimlich aufstellt und dreimal» Christus ist auferstanden!«vor sich hin murmelt.

«Auf Wiedersehen!«haben sie gerufen, Wanduscha und Kolka. Wiedersehen aber bedeutete den Schritt ins Nichts. Die Flucht vor der Heimat. Die endgültige Flucht aus Tiflis.

Die Maschine setzte auf, und Dimitri betrat den Boden Libanons, und jetzt wurde er geherzt und geküßt, umarmt, wurde ihm auf die Schulter geklopft, und dann sagte der freudig erregte Bruder der Handelsmission in Beirut:»Und nun, Genosse, gib mir mal deinen Paß.«

«Was soll ich?«fragte Dimitri zurück.

«Deinen Paß geben, Genosse.«

«Wozu?«

«Ein Befehl aus Moskau. Wir nehmen alle Pässe unserer Freunde in Verwahrung, denn Beirut ist ein böses Pflaster. Ein paar Genossen haben ihre Pässe schon verloren oder wurden bestohlen. Sie bekommen statt dessen einen Ausweis, daß Sie Mitglied der Tagung sind. Das genügt vollkommen und ist für alle Teile ungefährlich. «Der liebe Genosse aus Beirut hielt die Hand hin:»Bitte den Paß, Bürger!«

Dimitri Sergejewitsch griff in die Brusttasche und gab seinen sowjetischen Paß ab.

Nun bin ich nackt, dachte er voll Schrecken. Ich bin nicht nur heimatlos, ich bin auch nackt. Was ist ein Mensch ohne Paß? Er ist wie gar nicht geboren. Er existiert nicht. Er ist ein Geist. Ein Gespenst.

«Willkommen in Beirut!«rief in diesem Augenblick der Chef der Handelsmission, ein gewisser Andreij Safonowitsch Schejin, ein häßlicher Mensch mit einer dicken Brille, die so scharf geschliffen war, daß dem neutralen Betrachter schon die Augen tränten.»Wir begrüßen die Genossen aus Tbilisi und rufen aller Welt zu: Freundschaft! Freundschaft! Freundschaft!«

Die sechs Wissenschaftler riefen laut mit und dachten an die Bauchtänzerinnen am Abend.

Welch ein schönes Land, Genossen, dieses Libanon! Na ja, die Pässe ist man los. Aber, seien wir ehrlich, was soll man auch mit Pässen in einem orientalischen Hinterzimmer? Fragt ein nacktes Weibchen: Komm, Genosse, weis dich aus? — Na also! Wie unnütz sind Pässe!

Mit drei großen Moskwitsch-Wagen fuhren sie nach Beirut hinein zum Hotel >Arab<. Dort waren die Zimmer reserviert, jedes mit einem kleinen Balkon, der zum Meer führte, und Jakob Andrejewitsch Swinzow seufzte laut, als er sah, wie klein, zierlich, schwarzäugig und wohlgebaut die Zimmermädchen waren. Swinzow war ein Wissenschaftler aus Baku und Sechsundsechzig Jahre alt!

Sage ich nicht immer: Die Luft im Kaukasus hält jung.

«Wir treffen uns alle um zwanzig Uhr unten im großen Saal zum Essen«, sagte Genosse Schejin und blinzelte hinter seiner häßlichen Brille.»Zieht euch um, Genossen. Habt ihr einen Smoking bei euch? Hier hält man viel auf Aussehen.«

Es zeigte sich, daß niemand einen Smoking hatte. Zu Ölgesprächen war man nach Beirut gekommen, nicht um Smokings zu tragen.

Schejin seufzte. Immer das alte Lied! Die Genossen in Moskau und erst in der Provinz — wozu er Tiflis zählte — haben noch nicht den Blick für das Notwendige. Himmel ja, Smokingtragen ist Dekadenz, aber ein wenig Konzessionen muß man machen, um mit der anderen Welt an einem Tisch zu sitzen.

Man kann nicht mit den Fingern essen und die Knochen übers Tischtuch spucken, während die anderen mit vergoldetem Besteck dinieren. So etwas fällt auf, Genossen. Unangenehm.

«Ihr werdet in einer Stunde alle Smokings bekommen!«sagte Sche-jin und rückte an seiner dicken Brille.»Pawlow, er wird gleich geholt, wird Maß nehmen, und dann kommen die Smokings von einem Verleiher. Für Beschädigungen und Flecke muß jeder von Ihnen aufkommen, Genossen.«

Dann war Dimitri allein, stellte den Koffer unausgepackt in die Ecke neben dem breiten französischen Bett — ein Beweis mehr von der Lebenskunst in Beirut! — und trat hinaus auf den Balkon.

Vor ihm lag die Uferpromenade, das Meer, der Hafen mit den weißen Luxusjachten. Ein Gewimmel von Menschen schob sich unten auf der Straße vorüber. Der Lärm von Stimmen und Geräuschen umwehte ihn wie eine Wolke aus Riesenheuschrecken.

Heute noch? dachte Dimitri und umklammerte das zierliche Balkongitter. Soll ich heute noch heimatlos werden? Oder warte ich bis morgen? Mache ich erst eine Sitzung des Kongresses mit, verbreite Harmlosigkeit um mich, Vertrauen. und morgen, ja morgen dann gehe ich zur deutschen Botschaft und bitte um Asyl.

Er sah weit übers Meer, das in der Abendsonne wie geschmolzenes Gold leuchtete.

Wo liegt Deutschland, dachte er. Dort ganz weit hinten… ein Land wie im Nebel. Dort liegt auch das Grab meines Vaters. Es wird kalt sein in Deutschland. Die Menschen werden einen ansehen und sagen: Aha, ein Russe! Ein Iwan! Und die Alten werden an die Schlachten denken, an die Rollbahn, an die Sümpfe, an die Wälder, und die Jungen werden fragen: Sag mal, Iwan, ist bei euch wirklich alles so geknechtet? Habt ihr wirklich nichts zu fressen? Dürft ihr wirklich nicht sagen, was ihr wollt? — Und er würde ihnen antworten: Stimmt es, daß ihr alle nur wegen des Profits arbeitet? Erzählt mal, warum ihr alle revanchistisch seid und daran denkt, Rußland noch einmal zu überfallen.

Und sie würden sich ansehen, der Russe und die alten und die jungen Deutschen, sprachlos und hilflos, und jeder würde denken: Hier gibt es keine Brücke mehr.

O Freunde, dabei wollen wir doch alle Brüder sein, nicht wahr?

Um sieben Uhr abends wurde der Smoking abgegeben. Bei Di-mitri ging es schnell. Das kleine, süße Zimmermädchen machte einen Knicks und legte den Anzug auf das breite Bett. Anders war's bei Swinzow, dem alternden Bock aus Baku. Er kniff dem Zimmermädchen in die Brust, umarmte es und verlangte, daß sie ihm die Hosen des Smokings anprobierte. Nur nach Verabreichung einer Ohrfeige konnte sich das Zimmermädchen aus kaukasischer Wildheit befreien und flüchtete aus dem Zimmer des liebestollen Swin-zow.

Gehorsam zog Dimitri seinen Smoking an. Er wußte, daß am Ausgang des Hotels zwei unauffällige Genossen saßen und aufmerksam wurden, wenn er ohne Smoking durch die Hotelhalle gehen würde.

Wie lächerlich ist das alles, dachte Dimitri bitter. In einem Smoking, wie zu einem Fest gehend, werde ich in einer Stunde in der deutschen Botschaft um Asyl bitten. Sie werden mich anstarren wie einen Blöden, und vielleicht haben sie auch recht damit.

Um 20 Uhr trafen sich die sechs Wissenschaftler aus Tiflis in der großen Halle des Hotels >Arab<. Genosse Schejin war auch schon da, er trug einen weißen, wundervoll sitzenden Smoking und sah aus wie ein Kapitalist. Er benahm sich auch so. Er verzichtete auf alle ordinären Worte, die ihm auf der Zunge lagen, als er den Aufmarsch der schlecht sitzenden, geliehenen Smokings sah, und befleißigte sich eines weißrussischen Russisch; eine Sprache, die so vornehm ist wie die Haut einer Großfürstin.

«Meine Lieben!«sagte er. Tatsächlich, er sagte: Meine Lieben!» Sie werden die Gelegenheit haben, dem Nobelpreisträger Bunche vorgestellt zu werden. Mit uns tagt auch ein Ausschuß der UNO im Hotel. Sie kennen Ralf Bunche?«

Dimitri kannte ihn, die anderen fünf nicht. Genosse Schejin hob den Blick zur vergoldeten Decke und seufzte.

«Macht nichts«, sagte er dann.»Ich zeige ihn euch, und ihr erzählt ihm, wie fortschrittlich unser Land ist.«

Um 20.17 Uhr, nachdem Dimitri ein paar Worte mit anderen Kongreßteilnehmern gewechselt hatte, verließ er den Saal und durch-querte die große Hotelhalle.

Niemand beachtete ihn, keiner hielt ihn auf, es war niemand da, der hinter einer Säule hervorsprang und» Stoij!«schrie. Ungehindert konnte er das Hotel >Arab< verlassen, ging zu den wartenden Autotaxen, setzte sich in einen der schwarzen Wagen und sagte auf französisch:»Zur deutschen Botschaft, bitte.«

Verwundert blickte der Chauffeur auf.»Deutsche Botschaft? Haben wir seit Abbruch der diplomatischen Beziehungen nicht mehr. Es gibt hier nur eine deutsche Handelsmission.«

«Dann fahren Sie mich dorthin«, stieß Dimitri hervor.

Die Taxe fuhr an. Dimitri sah schnell zurück.

Niemand stand in der Tür. Keiner lief ihm nach. Nur der Portier stand an der Drehtür und grüßte ankommende Gäste. Aus dem großen Saal klang Musik auf die Straße. Die Fenster des Tagungssaales waren mit Portieren verhängt. In der Bar tanzte man bereits. Die Nacht von Beirut hatte begonnen.

«Schneller!«sagte Dimitri zu dem Chauffeur. Es war, als schwinge Angst in seiner Stimme.»Vite… plus vite.«

Der Wagen schoß durch die Straßen und Gassen von Beirut.

Dimitris Kopf sank auf die Brust.

Leb wohl, Rußland, dachte er.

Ich flüchte in den Nebel einer neuen, unbekannten Welt.

Kolka Iwanowitsch Kabanow — wir wollen Karl Wolter noch so nennen, solange er in Rußland ist und nicht deutschen Boden wieder betreten hat — ging systematisch vor.

Zunächst erzählte er allen Leuten und Nachbarn, welch große Ehre ihm zuteil geworden sei.»Nach Beirut ist mein Söhnchen«, rief er überall, selbst im Bazar und auf dem Markt.»Als Wissenschaftler! Als Fachmann! Ihr sollt sehen, Brüder, er kommt zurück und wird Chefingenieur!«

Die Nachbarn beglückwünschten ihn, denn in Tiflis ist man ohne

Neid. Bekannte tranken mit Kolka ein Gläschen Wodka, und so kam es, daß Kabanow, das glückliche, stolze Väterchen, überall verkünden konnte:»Ich nehme die Gelegenheit wahr, Brüder, auch eine Reise zu machen. Jawohl. Wozu hat man gespart? Noch hat man Augen, die sehen können, und die Knochen machen auch noch mit. Nach Batum fahre ich, zum Schwarzen Meer. Noch nie war ich da. Will doch sehen, ob es wirklich schwarz ist.«

Da lachte man, freute sich über den fröhlichen Alten und wünschte ihm gute Fahrt. Und so fiel es gar nicht auf, daß Kabanow eingekauft hatte, als wolle er hamstern. Wer verreist, in fremde Gegenden, weiß nie, was er dort antrifft. Tiflis war ein gesegnetes Land. Aber es kann ja sein, daß am Schwarzen Meer die Menschen nur Tintenfische essen! Das war nichts für Kabanow, und wem er das erklärte, der sah es ein.

Kolka hatte alles beisammen, was sie brauchten. Einen Wagen, die Pferdchen, die Lebensmittel, und sogar eine Militärpistole. Die hatte in seinem Schlafzimmer unter den Dielen gelegen, und keiner wußte das, auch Dimitri nicht.

