An einem Montag traf Oberst Jassenskij in Rolandseck ein.
Borokin begrüßte ihn mit saurer Miene, denn er wußte, was der Besuch des Obersten bedeutete.
«Willkommen am Rhein, Safon Kusmajewitsch«, sagte er sarkastisch.»Sie werden von dem Blick auf den Drachenfels und Petersberg begeistert sein. Und mit einem Fernrohr können Sie Konrad Adenauer direkt auf der Terrasse seiner Villa in Rhöndorf erblicken. Das ist bei dem Genossen Kossygin nicht möglich.«
Oberst Jassenskij war in keinerlei Stimmung, auf solche Reden einzugehen. Er war bedrückt. Der Chef des GRU in Moskau hatte ihn einen Versager genannt. Nur wer in Rußland lebt, weiß, was das bedeutet, und nur, wer schon einmal eine Uniform getragen hat, kann ermessen, was ein bedrückter Vorgesetzter bedeutet.
Für Borokin begann eine schwere Zeit.
Zunächst erfuhr er, daß Bettina Wolter Rußland verlassen hatte. Zusammen mit einem Kolka Iwanowitsch Kabanow und dessen Ziehsohn Dimitri Sotowskij. Noch wußte man nicht den genauen Weg, aber Meldungen vom Kaspischen Meer ließen ahnen, daß sie mit einem Fischerboot zur iranischen Küste gefahren waren.
«Pfui!«sagte Borokin voll vaterländischer Verachtung.»Ein Ingenieur des Ölkombinats! Welche Verworfenheit!«
Oberst Jassenskij sah Borokin mitleidig an.»Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Jurij Alexandrowitsch. Die Lage ist fatal. «Jassenskij setzte sich in einen Korbstuhl auf der Terrasse und blickte über den in der Sonne leuchtenden Rhein, der hier wie silbern, aber nicht, wie er ist, lehmig-dreckig aussah. Aber er nahm das gar nicht wahr. Nicht das berühmte Panorama vom Drachenfels und Petersberg, Bad Honnef und der Insel Nonnenwerth. Nicht die weißen Schiffe auf dem Strom und die Zinnen der im Hochwald eingebetteten Drachenburg. Ein Mensch, der ertrinkt, lobt nicht das kühle, erfrischende Wasser.
«Was haben wir bisher erreicht?«sagte er, und Borokin wußte genau, wie die Antwort ausfiel.»Solange das Mädchen als verschollen galt, hatten wir alle Trümpfe in der Hand, über ihren Bruder etwas zu erfahren. Sie, Jurij Alexandrowitsch, hatten allein die Karten zwischen den Fingern. Was haben Sie daraus gemacht? Ein paar Meldungen über versteckte Radiostationen an der Zonengrenze, die noch gar nicht arbeiten und von denen wir nicht wissen, ob sie wirklich bestehen. Nennen wir es beim Namen: Sie haben Windeier gelegt!«
Borokin sah hinunter an den Rhein. Trotz der schwülen Sommerhitze war es kalt in ihm. Die Gnadenlosigkeit Moskaus wehte ihn an.
«Man kann in ein paar Wochen nicht alles das erfahren, was verlangt wird«, sagte er etwas heiser.»Genausogut könnte ich fragen: Warum hatte man keine Möglichkeit, Bettina Wolter in Grusinien festzuhalten? Warum konnte sie überhaupt die Sowjetunion verlassen? Noch vier Wochen, und wir wären weiter als heute gewesen.«
«Es hat keinen Sinn, zu denken, was wäre, Jurij Alexandrowitsch. «Oberst Jassenskij fächelte durch die stehende Luft. In Moskau begannen jetzt schon wieder die kühlen Tage. Aber so ist das, dachte Jassenskij. Sie verweichlichen hier im Westen, die Genossen. Wärme, Sorglosigkeit, weit weg vom Kreml, Weiber, Sekt, Kaviar, ein widerliches bourgeoises Leben — was kann da schon herauskommen? Drei Jahre ist dieser Borokin schon am Rhein. Viel zu lange. Er sollte abgelöst werden und nach Ulan-Bator kommen. Von rheinischen
Weinbergen in die mongolische Steppe, das ist die richtige Abwechslung.
Jassenskij sah Borokin kopfschüttelnd an.»Überlegen Sie mal, was nun los ist! Wir haben einen Sarg mit den sterblichen Überresten Bettina Wolters freigegeben. Er ist in Hamburg.«
«Um Gottes willen!«entfuhr es Borokin. Jassenskij lächelte verkniffen.
«Wie stehen wir da?!«sagte er dumpf.»Lächerlich machen wir uns.«
«Ist es meine Schuld, Genosse Oberst? Wer hat diesen blöden Sarg denn nach Hamburg geschickt?«
Jassenskij vermied es, darauf eine Antwort zu geben. Wer tritt sich schon gerne selbst in den Hintern? Ganz davon abgesehen, daß dies eine artistische Leistung wäre.
«Fragen wir anders, Genosse«, bellte Jassenskij.»Warum haben Sie aus diesem Oberleutnant Wolter nicht mehr herausgeholt? Sie hatten alle Druckmittel in der Hand. Nun steckt die Karre im Dreck! Man weiß jetzt, wer Sie sind, man wird in kürzester Zeit wissen, daß der Sarg ein Betrug ist, man wird uns lächerlich machen. Ich kann Ihnen sagen, daß man im Kreml so sauer ist, als habe man Essig in den Adern. Und Sie stehen hier auf der Terrasse und singen Rheinlieder.«
Das war maßlos übertrieben, aber Borokin verzichtete darauf, Oberst Jassenskij zu berichtigen. Er sagte vielmehr das, was jeder Russe in seiner Lage gefragt hätte:»Wann muß ich nach Moskau, Genosse?«
Jassenskij schielte zu ihm hoch. Er hielt nicht viel von sinnlosem Heldentum.»Zunächst müssen wir sehen, daß wir soviel wie möglich ausbügeln«, sagte er nachdenklich.»Wir stehen in einem Wettrennen mit der Zeit. Ich habe Ihre Berichte gelesen; sie sind Mist, Jurij Alexandrowitsch. Diese Sache mit dem Weibsstück Irene Brandes, sie mußte schiefgehen. Mutter hin — Mutter her: Wenn sich solch ein Täubchen richtig verliebt, ist der Mann wichtiger als das Mütterchen. Das hätten Sie wissen müssen.«
«Irene Brandes tat alles für ihre Mutter«, antwortete Borokin mit rostiger Stimme.»Seit zwei Jahren war sie unsere beste Schlepperin. Sie hat uns bisher sechs Agenten gebracht.«
«Aber dieser Oberleutnant ist etwas anderes. Borokin, ein Weib arbeitet mit dem Herzen! Doch was hilft's? Wir klagen uns nur an, und es geschieht nichts.«
«Und was soll geschehen, Genosse Oberst?«
«Am meisten drückt mich der dumme Sarg in Hamburg.«
«Das dürfte die blamabelste Geschichte werden, die in den letzten Jahren passiert ist.«
«Und deshalb muß Ihnen etwas einfallen, Jurij Alexandrowitsch. «Oberst Jassenskij erhob sich aus seinem Korbsessel und trat in den Schatten des schloßähnlichen Hauses der Botschaft zurück.»Mit dem Oberleutnant werde ich selbst einmal sprechen. Vermitteln Sie einen Treff. Wo findet er sonst statt?«
«Am Rheinufer bei Köln oder in einem Waldstück des Stadtwaldes.«
«Also: Treff für morgen! Und kümmern Sie sich um den Sarg!«Das war keine normale Unterhaltung mehr, sondern ein Befehl. Bo-rokin verstand, nickte stumm und wußte, daß seine schöne Zeit am Rhein vorüber war.»Und packen Sie vorsorglich!«Jassenskij sah an Borokin vorbei auf die Insel Nonnenwerth. Das kleine Glöcklein im Turm des Klosters begann zu bimmeln.»Es kann sein, daß wir schnell wieder zurück nach Rußland müssen.«
«Es wird alles vorbereitet, Safon Kusmajewitsch«, sagte Borokin dumpf.
Ein eigenartiges Gefühl ist es, Freunde, plötzlich zu wissen, daß man ein Nichts geworden ist.
Bis heute weiß man noch keine Erklärung dafür, wie es möglich war, daß aus der verschlossenen Leichenhalle des Hamburger Nordfriedhofes ein plombierter und verlöteter Zinksarg über Nacht verschwinden konnte. Kein Fenster war zertrümmert, kein Schloß auf-gebrochen, keine Wand eingestemmt. Die merkwürdigen Diebe mußten mit einem Nachschlüssel gearbeitet haben, unauffällig und fachmännisch. Sogar einen Leichenwagen hatten sie bei sich. Die Radspuren waren deutlich im sandigen Boden zu erkennen.
Daß der schmucklose Zinksarg, der in einer Ecke stand, überhaupt fehlte, merkte man erst dann, als eine Kommission der Hamburger Staatsanwaltschaft eintraf, um den Sarg zu beschlagnahmen und öffnen zu lassen.
«Völliges Stillschweigen!«sagte der Leitende Erste Staatsanwalt, als man ihm meldete, daß jemand den Sarg gestohlen habe.»Das ist eine Angelegenheit des Bundesverfassungsschutzes und des MAD! Mit Politik wollen wir uns nicht beschäftigen.«
Über den verschwundenen Zinksarg, in dem die verbrannte Bettina Wolter liegen sollte, wurde nie wieder gesprochen.
Borokin war um einige Stunden schneller gewesen. Und wer die Geheimdienste kennt, weiß, daß man dort fair sein kann und Leistungen des Gegners anerkennt.
«Gestorben«, sagte der General mit der Brille, als ihm die Meldung aus Hamburg auf den Tisch gelegt wurde.»Gönnen wir den Sowjets diesen Streich. Uns erspart es viel Ärger. Aber propagandistisch wäre es ein Knüller gewesen.«
Und auch Jassenskij nickte Borokin belobigend zu, als er von der gelungenen Sargentführung hörte.
«Wo ist er jetzt?«fragte er beiläufig beim Nachtisch. Er aß einen Vanillepudding mit Schokoladensoße, und das machte ihn frohgestimmt.
«Wir haben ihn in einer einsamen Gegend des Sachsenwaldes vergraben«, antwortete Borokin.»Werden Sie mir jetzt sagen, Genosse Oberst, wer wirklich in dem Sarg war?«
«Eine Tote. Ein verbranntes Mädchen. Eine Arbeiterin, die in der Ölraffinerie verunglückt war. «Jassenskij löffelte seinen herrlichen Pudding.»Halten Sie uns für Anfänger, Borokin?«
«Und in dem Sarg in Tiflis?«
«Zwei Baumstammstücke. «Jassenskij goß sich noch Schokoladensoße nach.»Wir dürfen glücklich sein, Jurij Alexandrowitsch, daß wir das überstanden haben.«
Es heißt immer, es liege an jedem einzelnen Menschen selbst, was er aus sich macht und was aus ihm wird. Diese Behauptung mag grundsätzlich richtig sein, läßt aber außer acht, daß alles menschliche Bemühen nichts nutzt, wenn man kein Glück hat. Glück ist das Salz des Lebens. Ohne Glück kann ein Genie als ein Irrer gelten.
Dimitri Sergejewitsch Sotowskij hatte Glück.
Drei Wochen saß er als Toilettenschrubber unter der Erde in einem nach Moschus und Lavendel riechenden gekachelten Gefängnis, betrachtete die zusammengekniffenen Hintern seiner Kunden an den Pinkelrinnen, reichte Handtücher und Seife, nahm Trinkgelder an, lauschte auf die Philosophie, zu der Männer in solcher Umgebung angeregt werden, und da das russische Nachtlokal >Datscha< viel Stammkunden hatte, wußte Dimitri schon bald, was geschah, wenn der oder jener die Treppe herabkam.
Der Direktor Panolopulos, ein Grieche, der in Beirut eine Bank vertrat, hatte — nur als Beispiel — die Angewohnheit, bei seiner Entleerung tief zu seufzen, die Augen zu schließen und zu Dimitri zu sagen:»Mein Bester, das Wertvollste, was wir haben, sind wir selbst!«
Und Dimitri antwortete stets:»Welche Wahrheit, Herr Direktor Panolopulos!«Dafür bekam er ein großes Trinkgeld.
Oder der Franzose Jules Lachaise. Wie ein Sprinter kam er die Treppe heruntergerannt, stieß mit dem Kopf fast an die Kachelwand, und dann geschah es, daß Dimitri auf den extra für Sonderfälle bereitstehenden Zerstäuber drückte, um die Luft wieder zum Einatmen erträglich zu machen.
So ging das drei Wochen, bis eines Morgens Barbesitzer Ilja Matwejewitsch Pikalow zu Dimitri sagte:»Brüderchen, du bist zu schade für die Toilette. Ich weiß, keinen Ersatz gibt es für dich, alle sind sie zufrieden mit dir, ein großes Jammern wird's geben, denn man sagt, daß du der geborene Lokuswärter seist, diskret, höflich und für jeden ein gutes Wort — aber mich zerreißt es, dich nur bei den pinkelnden Männern zu sehen. «Und dann richtete sich Pikalow auf, warf sich in die Brust und sagte feierlich:»Dimitri Sergejewitsch — ich befördere dich zum Außenportier! Du bekommst zwar nur die Hälfte des Gehaltes, aber du verdienst das Dreifache durch die Trinkgelder. Und eine Uniform wirst du tragen! Söhnchen, eine herrliche Uniform! Ein Traum von einer Uniform! Die Weiberchen werden die Augen verdrehen und mit dem Hintern wackeln, und die Männer werden ihr Herz schlagen hören, denn du wirst aussehen wie ein junger Gott aus der Steppe!«
Dimitri war es recht. Er verließ seine Toilette und bekam seine Uniform. Der Theaterschneider von Beirut hatte sie entworfen und genäht, und so sah sie auch aus.
Ein Mittelding zwischen Kosakentracht und Kirgisengewand, goldbetreßt wie ein Ataman, mit Fellmütze und weichen Stiefelchen, und dazu für die kalten Nächte ein Mäntelchen. Genossen, eine Wonne war's! Mit Pelz besetzt, der aussah wie silberner Nerz, aber es handelte sich nur um Kaninchen. Als Dimitri zum erstenmal in seiner Uniform in das Büro Pikalows trat, schlug dieser die Hände über dem Kopf zusammen und tat einen Wonneschrei.
«Wie aus dem Märchenbuch!«brüllte er.»Wie aus dem Film! Wird das einen Auflauf geben! Das spricht sich herum! Ein anderes Zimmer muß ich dir geben, ein breiteres Bett, und fließendes Wasser. Du wirst die schönsten Weibchen in den Kissen haben, Freundchen!«
Und so begann die neue Karriere Dimitris als Portier vor der russischen Bar >Datscha<. Er stand vor dem kulissenartigen Eingang des Nachtlokals, riß die Tür auf, wenn die Gäste vorfuhren, nahm den Damen die Mäntel ab und kassierte im Laufe einer Nacht durchschnittlich sieben bis zehn Billets, die ihn einluden, die Schreiberin doch tagsüber, ganz gleich zu welcher Zeit, zu besuchen. Ein Erfolg, über den Ilja Matwejewitsch Pikalow gar nicht erstaunt war, denn er war lange genug in Beirut, um zu wissen, daß die Damen der Gesellschaft in Langeweile badeten und Männer wie Dimitri umworben wurden wie gut im Hafer stehende Hengste.
Zwei Tage trug Dimitri seine schöne Uniform, als Kolka und Bettina in Beirut landeten.
In Teheran hatten sie sich neu eingekleidet. Ganz westlich sahen sie nun aus. Vor allem Kolka war kaum noch zu erkennen in seinem gutsitzenden Sommeranzug, dem weißen Hemd, dem bunten Schlips. Sein Haar war jetzt ganz kurz, zwei Millimeter hoch; ein sogenannter >Hindenburgschnitt<, der Kolka das Aussehen eines alten, von Schenkeldruck und Attacke träumenden Rittmeisters gab. Bettina trug wieder ihre alte Haarfarbe, das schöne, mattleuchtende Mittelblond, das in der Sonne aufflammen konnte wie Messing. In Teheran hatte sie sich die Farbe aus Tiflis herauswaschen lassen und die Haare etwas länger gelassen. Viel weicher war nun ihr Gesicht, fraulicher und reifer, von einer Schönheit, die selbst Kolka auffiel, so daß er sagte:»Verdammt noch mal, wer hätte mir solch eine Tochter jemals zugetraut! Als ich dich zum letztenmal sah, lagst du in den Windeln und sahst aus wie eine verschrumpelte Rübe.«
In Beirut mieteten sie sich durch Vermittlung der Fluggesellschaft in einem kleinen Hotel ein, denn noch wußten sie nicht, wie lange sie in Beirut bleiben mußten und wie weit ihr Geld reichen würde.
«Wir müssen damit rechnen, vielleicht zu arbeiten«, sagte Kolka, als sie in ihrem Zimmer waren und sich von dem Flug ausruhten.»Ohne Dimitri gibt es keine Rückkehr, ich muß es wieder sagen.«
«Das ist selbstverständlich, Paps. «Bettina starrte an die fleckige Decke. Es war ein billiges Zimmer, und es roch von der Küche unter ihnen nach Knoblauch, Thymian und Pommes frites.»Wo wollen wir aber Dimitri suchen?«
«Fangen wir wieder bei der deutschen Handelsmission an. Vielleicht wissen sie jetzt etwas.«
Es zeigte sich, daß Kolka richtig dachte.
Der Beamte war aus dem Urlaub zurück, hatte sich gut erholt, trug eine braune Seefarbe mit sich herum und in der Tasche Fotos von entzückenden Libanesinnen, die ihm die Ferien vergoldet und außerdem viel Geld gekostet hatten. Aber was tut's? Man kann nicht alles umsonst haben, und der Erinnerungswert übersteigt bei weitem die tatsächlichen Kosten. Dementsprechend war der Beamte auch gut gelaunt — man sieht, daß man Beamte viel öfter in den Urlaub schicken sollte! — und erinnerte sich sofort an den merkwürdigen Russen, der Ölingenieur gewesen war und nur mit einem Smoking auf dem Leib geflüchtet sein wollte.
«Er war hier«, sagte Kolka nach dieser Auskunft und wischte sich über die Augen vor Ergriffenheit.»Unser Dimitri war hier. Er hat sein Wort gehalten.«
Und Bettina küßte Kolka vor den Augen des Beamten und weinte vor Glück.
«Es war alles ziemlich verwirrt«, sagte der Beamte leutselig (Gott segne den Urlaub!) und bot Bettina und Kolka eisgekühlten Orangensaft an.»Wer konnte annehmen, daß seine Erzählungen stimmen? Außerdem war da der Empfang für Nobelpreisträger Bunche, und wir haben ja auch keine Möglichkeit, Asylersuchen zu erfüllen. Wir sind nur eine Handelsmission, geduldet und schwach besetzt. Ich habe Herrn Sotowskij deshalb an die amerikanische Botschaft weitergeleitet.«
Die Amerikaner, zu denen Kolka und Bettina sofort fuhren, waren ebenso freundlich wie der deutsche Beamte, nur wußten sie noch weniger.
«Yes, er war hier«, sagte Major Hawkins, der damals Dimitri eine Nacht beherbergt hatte.»Hat hier geschlafen und ist dann wieder zurück zur deutschen Mission. Was sollten wir mit ihm? Er wollte nach Deutschland.«
«Aber die Deutschen können ihm auch nicht helfen, sagen sie.«
Kolka hatte seinen Arm um Bettinas Schulter gelegt.»Kann denn keiner helfen? Wir wollen doch in die Sicherheit! Und wo finden wir jetzt unseren Dimitri?«
«Geben Sie eine Zeitungsanzeige auf«, sagte Major Hawkins gemütlich. Er liebte solche fatalen Späße.»Entlaufen ist Dimitri Ser-gejewitsch…«
Kolka und Bettina verließen die US-Botschaft.
Er lebt, das war gewiß. Er war geflüchtet. Und er mußte hier in Beirut sich verstecken. Vielleicht lebte er in einem Keller wie eine Ratte, die nur nachts hinausschleicht und die Mülltonnen durchwühlt.
«Ich finde ihn!«sagte Kolka, als sie wieder in ihrem kleinen, nach Knoblauch stinkenden Hotelzimmer waren.»Und wenn ich von Haus zu Haus gehe, Straße nach Straße… ich finde meinen Dimitri.«
Am Abend gingen sie am Hafen spazieren, niedergeschlagen und wortlos, freie Menschen in einer freien Welt und doch einsamer und gefangener als in einem sibirischen Lager. Ein Straßenjunge drückte ihnen einen Werbezettel in die Hand, und Kolka las, ehe er ihn zerknüllte und wegwarf in das ölige Hafenwasser:
«Besuchen Sie die >Datscha<. Original russisches Lokal. Tänzerinnen aus der Steppe! Bis morgens geöffnet. Beste Küche. Nur russische Weine. Krim-Sekt. Sie werden diesen Abend in der >Datscha< nie vergessen.«
«Morgen gehe ich los«, sagte Kolka und sah über den Wald der Mastspitzen, durch den der Nachthimmel blaß schimmerte.»Und ich fange in der Altstadt an. Dimitri hat nicht so viel Geld, um sich ein gutes Zimmer zu leisten.«
So kamen sie in jene Gegend, in der der Hafen weniger den Schiffen als dem Vergnügen diente. Leuchtreklamen schimmerten bunt, zuckende Neonschriften lockten, aus den Eingängen quoll verschwommene Musik über die Uferpromenade. Und dann sahen die die Fassade einer Bar, eingerahmt in bunten Glühbirnen, Säulen und zwiebelförmigen Bögen, die Theaterdekoration eines russischen Palastes, und über den Bögen und Ranken flimmerte in Rot die Schrift >Datscha<.
Kolka blieb stehen und sah hinüber. Über sein Gesicht zuckte es.»Laß uns umkehren, Töchterchen«, sagte er.»Ich will nicht mehr erinnert werden. auch wenn es bloß eine Bar ist. Datscha. es war einmal ein Traum von mir, auf dem Lande eine kleine Datscha zu haben und dort mit Dimitri zu leben. Komm, laß uns gehen. Und sieh dir den Kerl in der Tür an — sieht so ein Russe aus? Schrecklich ist, wie die Menschen betrogen werden.«
Er faßte Bettina unter. Der Portier in seiner russischen Phantasieuniform riß die Tür auf. Ein Wagen war vorgefahren, zwei Damen in Nerzmänteln und zwei Herren im Smoking stiegen aus, gaben dem Portier etwas in die Hand und verschwanden in der Bar. Der Wagen fuhr weiter, und der große Portier trat zwei Schritte vor und blickte hinauf in den Sternenhimmel.
Das war der Augenblick, in dem Bettina hell aufschrie, sich von Kolka losriß und mit ausgebreiteten Armen auf den uniformierten Mann losstürzte.
«Dimitri!«schrie sie.»Dimitri! Mein Lieber! Dimitri.!«
Und der Portier brüllte gleichfalls auf, er vergaß seine Vornehmheit, er vergaß, daß er eine goldbetreßte Uniform trug, daß er vor der >Datscha< stand, um zu repräsentieren. Mit Sprüngen, die noch kein Mensch gesehen hat, kam er Bettina entgegen, und seine Stimme dröhnte in der Nacht, als er» Wanduscha! Wanduscha! Oh, ein Wunder! Ein Wunder!«brüllte.
Dann lagen sie sich in den Armen, küßten und herzten sich, und Ilja Matwejewitsch Pikalow erschien in der Tür, alarmiert vom Garderobenmädchen, sah sofort, was geschehen war, und sagte bitter:»Eine Scheiße ist's. Nun bin ich ihn los. «Und freute sich doch so über das Glück Dimitris, daß ihm die Tränen über die Wangen rollten.
Kolka stand starr mitten auf der Straße. Nur drei Schritte trennten ihn von Dimitri, aber sie waren wie drei Werst, so schwer und steinig, als habe man Blei in den Beinen.
«Mein Dimitri.«, stammelte er.»Mein Söhnchen. Wir sind wieder beisammen. Nun ist alles gut!«
Und dann kam er näher, als zöge er ein Boot an einer Leine mit sich, breitete die Arme aus, drückte Dimitri an sich und war nichts weiter als ein alter, schluchzender, glücklicher Vater.