Bettina hatte schon seit Tagen gekocht und gesotten. Sie briet Fleisch und rollte es dann in Stanniolbogen, so blieb es frisch und schimmelte nicht. Sie kaufte sich derbe Leinenhosen, feste Stiefel, ein paar Kopftücher, Blusen und einen dicken Wollpullover.»Wer weiß, wie lange wir brauchen«, sagte Kolka.»Wir müssen uns auf alles vorbereiten.«

Dann kam der Morgen, an dem sie weggingen. Zu Fuß bis zu dem Omnibus, der hinaus bis zu den Machatskaja-Bergen fährt. Dort warteten bei einem Bauern Pferdchen und Wagen, in Pflege gegeben für fünf Rubel pro Tag.

Noch einmal blieb Kolka Iwanowitsch stehen und sah zurück auf sein Haus.

Hier hatte er mit seiner russischen Frau gelebt und war glücklich gewesen. Hier hatte er Dimitri Sergejewitsch großgezogen und dafür gesorgt, daß er etwas Ordentliches im Leben wurde. Hier hatte er Jahre um Jahre am Fenster gesessen, seine Zeitung gelesen und seinen Wodka getrunken, und die Zeit war an ihm vorbeigeflossen, und er war zufrieden gewesen. Die Wunden des Krieges waren verheilt, die Wunden der Seele vernarbt, die Erinnerung an Göttingen, an seine Frau Agnes und seine Kinder Wolfgang und Bettina, starb dahin wie ein welker Baum, denn man konnte Geschehenes nicht durch Trauer ändern.

Und nun war alles wie früher. Die Zeit war zurückgedreht. Das besinnliche Alter wurde wieder zum Kampf. Es gab keine Ruhe mehr. Das Leben hatte nur geschlafen; nun wachte es auf und war stärker als zuvor.

«Tut es dir leid, Vater?«fragte Bettina, als sie den Alten sinnend an der Straßenecke stehen sah. Die letzte Ecke. Hinter ihr begann das neue Leben. Von dort war das Haus des Kolka Kabanow nicht mehr zu sehen.

«Nein, mein Kleines. «Kolka legte den Arm um Bettinas Schulter.»Ich will mich an alles erinnern und es dort zurücklassen. Wir können nicht die schwere Last eines kranken Herzens mitschleppen. Es muß alles leicht in uns sein.«

Und so stand er da, sah auf sein Haus, und die Jahre zogen an ihm vorüber und verschwanden durch die Haustür.

«Komm!«sagte Kolka dann und wandte sich mit einem Ruck ab.»Nun ist's vorbei! Nun bin ich leicht. Wie ein Adler fühle ich mich.«

Und er blickte nicht mehr zurück, als sie im Bus saßen und nun auch Tiflis verließen.

Bei dem Bauern holten sie den Wagen ab, schirrten die Pferdchen an und fuhren auf der breiten Straße nach Baku davon.

Ein Väterchen mit seinem schönen Töchterchen. Ein Bauer, der weiß der Himmel wohin wollte. zu einer Hochzeit, zu einer Taufe, zu einer kranken Tante. Es war eine harmlose Fahrt.

Von Tiflis bis Baku sind es fast 600 Werst.

Mit einem Schnellzug ist es ein Vergnügen, Freunde. Mit dem Flugzeug ist's eine knappe Stunde. Wer aber mit einem alten, klapprigen und schwankenden Bauernwagen über die staubige Straße ziehen muß, davor zwei Pferdchen, die sich ausruhen wollen, die fres-sen müssen und trinken, der muß Geduld haben, einen großen Glauben an die Natur und ein festes Sitzfleisch. Natürlich hätte Kolka mit dem Flugzeug fliegen können, oder mit dem Zug hätte er reisen können — aber im Flugzeug verlangte man den Paß, und auch im Zug gab es manchmal Paßkontrollen. So blieb also, da Bettina ja keine Personalpapiere besaß, nur der Weg über die Landstraße und die Tortur der langen Reise.

Am Tage legten sie 30 Werst zurück; wenn's ein guter Tag war und die Pferdchen munter waren, auch 40 Werst. Nachts schliefen sie bei Bauern am Wege im Heu, erzählten, von der Urgroßmutter, die am Baikalsee vor ihrem Tode noch einmal alle sehen wolle — ein blödsinniger Gedanke, aber mache einer was gegen alte Mütterchen. Beim Morgengrauen zogen sie weiter, immer den Kleinen Kaukasus zur Rechten, durch Sonne und Staub, vorbei an der Ölleitung und an stinkenden Raffinerien.

Sechzehn Tage waren sie auf der Landstraße. Obwohl sie sich an den Brunnen und Trögen wuschen, sahen sie bald wie aus Mehl geknetet aus. Vor allem die Pferdchen wurden zu Albinos, so staubig waren sie.

Am siebzehnten Tag sahen sie das Meer. Das Kaspische Meer. Bei Alyatsskaja war es, und Kolka kam sich vor wie ein Fisch, der auf Land gelegen hatte und endlich wieder das Wasser riecht, bevor er völlig eingeht.

«Das Meer!«sagte er, sprang vom Bock, umarmte Bettina und küßte die Pferdchen auf die trockenen Nüstern.»Das Meer! Wir haben es bald geschafft!«

Auf der Höhe rasteten sie, dann verließen sie die Straße nach Baku und wandten sich auf kleinen Pfaden südwärts, der Halbinsel von Kysyl-Agatsch entgegen. Hier, so hoffte Kolka, würde es möglich sein, Wagen und Pferdchen gegen ein Boot einzutauschen.

Immer wieder hielt er an und zeigte Bettina auf der Karte ihren geplanten Weg.»Von der Halbinsel fahren wir mit einem Boot entlang der Küste bis Asstara. Das liegt schon in Persien. Dort gehen wir an Land und sind frei! So einfach ist das, wenn man ein biß-chen denken kann.«

Aber vom Denken allein bekommt man noch kein Boot, Freunde. Das erkannte auch Kolka Iwanowitsch, als er am achtzehnten Tag bei Saljany die Küste entlangfuhr und nach einem seetüchtigen Fischerboot Ausschau hielt.

Boote lagen genug am Strand oder schaukelten an eisernen Bojen, aber entweder waren sie zu groß, oder sie waren so miserabel, daß Kolka ein ums andere Mal sagte:»Sind wir Selbstmörder, Bettina? Nein, es muß ein kleines, starkes, hochwandiges Boot sein, mit einem guten Segel und langen Rudern. So lange suchen wir.«

Es war fast schon Abend, als sie das Boot sahen, das sie suchten. An Land gezogen lag es in der Sonne, braun und gut geteert, mit einem ungeflickten Segel und lackiertem Inneren. Ein wunderbares Boot, und Kolka küßte seine Tochter vor Freude auf den Mund.»Das ist es!«sagte er.

«Aber wenn der Besitzer es nicht verkaufen will?«wandte Bettina ein.

«Will! Wer soll hier wollen?! Ich will das Boot, genügt das nicht?«

Kolka nahm das linke Pferdchen am Halfter, und sie stiegen mit Pferd und Wagen hinunter zum Ufer, was beschwerlich war, denn der Sand war tief, lose und heiß, und die Uferböschung war ausgewaschen von jahrhundertelangen Stürmen. Aber wenn Kolka etwas wollte, gelang es, und so standen sie neben dem Boot und betrachteten es. Kolka beklopfte es und grunzte zufrieden. Müde lehnte sich Bettina an die Bordwand und sah hinauf in den Himmel. Über ihr verstaubtes Gesicht lief der Schweiß und hinterließ kleine Rillen in der Schmutzschicht.

Geschafft, dachte sie. Mit dem Boot an der Küste entlang, vielleicht drei Tage oder vier, und dann sind wir frei und werden Mutter und Wolfgang wiedersehen.

Mutter.

Wie wird sie das Wiedersehen aufnehmen?

Und Dimitri?

Mein Gott, wo war jetzt Dimitri? Wartete er noch immer in Bei-rut?

Über den Strand kam ein krummbeiniger, schwarzhaariger und leicht schlitzäugiger Mensch gelaufen. Ein offenes Hemd trug er, eine geflickte Hose, und an den Füßen hatte er Sandalen.

«He!«rief der Mensch.»Was soll's? Was ist mit meinem Boot? Wer seid ihr?«

«Der Himmel segne dich!«sagte Kolka feierlich, als der Krummbeinige bei ihm war.»Ich bin Kolka Iwanowitsch Kabanow.«

«Was geht's mich an? Ich bin Daniel Alexandrowitsch Agafonow. Was ist mit meinem Boot?«

«Ich will's kaufen, Brüderchen Daniel. Für 500 Rubelchen, und dazu gibt's die Pferdchen und den Wagen und ein Tönnchen Salzfleisch. Was hältst du davon?«

«Gar nichts!«schrie Agafonow, der Fischer.»Kann ich mit einem Pferd Fische fangen, he? Und Salzfleisch? Ich habe die Bude voll Trockenfisch hängen, was soll ich mit Fleisch?«

«Die Abwechslung, Brüderchen«, sagte Kabanow und blinzelte Aga-fonow zu.»Stell dir vor, deine Marussja könnte sich jede Woche in ein anderes Weibchen verwandeln… na, Freundchen… wie wär das?«

«Ein schweinischer Gedanke!«sagte Agafonow laut. Er war wütend und nicht bereit, an Marussjas Verwandlungen zu denken. Ihm genügte sie vollauf so, wie sie war.»Geht, zieht weiter und sucht einen anderen Dummen! Mein schönes Boot für Pferd und Wagen. Hat man so etwas Dummes je gehört?«

«Und 600 Rubelchen.«

«Ich denke 500?«

«Wenn du ein guter Freund bist, auch 700!«

Agafonow sah Kolka nachdenklich an.»Du mußt das Boot haben, Genosse?«

«Ja!«sagte Kolka ehrlich.

«Du willst hinüber nach Persien, was?«

«Brüderchen, frag nicht soviel. Wer bietet dir noch auf der Welt einen Wagen, zwei starke Pferdchen und 800 Rubelchen?«

«Aha!«schrie Agafonow, der Fischer.»Betrügen willst du mich? Jetzt sind es 800! Und wenn ich dich gewähren lasse, zahlst du am Ende noch 1.000 Rubel? So einer bist du! Die eigenen Genossen bescheißen! Oha, ich werde es dem Dorfsowjet melden! Laß sofort das Boot los, sonst staubt es, Genosse!«

Kolka sah hinüber zu Bettina. Sie lehnte noch an dem Boot und war zum Umfallen erschöpft.

«Es ist so eine dumme Sache mit der Überzeugungskraft«, sagte Kolka und schüttelte wehmütig den Kopf.»Der Mensch ist ein ungläubiger Kloß.«

Damit hieb er dem krummbeinigen Agafonow seine Faust exakt unters Kinn, der kleine Fischer gab einen piepsenden Laut von sich, rollte mit den schiefen Augen und drehte sich dann noch oben. Er fiel gegen die Wand seines schönen Boots, wo ihn Kolka auffing, über die Bordwand ins Innere des Bootes warf und dann die Hände abstaubte.

«Los, mein Kleines, pack an!«schrie er und weckte Bettina aus einer lähmenden Schwäche.»Schirr die Pferdchen an das Boot. Ich bleibe im Boot und du reitest mit ihnen ins Meer und ziehst das Boot hinterher. Los, mein Kleines, nicht müde sein! Schlafen kannst du auf dem Meer! Erst zu Wasser mit dem Boot!«

Gemeinsam schirrten sie die Pferde ab, führten sie zum Bug des Bootes, banden sie dort mit Stricken an Haken fest, und Bettina setzte sich auf das stärkste Pferdchen und nahm die Peitsche in die Hand.

Kolka kletterte ins Boot. Dort verabreichte er dem armen Agafonow noch eine Ohrfeige, die ihn wieder in eine tiefe Ohnmacht warf, kontrollierte, ob alles vorhanden sei, kletterte wieder hinaus und lud aus dem Wagen die notwendigsten Lebensmittel um. Vor allem zwei Kanister mit Frischwasser nahm er mit und eine große Dose Fruchtsaft. Dann hockte er sich neben die eingezogenen Ruder, bereit, sie sofort ins Wasser zu stoßen, wenn das Boot schwamm, um die Pferdchen zu entlasten, und nickte der auf dem Pferderücken wartenden Bettina zu.

«Los, mein Kleines!«schrie er.»Los! Hinein ins Meer! Gib dem Pferdchen den Absatz, peitsche es… hoj… hoj… dawai — dawai… zieht, ihr Lieben. zieht. und noch einmal. hoj. es bewegt sich. es bewegt sich. es gleitet ins Meer. die Peitsche, Wanduscha. die Peitsche. dawai. dawai. ins Meer. in die Freiheit. zieht… zieht.«

Und langsam, Zentimeter um Zentimeter, glitt das Boot ins Wasser. Auf dem Pferd saß Bettina wie ein Tatarin und schrie dem anderen Pferdchen zu. Um sie herum spritzten die Wellen auf und das Meer stieg an ihren Hüften empor. In die Freiheit! Dawai! Dawai!

Es ist gar nicht so einfach, ein großes Boot zu Wasser zu lassen, wenn man davon keine Ahnung hat. Kolka Iwanowitsch hatte zwar schon viel in seinem Leben durchgemacht, er kannte Sibirien und die kasakstanischen Steppen, er kannte den Kaukasus und die gelben Fluten des Terek, er hatte Fische mit dem Speer erlegt und Kamelstuten gemolken — aber in einem richtigen Fischerboot hatte er noch nicht gesessen, wenn er auch behauptete, er könne das.

Dawai die Pferdchen zogen den Kahn vom Strand weg ins Wasser, bis zu den Hälsen stampften sie im seichten Sandgrund des Meeres und blieben dann stehen, denn auch ein Pferd ersäuft nicht freiwillig. Das Boot schwamm wohl, schaukelte hin und her, Kolka knüpfte die Leinen los und schrie Bettina zu, sie solle ans Ufer zurückreiten. aber damit ist es ja nicht getan, Genossen. Ein Boot muß sich auch bewegen, nicht auf und ab, das tut ein schwimmendes Papier auch, sondern vorwärts, dem Ziel entgegen, weg vom Ufer Rußlands und hinüber in die Freiheit Persiens.

Hier saß nun Kolka Iwanowitsch hilflos vor einem umgeklappten Mastbaum, vor einem Berg zusammengeraffter Segel, vor Rollen voller Taue und verknoteter Takelage, sah mit gerunzelter Stirn auf das ihn verwirrende Chaos und überlegte, was zuerst zu machen sei.

Am Ufer band Bettina die Pferdchen an den Karren, suchte aus dem zurückbleibenden Gepäck noch zwei kleine Leinenbeutel heraus — es waren Kartons mit Seife, wie sich später herausstellte; sogar französische Seife —, warf dann ihre Kleider ab, band sie zu einem Bündel zusammen, legte es auf den Nacken und schwamm, nur in Höschen und Büstenhalter, zum Boot. Es war ein schöner Anblick, Freunde, und Kolka seufzte und war unendlich stolz, eine so schöne Tochter zu haben.

«Nun schwimmen wir!«sagte Kolka, als er Bettina ins Boot gezogen, abfrottiert und umarmt hatte. Sie zog wieder ihre verstaubte Reisekleidung an und band das nasse Haar mit einem Kopftuch zusammen.»Aber das ist eine verteufelte Takelage. Bei den Fischern auf dem Don war das anders. Unkomplizierter. Die hatten einen Pfahl in der Mitte des Bootes, ein Segel daran, der Wind blies hinein — und hui, ging's los! Das hier ist ja eine nautische Wissenschaft.«

«Wir haben den Besitzer des Bootes ja noch an Bord, Vater«, sagte Bettina.»Er wird uns helfen.«

«Den können wir doch nicht mitnehmen?«

«Warum nicht?«

«Nach Persien?«

«Nur so lange, bis er uns beigebracht hat, wie man dieses Boot lenkt. Dann segeln wir nahe an die Küste zurück und setzen ihn wieder ab.«

Bewundernd sah Kolka Iwanowitsch seine Tochter an.»Ein vorzüglicher Gedanke, Töchterchen«, sagte er.»So wird's gemacht. «Er warf Bettina einen Eimer zu und klatschte in die Hände.»Füll ihn mit Meerwasser, und dann her zu mir. Wir wollen das schlafende Väterchen wecken.«

Man wird Verständnis dafür haben, daß Daniel Alexandrowitsch Agafonow nicht sehr begeistert, ja sogar sehr ungehalten war, als er nach einigen Wassergüssen aus der Ohnmacht erwachte, sich auf dem Kaspischen Meer schwimmend fand und in der Gewalt eines Menschen, den er vom ersten Blick an nicht hatte leiden können. Er räkelte sich, hieb mit den Fäusten gegen die Bordwand, brüllte unflätige Worte, benahm sich ausgesprochen unfein und tobte seine ohnmächtige Wut an einer Kabelrolle aus, die ihm am nächsten lag. Er bearbeitete sie mit Tritten und bespuckte sie.

«Und nun, Brüderchen«, sagte Kolka gemütlich, als Agafonow keuchend auf der Ruderbank saß und trübsinnig hinüber zum Ufer blickte,»sei ein guter Mensch und bring Brüderchen Kolka bei, wie man segelt.«

«Eine Scheiße werde ich!«schrie der unhöfliche Agafonow.»Ersauft wie die Ratten!«

«Welch ein böser Mensch!«Kolka hob den Blick zum Himmel.»Daß Gott solche Charaktere duldet. «Er ging hinüber zur Ruderbank, tippte Agafonow auf die Schulter, und als dieser mißmutig aufsah, gab er ihm eine schallende Ohrfeige. Agafonow klammerte sich am hölzernen Sitz fest und brüllte auf.

«Die Hölle über dich!«schrie er und zitterte vor Wut.»In Schweinejauche sollte man dich ertränken!«

Was half's? Ein Mensch kann nur bis zu einer gewissen Grenze schimpfen, dann wird er müde und gleichgültig und resigniert. Bei jedem ist das individuell verschieden; der eine gibt nach Minuten auf, der andere nach Stunden, Frauen — sie sind darin unglaublich zäher — brauchen Tage. Agafonow brauchte genau vier Stunden, bis er sich durch gütige Reden und wohlgezielte Ohrfeigen davon überzeugen ließ, daß es ein Akt der Klugheit sei, Kolka das Führen eines Fischerbootes beizubringen.

«Na also, Brüderchen«, sagte Kolka zufrieden, als Agafonow seufzend und mit geschwollenen Backen den Mastbaum aufrichtete und die Segelleinen spannte.»Ich wußte, daß wir gute Freunde werden. Man muß die Menschen nur von ihrem Glück überzeugen.«

«Anfassen!«knurrte Agafonow.»Die Segel da! Und zieh an der Leine, du Hund. Dann gleiten sie empor.«

Kolka zog, und das Segel knarrte den Mastbaum hinauf, beulte sich im Wind, blähte sich, und das Boot machte einen Ruck, der Kiel durchschnitt das Wasser, es rauschte um sie, die Küste glitt davon.

Sie fuhren. Sie segelten vor dem Wind her, der so richtig wehte, als blase Gott selbst die Backen auf.

«Hurra!«schrie Kolka, machte einen Luftsprung, umarmte Bettina und küßte sogar den sich wehrenden Agafonow auf die Wangen.»Wir fahren! Es geht in die Freiheit! In die Freiheit, Brüderchen!«

Agafonow, der Fischer, hockte sich an den Ruderbalken und lenkte das Boot hinaus aufs Meer. Bald war die Küste nur ein schmaler, kaum wahrnehmbarer Streifen am Horizont. Kolka Iwanowitsch Kabanow setzte sich neben Agafonow. Bettina lehnte am Mast und ließ den Wind durch ihre Haare wehen.

«Ich möchte dich nur warnen, Dummheiten zu machen, mein Herzchen«, sagte Kolka und sah Agafonow mahnend an.»Ich weiß, daß in der Nähe der persischen Grenze und auch bei Len-Koran sowjetische Kanonenboote kreuzen und die Küste bewachen. Es wäre dumm, Brüderchen, wenn du sie anfährst. Erstens werfe ich dich rechtzeitig über Bord, zweitens macht es mir gar nichts aus, mich und mein Töchterchen selbst zu versenken, denn das Leben ist doch nur ein Hauch, sagt der Philosoph. Sei also brav, Herzchen, und fahre hinaus aufs Meer, ziehe einen großen Bogen und segle zur persischen Küste.«

Und so geschah es. Was blieb dem armen Daniel Alexandrowitsch anderes übrig? Wer den Teufel an Bord hat, muß auch Schwefel riechen können.

Aber er rächte sich. Auf ganz legale Art geschah das: bei der Ausbildung des alten Kolka zum Seemann.

Da war es nicht damit getan, daß Kolka nur an den Leinen zog, die Agafonow ihm angab — o nein, er mußte den Mastbaum hinauf, wie ein Seekadett. Er mußte Segel raffen und Taue spannen. Er mußte gegen den Wind segeln und blitzschnell die Rahen umwerfen, wenn der Wind drohte, das Boot in die Wellen zu drücken. Und die ganze Zeit über stand Agafonow unten am Mast und schrie mit satanischer Wonne:

«Schneller, Freundchen, schneller! Ein Windstoß ist wie ein Furz, man kann ihn nicht aufhalten! Und wenn einem die Zähne klappern… es weht daher! Schneller, zum Teufel! Wie lahm er ist, wie lahm! Aber eine große Fresse hat er, und ohrfeigen kann er! Nie wird das ein Seemann! Nie!«

Erschöpft, durchweicht, mit bebenden Knien kam dann Kolka an Deck zurück, spuckte Agafonow an und legte sich auf den Rücken wie ein kranker Hund. Bettina massierte ihn, gab ihm Tee mit Wodka zu trinken und lachte doch dabei. Denn trotz aller Qual: Sie kamen weiter, segelten flott über das Meer. Und wenn es so weiterging, waren sie in fünf Tagen in Sicherheit.

Die Nächte waren ruhig und schön. Agafonow warf einen Treibanker — daß es so etwas gab, erfuhr Kolka auch erst jetzt. Bettina kochte auf einem Spirituskocher das Abendessen; meistens Suppe aus fertigen Gemüsedosen, die Agafonow mit saurer Miene aß, denn ein echter Fischer hat keinen Geschmack an Dingen, die nicht aus dem Meer stammen. Dann trank man Tee, Wodka oder den berühmten grusinischen Kognak >Jubileiny XX<, von dem Kolka in weiser Voraussicht fünf Flaschen mitgenommen hatte.

Nach drei Tagen hatte sich Agafonow daran gewöhnt, Mitglied der Familie Kabanow zu sein. Er holte aus einem Holzkasten eine alte, verbeulte Handharmonika hervor, und dann spielte und sang er alte Fischerlieder vom Kaspischen Meer, während der Mond aufzog und das Wasser zu einem silbernen Spiegel verwandelte.

Schöne Abende wären das gewesen, hätte nicht immer die Furcht im Nacken gesessen, ein Patrouillenboot könnte auftauchen und die Flucht aus Tiflis in die Tragödie vom Untergang einer Familie verwandeln.

Am dritten Tage kamen Kolka einige Bedenken. Er hatte sie schon lange, aber er sprach sie jetzt erst aus.

«Wie ist das eigentlich, Herzchen?«sagte er und gab Agafonow eine grusinische Zigarre.»Wird man dich zu Hause vermissen?«

«Ich glaube schon«, antwortete Daniel Alexandrowitsch und biß die Spitze der Zigarre ab.»Ich habe eine Frau und neun Kinder.«

«Was werden sie jetzt tun?«

«Jammern und schreien. Und dem Wildwellengeist ein Opfer bringen. «Agafonow sah dem ersten Rauchring nach, der im Mondlicht zum Mast emportrieb. Eine Zigarre, dachte er. Wie ein Kapitalist!

Wer hat in unserem Dorf schon jemals eine Zigarre geraucht? Der Natschalnik von der staatlichen Fischsammelstelle, gewiß. aber so ein einfacher Fischer mit neun Kindern. nicht daran zu denken.»Sie werden denken, ich sei mit dem Boot abgetrieben.«

«Aber die See war doch ganz ruhig.«

«Das stimmt«, sagte Agafonow nachdenklich.