Ilja Matwejewitsch Pikalow ließ es sich nicht nehmen, dieses Wie-dersehen in seiner >Datscha< zu feiern, obgleich er der Leidtragende war und nun wieder auf die Suche nach einem gutaussehenden Portier gehen mußte. Aber wem rührt es nicht das Herz, wenn man so viel Glück sieht, so viel Liebe und Küssen, Umarmungen und dumme gestammelte Worte? Einen Augenblick lang dachte Pikalow sogar an Rußland und an den Jammer, hier leben zu müssen, anstatt eine Weinschenke auf der Krim zu haben oder ein konzessioniertes Tanzlokal in Jalta. Das trieb ihm die Tränen in die Augenwinkel, er seufzte tief, und die ganze Schwermut des Russen kam über ihn. Er umarmte Dimitri und Kolka, nannte sie einen Teil seines Herzens und ließ dann in einer Ecke des Lokals einen Tisch für sie reservieren und eine spanische Wand davor aufstellen, denn wen interessiert schon das Gehopse der Tänzerinnen. Dort saßen sie dann alle, aßen gebratenen Stör und tranken Krimsekt.
«Eine schaurige Musik«, sagte Kolka, als das Balalaika-Orchester begann, gespielt von echten Libanesen in russischen Kosakenuniformen.»Daß du's mit deinen russischen Ohren ertragen kannst, Ilja Matwejewitsch?«
«Das Geschäft, Brüderchen, nur das Geschäft!«Pikalow hob die Hände empor, als müsse er schwören, daß er Rußland mit dieser Musik nicht beleidigen wolle.»Man liebt es so. Man glaubt, so ist Rußland. Man ist es so gewöhnt durch die Filme und westlichen Bücher. Nicht anders will man uns sehen als wie einen Kosaken, der herumhüpft wie von einem Floh gezwickt. Würde man ihnen zeigen, wie es wirklich ist, nicht eine Maus würde sich herablassen, in dieses Lokal zu scheißen. O Freunde, das Leben ist ein Betrug! Vor allem hier im Westen. Sie leben alle nur so glücklich, weil sie belogen werden. Doch was soll's. Auf euer weiteres Leben!«
So ging man am frühen Morgen auseinander in bester Harmonie. Noch einmal mußte Dimitri in seiner Kammer unterm Dach schlafen, und er nahm von Bettina Abschied, als ginge er wieder auf eine weite Reise.
«Neidisch kann man werden«, sagte Pikalow, der mit Kolka vor der >Datscha< stand und wartete, bis sich die Liebenden trennen konn-ten. Die Leuchtreklame war erloschen. Die Theaterkulisse des Bareingangs wirkte nun fahl, abgeschabt, mies und schäbig. In der Nebenstraße, um die Ecke herum, erbrach sich ein Betrunkener. Man hörte sein Würgen und Keuchen, und als er jetzt einen Wind fahren ließ, sagte er laut:»Good wind!«
Ein amerikanischer Matrose gewiß.
«Was werdet ihr tun?«fragte Pikalow nach dieser Unterbrechung. Kolka sah hinauf in den blasser werdenden Nachthimmel. Der Morgen dämmerte überm Meer.
«Ich werde dort anfangen, wo ich vor dreiundzwanzig Jahren aufhörte. Meine Frau hat ein Textilgeschäft in Göttingen; ich werde Handtücher verkaufen, Babywäsche, Windeln und Bettbezüge, ich werde die Buchhaltung machen, die Steuererklärungen, die Inventurmeldungen, die Einkäufe bei den Großhändlern. «Kolka sah zurück zu Dimitri und Bettina. Sie standen noch immer eng umschlungen im Eingang der >Datscha< und küßten sich.»Und einmal werde ich Großvater sein«, sagte er leise.»Dann habe ich genug zu tun mit der Aufzucht meiner Enkel.«
«Und was werden sie werden?«fragte Pikalow, und es war eine ungewollt infernalische Frage.»Deutsche oder Russen!«
Kolka schwieg. Pikalow sprach aus, wovor er sich fürchtete, seit sie Rußlands Boden verlassen hatten. Er war nun nicht mehr Kol-ka Iwanowitsch Kabanow, sondern Karl Wolter, geboren in Göttingen, zuletzt Feldwebel, Vater zweier Kinder. Ein Totgesagter, der nach über zwanzig Jahren heimkehrte. Er war mit dem Betreten des Bodens der sogenannten freien Welt das seltene Exemplar Mensch, das zwanzig Jahre aus seinem Leben wegstreichen konnte, als habe er sie einfach verschlafen.
Zwanzig lange Jahre.
Wie hatte er sie gelebt, wie hatte er dieses Leben geliebt, der Kol-ka Kabanow aus Tbilisi! Ein herrliches Leben war es gewesen, und er würde es jedem sagen, der ihn danach fragte. Nein, es war kein Gefängnis, dieses Leben in Rußland. Nein, er war sich nicht vorgekommen wie ein Sträfling. Nein, er hatte dieses Land und seine
Menschen geliebt. Er hatte einen Sohn großgezogen, hatte russisch denken und fühlen gelernt, war ein Mensch aus Tiflis geworden, ein echter Grusinier, und es waren die schönsten Jahre seines Lebens, die er an den Weinhängen des Kaukasus verbracht hatte. Und er würde zu allen, die ihn so dumm politisch fragten, immer nur nein, nein, nein sagen und ihnen zurufen:»Ihr kennt den Russen nicht! Ihr kennt nur die Fratze des Kriegs. aber den Menschen, Leute, den Menschen solltet ihr kennen. Dann liebt ihr ihn auch!«
Kolka wußte jetzt schon, daß er sich damit keine Freunde in Deutschland gewann, daß man ihn den >Bolschewiken< nennen würde, daß die Parteien ihn als Gruselbeispiel hinstellen würden: Seht, so wird ein deutscher Mensch in der Knechtschaft der Ostens verformt! Und er würde aufstehen und brüllen:»Ihr Idioten! Ich bin Karl Wolter geblieben! Aber ich habe einen Blick in die Herzen getan, in die Herzen, wo ihr nur immer die rote Fahne und den Sowjetstern seht!«Und man würde ihn belächeln oder bedrohen und von einer Mißachtung der Demokratie sprechen.
Genau so würde es kommen, das wußte Kolka, und er hatte Angst davor.
«Ich werde sie zu wachen, weltoffenen Menschen erziehen«, beantwortete er Pikalows Frage.»Deutscher, Russe, Franzose, Engländer… was soll's? Menschen sind wir, jeder aus dem Leib einer Mutter gekommen und von den Müttern geliebt. Wenn es nach den Müttern ginge, Ilja Matwejewitsch, gäbe es nur eine Welt, aber keine Nation. Aber wer hört schon auf die Mütter?«
Endlich war der Abschied zwischen Dimitri und Bettina beendet, und während Kolka und sie zurück zu ihrem dumpfen Hotel gingen, lag Dimitri schlaflos in seinem Bett und bebte vor Freude und Glück.
Der nächste Tag wurde ein schwerer Tag.
Die Rückkehr nach Deutschland wurde erwogen, und dazu galt es, deutsche Beamte zu überzeugen.
Man erkennt sofort, welche schwere Aufgabe Kolka bevorstand. Böse Zungen sagen, daß die Eroberung einer Amtsstube schwerer ist als die Erstürmung eines wild um sich feuernden Betonbunkers. Das ist zwar maßlos übertrieben, aber trotzdem mahnt es zu Vorsicht, Härte, Taktik, Ausdauer und List.
«Es freut mich ungeheuer, daß Ihnen diese Flucht gelungen ist«, sagte der Chef der Handelsdelegation zu Kolka, der sich nun wieder Karl Wolter nannte.»Diese Heimatliebe ist nicht hoch genug zu loben, und selbstverständlich bekommen Sie so schnell wie möglich einen provisorischen Paß, um nach Frankfurt fliegen zu können. Bei Fräulein Bettina ist ja sowieso alles klar. Nur Herr Sotowskij — da sehe ich Schwierigkeiten.«
«Wieso?«fragte Karl Wolter begriffsstutzig.
«Er ist Russe.«
«Natürlich. Wäre er in Samoa geboren, wäre er Samoaner. «Der Beamte lächelte dünn. Witze innerhalb einer Amtshandlung werden nicht gern gesehen.
«Wir können einem Russen keinen Paß geben.«
«Er ist wie wir geflüchtet.«
«Aber Sie sind Deutscher. Sie haben ein Heimatrecht. Herrn So-towskijs Heimat aber ist die UdSSR.«
«Dahin will er aber nicht mehr zurück.«
«Aber nicht aus politischen Gründen. Nur aus rein privaten.«
«Er liebt meine Tochter.«
«Lobenswert. Das spricht für seinen guten Geschmack, aber für politische Dummheit auch. Stellen Sie sich vor, wenn hunderttausend Russen deutsche Mädchen lieben würden und kämen alle schwarz über die Grenze.«
«O Himmel!«sagte Karl Wolter und blickte an die Decke und die kreisenden Propeller des Ventilators.»Ist so etwas möglich? Das sagt mir ja nicht einmal ein kirgisischer Hirte.«
«Wie bitte?«fragte der Beamte konsterniert.»Ich verstehe nicht.«
«Lassen wir es dabei!«Karl Wolter beugte sich über den Tisch vor.»Geben Sie ein Fernschreiben nach Bonn. Irgendeine Regierungsstelle wird ja zuständig sein für einen solchen Fall. Als Deutscher weiß ich, daß für alles ein Beamter bereitsteht, der wieder einen Vorgesetzten hat und dieser eine Dienststelle leitet. Ein kunstvolles Gebäude, wo eigentlich auch ein Furz aktenkundig sein müßte.«
«Bitte, bitte, Herr Wolter!«sagte der Beamte steif. Er kommt aus Rußland, dachte er dabei. Zwanzig Jahre unter Sowjets, das verroht. Man muß es ihm verzeihen, er wird eine lange Zeit der Ein- und Umgewöhnung brauchen.
«Ein Fernschreiben ist schon unterwegs. Als Sie uns heute morgen anriefen, ist es sofort hinausgegangen. Aber haben Sie bitte Geduld. So ein Fall ist selten. Man wird darüber in Bonn konferieren und unter Berücksichtigung aller politischen Konsequenzen entscheiden. Liebe, das werden Sie einsehen, ist kein attraktiver Grund. Hätte Herr Sotowskij wenigstens Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten gehabt, wäre er schon einmal eingesperrt gewesen wegen westlichen Denkens — das würde alles vereinfachen.«
«Nichts dergleichen«, sagte Karl Wolter laut.»Dimitri ist ein guter Kommunist.«
«Auch das noch!«Der Beamte schlug über so viel Dummheit die Hände zusammen.»Ich will das nicht gehört haben, Herr Wolter. Wenn ich das nachmelde, bekommt er nie eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung.«
«Das verstehe ich nicht«, sagte Wolter ehrlich.
«Als Kommunist!«
«Haben sie in Bonn Angst vor den Kommunisten?«
Der Beamte schwieg. Darauf gab es keine Antwort. Natürlich, dachte er bloß. Der gute Mann ist zwanzig Jahre zurück. Was weiß er vom kalten Krieg des Jahres 1966, von der Mauer in Berlin, vom Schutz der Demokratie vor zersetzenden Elementen. Er hat hinter dem Kaukasus gelebt, wo es noch Bären gibt. Genauso ist er — ein Bär, der hinter einen Berg blickt und eine neue Welt sieht. Mitleid muß man mit ihm haben.
Drei Tage warteten Kolka, Bettina und Dimitri auf eine Nachricht aus Bonn. Für Bettina und Dimitri waren es herrliche Stunden. Schwimmen gingen sie im Mittelmeer, sonnten sich im goldgelben Sand von Beiruts Bädern, saßen abends Hand in Hand auf den Terrassen der Cafes und blickten über den flimmernden, bunten Hafen und waren glücklich. Nur Kolka — Verzeihung — Karl Wolter (man muß ihn jetzt so nennen, obwohl er noch wie der alte Kolka Kabanow dachte und handelte!) war unzufrieden und fiel der deutschen Handelsmission in Beirut auf die Nerven mit seinem ewigen Fragen:»Was antwortet Bonn?«
Bonn antwortete noch nichts. Wie konnte es auch? Der Fall Dimitri Sotowskij war ein >Vorgang< geworden. Vorgänge werden in der Reihenfolge ihrer Eingänge bearbeitet. Das gehört sich so, man nennt das Ordnung. Aber Karl Wolter verstand das nicht; er dachte normal, nicht behördlich.
«Ich warte nicht länger!«sagte er am dritten Tag zu Bettina und Dimitri, denen die Zeit still stand.»Ich schicke ein Telegramm an Wolfgang. «Und er nahm Bettina und Dimitri mit auf die Post und füllte das Formular aus.»Welche Adresse hat er?«fragte er.
«Du wirst es an das Verteidigungsministerium schicken müssen«, sagte Bettina.»Sie werden es weiterleiten.«
«Das wollen wir hoffen. «Karl Wolter sah an die nahe Wand. Er stand an einem Stehpult des Postamtes und überlegte den Text.»Seien wir ganz klar«, meinte er.»Wolfgang ist ein erwachsener Mann, er wird nicht umfallen.«
Und er telegrafierte:
«Sind in Beirut und warten auf die Rückkehr nach Deutschland. Hotel Melusine. Bettina und Vater.«
«Gut so?«fragte Karl Wolter und schob das Telegramm zu Bettina. Sie las es, und dann stellte sie sich Wolfgang vor, wie er das Wort Vater anstarrte und zuerst nicht begriff, was es bedeuten sollte. Und dann, wenn er es endlich begriff, würde er sich hinsetzen, und das Telegramm würde aus seinen Händen fallen. Vater. 1945 vermißt in Rußland. Später für tot erklärt.
O Gott, ein Toter kommt zurück!
Wie kann man das bloß Mutter sagen?
«Schick es so ab, Vater«, sagte Bettina leise.»Wolfgang ist stark genug.«
Und so flog das Telegramm nach Deutschland.
Am nächsten Morgen war es in Bonn, wurde mit einem Boten zum Verteidigungsministerium gebracht und einer Ordonnanz übergeben. Die Ordonnanz, ein Feldwebel, handelte wiederum logisch, als er einen Fahrer abstellte, ihm das Telegramm gab und ihm befahl, damit zur Wohnung von Frau Agnes Wolter zu fahren. Oberleutnant Wolter befand sich wieder auf einer Dienstfahrt, und wer war eher berechtigt, das Telegramm anzunehmen als seine Mutter?
Agnes Wolter hatte gerade Kaffee getrunken und räumte das Geschirr zum Spülen in die Küche, als der Fahrer das Telegramm abgab.
«Schönen Dank«, sagte sie freundlich, gab dem Fahrer drei Zigaretten und riß den Umschlag auf, nachdem der Bote gegangen war.
«Sind in Beirut und warten auf die Rückkehr nach Deutschland. Hotel Melusine. Bettina und Vater.«
Lautlos sank Agnes Wolter um… eine stumme, fast selige Ohnmacht.
So fand sie eine Viertelstunde später Irene Brandes, die vom Einkaufen auf dem Bonner Markt kam.
Agnes Wolter lag auf dem Rücken, ein Lächeln um die Lippen, und das Telegramm lag über ihren Augen, als solle sie es immer lesen und in sich aufsaugen.
Bettina… und Vater.
Die Erde kann sich rückwärts drehen.
Schon am Tag darauf war Wolfgang Wolter nach Beirut unterwegs. Er hatte sofort Sonderurlaub bekommen, nachdem der MAD festgestellt hatte, daß es kein fingiertes Telegramm gegnerischer Geheimdienste war und Wolter in eine Falle gelockt werden sollte. Die Konsularabteilung des Auswärtigen Amtes bestätigte zudem, daß es einen Vorgang Wolter — Dimitri Sotowskij gäbe. Das gab den Ausschlag. Ein amtlicher Vorgang ist immer ein Alibi.
Mit der nächsten Maschine in den Nahen Osten also flog Wolter ab. Man räumte sogar einen Platz für ihn in der besetzten Maschine, indem man einen Reisenden umbuchte für den folgenden Flug. Agnes Wolter lag zu Hause im Bett. Wie gelähmt war sie.»Karl.«, sagte sie immer und starrte ein altes, vergilbtes Bild an, das sie in den Händen hielt. 1944 stand auf der Rückseite. Karl Wolter nach seiner Beförderung zum Feldwebel. Die neuen Litzen glänzten sogar auf dem Foto. Ein junger, fröhlicher, etwas schmächtiger Mann, ein Jungengesicht, wie es jetzt bei Wolfgang, seinem Sohn, wiederkehrte.
Zweiundzwanzig Jahre ist das her, jetzt ist er fünfzig, dachte Agnes Wolter. Wie sieht er jetzt aus? Und dann weinte sie wieder und konnte es gar nicht begreifen, daß es wahr war. Karl kam zurück. Nach zwanzig Jahren Tod, an den sie nie geglaubt hatte.
Und dann bekam sie Angst. Auch ich bin alt geworden, dachte sie. Als er damals wegging nach seinem Urlaub, war ich ein junges, hübsches Frauchen. Und was ist daraus geworden? Runzeln habe ich, und weiße Haare, und die Jahre sind in mir eingegraben wie Ringe in den Bäumen. Er wird mich nicht mehr erkennen, oder er wird entsetzt sein, daß er eine so alte Frau besitzt. Seine Erinnerung wird mich so sehen wie damals. blond und lustig und schlank. und ihm entgegen kommt eine Greisin.
O Gott, o mein Gott, laß in seinen Augen nicht das Entsetzen stehen. Ich würde es nicht überleben.
Aber auch diese Stunden gingen vorüber. Während Wolfgang Wolter in Rom umstieg, saß Agnes Wolter beim Friseur, und Irene Brandes, erfahren in solchen Künsten, überwachte die kosmetische Verwandlung Agnes Wolters in eine reife, hübsche, dem Leben zugewandte Frau.
Die Haare wurden blondiert, Gesichtsmasken wurden ihr aufgelegt, Augenbrauen gezupft, die Nägel gefeilt und poliert, das zu ihr passende Make-up ausgesucht. Als sie nach einem langen Nachmittag, müde und schlapp, den Kosmetiksalon verließ, erkannte sie sich kaum noch in der hübschen Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegensah.
«Wie man einen Menschen verwandeln kann«, sagte sie leise.
«Was man aus einem Menschen machen kann. das klingt besser. «Irene Brandes faßte Agnes Wolter unter. Sie lachten sich im Spiegel an, blinzelten sich zu, und aller Druck, alle Sorge wich aus Agnes Wolters Herzen.»Ich bin stolz auf eine so attraktive Schwiegermutter!«sagte Irene Brandes.»Gebe Gott, ich sähe mit achtundvierzig Jahren noch so aus wie du.«
«Und was wird Karl sagen?«fragte Agnes und sah das ihr fremde Spiegelbild an.
«Da er ein Mann ist, wird er dich glücklich in die Arme nehmen.«
«Nach zwanzig Jahren. «Agnes Wolter wandte sich ab.»Ich habe Angst wie ein junges Mädchen.«
Wie wenig ahnten sie alle von dem Mann, der zurückkehrte und im Herzen Kolka Iwanowitsch Kabanow war.
Karl Wolter, Dimitri und Bettina saßen in dem schmalen, schmuddeligen Frühstückszimmer des Hotels Melusine und tranken Tee, als Wolfgang Wolter hereinstürzte. Er riß beinahe einen Kellner um, der gelangweilt die Bestecke sortierte und sich über die drei einsamen Gäste ärgerte, die ihn beschäftigten.
«Betti!«schrie Wolfgang schon in der Tür. Er sah Bettina als erste und breitete die Arme aus.»Betti!«Und dann starrte er auf den alten Mann an ihrer Seite, auf diesen runden Schädel mit den eisgrauen, kurz geschnittenen Haaren, und sein Herz wurde schwer, seine Beine bekamen Bleifüße, die nächsten Meter bis zum Tisch dehnten sich ins Unendliche.
Vater. Das ist also mein Vater. Das ist Vater. Vater. Vater.
Bettina stieß einen hellen Schrei aus, sprang auf und rannte Wolfgang entgegen. Mitten im Raum fielen sie sich in die Arme, küßten sich, und der arabische Kellner ging zur Klappe, die in die Küche führte, und bestellte noch einen Tee.
Langsam erhob sich Karl Wolter. Vor seinen Augen tanzten die Tische und Stühle. Die Sonne brannte in seinem Nacken, als läge ein brennendes Scheit auf seinem Hals. Die Kehle war trocken wie Wüstensand.
Mein Junge, dachte er. Das ist er also. mein großer Junge. Als ich ihn das letzte Mal sah, trug er Lederhosen und fing Frösche. Fünf Jahre war er alt, ein blonder Lockenkopf Mein Sohn. Wie groß er ist, wie breit, wie männlich. Zwanzig Jahre… an ihm sieht man sie. Er ist gewachsen wie ein Baum auf bestem Boden.
«Vater!«sagte Wolfgang laut. Er hatte sich von Bettina gelöst und kam nun zwei Schritte näher.»Vater. «Seine Stimme brach ab, sie schwamm einfach weg.»Ich. ich bin Wolfgang.«
«Mein Junge, ich erkenne dich. die gleichen Haare, die gleichen Augen. Mein lieber, großer Junge.«
Und dann umarmten sie sich, drückten sich aneinander, und Karl Wolter weinte, so sehr er sich dagegen wehrte. Er unterlag seinem Herzen und heulte laut, und auch Wolfgang Wolter weinte und schämte sich nicht und fühlte sich wie der kleine Junge, der gefallen war und mit blutendem Knie nach Hause läuft und voller Kummer ist.
Dimitri drehte sich zum Fenster und blickte hinaus zu dem Fischereihafen. In seinem Herzen saß eine schwere Kugel. Jetzt hat er seinen Sohn, dachte er. Und ich habe einen Vater verloren. Ich war der Sohn des Kolka Iwanowitsch Kabanow, aber dort steht jetzt der Karl Wolter. Und es ist eine andere Welt als die von Tiflis, in der wir so glücklich waren.
Er senkte den Kopf und schloß die Augen.
Nun war es geschehen. Der große, gefürchtete Augenblick war gekommen: Dimitri Sotowskij hatte keine Heimat und keinen Vater mehr.
«Komm!«sagte eine leise Stimme hinter ihm. Bettina legte beide Arme um seinen Hals und küßte Dimitri auf die Schläfe.»Komm, jetzt gehörst du völlig zu uns.«
Dimitri erhob sich und drehte sich um.
Karl Wolter und Wolfgang standen nebeneinander, und sie sahen sich ähnlich, ohne Zweifel. Dimitri lächelte schwach. So betrachtet man ein Pferd, das man gekauft hat, dachte er. Ist es gesund? Ist es kräftig genug? Hat es nicht den Rotz? Gleich kam jemand, schob ihm die Lippen hoch und wies seine Zähne vor. Gesund! Kein Belag. Ein guter Kauf, mein Lieber.
«Mein Sohn Dimitri Sergejewitsch«, sagte Karl Wolter laut, und Dimitri zuckte zusammen. Mein Sohn. Kolka, altes, gutes Väterchen. bin ich noch dein Sohn?
«Komm her, Dimitri«, sagte Wolter sanft.»Das hier ist dein Halbbruder Wolfgang. Und du, Wolfgang«- Wolter wandte den Kopf zu seinem Sohn —»siehst hier meinen Dimitri. Er wird unsere Betti heiraten, und wir alle werden glücklich sein.«
Wolfgang Wolters Gesicht war kühl und verschlossen. Er lächelte nicht, als er Dimitri die Hand entgegenstreckte. Es war nur so, als habe sein Vater ihm wie früher befohlen: Nun gib schon die Hand, du Muffel!
Ein Russe, dachte er. Ein Russe mein Bruder, das werde ich weder begreifen noch akzeptieren. Ein Genosse Borokins in unserer Familie, das wird unmöglich sein. Man wird es Vater noch klarmachen müssen. später, wenn sich alles eingelaufen hat, wenn er wieder ein normaler Mensch geworden ist durch die Realität der Gegenwart und durch die Liebe der Mutter, und nicht mehr ein grusinischer Bär, der so handelt, wie er im Augenblick fühlt.
«Ich begrüße Sie«, sagte Wolfgang steif.
«Unter Brüdern sagt man du«, warf Karl Wolter ein.
«Ich begrüße dich«, sagte Wolfgang gehorsam. Sie drückten sich die Hand, aber nur eine Sekunde, dann zogen sie sie zurück, als wäre es schon zuviel an Sympathie.