«Und am Ufer standen zwei Pferdchen und ein Wagen, von denen niemand weiß, wem sie gehören.«

«Das wird einen Auflauf gegeben haben.«

Kolka Iwanowitsch nahm einen tiefen Schluck Wodka. Er war sehr in Sorge.»Sie werden das sofort dem Sowjet gemeldet haben. Der Miliz. Der Partei.«

«Das könnte sein.«

«Und dann sucht man uns.«

«Mit einem Hubschrauber. «Agafonow sah auf seine Zigarre.»Wieviel Zigarren hast du bei dir, Brüderchen?«

«Zwanzig. Und drei Flaschen Kognak.«

«Das ist ein schönes Wort. «Agafonow griff zu seiner Handharmonika.»Sie werden uns nicht finden, Kolka Iwanowitsch. Wo bekomme ich jemals wieder zwanzig Zigarren und drei Flaschen Ju-bileiny?«

Sie schlugen einen Bogen, weit aufs Meer hinaus, wo kein Hubschrauber sie suchen würde, denn dorthin verirrt sich kein Boot und wird auch keines entführt. Und so trieben sie sieben Tage über das Kaspische Meer, bräunten in der Sonne, fingen Fische, sangen zu Agafonows Musik und fanden das Leben herrlich.

Nur nachts, wenn Agafonow schlief und grauenhaft schnarchte, starrten Kolka und Bettina auf das leise gekräuselte Meer und dachten den gleichen Gedanken.

Was mochte mit Dimitri sein?

War er noch in Beirut? Wartete er noch auf sie? Hatte er irgendwo Unterschlupf gefunden?

Oder war er wieder zurückgeflogen nach Tiflis, in die Heimat, zu der er gehörte wie der Samen der Maulbeerbäume?

Dimitri.

Bettina legte ihr Gesicht auf beide Hände. Sie sah ihn vor sich… seine schwarzen Locken, seine strahlenden Augen, seine fröhlichen, immer lachenden Lippen.

«Er wartet auf uns«, sagte Kolka und legte den Arm um ihre Schulter.»Er liebt dich, Kleines. Und ich kenne doch Dimitri, mein Söhn-chen.«

In der deutschen Handelsmission in Beirut waren an dem Abend, an dem sich Dimitri Sergejewitsch entschloß, aus Liebe zu einer Frau seine sowjetische Heimat zu verlassen, nur ein Nachtportier und ein Stenograf vorhanden, die sich nicht zuständig erklärten für einen um politisches Asyl bittenden geflüchteten Russen. Sie ließen Dimitri zwar ins Gebäude, aber nur bis in die Eingangshalle; dort saß er auf einer kalten marmornen Bank und erklärte dem nicht zuständigen Stenografen, daß er nach Deutschland wolle.

«Aus Liebe«, sagte er ehrlich.»Verstehen Sie das, Gospodin?«

Der Stenograf verstand das nicht; vielmehr glaubte er, das sei ein Besoffener, und Betrunkene soll man nach Erfahrung aussprechen lassen und nicht reizen. Hinzu kam der Smoking. Hat man schon gesehen, daß jemand in einem Smoking um Asyl bittet? Ohne Köf-ferchen in der Hand, aber mit einem weißen Ziertuch in der Brusttasche?

Ein klarer Fall von Belästigung durch Trunkenheit.

«Wo ist der Leiter der Handelsmission?«fragte Dimitri, nachdem er eine halbe Stunde auf der kalten Steinbank gesessen hatte. Er sprach das harte Deutsch, wie es alle Russen sprechen, die diese Sprache auf der Schule gelernt haben.

«Beim Empfang des Nobelpreisträgers Bunche im Hotel >Arab<«, sagte der Stenograf mißmutig. Er war müde. Sein Dienst ging in einer halben Stunde zu Ende. Erfahrungsgemäß trafen nachts keine Telegramme mehr ein, denn in der Welt war es verhältnismäßig ru-hig. Vietnam, na ja, aber das war weit entfernt von Beirut. Und auch Nasser in Ägypten war ruhiger geworden. Ab 22 Uhr übernahm eine Telefonistin die Wache in der Nachrichtenzentrale der Handelsmission, und der Stenograf hatte eine Verabredung mit einer libanesischen Schönen.

«Vom Hotel >Arab< komme ich ja«, sagte Dimitri und lächelte schwach.

«Bitte! Warum haben Sie den Chef nicht dort angesprochen?«

«Ich habe den Saal nicht betreten. Wir stehen unter Kontrolle. Ich kann doch nicht in einem Hotelsaal um Asyl bitten. Ich bin Dimitri Sergejewitsch Sotowskij. Ingenieur des Ölkombinats in Tiflis.«

«Angenehm. Heinrich Friedrich Schmitz. «Der Stenograf sah an die Stuckdecke der Halle. Was soll ich mit ihm, dachte er. Warum kommt er auch um eine solch dumme Zeit und will flüchten?

«Können Sie Ihren Vorgesetzten nicht anrufen?«fragte Dimitri.

«Unmöglich! Warum denn?«

«Ein Mensch sucht Schutz.«

«Deswegen können wir doch nicht einen Empfang des Friedensnobelpreisträgers stören!«

«Das stimmt. «Dimitri starrte auf den Boden. Er kam sich armselig vor, wie ein Bettler, der um einen Teller Suppe bettelt und dem man eine Tasse voll heißen Wassers gibt.»Wann sind denn die Herren da?«

«Die einzelnen Abteilungsleiter kommen gegen neun Uhr morgens. Das Sekretariat ist zwar früher da… aber die können ja nicht entscheiden.«

«Danke. «Dimitri erhob sich. Trotz der lauen Nacht fröstelte ihn.»Können Sie mir eine Taxe besorgen?«

«Aber ja.«

Zehn Minuten später verließ Dimitri die deutsche Handelsmission in Beirut. Er warf sich in den Wagen, sah zurück, hob die Schultern und beugte sich zu dem Fahrer vor.

«Ambassadeur americain«, sagte er in holprigem Französisch. Der Fahrer nickte und raste los. In Beirut hatten die Autos anscheinend keinen ersten und zweiten Gang.

Die amerikanische Botschaft war auch nur schwach besetzt, auch ihr Botschafter war im Hotel >Arab< und machte die Honneurs für Ralph Bunche. Aber der Militärattache war noch anwesend, in Galauniform, und arbeitete einige Meldungen aus Washington auf, die gerade per Fernschreiber gekommen waren. Man sah, daß er es eilig hatte, denn im Hotel >Arab< wartete Maud auf ihn, die Tochter eines englischen Bankiers.

Verwundert starrte Major Hawkins auf den großen, eleganten Mann im Smoking, der in sein Zimmer geführt wurde und sich als Dimitri Sotowskij vorstellte.

«Was kann ich für Sie tun, Mister Sotowskij?«fragte er.

«Ich spreche kein Englisch«, antwortete Dimitri.»Können Sie Deutsch?«

«Ein wenig.«

«Sehr schön. «Dimitri richtete sich auf, straffte den Oberkörper, als wolle er eine Meldung machen.»Ich bitte um politisches Asyl. Ich gehöre zu einer Gruppe sowjetischer Ölfachleute aus Tiflis und möchte im Westen bleiben.«

«Das ist wieder einmal ein dicker Hund, der ausgerechnet zur falschen Zeit an die Laterne pißt!«sagte Major Hawkins in bestem Te-xanisch. Dimitri verstand gar nichts; er lächelte, weil er glaubte, es sei etwas Gutes.

«Ich bin vor dem Empfang geflüchtet«, sagte Dimitri.»Ich habe alles zurückgelassen. Sogar der Smoking ist geliehen.«

«Und nun wollen Sie in die USA?«Hawkins setzte sich, schob ein Päckchen Zigaretten über den Tisch und lehnte sich zurück. Good night, liebe Maud, dachte er. Dieser Russe kostet uns fünf Stunden Zärtlichkeit. Und gerade heute bin ich so gut in Form.

«Ich will nach Deutschland«, sagte Dimitri glücklich.

Major Hawkins atmete auf.»Da sind Sie hier falsch, Mister Sotowskij. Hier ist die US-Botschaft. Sie müssen zur deutschen Handelsmission gehen.«

«Da komme ich her.«»Und?«

«Sie sind alle im Hotel >Arab<. Vor morgen neun Uhr.«

«Und Sie haben es eilig?«

«Ich werde überwacht.«

«Sind Sie eine berühmte sowjetische Persönlichkeit?«Major Hawkins überflog rasch die Namen der russischen Personen, die in den Listen der Prominenten verzeichnet waren. Soviel er sich erinnern konnte, war ein Sotowskij nicht genannt.»Sind Sie ein großer Wissenschaftler?«

«Nein. Ein kleiner Ingenieur.«

«Sie werden politisch verfolgt?«

«Nein. Ich habe eine gute Stellung in Tiflis.«

Major Hawkins zuckte nervös mit den Schultern.»Sie sind Antikommunist?«

«Nein! Ich bin ein guter Kommunist. Ich habe sogar ein Parteidiplom.«

«Und warum wollen Sie dann in den Westen?«

«Ich liebe ein deutsches Mädchen.«

«O Jammer!«Major Hawkins kratzte sich den Haaransatz. Ein schmalziger Liebesroman in natürlicher Größe, abends um 21 Uhr. Und Maud wartet im >Arab< und hat sich bestimmt den tiefen Ausschnitt mit Maiglöckchenparfüm eingesprüht. Das roch dann wie eine Frühlingswiese, wenn er den Kopf darauf legte. O Maud.

«Ich kann bleiben?«fragte Dimitri fast demütig. Seine schwarzen Augen bettelten. Major Hawkins leckte sich über die Lippen. Er hatte Mitleid mit diesem großen Russen in dem schlecht sitzenden Leihsmoking, aber die Diplomatie hat nun einmal gewisse Formen und Gesetze. Entscheidungen aus dem Handgelenk treffen nur Genies. Ehrlich, wo gibt es heute noch Genies in der Diplomatie?

«Bleiben können Sie«, sagte Hawkins.»Aber nur als Gast. Ich lasse Ihnen ein Zimmer geben hier im Haus, wo Sie warten können. So einfach ist das nämlich gar nicht. Sie wollen nie mehr nach Rußland zurück?«

Dimitri senkte den Kopf. Welche Frage, dachte er. Wie kann man einem Russen eine solche Frage stellen? Ich gehe in ein anderes Land, jawohl, aber im Herzen verlasse ich Rußland nie. Wie kann man Mütterchen Rußland vergessen? Nur ein Amerikaner kann so etwas fragen.

«Ja«, sagte er leise.»Ich will in Deutschland bleiben.«

«Dann werden wir Sie morgen vormittag an die Deutschen weitergeben. «Major Hawkins sah Dimitri mit einem leichten Kopfschütteln an. Er sieht nicht aus, als ginge er fröhlich in den freien Westen, dachte er. Er macht eher den Eindruck, als verbanne man ihn aus Rußland in eine Sklaverei.»Hat im Hotel jemand Ihren Weggang bemerkt?«

«Als ich ging, nicht. Jetzt wird man mich sicherlich vermissen.«

«Und keiner ahnt, wohin Sie sich gewandt haben?«

«Nein. Man wird vor einem Rätsel stehen. Ich gelte als ein treuer, guter Kommunist.«

Major Hawkins ließ Dimitri in den zweiten Stock der Botschaft führen, wo einige Gastzimmer waren. Ein Nachtwächter brachte ihn hoch.

Ein merkwürdiger Mensch, dachte Hawkins, während er die letzten Meldungen abzeichnete, in der Nase schon das Maiglöckchenparfüm von Mauds Kleiderausschnitt. Bittet um Asyl und ist stolz darauf, ein guter Kommunist zu sein.

Der Mann wird es schwer haben im Westen. Er sollte lieber in Rußland bleiben.

Oben, in dem kleinen Zimmer, legte sich Dimitri, so wie er war, aufs Bett und starrte gegen die niedrige Decke. Nur die Smokingschleife löste er und öffnete den etwas engen Kragen.

Der zweite Schritt in die Freiheit war schwerer als der erste gewesen.

Der Westen, die sogenannte freie Welt<, wartete nicht auf ihn, das sah und merkte er jetzt. Und erschreckend erkannte er, daß es unmöglich sein würde, eine neue Heimat zu finden. Wo immer er auch sein würde, auch in den Armen Bettinas — es würde immer nur ein Asyl sein.

Die Heimat blieb Rußland.

Man kann sie nicht ablegen wie ein schmutziges Hemd.

Und es war Dimitri, als sammelten sich in seinem Mund die Tränen an, die seine Augen nicht weinen wollten.

Der Leiter der sowjetischen Handelsmission in Beirut, der häßlich bebrillte Genosse Andreij Safonowitsch Schejin, geriet in große Not, als er seine Tifliser Schäfchen um sich versammelte und feststellte, daß einer, der schöne Dimitri Sotowskij, fehlte. Und gerade mit So-towskij hatte Schejin etwas vor; er sollte Tischherr der ägyptischen Prinzessin Sharifa werden, denn der Kontakt zu den ägyptischen Einkäufern für Landmaschinen war nicht fließend genug. Der Ehemann Sharifas aber, ein Kriegsakademiekamerad Nassers, saß an der Stelle, an der man den Einkauf von Traktoren unterschrieb. Ein galanter Mann wie Sotowskij konnte schon durch seine bloße Anwesenheit viel erreichen.

«Wo ist Dimitri Sergejewitsch?«frage Schejin und blinzelte die anderen Ölfachleute an. Professor Swinzow, der, allen Alterserscheinungen spottend, in Beirut seine Potenz entdeckt hatte, flirtete mit einer rassigen Dame, die durch die Halle kam. Schejin stieß ihn an.»Wo ist Sotowskij?«schrie er unhöflich.

«Auf seinem Zimmer, was weiß ich?«Swinzow atmete tief auf. Diese Kultur der Weiber im Westen, dachte er. Diese Raffinesse in Kleidung und Bewegung.

«Er war doch eben noch hier?«

«Vielleicht ist er auf dem Lokus?«

Man wartete. Aber Sotowskij kam nicht wieder. Als einer der Ölleute den faden Witz machte, Dimitri hätte sich doch wohl nicht mit hinuntergespült, rannte Genosse Schejin in die Toiletten und rief mehrmals den Namen Sotowskijs.

Schwitzend vor Angst lehnte sich Schejin an die gekachelte Toilettenwand. Nur das nicht, dachte er zitternd. Himmel, nur das nicht! Laß ihn mit einem Weibsstück weg sein, soll er in einem Bordell die Möbel zertrümmern, möge er besoffen in der Gosse liegen. man kann das ausbügeln wie eine zerknitterte Hose. Aber weg sein, einfach weg, womöglich unter dem Schutz einer westlichen Macht, das war auch für den Genossen Schejin das Ende einer erfolgreichen und schönen Laufbahn.

Im großen Saal tanzte man. Der Sekt perlte in den schlanken hohen Gläsern. Am Ehrentisch brachte der amerikanische Botschafter einen Toast aus auf Ralph Bunche und seine Bemühungen um den Frieden der Welt. Fotoreporter und Wochenschauen filmten.

Und zur gleichen Zeit flüchtet ein russischer Experte aus den Armen seines Mütterchens Rußland.

«Seien Sie völlig unbefangen«, sagte Schejin, als er aus der Toilette zurückkam in die Halle, wo die Ölleute aus Tiflis noch immer herumstanden. Professor Swinzow war sogar unruhig. An der Tür zur Bar wartete die schöne Dame auf ihn. Sie wechselten Blicke, und in Swinzow blähte sich das Herz wie eine aufgeblasene Schweinsblase.

«Dem Genossen Sotowskij ist es schlecht geworden. Er verträgt keinen Sekt. Er ist auf sein Zimmer gegangen.«

Die Russenversammlung löste sich auf. Professor Swinzow verschwand in der Bar und wurde erst am nächsten Mittag wiedergesehen, hohläugig und bleichwangig, aber mit glühenden Augen.

«Diese Weiber!«rief er ein ums andere Mal.»Ein Vulkan ist blubbernder Pudding dagegen! Diese Rasse, diese schmiegsamen Körper, diese Ausdauer — Genossen, man merkt immer zu spät, daß die Welt nicht nur aus Berechnungen und wissenschaftlichen Experimenten besteht.«

Schneller, als sie es für möglich gehalten hatte, saß sie Jurij Ale-xandrowitsch Borokin gegenüber und fand ihn so nett und höflich, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Niemand wußte, daß Agnes Wolter sich auf den Weg gemacht hatte zur sowjetischen Botschaft in

Rolandseck, um als Mutter zu versuchen, mehr zu erreichen als alle Diplomaten.

Wolfgang hatte Dienst an der Zonengrenze für einige jener Tage, über die man nicht sprach und von denen außer einem kleinen Kreis Eingeweihter niemand wußte, was während derselben geschah. Bo-rokin interessierte sich sehr dafür und wartete auf die Rückkehr Wolters und seinen Bericht.

Die Abwesenheit ihres Sohnes hatte Agnes Wolter zum Anlaß genommen, mit einer Taxe von Bonn nach Rolandseck zu fahren und sich bei Borokin zu melden. Irene Brandes war in Köln und kaufte ein; so störte niemand den Alleingang Agnes Wolters, von dem sie sich alles versprach. Sie haben alle eine Mutter, ob Deutsche, Russen, Chinesen oder Schwarze, und lieben sie. Nichts ist stärker als die Mutterliebe, denn sie alle waren ja einmal Kinder und haben nicht vergessen, wie sie an der Hand der Mutter durch ein Märchenland gegangen sind.

Borokin ließ Agnes Wolter nicht eine Minute warten. Er unterbrach sofort ein Telefongespräch, schickte die Sekretärin mit den Akten hinaus und bestellte starken Kaffee mit Zucker und Schlagsahne. Alte Damen trinken so etwas gern; oft schrumpft ihre Welt zusammen zu einer Tasse Kaffee, in deren Aroma alle Erinnerungen eines Lebens liegen.

«Es freut mich, die Mutter eines Freundes zu sehen«, sagte Bo-rokin geschmeidig und küßte Agnes Wolter sogar die Hand, was sie sehr verlegen machte, denn nur dreimal hatte jemand ihr in ihrem Leben die Hand geküßt. Zweimal ein Vertreter einer kleinen Frottierhandtuchfabrik, der etwas verkaufen wollte, und einmal der Bürgermeister von Göttingen bei einer Gedenkfeier für die Opfer des Krieges.

«Es wird sofort ein Kaffee gebracht. Sie trinken doch Kaffee, gnädige Frau?«

«O danke, ja. sehr. danke. «Agnes Wolter setzte sich in einen Sessel und sah Borokin gütig an. Ein feiner Mensch, dachte sie. Ein offener Blick. Manieren. Man kann Vertrauen zu ihm haben. Wolfgang sieht ihn ganz falsch, aber das ist seine Jugend. Wo soll die Jugend Menschenkenntnis herhaben? Eine Mutter sieht das ganz anders. Sie fühlt den guten Menschen.

«Ich wollte mit Ihnen über Bettina sprechen«, sagte Agnes Wolter ohne lange Einleitungen. Sie war es gewöhnt, ehrlich an die Dinge heranzugehen. Wozu umschweifende Worte, wenn man alles so klar sagen kann?» Bettina ist bei Ihnen in Rußland, durch diesen schrecklichen Unglücksfall in Tiflis.«

«Ganz recht, gnädige Frau. «Borokin nahm der Sekretärin, die hereinkam, das Tablett ab, winkte mit den Augen, die Tür schloß sich, und Borokin bediente eigenhändig die etwas verhärmte Agnes Wolter.

Es ist alles falsch, was man über die Russen sagt, dachte sie. Alles nur Hetzpropaganda. Es sind liebe, zuvorkommende Menschen. Ich werde es Wolfgang einmal ganz deutlich sagen müssen.

«Ein guter Kaffee«, sagte sie nach dem ersten Schluck. Viel Schlagsahne hatte sie genommen. Borokin lächelte still. Es war ein zufriedenes Lächeln… aber an seine eigene Mutter dachte er nicht.

«Ihre Tochter ist in Moskau. Gesund und munter.«

«Das ist schön. «Agnes Wolter holte aus der schwarzen kleinen Wildledertasche auf ihrem Schoß ein Taschentuch. Nicht weinen, dachte sie. Nein, du darfst nicht weinen. Auch nicht vor Freude, daß Bettina lebt und gesund ist. Du mußt tapfer sein, Agnes.

«Warum lassen Sie sie dann nicht zurück nach Deutschland?«fragte sie geradezu.

Borokin setzte sich ihr gegenüber und rauchte eine Zigarette an.»Das ist nicht so einfach. Wenn es nach mir ginge. sofort, gnädige Frau. Aber die Politik!«

«Meine Tochter ist eine einfache Stewardeß.«

«Gewiß. Aber in dem abgestürzten Flugzeug befand sich antisowjetisches Propagandamaterial. Flugblätter, Hetzzeitungen, Spottbilder. Das muß erst geklärt werden.«

«Das wußte ich nicht«, sagte Agnes Wolter leise.»Das hat mir auch niemand gesagt.«»Ich habe das auch gar nicht anders erwartet. «Die Stimme Bo-rokins war weich wie ein Streicheln.»Man wird sich doch nicht blamieren.«

«Weiß die Fluggesellschaft DBOA es?«

«Natürlich.«

«Auch sie haben mir das verschwiegen.«

«Es ist eine Gemeinheit, eine sorgende Mutter in solcher Ungewißheit zu lassen. «Borokins Stimme zitterte wahrhaftig voll Bitterkeit.»Wir Russen tun alles, um diese peinliche Affäre aus der Welt zu schaffen. Aber darüber vergeht eben Zeit, weil der Westen so unehrlich ist. Leidtragende sind Ihre Tochter Bettina und Sie, verehrte gnädige Frau. Ich drücke Ihnen mein tiefstes Mitgefühl und die Empörung meiner Regierung aus. Ihre Tochter ist ein Opfer der immer uneinigen Politiker.«

«Und was soll nun werden?«fragte Agnes Wolter kläglich.

«Wir müssen warten, gnädige Frau.«

«Wie lange?«

«Ich hoffe, daß in ein paar Wochen alles vorbei ist und wir Ihre Tochter nach Deutschland fliegen lassen können.«

«Ein paar Wochen noch. «Agnes Wolter weinte nun doch, obwohl sie es nicht wollte. Aber die Erregung in ihr war stärker. Bo-rokin ließ sie weinen, rauchte seine Zigarette und dachte an Wolfgang Wolter, der irgendwo an der Zonengrenze etwas Geheimnisvolles tat, was Borokin unruhig machte.»Darf sie denn Post empfangen?«

«Aber ja. Ihre Tochter ist doch ein freier Mensch in einem freien sozialistischen Land. Sie ist Gast der Sowjetunion; ein entzückender Gast außerdem.«

Agnes Wolter nestelte einen Brief aus ihrer Handtasche. Sie legte ihn auf den Tisch, und Borokin beugte sich vor, nahm ihn an sich und las die Anschrift >Fräulein Bettina Wolter<.

«Wenn Sie die Adresse ergänzen und den Brief weiterleiten könnten, Herr Borokin«, sagte Agnes Wolter. Sie hielt ein Portemonnaie in den Händen und drehte es nervös zwischen den Fingern.»Was kostet das Porto?«

«Aber ich bitte Sie, gnädige Frau!«Borokin sprang auf und legte den Brief deutlich sichtbar auf seinen Schreibtisch.»Ihr Brief geht natürlich mit diplomatischer Kurierpost heute noch und kostenlos nach Moskau.«

«Mit Kurierpost. «Agnes Wolter sah Borokin dankbar an. Dann sprang sie plötzlich auf, streckte ihm beide Hände entgegen und hätte ihn fast umarmt.»Ich danke Ihnen«, rief sie, und die Tränen liefen ihr wieder über die Wangen.»Ich danke Ihnen. Sie sind ein so guter Mensch. Sie wissen, wie es einer Mutter ums Herz ist. Haben Sie auch noch eine Mutter?«

«Ja«, sagte Borokin.»In Kiew.«

«Und einen Vater?«

«Nein, er fiel bei der Eroberung von Danzig.«

«Auch mein Mann ist gefallen. In russischer Gefangenschaft gestorben.«

«Der Krieg ist ein Verbrechen, gnädige Frau«, sagte Borokin elegant.»Damit es diese Opfer nie mehr gibt, kämpfen wir jetzt um den Frieden.«

«Gott möge Ihnen dabei helfen!«

Agnes Wolter trank noch zwei Tassen Kaffee mit einem Berg Schlagsahne darauf; dann brachte sie Borokin selbst bis auf die Straße und zu der dort außerhalb des Botschaftsbereichs wartenden Taxe.

«Sie können ganz beruhigt sein«, sagte er zum Abschied.»Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.«

Agnes Wolter setzte sich glücklich in den Wagen, ja, sie winkte durch das Rückfenster, als der Wagen anfuhr. Und Borokin winkte zurück.

«Ein ausgesprochen netter Mensch!«sagte Agnes Wolter laut. Der Taxifahrer sah sie durch seinen Innenrückspiegel an.»Gehört alles zu deren Propaganda«, sagte er.