«Isch bin glücklich zu liebän Wanduscha«, sagte Dimitri in seinem harten, holprigen Deutsch. Wolfgang hob die Augenbrauen.
«Wer ist Wanduscha?«
«So nennt er Bettina«, warf Karl Wolter ein.
«Warum? Bettina ist ein guter deutscher Name, den man auch als
Russe aussprechen kann.«
Das klang stolz und war wie das Einrammen eines Grenzpfahles. Bis hierher… dahinter beginnt der Kampf.
Karl Wolter und Bettina wechselten einen schnellen Blick. Wolfgang sah ihn nicht, aber Dimitri, und er lächelte schmerzlich.
«Setzen wir uns und trinken wir Tee«, sagte Wolter heiser.»Meine Beine werden schwach. Das Wiedersehen, die Freude, die Erwartung… ich bin ein alter Mann geworden, Wolf. Du hast keinen Vater mehr, der Bäume ausreißt.«
«Das habe ich auch nie von meinem Vater verlangt«, sagte Wolfgang Wolter und lachte. Aber es war ein kläglicher, gequälter Humor. So herrlich es war, einen totgeglaubten Vater wiederzuhaben
— plötzlich war das Zurück an einer Mauer abgestoppt, die niemand sah, aber jeder spürte: Die Mauer einer Entwicklung in der Welt, von der Kolka zwischen seinen kaukasischen Bergen verschont geblieben war. Die neue Zeit hatte andere Begriffe, sie dachte in Blöcken. Hier der Westen, dort der Osten… zwei Meere, die nie zusammenfließen konnten.
Warum? Diese Frage stellte niemand.
Und das nach einem Krieg, der 55 Millionen Tote gekostet hatte.
Ist der Mensch wirklich noch das Abbild Gottes?
Drei Tage später flogen Karl Wolter, Bettina, Wolfgang Wolter und Dimitri Sergejewitsch Sotowskij mit einer deutschen Maschine nach Deutschland.
Dimitri hatte eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Daß der Militärische Abschirmdienst (MAD) sie durchgesetzt hatte, erfuhr niemand. Man erhoffte sich bei einem Verhör Dimitris Aufschlüsse über die Ölpolitik Rußlands.
In Wahn bei Köln landeten sie, und auf dem Flugplatz stand, als die Passagiere ausstiegen, eine Frau mit blonden Haaren, einen großen Strauß roter Dahlien in den Händen. Ganz allein stand sie da, und der Wind zerzauste ihre kunstvolle Frisur, und das Kleid flatterte um ihren Körper, und die Blumen zitterten in ihren Händen.
«Agnes.«, stammelte Karl Wolter, als er über die Gangway aus dem Flugzeug kam.»Agnes!«
Und dann stürzte er die Treppe hinunter, warf seinen Mantel, den er über dem Arm trug, weg, einfach zur Seite auf die Erde, breitete die Arme aus und brüllte:
«Agnes! Agnes!«
«Das war nicht nötig«, sagte sie, als die erste Umarmung vorüber war und Karl ihr die Tränen von den Backen wischte.
«Was?«fragte er verblüfft.
«Das mit dem Mantel. Nun muß er gleich in die Reinigung.«
Und da lachte Karl Wolter, und er drückte seine Frau wieder an sich und über sein glückliches Gesicht leuchtete die Sonne.
«Nun bin ich zu Hause!«schrie er, daß es alle hören konnten.»Nun bin ich wirklich zu Hause.«
Wenn jemand nach über zwanzig Jahren zurückkommt, der bisher als tot galt, und wenn er auch noch aus Rußland kommt, so ist das nicht nur ein Festtagsessen für die Presse, sondern auch ein Magenbitter für die Behörden.
Mit den Zeitungen, den Illustrierten und dem Fernsehen wurde Karl Wolter schnell fertig. Er sagte einfach nein, gab keine Interviews, lehnte Exklusivangebote auf seine Story ab (weil ihn das Wort Story störte, denn sein Schicksal war keine Story, die man sensationell auswalzen sollte, sondern nichts weiter als ein randvolles Leben), warf zwei Filmdramaturgen hinaus, beleidigte einen Chefredakteur, der ihm einreden wollte, seine Erlebnisse in Rußland seien ein Voller Knüller<… kurzum, nach drei Wochen sprach keiner mehr von Karl Wolter und seiner abenteuerlichen Heimkehr, da unterdessen ein schöner, für zehn Fortsetzungen geeigneter Massenmord ge-schehen war.
Anders war es mit den Behörden.
Behörden vergessen nichts!
Behörden sind dazu da, sich ständig an die Pflichten des Bürgers zu erinnern. Und den Bürger an seine Pflichten. Karl Wolter wurde erinnert.
Man bat ihn um die Lösung des Problems, daß seine Witwe, die keine Witwe war, nun schon zehn Jahre lang eine Witwenrente bezogen hatte, was offensichtlich unrecht sei, denn er, der Tote, lebe ja noch, was augenscheinlich war und mit Amtssiegel bestätigt.
Das Amt betätigte sich dann noch rechnerisch und bewies durch das kleine Einmaleins, daß die Witwe, die keine Witwe war, bisher sage und schreibe 46.000,- DM an Witwenrente in diesen zehn Jahren (nebst Zinsen und Zinseszinsen) kassiert hatte!
«…diese zu Unrecht ausbezahlten Rentenbeträge in Höhe von 46.372,02 DM müssen zurückgezahlt werden«, hieß es am Ende des freundlichen Schreibens.
Karl Wolter legte den Brief auf den Tisch.
Sein Kampf gegen die Bürokratie begann, und er war in der Stimmung und willens, ihn als Kolka Iwanowitsch Kabanow zu führen.
Freunde, das konnte nicht gutgehen! Jeder sieht das ein. Denn Kol-ka kämpfte mit Logik und gesundem Menschenverstand — zwei Dinge, die ihn in den Augen der Behörden zum abscheulichen Querulanten stempelten.
Es begann damit, daß die Wolters wieder nach Göttingen zogen und Agnes das Wäschegeschäft wieder eröffnete.
Die amtliche Rückkehr ins Leben ging schnell. Da er sich selbst vorweisen konnte, wurde er aus dem Sterberegister gestrichen und bekam eine Kennkarte. Eine Woche lang betrachtete man Karl Wolter als eine Art nationales Denkmal. Der Heimkehrerverband wollte ihn aufnehmen — Wolter lehnte zu aller Verblüffung schroff ab —, Traditionsverbände meldeten sich, sieben ehemalige Freunde tauchten auf, die mit ihm in Sibirien gewesen sein wollten, aber Wolter konnte sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben, und außerdem baten diese sieben ausnahmslos um Hilfe, um Darlehen, Kredite oder wollten einfach — aus alter Kameradschaft — pumpen. Kurzum: Es war eine Woche lang ein großes Spektakel um den heimgekehrten Karl Wolter, bis er mit seiner Agnes wieder ruhig im Hinterzimmer des kleinen Wäscheladens sitzen konnte und Kaffee trank.
Zwanzig Jahre waren nachzuholen. Über zwanzig Jahre mußte man Bericht geben. Es war für Agnes und Karl, als begänne jetzt erst ihre wahre Ehe.
«Es ist nicht die Schuld Deutschlands«, sagte der Beamte auf dem Versorgungsamt, als Karl Wolter mit dem Brief kam und fragte, was so ein Blödsinn solle,»daß Sie zwanzig Jahre in Rußland waren und seit zehn Jahren für tot gelten.«
«Ist es meine Schuld?«meinte Wolter.
«Sie hätten vielleicht schreiben können«, erklärte der Beamte.
«An wen? Man schrieb mir, meine Frau und die Kinder seien bei einem Bombenangriff umgekommen.«
«Sie hätten sich davon überzeugen müssen.«
«Von Rußland aus!«Karl Wolter atmete tief aus.»Es ist ja so einfach, nicht wahr? Man wendet sich an die Auskunft und fragt: Forschen Sie mal nach, ob eine Agnes Wolter in Göttingen noch lebt? Und die Natschalniks in Sibirien haben nichts Eiligeres zu tun, als das festzustellen.«
Der Beamte sah konsterniert an die Decke. Welch ein Ton? In einer Demokratie! Pfui!
Es war ein junger Beamter, kaum älter als Wolfgang Wolter, und als der Krieg zu Ende war, hatte er noch mit Murmeln auf den Straßen gespielt. Jetzt war er Beamter auf Lebenszeit. Freunde, das ist mehr als ein König! Könige können gestürzt werden, ein Beamter nie.
«Man kann in Ihrem Fall die Bestimmungen des Spätheimkehrergesetzes anwenden«, sagte der Beamte mit begrenztem Wohlwollen.»Sie können — auf Antrag — eine Entschädigung erhalten. Allerdings wird sie nicht so hoch sein wie die gezahlte Witwenrente. Die Differenz müssen Sie dann zurückerstatten. Da ist in einem Rechtsstaat nun nichts mehr zu diskutieren. Ordnung muß ja Ordnung bleiben.«
Karl Wolter nickte. Noch einmal sah er den jungen Beamten an und er konnte ihm keinen Vorwurf machen. Was wußte er vom Krieg? Was konnte er von Sibirien wissen? Er war aufgewachsen auf dem fruchtbaren Boden des sogenannten Wirtschaftswunders, er hatte immer einen gedeckten Tisch erlebt, ein warmes Bett, die Sorglosigkeit eines biederen Bürgers. Er hatte nie Fischmehl in heißem Wasser gefressen, Regenwürmer gebraten und aus frischem Frühlingsgras Spinatersatz gehackt. Er kannte keine fünfunddreißig Grad Kälte in der Steppe. Er war nie zu Fuß vierhundert Kilometer durch die kirgisische Steppe marschiert. Er hatte die Mittelschule besucht, ein Butterbrot mit Schinken in der Schultasche. Und was früher gewesen war, kannte er nur aus Romanen und den blassen Erzählungen seiner Lehrer.
Und doch kam in diesen Minuten der alte Kolka Iwanowitsch Kabanow wieder in ihm hoch. Mit der Faust schlug er auf den Tisch und brüllte, wie damals in dem schwankenden Boot des guten Fischers Agafonow.
«Nichts werde ich zurückzahlen! Gar nichts! Soll meine Frau dafür bestraft werden, daß ich lebe, daß ich wiedergekommen bin? Hätte ich lieber in Rußland bleiben sollen, he?«
Der junge Beamte bekam einen roten Kopf. Und dann sagte er etwas, was Karl Wolter explodieren ließ:»Bitte, benehmen Sie sich! Sie sind hier bei einer Behörde und nicht in der Steppe.«
Kolka Iwanowitsch — denn das war Wolter jetzt wieder — warf an die Wand, was er fassen konnte: die Akten, die Bleistiftschale, einen Locher, ein Töpfchen mit Leim, einen Aschenbecher und den Papierkorb.
Dann ging er endlich, weggeführt von zwei Polizisten, die von der Stenotypistin im Nebenzimmer alarmiert worden waren.
«Mein Gott, Vater«, sagte Wolfgang, als Agnes ihm den Auftritt im Rathaus erzählte.»Das bringt dir eine dicke Klage wegen Beleidigung und Sachbeschädigung ein.«
«Am Arsch können sie mich alle lecken!«schrie Wolter zurück.»Große Lust hätte ich, mit euch allen zurück nach Tiflis zu fahren! Wenn zwei Weltkriege nicht vermochten, den deutschen Amtsschimmel zu ändern… diesem Volke ist nicht mehr zu helfen!«
«Man muß Geduld haben, Mutter«, sagte Wolfgang leise, als Karl Wolter wütend weggegangen war. Er hatte Dimitri mitgenommen und Bettina. Er mußte an die Luft, er erstickte fast in dieser Enge seines neuen Lebens.»Er braucht eine lange Zeit, bis er sich wieder im Westen eingewöhnt hat.«
«Ob er es jemals wieder kann?«fragte Agnes zweifelnd.»Wie ein Raubtier geht er herum. Mein Gott, mein Gott, sagte er immer wieder, das ist ja alles gegen jede Logik. Ihr lebt ja wie die Strauße — mit dem Kopf im Sand. Ist denn so etwas möglich?«Agnes sah ihren Sohn nachdenklich an.»Ich fürchte fast, Vater hat recht.«
«Das gibt sich. Der Schock der Heimkehr, das Leben hier, das er wie ein Paradies ansehen muß. es ist alles zu viel auf einmal für Vater.«
Über den Vorfall schwieg man in der Familie Wolter. Aber jeder zitterte vor einem neuen Brief oder gar vor einer Vorladung zum Gericht wegen Beamtenbeleidigung. Doch sie traf nicht ein. Der Oberbürgermeister, selbst ein ehemaliger Kriegsgefangener, schlug diesen Vorfall im Rathaus nieder.