«Was wissen Sie davon, junger Mann?«Agnes Wolter lehnte sich aufgebracht zurück.»Sie glauben ja auch nur, was die Zeitungen schreiben.«

Borokin war in sein Büro zurückgegangen und wartete nun, bis die Sekretärin das Kaffeegeschirr abgeräumt hatte. Dann ging er hinter seinen Schreibtisch, nahm den Brief Agnes Wolters an ihre Tochter, las noch einmal die Anschrift, lächelte mokant und zerriß den Brief in kleine Fetzen. Aus der hohlen Hand ließ er die Schnipsel in den Papierkorb zu seinen Füßen regnen und schnalzte dann mit den Fingern.

Er hatte das Gefühl, nur noch wenig Zeit zu haben, denn irgendwann mußte Bettina einmal auftauchen. Dann war das große Spiel zu Ende. Bis dahin mußte man noch allerhand erreicht haben.

Nach sechs Tagen Segeln und Rudern, Segelsetzen und Taueziehen, bei Windflauten fahren und gegen die Wellen zu steuern, fühlte sich Kolka Iwanowitsch Kabanow stark genug, weiter und allein in die Freiheit zu fahren. Auch Agafonow war zufrieden; sein Lehrjunge hatte schnell begriffen, worauf es ankam beim Bootsführen.

«So wird bei einem guten Lehrer aus einem Rindvieh ein Meister«, sagte er, als er Kolka mit Meerwasser zum Schiffer taufte.»Du kannst jetzt segeln, Brüderchen! Beweise es, indem du die Küste anläufst und mich absetzt.«

Kolka tat es. In der Nacht erreichten sie die Küste so nahe, daß man sogar die Lichter verstreuter Häuser sehen konnte. Eine flache Küste war's, und Agafonow, der an der Bordwand stand und lotete, gab das Kommando, Anker zu werfen.

«Lebt wohl, Freunde!«sagte er, umarmte Kolka herzlich, küßte Bettina, schnallte sich einen Plastikbeutel mit seinen erworbenen Zigarren und Kognakflaschen vor die Brust und sagte sich im stillen, daß Kolka bei allen Qualitäten ein Idiot sei. Achthundert Ru-belchen zu geben, zwei Pferde und einen Karren für ein Boot, das nicht mehr zu den rüstigen Dingen gehörte, sondern bei einem richtigen Sturm auf die Gnade Gottes angewiesen war.

«Was wirst du sagen, wenn du nach Hause kommst?«fragte Kol-ka, ehe Agafonow ins Meer sprang und die letzten paar hundert Meter bis ans Land schwamm.

«Die Wahrheit: Entführung, Erpressung, Mißhandlung. Ich werde mich bemitleiden und bewundern lassen, Freunde. «Agafonow grinste breit.»Bis dahin seid ihr längst in Sicherheit. Noch zwei Tage Fahrt nach Süden und ihr habt die persische Küste neben euch.«

«Das ist ein gutes Wort, Herzchen!«Kolka klopfte Agafonow noch einmal auf die Schulter, dann stellte sich dieser auf die Bordkante, streckte die Arme vor, rief» Hupp!«und schnellte ins Wasser. Nur Hemd und Hose trug er, und er schwamm wie ein Delphin, drehte sich noch einmal nach seinem Boot um, winkte Kolka und Bettina zu und strebte dann mit langen Schwimmstößen zum Land. Nach wenigen Metern hatte ihn die Nacht aufgenommen.

Nun waren sie allein auf dem Boot, Kolka und Bettina, zogen den Anker wieder ein, was ein verteufeltes Stück Arbeit war, denn die Winde war rostig und knirschte schauerlich. Dann drehte Kolka das Segel, wie er es gelernt hatte, und fuhr wieder hinaus aufs Meer. In genügender Entfernung zur Küste warf er den Treibanker über Bord, man trank noch einmal Tee und aß eine Büchse Gulasch, rollte sich in die Decken und wünschte sich eine gute Nacht.

Noch zwei Tage, und dann frei!

Was sind schon zwei Tage nach dem, was hinter ihnen lag!

Sie wurden geweckt von einem heftigen Schaukeln.

Über das Meer heulte ein um diese Jahreszeit völlig widersinniger Wind, die Wellen hatten Schaumkronen und waren so hoch wie die Bordwand, der Himmel war gar kein Himmel mehr, sondern sah aus wie das Meer: Grau und aufgewühlt, fleckig und tobend.

Kolka und Bettina hielten sich an den Stricken fest und bezogen ihre Positionen: Kolka am Ruderbalken, Bettina am Mast, um das Segel zu regulieren. Der Sturm peitschte den Gischt in ihre Gesichter, und das Boot tanzte wie ein Kosak um ein Lagerfeuer.

«Es weht richtig, das Stürmchen!«schrie Kolka durch das Brausen des Windes.»Nach Süden! Setz das Segel hinein, Töchterchen… mit diesem Wind sind wir in einem Tag in Persien!«

An der Leine knatterte das Segel hoch. Der Sturm ergriff es, blähte es, der Mast schwankte und bog sich, und dann wurde das Segel zu einem Ballon und das Boot schien über die Wellen zu fliegen.

«Hoij!«schrie Kolka und umklammerte seinen Ruderbalken.»Hoij! Das geht ja! Halt dich fest, Bettina!«

Bettina hatte den Mast umklammert und starrte auf das grüngrau schillernde Meer. Große Brecher, die über sie hinwegstürzten, hatten sie völlig durchnäßt, und nun begann auch noch ein Regen, der die Tropfen auf sie herunterpeitschte, und der Sturm drehte sich plötzlich, das Segel schlug zur Seite, das Boot legte sich schief.

«Scheiße!«brüllte Kolka.»Der Wind dreht! Er kreiselt, der Hund! Das Segel rum, Betti… das Segel rum, Kind… wir schlagen ja um!«

Bettina riß an der Leine, aber irgendwo klemmten die Rollen. Das Segel fiel nicht zusammen, sondern es blähte sich im Sturm, riß das Boot herum wie einen Kreisel, die Wellen brachen über Kolka und Bettina herein, die Kiste mit Agafonows Handharmonika wurde erfaßt und weggetragen in das tobende Wasser.

«Herunter mit dem Segel!«brüllte Kolka. Er konnte nicht helfen, er hing am Ruderbalken und versuchte, das Boot zu halten. Aber was nutzt ein dummes Ruder, wenn ein großes Segel tut, was es will?

«Es klemmt!«schrie Bettina zurück. Sie zerrte an den Leinen, sie warf sich in die Taue, aber es nutzte nichts. Das Segel lief nicht zurück, sondern wölbte sich wie ein Ballon.

«Kappen!«brüllte Kolka.»Kappen!«

«Ich habe kein Messer!«Der Sturm riß die Worte von Bettinas Mund. Brecher krachten über ihr zusammen, keine Luft bekam sie mehr, überall war nur tobendes Wasser, sie umfaßte den Mast, preßte sich an ihn und schloß die Augen.

Über ihr zerriß mit einem heulenden Laut das Segel und flatterte in Fetzen davon. Die Mastspitze brach und stieß neben ihr herunter in das Deck. Aber das war ein großes Glück für sie, denn nun hatte der Sturm keine Angriffsfläche mehr, das Boot verlor an

Fahrt und wurde zu einem toten hölzernen Gegenstand, mit dem die Wellen machen konnten, was sie wollten.

Kolka hatte sich an den Ruderbalken mit einigen Stricken festgebunden. Er atmete kaum. Über ihn hinweg, von hinten, brachen die Wellen herein, und er hatte das Gefühl, sein Rückgrat würde zerstampft, Wirbel für Wirbel einzeln, Rippe nach Rippe. Er stöhnte, hielt sich am Ruder fest, stemmte die Beine gegen den Boden, hing in den Seilen.

Nie werden wir Persien erreichen, dachte er immer wieder. Nie! Nie! Im Kaspischen Meer werden wir ersaufen wie junge Katzen.

Sein Körper fiel nach vorn. Eine neue Welle. Sein Rücken schien zerfetzt zu sein. Er schrie gegen den Sturm an, und seine Augen quollen hervor wie bei einem Erdrosselten.

Dann plötzlich war alles wieder anders. Das Boot hatte sich gedreht. Keine Welle krachte mehr über das Deck… sie ritten auf dem Meer, wie in der Achterbahn war's… hinauf in die Höhe, dem Himmel entgegen… und dann hinunter in schwindelnde Tiefen… auf Wellenkämmen schwebten sie dahin, umspritzt von Gischt, rasten hinab in grünschillernde Täler, wurden emporgetragen wie auf einem riesigen Hebearm und sahen die geballten, jagenden Wolken näher und immer näher kommen, als würden sie hineingeschleudert in den tobenden Himmel.

Kolka Iwanowitsch richtete sich auf. Wie gefoltert kam er sich vor, und er wunderte sich, daß er noch sehen, hören und begreifen konnte.

Bettina hing an dem zerbrochenen Mast, ebenfalls mit Seilen umschlungen, umweht von dem Rest des zerfetzten Segels. ein schmaler, aufgeweichter, verkrümmter Körper, die Arme um das glatte Mastholz geschlungen und mit Augen, die leer vom überstandenen Grauen in das brüllende Meer starrten.

Der Wind hatte etwas nachgelassen, aber das Reiten auf den Wellen ging weiter, der Höhenflug und das Eintauchen in die grünschimmernde Tiefe. Ein Stück Holz waren sie ja, weiter nichts. Und das Meer spielte mit ihnen und brüllte vor Freude.

Sie lebt, dachte Kolka und lehnte sich zurück. Das Meer hat sie nicht weggenommen. Wir beide leben! Und am Horizont kriecht ein heller Streifen herauf. Die Sonne.

«Mein Gott!«sagte Kolka laut.»Manchmal erkennt man, daß es dich gibt.«

Und das Meer spielte weiter mit ihnen. Vier Stunden lang. Und als die Wellen länger und glatter wurden, lagen Kolka und Bettina in ihren Seilen, waren ohnmächtig vor Erschöpfung und sahen die Küste nicht, die langsam näher kam.

Es war ein schwerer Gang, den der Genosse Andreij Safonowitsch Schejin unternahm. Als es sich am Morgen herausstellte, daß Dimitri Sergejewitsch Sotowskij nicht das Opfer eines glutäugigen Bei-ruter Tanzmädchens, sondern das Opfer einer unverständlichen politischen Geistesverwirrung geworden war, meldete sich Schejin in der sowjetischen Botschaft von Beirut und erzählte dem Genossen Botschafter, was vorgefallen war.

«Unerklärlich ist das!«sagte Schejin und schlug die Hände zusammen wie ein Beckenschläger in einer Militärkapelle.»Er wurde aus Tiflis als ein treuer, als ein mustergültiger Genosse gemeldet. Zum Oberingenieur hatte man ihn vorgeschlagen. Ein junger, begeisterter Kommunist war er! Es ist undenkbar, daß er aus politischer Überzeugung sich in den dekadenten Westen abgesetzt hat. Ein Unglück muß passiert sein.«

Das Unglück klärte sich schnell auf.

Ein Mittelsmann in der amerikanischen Botschaft rief vom Bazar aus an. Im Gebäude der Botschaft befinde sich ein junger Russe und werde schon den ganzen Vormittag vom Militärattache verhört.

«Aha!«schrie Schejin und tanzte durch das Zimmer wie ein von Ameisen Gestochener.»Die Amerikaner! Immer die Amerikaner! Da haben wir es! Entführt haben sie ihn! Und nun pressen sie aus ihm die neuen Raffinieranlagen in Tiflis heraus!«

Zwischen Beirut und Moskau gab es ein langes Telefongespräch. Im Außenministerium in Moskau war man etwas betroffen, mehr aber nicht. Abwarten, sagte man. Genauere Informationen bekommen. Wir werden in Tiflis einmal die Familie Sotowskij durchleuchten.

Und während Dimitri ein gutes Mittagessen bekam, aber nicht wußte, was weiter mit ihm geschehen würde, erschienen vor der Wohnung Kolka Iwanowitsch Kabanows drei Milizsoldaten, klingelten und traten die Tür ein, als sich niemand meldete.

Die Wohnung war so, wie Kolka und Bettina sie verlassen hatten. Nicht einmal staubig war sie, denn es waren ja gerade einige Stunden seit ihrem Weggang verstrichen.»Verreist sind sie«, sagte die Nachbarin, die neugierig in das Haus sah, weil der Jeep der Miliz vor der Tür stand.»Zu einer Tante oder sonst wohin. Nach Batum, sagte Kolka Iwanowitsch. Und sein Sohn, der Dimitri ist in Beirut.«

In der Wohnung fanden die Polizisten nichts, was nach Vaterlandsverrat aussah. Sie versiegelten die Tür und schrieben eine Meldung, daß hier ein Irrtum vorliegen müsse.

«Ich verstehe das nicht«, klagte Schejin, als ein Fernschreiben aus Tiflis eintraf und neue Rätsel aufgab.»Ein so lieber Mensch. Er muß verrückt geworden sein, plötzlich verrückt. Anders ist es nicht erklärlich, Genossen.«

Der liebe Mensch saß unterdessen in der deutschen Handelsmission und erzählte noch einmal seine Geschichte. Die Amerikaner hatten ihn zu den Deutschen gebracht, nachdem er auf die Frage:»Wollen Sie in die USA?«ebenso klar geantwortet hatte:»Nein. Ich will nach Deutschland.«

«Dann sind Sie hier falsch, Mister Sotowskij«, antwortete man, hielt sich nicht länger mit ihm auf und brachte ihn auf deutschen diplomatischen Boden.

«Das ist alles sehr wildbewegt, was Sie da erzählen«, sagte der Leiter der Handelsmission, der Sotowskij ausfragte, und musterte den jungen Russen nachdenklich.»Aber bevor wir Ihnen Schutz und Hilfe gewähren, müssen wir nachprüfen, ob Ihre Angaben auch stim-men. Sie können sich nicht ausweisen?«

«Nein«, sagte Dimitri.»Man hat mir ja meinen Paß bei der Ankunft in Beirut abgenommen.«

«Und Sie behaupten, die deutsche Stewardeß Bettina Wolter zu kennen und ihretwegen Rußland verlassen zu haben. Fräulein Wolter ist nach einer Notlandung in Tiflis zu Ihnen geflüchtet? Wieso überhaupt geflüchtet und wieso zu Ihnen? Hatten Sie früher schon Verbindung zu Fräulein Wolter?«

«Es war ein Zufall. Ich erklärte es Ihnen doch. An der Ölleitung, in der Nacht.«

«Natürlich, natürlich. «Der deutsche Bevollmächtigte nickte. Das hört sich an wie ein Roman, dachte er. Irgendwo habe ich so etwas auch schon gelesen. Aber wo? Er sah Dimitri forschend an, hob dann die Schultern und verließ das Zimmer. Dimitri blieb allein zurück mit drei Zigaretten und einer Flasche Sprudelwasser.

Andreij Safonowitsch Schejin sprang wie elektrisiert auf, als bei ihm das Telefon läutete und sich die deutsche Handelsmission meldete. Ein Beamter der Mission bat darum, ihn mit dem Delegationsmitglied Sotowskij zu verbinden.

«Haben wir nicht!«rief Schejin mit Trompetenstimme. Dabei zuckte sein Herz. Die Deutschen! Was haben die Deutschen mit So-towskij? Sollte es doch politisch sein? Er begann zu schwitzen und verfluchte die Politik, die den Menschen doch nur Ärger und Aufregung bringt und im Grunde genommen doch nur ein Windei ist, ohne das man existieren könnte. Mit Ausnahme der Politiker, die diese Windeier bebrüten.

«Nie gehört!«schrie Schejin ins Telefon.»Wer soll das sein?«

Die deutsche Handelsmission entschuldigte sich und beendete das Telefongespräch. Schejin aber rief sofort die eigene Botschaft an und äußerte den Verdacht, daß eine große Schweinerei in der Geburt sei und er nichts, gar nichts dafür könne. Er habe Sotowskij nicht ausgesucht zur Delegation, und überhaupt die Genossen in Tbilisi. was die herübergeschickt hätten! Zum Beispiel diesen Professor Swinzow, den man gegen Morgen aus einer üblen Hafenkneipe habe herauskommen sehen, seine Hose in der Hand und unten herum nichts.

Dimitri Sotowskij wurde in der deutschen Handelsmission in das Wartezimmer gebracht. Dort lagen auf runden Tischchen Zeitungen und Bildbändchen aus Deutschland, an den Wänden hingen Fotos deutscher Landschaften, und Dimitri sah sie genau an, denn zum erstenmal hatte er Gelegenheit, ein Bild Deutschlands zu betrachten.

«Bitte, warten Sie hier«, sagte ein Sekretär, zeigte auf die Sessel, die herumstanden, und ließ Dimitri allein.

Dimitri wartete viele Stunden. Niemand kümmerte sich um ihn. Er blätterte alle Bücher durch, las mühsam, denn so gut beherrschte er Deutsch noch nicht, etwas von der Lüneburger Heide, von den ostfriesischen Inseln, von der Schwäbischen Alb, betrachtete die schönen Bilder und fand, daß Deutschland ein schönes Stück Erde sein müßte, wenn alles so aussah, wie es abgedruckt war.

Schließlich verspürte Dimitri Hunger und war durstig. Er meldete sich aber nicht, um die deutschen Beamten nicht zu erzürnen. Erst am Abend erschien wieder der Leiter der Mission und war weniger höflich als um die Mittagszeit. Er hatte ein paar Fernschreiben in der Hand und sah Sotowskij mißmutig und geradezu verächtlich an.

«Halten Sie uns für Idioten?«fragte er, als Dimitri bei seinem Eintritt aufsprang und hörbar aufatmete.

Dimitri war verwirrt.»Ich würde das nie behaupten«, sagte er ratlos.»Wieso fragen Sie so etwas Unschönes?«

«Wir haben Ihre Angaben gründlich überprüft. «Der Beamte warf die Fernschreiben auf den Tisch, mit einer Bewegung, die ausdrückte: Na siehst du, uns führst du nicht hinters Licht. Da müssen andere kommen. Und die sind noch nicht geboren, die uns hinters Licht führen.»Bei der Delegation, der Sie angehören wollen, kennt man keinen Dimitri Sergejewitsch Sotowskij.«

«Das ist unmöglich«, stotterte Dimitri.»Ich bin doch hier. Ich lebe doch! Ich bin doch mit dem Flugzeug von Tbilisi nach Beirut geflogen. Auf Kosten meines Staates.«

«Es stimmt, daß ein Flugzeug der DBOA in Tiflis notlanden mußte und dabei zerstört wurde. Wir haben bei der Fluggesellschaft in Hamburg angefragt.«

«Sehen Sie?«sagte Dimitri glücklich.

«Aber…«, der Deutsche sah Dimitri scharf an,». die Stewardeß Bettina Wolter ist tot. In den Trümmern verbrannt.«

«Bin ich wahnsinnig?«sagte Dimitri leise.»Mein Herr, bin ich wahnsinnig? Ich habe Wanduscha selbst an der Ölleitung überwältigt, ich habe sie ins Haus gebracht, ich… ich. Sie lebt doch! Ihr Bild war in allen Zeitungen! Damit sie nicht erkannt wurde, haben wir ihr die Haare gefärbt. Die Meldungen, die Sie haben, müssen falsch sein.«

«Aus Deutschland kommen keine falschen Meldungen!«Der Beamte nahm die Fernschreiben und faltete sie erregt zusammen.»Herr Sotowskij, oder wie Sie heißen mögen, ich finde es unerhört, sich mit Lügen hier einzuschleichen, einen diplomatischen Apparat in Bewegung zu setzen und auch noch so zu tun, als seien Sie ein Opfer und nicht ein Betrüger, der politische Situationen ausnützt, um einen billigen Vorteil zu erlangen.«

«Ich verstehe Sie nicht.«, sagte Dimitri verwirrt und strich mit zitternden Händen über das Gesicht.»Mein Herr. ich schwöre es Ihnen, beim Andenken meiner Mutter — ich bin der Ingenieur Sotowskij aus Tbilisi, und meine Braut ist die deutsche Stewardeß Bettina Wolter.«

«Lassen Sie die Faxen!«Der Beamte steckte wütend die Papiere in die Rocktasche.»Verlassen Sie bitte die Handelsmission.«

«Aber. aber. wo soll ich denn hin?«

«Woher Sie gekommen sind!«

«Man wird mich in Tbilisi sofort wegen Landesverrates in ein Straflager stecken.«

«Bitte, unterlassen Sie es endlich, mir den politischen Flüchtling vorzuspielen!«Der Missionsleiter schlug gegen seine Rocktasche.»Hier haben wir die einwandfreien Beweise, daß Sie lügen. Halten Sie mich nicht auf mit Ihren unverschämten Lügen! Man sollte Sie der Polizei übergeben.«

«Mein Herr!«Dimitris Augen wurden starr.»Was soll ich denn tun? Ich habe keinen Paß mehr, keine Heimat, kein Geld, keine Kleidung, nur diesen geliehenen Smoking. Ist das denn kein Beweis genug? Wenn ein Mensch in einem Smoking flüchtet. hat er dann nicht einen großen Grund?«

«Ich habe mich an meine Anweisungen und an die Recherchen zu halten, die vorliegen. «Die Stimme des Deutschen klang kalt.»Bitte, gehen Sie!«

Dimitri verzichtete auf weitere Worte. Er schob ein Buch beiseite, auf dessen Einband stand: >Das gastliche Deutschlands und ging in die Eingangshalle. Bevor er das Gebäude verließ, drehte er sich noch einmal um und schüttelte den Kopf. Sein Blick war wehmütig, wie der eines Kindes, das man von einer Wiese vertreibt, auf dem es so fröhlich mit einem Ball gespielt hat.

«Ich verstehe das alles nicht«, sagte er.»Ich bin doch Dimitri Sergejewitsch Sotowskij. Warum glauben Sie den anderen und nicht mir?«

Dann ging er, den Kopf nach vorn gesenkt, mit hängenden Armen, ging die Straße hinunter, zwischen Palmen und Agavenhecken, bis die Nacht ihn aufnahm wie einen schmalen Schatten.

Er ging ins Nichts.

Der Leiter der Handelsmission schloß die Tür, sah auf seine Armbanduhr und knurrte etwas von verlorenen Stunden. Man darf ihm das nicht übelnehmen. Zuviel wird im Orient betrogen, und sehr kritisch muß man sein, um aus vielen Lügen die wenige Wahrheit herauszuschälen. Eine Zwiebel, sagt man, hat sieben Schalen, bis der eigentliche Kern kommt — eine Lüge hat hundert, und der Kern der Wahrheit ist klein wie ein Mohnkorn.

Es war die Tragik Dimitris, daß Lüge und Verschleierung der Wahrheit dicker waren als hundert Zwiebelschalen.

Die Nachrichtenübermittlung zwischen Wolfgang Wolter und Ju-rij Alexandrowitsch Borokin stockte. Oberleutnant Wolter war seit vierzehn Tagen irgendwo an der Zonengrenze und schwieg. Das machte Borokin nervös, denn so viel Zeit die russische Diplomatie sonst hat und sich mit der Uhr verbündet, die auf ihrer Seite ist — was bedeutet für einen Russen schon ein Jahrzehnt? — , so eilig war es jetzt, die Spanne zwischen Verschwinden und Wiederauftauchen dieser Bettina Wolter auszunützen. Daß die Lüge, Bettina befände sich in Moskau, einmal platzen würde wie ein morscher Ballon, war Borokin klar; aber bis zu diesem Ereignis mußte man wissen, was in den Wäldern entlang der Zonengrenze geschah und welche psychologischen Propagandamittel eingesetzt wurden, um die Bewohner der DDR ideologisch zu unterhöhlen.

Wolfgang Wolter schwieg. Borokin sah ein, daß es unmöglich war, an ihn heranzukommen, und daß auch der Oberleutnant keine Möglichkeit hatte, sich bei ihm zu melden. Aber Irene Brandes war greifbar. Sie konnte zum Drehpunkt aller Nachrichten werden, zu einer Zwischenstation zwischen Bonn und Moskau.

Borokin handelte so kalt, wie es in seiner Natur lag. Er bestellte Irene Brandes in die sowjetische Botschaft und bewirtete sie mit Krimwein und Buttergebäck. Ein lauer Sommerabend war es; über den Rhein strich ein warmer Wind; von Bonn her zog eine Flotte weißer, mit bunten Lampen illuminierter Schiffe den Strom hinauf.

Abendfahrt zum Siebengebirge mit Tanz.

Restauration an Bord.

Singen und Schunkeln.

Warum ist es am Rhein so schön.