Karl Wolter hatte noch einmal Glück mit der Demokratie.
In der sowjetischen Botschaft lebte Jurij Alexandrowitsch Borokin isoliert und wie geächtet. So wenigstens kam es ihm vor, nachdem Oberst Jassenskij wieder abgereist war. Und als man in Rolandseck erfuhr, daß Bettina samt ihrem Vater und dem sowjetischen Ölingenieur Dimitri Sergejewitsch Sotowskij über Beirut nach Westdeutschland gekommen waren, gestand sich Borokin ein, daß die Pleite vollkommen war.
Aus Moskau kamen Telefongespräche, bei denen Borokin wie ein Idiot abgekanzelt wurde. Nach dem alten Grundsatz, daß für einen Knüppel auch der zu schlagende Esel vorhanden sein muß, wurde Borokin zum Sünder für alle Fehlleistungen gemacht, worüber General Oronitse, aber vor allem Oberst Jassenskij vom GRU sehr glücklich waren. Es ist immer gut, einen leicht erreichbaren Schuttabladeplatz zu haben.
Borokin nahm es hin wie eine Naturkatastrophe. Hagel kann man nicht verhindern, Moskaus Bann ebensowenig. Man konnte sich nur bemühen, bis zuletzt einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Die große Stunde Borokins schlug, als vom Hauptquartier des GRU aus dem Kreml der Befehl kam:»Sotowskij muß in die UdSSR zurückgeführt werden. Die Aktion ist unauffällig zu arrangieren.«
Wer Särge entführt, kann auch einen Lebenden >zurückführen<. Und da der Auftrag ganz klar war, machte sich Borokin ans Werk.
Er fuhr nach Göttingen und mietete sich dort ein möbliertes Zimmer unter dem Namen Ernst Hauber. Von Moskau hatte er Fotos bekommen, und er erkannte Dimitri sofort, als er ihn zusammen mit Karl Wolter und Bettina Spazierengehen sah.
Göttingen ist ein günstiger Ort, dachte Borokin. Die Zonengrenze ist in der Nähe, und es wird einfach sein, ihn rüberzubringen, wenn man ihn erst einmal fest in der Hand hat.
Wenn Bettina und Dimitri, wie es das Recht der Verliebten ist, Arm in Arm in den Parks spazierengingen, ließ Borokin sie keinen Moment aus den Augen. Er brauchte keine Vorsicht, weder Bettina noch Dimitri kannten ihn. Nur wenn Wolfgang Wolter am Wochenende zu Besuch kam, blieb Borokin im Hintergrund.
«Handeln Sie schnell«, rief ein paar Tage später Oberst Jassenskij aus Moskau an.
Plötzlich hatte Moskau keine Zeit mehr. Borokin konnte sich das nicht erklären, aber es ist auch nicht die Aufgabe eines sowjetischen Funktionärs, über Befehle nachzudenken.
Handeln Sie schnell. Über Bettina und Dimitri verdunkelte sich der Himmel, und sie merkten es nicht.
An einem Sonntag war's, Wolfgang war wieder zu Besuch in Göttingen, als der schwelende Brand sich zum vollen Feuer entwickelte.
Schon seit Beirut herrschte zwischen Wolfgang und Dimitri eine Kälte, die nur durch die Gegenwart Karl Wolters nicht zum offenen Streit wurde. Der kalte Krieg der Völker war nun bis in die Familie gedrungen, und Wolter sah es mit maßlosem Erstaunen und begriff es nicht. Eifersucht Wolfgangs auf einen plötzlichen Halbbruder war es nicht, menschlich würden sie sich gut verstehen, wirklich wie Brüder — aber da war etwas, was Karl Wolter einfach nicht verstehen wollte: Der politische Schnitt zwischen Ost und West.
Wolfgang Wolter war deutscher Offizier. Seine Welt war klar vorgezeichnet, durch die Schule, Ausbildung und Beruf. Er trug eine Uniform, und er hatte einen Eid geleistet, Deutschland notfalls mit seinem Leben zu verteidigen. Der Blick aber ging nicht in die Runde, wenn von Verteidigung geredet wurde, sondern nur nach Osten. Von dort kam die Bedrohung der freien Welt, Wolfgang Wolter kannte es nicht anders. Seit er denken konnte, hatte man es so in sein Hirn getrieben.
Und da war Dimitri Sergejewitsch Sotowskij, der große und schwarzlockige Mann aus Tbilisi, ebenfalls von Kindesbeinen an in einer Ideologie erzogen; von den Komsomolzen an bis zur Universität, vom ersten roten Halstuch bis zur Anstellung als Ölingenieur in Grusinien. Er hatte kommunistisch denken gelernt, und er hatte sich wohl gefühlt. Nun war er im Westen, aus Liebe geflüchtet aus der russischen Heimat, und nur wer ein Russe ist, kann ermessen, was das bedeutet. Er blieb Kommunist, warum sollte er sein ganzes Leben ändern? Er träumte nicht von der Weltrevolution — das waren Auswüchse des Denkens —, aber er träumte von der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen, und das ist ein guter Traum, Freunde, wenn nicht immer wieder Menschen kämen, die sich radikal benehmen und aus Ideen Ideologien machen.
Und doch: So sehr sie zueinander paßten, Wolfgang Wolter und Dimitri Sotowskij — eine Welt trennte sie. Es gab keine Brücke zwischen ihnen. Warum, das weiß keiner zu erklären. Könnte man es erklären, würden alle Politiker arbeitslos, und die Welt hätte Frieden. Kaum auszudenken.
An diesem Sonntag nun geschah es.
Bettina und Agnes Wolter waren in der Kirche, Dimitri spülte das Kaffeegeschirr in der Küche (wie er es oft in Tiflis auch getan hatte), und Wolfgang Wolter, in Uniform, ging unruhig im Wohnzimmer hin und her, während sich Karl Wolter eine Zigarre ansteckte. Wie vor einem Gewitter war es drückend im Raum.
«Was soll aus Dimitri werden, Vater?«sagte Wolfgang und blieb vor Karl Wolter stehen. Seine Worte waren wie der erste Blitz aus den Gewitterwolken.
«Ich verstehe deine Frage nicht«, sagte Wolter.
«Er bleibt bei uns?«
«Natürlich! Er wird eines Tages Bettina heiraten.«
«Ich glaube kaum, daß das möglich ist, Vater.«
Das war so klar gesagt, daß Wolter seine Zigarre weglegte. Er sah zu seinem Sohn hinauf, auf die beiden silbernen Sterne seiner Schulterstücke, und dann erhob er sich und holte tief Atem.
«Weder deine Schwester noch dein Vater werden dich um Erlaubnis bitten, wie sie ihr Leben einrichten!«sagte er laut.»Ich wünsche, daß du endlich begreifst, daß Dimitri zu unserer Familie gehört! Ich habe ihn großgezogen wie einen Sohn.«
«Unter welchen Voraussetzungen! Du warst Gefangener, du hast einer Falschmeldung geglaubt und bist in Rußland geblieben. Du hättest als Russe weitergelebt.«
«Und ich wäre auch als Russe gestorben!«rief Wolter dazwischen.
«Doch das ist jetzt alles vorbei. Du lebst wieder in normalen Verhältnissen. Und ich bin Offizier der Bundeswehr.«
«Man kann's nicht übersehen«, sagte Wolter sarkastisch. Wolfgang bekam rote Ohren. Seine Finger schabten nervös über die Handflächen.
«Vater… ich bin im Ministerium darauf angesprochen worden. Stimmt es, daß Sie einen Russen in die Familie bekommen? Ihre Schwester will einen Russen heiraten? Denken Sie daran, daß Sie Offizier des MAD sind. Es ist fast unmöglich, daß Sie in der Abteilung Ost arbeiten bei einem Bolschewisten in der Familie. «Wolfgang holte tief Atem.»Begreifst du das, Vater? Meine Karriere ist in Gefahr. Man wird mich abstellen zu einem Truppenkommando, und dort kann ich versauern! Ich soll, das hat man mir gesagt, außer der Reihe zum Hauptmann befördert werden und eine Abteilung im Amt Ost bekommen. Das ist alles hinfällig, wenn Dimitri bleibt! Hast du gelesen, was Dimitri dem Reporter der Tagesschau gesagt hat? Ich bin ein Kommunist, auch wenn ich aus Rußland geflüchtet bin. - Im Ministerium hat man kopfgestanden. Ich mußte dem General Bericht erstatten. Geschämt habe ich mich!«
«Geschämt? Wovor? Daß Dimitri Charakter hat?«
«Vater! Du willst es nicht begreifen… wir sind eine deutsche Familie, ich bin ein deutscher Offizier… wir können uns keinen Sowjetrussen in unserer Familie leisten.«
«Ich kann es!«schrie Karl Wolter.
Vor seinen Augen brannte das Zimmer.
Wo habe ich die besten Jahre meines Lebens gelebt? In Rußland, dachte er. In Tiflis wurde ich nach den Jahren in Sibirien wieder zum Menschen. In Tiflis habe ich Dimitris Mutter kennengelernt, wir hatten eine gute Ehe, und ich habe aus dem schmächtigen Jungen einen richtigen, klugen Mann gemacht. Und nun geht es nicht mehr? Nun ist er im Wege, mein Söhnchen Dimitri. Und mein eigener Sohn sagt zu mir, ich soll ihn entfernen. Hölle und Teufel, das ist zuviel an sinnloser Politik!» Dimitri ist mein Sohn wie du!«sagte er laut.
«Er ist nicht dein leiblicher Sohn!«
«Er ist mir ans Herz gewachsen wie du und Bettina! Es gibt keine Diskussion darüber, was aus ihm wird! Eine Stellung wird er annehmen und Bettina heiraten.«
«Und meine Offizierslaufbahn?«rief Wolfgang.
«Das ist eine merkwürdige Armee, die sich vor einem einzelnen Russen fürchtet.«
«Es geht um das Prinzip, Vater!«
«Scheiß was auf dieses Prinzip! Es geht um die Menschlichkeit!«
«Du denkst und du redest wie ein Russe!«Wolfgangs Stimme wurde hell wie auf dem Kasernenhof.»Ich habe mir meinen Vater anders vorgestellt! Klüger, deutscher. So wie du dich jetzt benimmst, wäre es besser gewesen, du wärst in Rußland geblieben. besser für uns alle. «In diesem Augenblick zerbarst das Zimmer vor Karl Wolter. Er tat einen Schritt auf seinen Sohn zu, hob die Hand und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Wolfgang taumelte zurück. Blankes Entsetzen trat in seine Augen.
«Du schlägst mich.«, stammelte er.
«Du bist mein Sohn. Jawohl!«
«Ich trage eine Uniform.«
«Zieh sie aus, damit ich dir auf die andere Backe auch eine schlagen kann!«
«Ich bin Offizier, Vater!«
«Und ich war ein einfacher, dreckiger Feldwebel, der für euch den Kopf hingehalten hat. Für dich, du arroganter Bursche!«Karl Wolter keuchte und zog den Kopf zwischen die Schulter. Mein Herz, dachte er. O Himmel, ich spüre es im Herzen. ist stehe in einer fremden Welt, und doch ist es meine Heimat!
«Mach, daß du rauskommst!«sagte er hart.»Geh!«
«Vater.«, stotterte Wolfgang. Seine Wange brannte.
«Fahr zurück zu deinen Kameraden. Sing mit ihnen: Gen Ostland woll'n wir reiten. Wir haben es auch gesungen, und ich war so alt wie du. Was daraus geworden ist, siehst du. Hau ab, du deutscher Offizier!«
«Du bist wirklich ein Russe«, sagte Wolfgang dumpf. Er nahm seine Mütze und setzte sie auf.»Unsere arme Mutter!«
Karl Wolter bückte sich, irgend etwas ergriff er, schwenkte es durch die Luft und warf es dann gegen seinen Sohn. Ein Buch war es. Ein schöner Titel: >Die Welt, in der wir leben<.