Wenn das Wasser im Rhein gold'ner Wein wär'.

Der Gesang klang hinüber bis zu dem weißen Schlößchen unterhalb des Rolandsbogens. Borokin stand am Fenster seines Büros und wippte auf den Zehenspitzen.

«Das Leben ist schön, Irene«, sagte er.

«Was wollen Sie von mir, Borokin?«Irene Brandes hatte sich widerwillig gesetzt. Eigentlich war sie nur gekommen, um zu sagen, daß dies ihre letzte Begegnung mit Borokin sein würde.»Ich habe den Kontakt mit Wolfgang Wolter ermöglicht. Es ist meine letzte Arbeit für Sie. Und Sie haben versprochen, daß danach meine Mutter freigelassen wird.«

Borokin nickte. Er trat ins Zimmer zurück und schloß das Fenster.»Ihre Mutter befindet sich bereits in der Nähe der Grenze.«

«Ist das wahr?«Irene sprang auf. Alle Vorsätze, hart mit Borokin zu sprechen, jetzt ihrerseits Forderungen zu stellen, waren mit diesem einen Satz wie weggewischt. Ihr Herz zuckte, und sie spürte, wie das Zucken sich auf ihrem Gesicht fortsetzte.

«Habe ich jemals gelogen?«fragte Borokin ruhig.

«Wo ist meine Mutter?«

«In Eisenach.«

«O Gott!«Irene preßte die Hände gegen ihre Brust.»Wann. wann kann ich sie abholen? Wo kommt sie herüber. Bei Bebra? Oder über Hersfeld?«

«Wo ist Wolfgang jetzt?«

«Ich weiß es nicht.«

«Sie lügen! Sie bekommen Post von ihm.«

«Keine Karte!«

«Was hat er Ihnen erzählt über seinen Einsatz?«

«Nichts.«

«Irene, Sie kennen mich. «Borokin lächelte mokant.»Man kann mich mit dem nichtssagenden Wort Nichts nicht abspeisen. Sie sollten sich solche Dummheiten endlich abgewöhnen. Unter Verliebten redet man mehr, als es normale Menschen tun. Verliebtsein ist eine Art Rauschzustand. Was hat Ihnen Wolfgang über seinen Einsatz an der Zonengrenze erzählt?«

«Ich schwöre Ihnen — nichts!«Irene Brandes rang die Hände. Mutter, dachte sie. In Eisenach. So greifbar nahe und doch so fern wie auf einem anderen Stern. Wenn sie schon in Eisenach ist, heißt das, daß man sie freiläßt?

Borokin hob die Schultern.»Es muß ein merkwürdiges Liebesverhältnis zwischen euch herrschen«, sagte er anzüglich.»Geheimnisse bleiben geheim bis ins Bett. Das ist eine alte Weisheit.«

«Wir haben andere Themen, über die wir uns unterhalten«, sagte Irene Brandes hart.

«Bedauerlich. Sie machen in letzter Zeit viele Fehler, die ich von Ihnen bisher nicht gewöhnt bin. «Borokin umkreiste seinen Schreibtisch; er schien auf etwas zu warten, sah öfter auf das Telefon und dann auf seine Uhr.»Sie wissen also nicht, wo sich Wolter zur Zeit befindet?«

«Nein.«

«Und wenn Sie krank werden? Wenn seiner Mutter etwas passiert — wie wird er benachrichtigt?«

«Über das Ministerium, nehme ich an. «Irene hob die Schultern, sie wußte es wirklich nicht.»Wir haben diese Möglichkeit nie in Erwägung gezogen.«

«Aber Borokin denkt daran. «Jurij Alexandrowitsch lächelte zufrieden.»Nehmen wir an, Sie werden plötzlich sehr krank.«

«Ich fühle mich sehr gesund, Borokin.«

«Sie haben ein schwaches Herz, Irenuschka. Ihr Kreislauf ist labil. Sie bekommen einen Kollaps. Man muß Oberleutnant Wolter rufen… wie geschieht das wohl?«

«Über seine Dienststelle.«

«Versuchen wir es mal?«

«Nein!«sagte Irene Brandes laut. Sie warf den Kopf in den Nacken und preßte die schönen, vollen Lippen zusammen.»Ich spiele nicht mehr mit!«

Borokin wollte eine Antwort geben, aber das Telefon unterbrach ihn. Mit einem diskreten Schnarren zerriß es die wie mit Elektrizität geladene Stille. Die gepflegte Hand Borokins legte sich breit über den weißen Hörer.

«Meine Antwort.«, sagte er ruhig.»In fünf Minuten wollen wir uns weiter unterhalten.«

Er nahm den Hörer ab und blickte zur Decke, als er sich meldete.

«Das ist schön«, sagte er.»Ja, sie steht neben mir. Ich danke Ihnen, Genosse, daß alles so vorzüglich klappt.«

Er hielt den Hörer Irene hin und nickte ihr zu, als sie mit ungläubigen starren Augen auf die Hörmuschel blickte.

«Für Sie, Irene. Ein Ferngespräch.«

«Für mich? Hierher? Wolfgang.? Aber das ist doch nicht möglich.«

Mit steifen Beinen ging sie die drei Schritte bis zu Borokin und nahm ihm den Hörer ab.»Ja?«sagte sie, und ihre Stimme schwankte vor Erregung.»Ja? Hier Irene.«

Und dann fuhr es wie ein Schlag durch sie… sie schrie auf, umklammerte das Telefon mit beiden Händen, und Borokin schob ihr einen Stuhl hin und drückte sie an den Schultern auf den Sitz.

«Irene… Kind.«, klang ganz weit weg eine Frauenstimme.»Irene. hier ist Mutti.«

«Mutti.«, stammelte Irene Brandes. Ihr Kopf fiel nach vorn auf die Tischkante, aber sie hielt den Hörer am Ohr, und so lag sie mit der Stirn auf dem Tisch, hatte die Augen geschlossen und hörte die Stimme ihrer Mutter aus einem Land, das so nahe und doch so unendlich weit weg war.»Kind, wie geht es dir?«fragte die Stimme.»Bist du gesund? Ich habe gehört, du hast eine gute Stellung. Stimmt das?«

«O Mutti. Mutti. «Irene weinte laut. Sie richtete sich auf, sprang vom Stuhl, und die Tränen liefen ihr über das verzerrte Gesicht, während sie Borokin ansah, der sich eine Zigarette anzündete.»Wo bist du jetzt?«

«In Eisenach, mein Kleines. Ich soll bald freigelassen werden. Sie haben mir gesagt, daß alles ein Irrtum gewesen sei. Wie ich mich freue! Nur die Formalitäten dauern noch etwas.«

«Wie geht es dir?«Irenes Stimme war kaum hörbar, sie ertrank im Schluchzen.»War. war es schlimm?«

«So etwas fragt man nicht«, sagte Borokin ruhig.»Wie können Sie darauf eine Antwort erwarten. Ihre Mutter ist doch nicht allein im Zimmer. Sie lassen in der Logik, in der Einschätzung der Realität nach, Irenuschka.«

«Mir geht es gut«, sagte die Frauenstimme in Eisenach.»Ich habe nie zu hungern brauchen. Sie waren alle höflich zu mir. Nur große Sorge hatte ich um dich, mein Liebling.«

«Ich… ich bin glücklich, Mutti. «Irene nagte an den Lippen. Stark sein, sagte sie sich vor. Ganz stark sein. Nicht mehr weinen. Der erste Schock war vorüber. Nun heißt es, klar zu denken. Nicht aus purer Menschlichkeit hat Borokin dieses Gespräch vermittelt.

«Ich habe mich verlobt, Mutter«, sagte sie gefaßt.»Mit einem wunderbaren Mann. Er ist Oberleutnant der Bundeswehr. Ich bin so glücklich, Mutti.«

Borokin legte die Zigarette weg. Die Wandlung Irenes überraschte ihn. Er hatte gehofft, daß die Erschütterung so tief gehen würde, daß ein willenloses Bündel Mensch nach diesem Gespräch auf dem Stuhl hockte. eine Rohmasse, die er wieder zurechtkneten konnte, wie er es wollte. Statt dessen bekam sie einen harten, entschlossenen Blick, das Weinen erlosch nach einem kurzen, trockenen Schluchzen, als habe man es abdrehen können, und ihre Haltung drückte Widerstand aus. Widerstand gegen die Schwäche, auf die Borokin gesetzt hatte.

Ohne Erklärung legte Borokin seine Hand auf die Gabel und unterbrach das Gespräch.

«Was soll das?«rief Irene Brandes und warf den Hörer auf den Tisch. Eine Ecke splitterte ab. Als Borokin die Hand wieder hob, ertönte grausam laut das Rufzeichen des Amtes.

«Genug mit Mutti!«sagte Borokin hart.»Ich wollte nur beweisen, daß Ihre Mutter in Eisenach ist.«

«Morgen kann sie schon wieder in Berlin oder in Moskau sein… was bedeutet das?«

«Sie bekommen einen Herzanfall und lassen Wolfgang Wolter benachrichtigen.«

«Nein!«schrie Irene und ballte die Fäuste.»Nein! Nein!«

«Ich muß wissen, wo Wolfgang sich befindet, und ich muß ihn unbedingt in den nächsten zwei Tagen sprechen.«

«Ich spiele nicht mehr mit!«schrie Irene verzweifelt.»Sie sind ein Teufel, Borokin! Ein Teufel!«

«Wir sind alle Teufel, Irene. Wir müssen es sein, um in dieser Welt leben zu können, die zur Hölle geworden ist. «Borokin rauchte seine Zigarette weiter und ging zurück zum Fenster. Unten auf dem Rhein umfuhren die Schiffe mit den bunten Lichterketten die Insel Nonnenwerth mit dem weißen Kloster. Im Scheinwerferlicht strahlte romantisch die Ruine Drachenfels.

«Spätestens übermorgen ist Wolfgang Wolter hier. Wie Sie das einrichten, überlasse ich Ihrer weiblichen List, oder Ihre liebe Mutti wird zurückgebracht nach Berlin-Karlshorst.«

Irene Brandes schwieg. Bleich wie eine Wachsfigur stand sie wenig später unten am Rhein und starrte in die schmutzigen Wellen, die auch im Mondlicht nicht einladender wirkten.

Die Augen zu und sich hinabfallen lassen, dachte sie. Nur ein paar Sekunden dauert die Angst, zerreißt einen der Todeskampf, dann ist alles vorbei und herrliche, göttliche, ewige Ruhe umgibt einen.

Sie beugte sich vor, die Arme vor der Brust gekreuzt, und das Wasser gurgelte, und drüben um die Insel fuhren die weißen, fröhlichen Schiffe und spielte eine Kapelle zum Tanz.

Noch ein paar Zentimeter, dann ist das Gleichgewicht verschoben, dachte sie. Dann wird das Wasser aufspritzen, und ich werde den Mund aufreißen und das Wasser schlucken und schreien, schreien und keiner wird mich hören, denn von den Schiffen fliegt das Lachen über den Rhein und übertönt der Gesang aus Hunderten von Kehlen die letzten Laute eines einsamen Menschen.

Eine Hand berührte sie. Sie zuckte zusammen, aber dann griffen zwei Hände ihre Schultern und zogen sie zurück.

«Komm«, sagte eine Stimme.»Laß uns nach Hause fahren.«

«Wolfgang!«Sie fuhr herum, sie wollte aufschreien, aber er legte ihr die Hand auf den Mund und preßte sie an sich.»Wolfgang.«, schrie sie in seine Handfläche.»Wieso bist du hier? Wo kommst du her?«

«Ich bin schon seit drei Tagen hier«, sagte er und führte sie zu ihrem Wagen, der auf einem kleinen Parkplatz am Rhein stand.»Ich erkläre dir das alles später. Komm jetzt nach Hause.«

Er trug sie fast die wenigen Meter bis zum Wagen, und als sie in den Polstern saß, fiel ihr Kopf nach vorn und sie weinte haltlos.

Schnell fuhr Wolfgang Wolter nach Bonn zurück.

Jurij Alexandrowitsch Borokin wäre nicht so fröhlich gewesen, wenn er dies beobachtet hätte. So aber saß er zufrieden bei einem Glas Kognak auf der Terrasse der Botschaft, sah über den nächtlichen Rhein und das hell glitzernde Bad Honnef und kam sich wie ein Sieger vor.

Daß er der Verlierer war, erkannte er erst viel später.

Zu spät.

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