Wolfgang wich dem Wurf aus. Dann wandte er sich um und verließ stumm das Zimmer.
In der Küche band Dimitri seine Schürze ab. Bleich war er, über seinen Augen lag ein Schleier. Er hatte das Geschirr ins Zimmer bringen wollen und an der Tür hatte er alles gehört und gesehen und auch verstanden.
Während Karl Wolter auf dem Sofa saß, den Kopf in beide Hände vergraben, schlich sich Dimitri aus dem Haus. Er nahm nicht viel mit, nur eine Aktentasche mit Wäsche. Nicht einmal einen Brief hinterließ er. Er ging weg aus einer Welt, der er lästig war. Er verschwand lautlos wie ein Nebel, der sich zwischen den Bäumen auflöst. Sein Herz blieb zurück bei Bettina, und das war das Fürchterlichste an seiner Flucht: Er ging ohne Seele weg. Nur sein Körper suchte Zuflucht. Die Welt war weit.
Als Agnes Wolter und Bettina aus der Kirche zurückkamen, war alles schon geschehen.
Karl Wolter rannte durch das Haus und schrie nach Dimitri. Nur mit Mühe konnte Agnes ihn beruhigen und auf das Sofa drücken.
«Einmal wird Dimitri schreiben«, sagte Bettina, als sie aus seinem Zimmer zurückkam, starr und wächsern wie eine Schaufensterpuppe.»Und wo er auch ist, ich fahre zu ihm. und wenn es zurück ist nach Tiflis.«
Und da erst weinte Karl Wolter.
Der Weg Dimitris hatte nichts Geheimnisvolles an sich, war fern aller Sensation, war nicht umwittert von Abenteuern, sondern es war der Weg eines nüchternen, unromantischen Alltags: Mit dem Zug fuhr er von Göttingen nach Köln, von Köln nach Remagen, und dort ließ er sich beim französischen Botschafter melden.
Ein Botschaftsrat empfing ihn in dem herrlichen Schloß über dem Rhein, eine wahrhaft königliche Residenz, und da Dimitri kaum französisch und der Botschafter kein Russisch sprach, einigte man sich auf die deutsche Sprache.
«Ich bin gekommen«, sagte Dimitri, und es tat ihm im Herzen weh, so etwas aussprechen zu müssen,»um mich bei Ihnen zu bewerben. Ich bin Ölfachmann, Ölingenieur des staatlichen Ölkombinats Tbilisi. Ich bin aus Rußland geflohen, und das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen gern erzähle, wenn Sie Zeit für mich haben. Wir wissen auch in Rußland, daß Frankreich in der Sahara große Öl- und Erdgasvorkommen auswertet. Ich möchte um eine Stelle in der algerischen Sahara bitten.«
Ja, so war das. Genau hatte es sich Dimitri überlegt. Zuerst war er nur aus dem Haus gerannt, getrieben von dem Entsetzen, das ihn überfiel, als er Kolka auf seinen Sohn losgehen sah. Ich gehöre nicht hierher, hatte Dimitri gedacht. Ich zerstöre eine Familie, die zwanzig Jahre lang zerrissen war und nun zueinander gefunden hat. Was macht es, daß ich mein Väterchen Kolka verloren habe? Gibt es ein Recht, den Ziehvater zu behalten auch wenn man ihn liebt wie den eigenen Vater? Und Bettina muß ich aufgeben. Das ist der größte Schmerz. Das ist etwas, was man nie überwinden kann. Aber auch darüber wird einmal eine Haut wachsen, wie über jede Wunde, und man muß sich bemühen, sie nicht immer aufzureißen.
Doch dann stand er plötzlich am Bahnhof, die Züge ratterten an ihm vorbei, und da überfiel ihn die ganze Trostlosigkeit seiner plötzlichen Einsamkeit, und das Heimweh nach Rußland preßte gegen sein Herz.
Fort, dachte er da. Nur fort aus Deutschland! Nicht mit Haß, sondern mit Wehmut. Die Welt ist groß genug auch einen Dimitri Ser-gejewitsch Sotowskij aufzunehmen, einen Heimatlosen ohne Paß, ohne Recht, ohne Geld, ohne Zukunft, nur bepackt mit dem Willen, weiterzuleben und allein zu sein mit seinen Gedanken und seinem Heimweh nach Rußland, das er nie wiedersehen wird. Und er kaufte sich eine Fahrkarte nach Köln, saß im Zug, starrte auf die vorbeifliegende Landschaft, und erst dann, in eine Ecke des Abteils gedrückt, rundete sich das Bild seiner Zukunft und wurde sein Weggehen zu einer wahrhaften Flucht.
Öl! Frankreich bohrt Öl in der algerischen Sahara. Eine Hölle unter glutendem Himmel und heißem Sand ist es. Die Einsamkeit ist der Spielgefährte und die Sehnsucht nach einer Landschaft voll Schnee ist der süßeste Traum.
Aber Öl ist da. Bohrtürme. Eine Pipeline. durch Wüstensand bis zur Küste. Pumpstationen, silbern glitzernde Tanks, Reinigungsanlagen, eine Raffinerie im Aufbau.
Es ist die Welt des Dimitri Sotowskij. Das Knirschen der Bohrer, das Zischen der Ventile, der Geruch des Rohöls. wenn man die Augen schließt, riecht es nach Heimat. O Freunde, das ist der richtige Ort. Weit weg von Deutschland.
Drei Stunden lang erzählte Dimitri dem französischen Botschaftsrat seine Geschichte. Er merkte nicht, daß sie auf Tonband aufgezeichnet wurde, er wußte nicht, daß sie am gleichen Tage noch übersetzt und abgeschrieben wurde und nach Paris flog zum Arbeitsministerium. Er bekam etwas Geld, mietete sich in einer kleinen Pension in Remagen ein und begann des Menschen liebstes Spiel: Warten.
Drei Tage war Dimitri in Remagen. Er ging nie aus, saß am Fenster, sah auf den Rhein, aß seine Mahlzeiten in dem kleinen Eßzimmer der Pension, vermied jeden Kontakt mit den anderen Gästen, und jeden Abend, wenn es dunkel geworden war und der Rhein von flimmernden Lichtern eingerahmt war, stand er auf einem kleinen Balkon, lehnte sich an das eiserne Geländer und dachte an Bettina.
«Er ist ein Künstler«, sagte der Pensionswirt, als die anderen Gäste ihn nach dem seltsamen Menschen fragten.»Aus Polen oder sonstwo aus dem Osten kommt er. Gast der französischen Botschaft. Vielleicht ein Maler, der den Botschafter malt. «Das genügte. Man kümmerte sich nicht mehr um Dimitri. Ein Künstler! Die haben sowieso Narrenfreiheit.
Am vierten Tag ließ ihn der Botschaftsrat wieder rufen. Paris hatte schnell gearbeitet. Ölfachleute sind knapp auf der Welt, noch seltener sind Ingenieure, die freiwillig in die Sahara gehen. Am seltensten aber ist ein sowjetischer Fachmann, der seine Dienste dem Westen anbietet.
«Sie werden in einigen Tagen nach Marseille fliegen«, sagte der Botschaftsrat freundlich, als Dimitri sein angebotenes Glas Kognak getrunken hatte.»Mit einem Kurierwagen werden Sie zunächst nach Paris gebracht. Von dort fliegt man Sie nach Marseille. Der Direktor des französischen Öl-Trusts wird dann über alles Weitere entscheiden. «Der Botschaftsrat blätterte in einem Aktenstück, und Dimitri wunderte sich, wie dick es bereits war und wieviel Papier man schon seinetwegen beschrieben hatte.»Sie hatten in Tiflis keinerlei politische Schwierigkeiten?«
«Nein«, antwortete Dimitri.»Keine.«
«Das ist wichtig. Es liegt uns daran, mit Ihrem Land einen freundschaftlichen Kontakt zu pflegen. Irgendwelche Komplikationen, die aus Ihrer Flucht aus Tiflis erwachsen könnten, wären uns unangenehm! Wie ist Ihre politische Einstellung?«
«Ich weiß nicht.«, sagte Dimitri. Er verstand die Frage nicht.
«Sind Sie Kommunist?«
«Ja.«
Die alte Frage, und immer wieder die gleiche Verwunderung bei Dimitri. Warum ist das so wichtig, dachte er. Ich bin erzogen worden in diesem Geist. Bin ich deshalb ein schlechterer Mensch, ein schlechterer Ingenieur, eine Gefahr für die anderen? Die Deutschen hatten einen Bismarck, die Franzosen einen Napoleon, die Engländer ihr Königshaus, die Amerikaner einen Roosevelt. Wir hatten einen Lenin und Stalin. was hat das mit mir zu tun? Kann man einem Deutschen vorwerfen: Du bist ein schlechter Mensch, denn ihr hattet einen Friedrich den Großen? Oder einem Franzosen: Geh weg… ihr habt einem Robespierre zugejubelt? Welch eine Dummheit!
«Morgen früh um sieben Uhr erwarten wir Sie hier«, sagte der Botschaftsrat, ohne weiter auf das klare Ja Dimitris einzugehen.»Haben Sie viel Gepäck?«
«Nur das was ich am Körper trage. Und eine Aktentasche mit Kleinigkeiten.«
«Die Rechnung Ihrer Pension in Remagen lassen Sie bitte zu uns schicken. «Dimitri erhob sich. Der Schritt in eine andere Welt war getan, und er war so nüchtern, als wenn man eine Tür öffnet und in ein anderes Zimmer geht.
«Ich danke Ihnen«, sagte er, und seine Stimme war plötzlich belegt vor innerer Erschütterung. Paris — Marseille — Algerien… es gab kein Zurück mehr. Die Welt des Dimitri Sotowskij würde die glühende Sahara werden. In ihrem gelben, heißen Sand würde er die Liebe zu Bettina begraben. Ein Grab, auf dem nicht einmal eine Blume wachsen konnte.
Die Fahrt nach Paris verlief ohne Zwischenfälle. Der Diplomatenwagen wurde nicht kontrolliert und fuhr unbehindert über die Grenze. In Paris wohnte Dimitri in einem Gästehaus der Ölfirma. Er sah nicht viel von der schönen Stadt, denn immer neue Herren fragten ihn aus und testeten sein Wissen. Und dann erlebte Dimitri eine große Überraschung: Am dritten Tag in Paris wurde er in ein Büro geführt. Dort saß ein dicker Mensch hinter einem breiten Schreibtisch, rauchte eine Papirossa und begrüßte Dimitri auf russisch:»Guten Tag, Kamerad. Steht das alte Nonnenkloster Samt-awro in Mtscheta noch?«
«Ein Mensch aus Tbilisi.«, stammelte Dimitri. Ob er es wollte oder nicht… Tränen kamen in seine Augen, und sie brannten, als seien sie aus Säure.»Ist das schön.«
Es zeigte sich, daß Valeri Mironowitsch Lepka schon seit zwanzig Jahren in Frankreich war, in Tiflis studiert und in der gleichen Abteilung gearbeitet hatte, die Dimitri einmal als Chefingenieur hatte übernehmen sollen. Einen ganzen Tag sprachen sie miteinander. Dimitri erzählte von dem neuen Grusinien, und Lepka bekam weite Augen, wie alle Russen sie bekommen, wenn jemand von ihrer Heimat erzählt. Augen, in denen die Weite Rußlands liegt.
«Es ist so gut wie sicher, daß du nach Algerien kommst«, sagte Lepka nach vielen Stunden russischer Erinnerung.»Aber glaube nicht, das ist ein Zuckerlecken, Freundchen. In Tiflis haben wir dagegen wie die Fürsten gelebt. Die Sahara ist das feindlichste Land, das die Erde kennt… aber, das ist ein Wunder: Wer sie einmal lieben gelernt hat, bleibt bei ihr, als ersticke er woanders. Überlege es dir,
Dimitri Sergejewitsch. Wir könnten für dich auch eine Stellung in Marseille finden. Oder an der algerischen Küste, bei den Tanks und Pumpen.«
«Ich will in die Wüste, Valeri Mironowitsch«, sagte Dimitri fest.»Ich will mich vergraben.«
«Es gibt mehr schöne Mädchen als diese Bettina!«rief Lepka.»Sei kein Idiot, Dimitri! Wir gehen heute abend aus, und ich bringe dir ein Mädchen, das in dir die Erinnerung an diese Deutsche vertreibt.«
Dimitri schüttelte den Kopf.»Es gibt nur eine Bettina, Valeri Mironowitsch. Laß sie mir im Herzen… es lebt sich leichter damit als mit einer Leere, in die nur ab und zu eine Stimme klingt.«
Und dann war Dimitri eines Tages in Marseille. Zehn Tage waren seit seiner Flucht aus Göttingen vergangen, auf dem Kalender war es ganz deutlich zu lesen. Unbegreiflich.
Zehn Tage. Wie ein Wind waren sie an ihm vorbeigeweht. Ihm war, als sei er erst vor ein paar Stunden aus dem Haus geschlichen und durch die sonntagsstillen Straßen Göttingens gerannt. Zehn Tage. Und nicht ein einziges Wort an Bettina.
In dem kleinen Zimmer des Hotels, in das man Dimitri bis zur Abfahrt des Schiffes nach Algier gebracht hatte — ein billiges Hotel, in dem es vom Keller bis zum Dachboden nach der Bouillabaisse, der Fischsuppe mit Knoblauch und Gewürzen, roch, auf die Marseille so stolz ist —, schrieb er seinen ersten und letzten Brief an Bettina. Er schrieb ihn russisch, denn was er zu sagen hatte, konnte er in deutscher Sprache nicht ausdrücken.
«Mein Stern,
ich lebe, aber das ist auch alles. Ich lebe mit einem zerrissenen Herzen, und ich lebe nur, weil die Erinnerung an Dich da ist, das Letzte, was ich von Dir habe, und das doch so schön ist, daß es für mein ganzes Leben reicht.
Leb wohl, mein Stern. Wie schön wäre es gewesen, wenn wir nur Menschen hätten sein können. So aber sind wir Russen und Deutsche und hundert andere Nationen, und es kommt nicht darauf an, daß jeder von
uns ein Herz hat, sondern es gilt nur, hinter welcher Fahne er marschiert. Das ist so dumm, aber es ist so alt wie die Menschheit. Wir ändern es nicht, mein Stern; wir sind nur Staub, den man wegwischt.
Ich küsse Dich. Nicht zum letztenmal, denn ich werde Dich in Gedanken immer küssen, ehe ich nachts die Augen schließe- immer, über Jahrzehnte hinweg, solange ich lebe. Du bist unsterblich in mir, meine Wanduscha.«
Dieser Brief traf zwei Tage später in Göttingen ein. An Bettina war er gerichtet, aber Karl Wolter riß den Umschlag auf, denn er kannte ja die Handschrift Dimitris, diese steilen, dicken Buchstaben, in das Papier gerammt wie ein steinerner Zaun.
«In Marseille ist er!«schrie Wolter und lief mit dem Brief durch die Wohnung. Agnes umarmte ihn, denn seine Freude war auch ihr Glück, und die vergangenen zwölf Tage waren schrecklich gewesen, dumpf und leer und wie leblos.»In Marseille! Betti! Er lebt! Er hat geschrieben. Mein kleiner Dimitri.«
Und dann las er den Brief vor. Erst auf russisch, und Bettina weinte und trat zum Fenster, als könne sie von dort aus bis nach Marseille blicken. Und dann las er ihn auch auf deutsch, und Agnes legte die Hände in den Schoß und sah ihren Mann lange an.
«Er kommt nie wieder«, sagte sie leise.»Ich habe Angst, Karl.«
«Angst? Wovor?«
«Soll es jetzt immer so bleiben? Wolfgang kommt nicht mehr zu uns, Dimitri ist gegangen — was soll das für ein Leben werden? Willst du nur trauern, bis du gestorben bist? Zwanzig Jahre haben wir auf dich gewartet, und was ist daraus geworden?«
«Dimitri wird zurückkommen!«sagte Karl Wolter.»Ich hole ihn.«
«Nein, Vater. Ich fahre nach Marseille!«Bettina drehte sich am Fenster um.»Ich rufe gleich die Fluglinie an. Mit der nächsten Maschine fliege ich. Dimitri kommt nur zurück, wenn ich ihn hole.«
«Das stimmt. «Karl Wolter las noch einmal den Brief Dimitris.»Er ist ein Dickkopf. Und stolz ist er. Stolz! Wäre er sonst ein Grusinier?«
«Und Wolfgang?«fragte Agnes Wolter leise.»Du hast noch einen Sohn, Karl.«
«Den hole ich!«Wolter legte den Brief vorsichtig auf den Tisch, als wäre er aus dünnem Glas.»Morgen früh fahre ich nach Bonn. «Und dann hieb er mit der Faust auf den Tisch, daß die Holzbeine ächzten, und er war wieder der alte Kolka aus Tiflis.»Zum Teufel!«schrie er.»Gelacht wäre es, wenn ich eine störrische Familie nicht wieder zusammenbekäme! Eine Kamelherde habe ich durch die Steppe getrieben, ich habe mit sturen Ochsengespannen Hunderte Werst abgefahren, und ich soll zwei dumme Jungen nicht zur Ordnung bringen? Verdammt will ich sein, wenn mir das nicht gelingt!«
Und Agnes Wolter lächelte zu ihm hinauf, als er sie wie um Beifall heischend ansah. Er ist ein völlig anderer Mensch geworden, dachte sie. Als er vor einundzwanzig Jahren abfuhr, war er fast ein schüchterner Jüngling. Nun ist er ein Bär aus dem Kaukasus.
Hand aufs Herz… so gefiel er Agnes Wolter auch besser.
Aber soviel ein Mensch auch plant: Es ist rätselhaft, wo die Karten des Schicksals gemischt werden.
Bettina landete um 17.19 Uhr auf dem Flugplatz Marseille. Aber genau um 17 Uhr legte das Schiff >Liberte< von der Kaimauer des Marseiller Hafens ab und glitt hinaus ins spiegelnde Meer. An der Reling stand Dimitri und sah zurück auf die Küste, niemand winkte ihm zu, aber da waren die Kräne, und sie sahen im Sonnenglast aus wie ein Wald von Fingern, die zum Abschied in den Himmel gereckt wurden.
Eine halbe Stunde später stand Bettina auf dem Dach des Hafenamtes und sah durch ein Fernglas hinüber zu dem langgestreckten Schatten, der vom Himmel und vom Meer aufgesaugt wurde; ein blasser, schemenhafter Gegenstand, wie eine über den Wellen treibende kleine graue Wolke.
«Das ist die >Liberte<«, sagte der Direktor der französischen Ölgesellschaft.»Eine Stunde früher, Mademoiselle… ich hätte Ihnen zu gern beigestanden, auch wenn wir einen der seltenen Ölfachleute damit verloren hätten. Aber für eine so schöne Dame tun wir Fran-zosen ja alles.«
Bettina sah durch das Fernglas, bis auch die letzte Andeutung eines Schattens im Meer versunken war. Sie fühlte sich restlos erschöpft. Vom Flughafen zu dem auf dem Brief angegebenen Hotel, vom Hotel zur Ölgesellschaft, von dort zum Hafen… es war ein Wettlauf gewesen, den sie verlieren mußte. Nur neunzehn Minuten lagen dazwischen, und nach diesen Minuten eine ganze Welt!
«Die >Liberte< wird übermorgen in Algier ankommen«, sagte der hilfsbereite Direktor.»Wenn Sie morgen früh mit der planmäßigen Maschine nach Algier fliegen, sind Sie einen Tag früher da als Ihr Verlobter. Um die Einreiseerlaubnis werde ich mich selbst kümmern. Das wird eine Überraschung geben; er geht von Bord, und wer steht an der Mole? Sie!«
Bettina nickte und gab das Glas zurück zu dem stillen Hafenbeamten, der hinter ihnen stand.
«Wie soll ich Ihnen danken?«fragte sie leise. Die Müdigkeit ließ sie schwanken. Galant faßte sie der Direktor unter.
«Der Dank einer schönen Frau ist immer die Bestätigung, daß sie glücklich ist. Werden Sie glücklich, Mademoiselle.«
«Das werde ich sein!«
Und das klang fest und entschlossen, wie damals in Tiflis, als die Flucht in eine unbekannte Welt begann.
Das neuerbaute Verteidigungsministerium auf der Bonner Hardthöhe, im Volksmund >Pentabonn< genannt, glänzte mit seinen Hunderten von Fenstern in der Sonne, als Karl Wolter sich mit einer Taxe vom Hauptbahnhof zum Ministerium bringen ließ. Bevor sie auf den großen Parkplatz fuhren, ließ Wolter anhalten, stieg aus und betrachtete den imposanten Bau aus der Ferne. Der Taxifahrer schob die Mütze in den Nacken und beobachtete den seltsamen Fahrgast, der kopfschüttelnd auf der Straße stand. Ein merkwürdiger Vogel, dachte er. Als ob er noch nie solch'ne Steinlandschaft gesehen hat. Kommt wohl vom Lande, der gute Onkel.
Nachdenklich stieg Wolter nach ein paar Minuten wieder in den Wagen und lehnte sich zurück. Der Fahrer drückte seine gerade angerauchte Zigarette aus.
«Weiter?«fragte er.
Wolter nickte.»Ja«, sagte er kurz.
«Toller Bau, was?«Der Fahrer zeigte auf das >Pentabonn<.»Haben Sie noch nie gesehen?«
«Nein. Ich komme aus Rußland.«
«Ach! Wie lange sind Sie jetzt hier?«
«Knapp vier Wochen.«
«Mann, nehmen Sie mich nicht aufn Arm!«Der Fahrer schaltete den Motor aus.»Sagen Sie bloß noch, Sie wären bis vor vier Wochen Kriegsgefangener gewesen.«
«Das nicht. Aber ich bin als Plenny drüben geblieben. «Wolter sah wieder auf den riesigen Bau des Ministeriums. Er verstand das alles einfach nicht. Alle wollten den Frieden, keiner dachte an Feindschaft, sie alle verfluchten den Krieg. die Bauern an den Hängen des Kaukasus, die Bürger von Tiflis, die Nomaden in der Kirgisensteppe, die Fischer am Kaspischen Meer. und überall auf der Welt, ganz gleich, wohin man kam und wen man fragte. sie alle verdammten den Krieg.
Und trotzdem gaben die Staaten Milliarden aus für Waffen und Raketen, für Panzer und Flugzeuge. Milliarden, die aus der Welt einen blühenden Garten machen könnten, wenn sie statt in den Irrsinn in den Aufbau der Länder und Völker gesteckt würden.
«Wollen Sie Krieg?«fragte Wolter den Taxifahrer. Die Frage kam so plötzlich, daß der Angesprochene erst nach Worten suchen mußte.
«Wohl verrückt, was? Krieg! Wozu?«
«Aber alle rüsten.«
«Der Russe, Mann.«
«Auch der Muschik will keinen Krieg. Auch der Jäger in der Taiga nicht. Und erst recht nicht die Arbeiter in den großen Werken.
Sie leben, wie wir, glücklich; sie haben ihr Essen, ihre Wohnung, ihren Fernsehapparat, ihren Urlaub.«
«In Rußland? Mann! Sie sind ja Kommunist! Lesen Sie mal unsere Zeitungen, wie die über die Sowjets schreiben. Wie dreckig es denen geht.«
«Und man glaubt das hier?«
«Natürlich!«
«Fahren Sie!«Karl Wolter beugte sich vor und starrte auf das riesige Ministerium.»Es hat sich in Deutschland wirklich nichts geändert! Und die da«- er zeigte auf das >Pentabonn< —»leben davon, nicht wahr?«
Der Fahrer schwieg. Man soll sich mit Fahrgästen nicht politisch streiten, es kommt nichts dabei heraus. Jeder soll nach seiner Art selig werden. Der eine liebt die Mutter, der andere liebt die Tochter… gut, wenn beide glücklich sind.
Im Ministerium mußte Karl Wolter zunächst warten, als er seinen Wunsch vorgebracht hatte, seinen Sohn, den Oberleutnant Wolfgang Wolter, zu sprechen. Er wurde von einer Ordonnanz abgeholt, bekam vorher einen Laufzettel, wurde durch lange Gänge geführt, fuhr mit Fahrstühlen herum und verlor völlig die Orientierung. Ein Labyrinth von Gängen, Türen, Fluren, Zimmern war es, und Wolter trottete hinter dem Unteroffizier, der ihn führte, her wie ein Hammel, der mit dumpfer Gelassenheit zum Schlachten geführt wird.
In einem kleinen, lichtdurchfluteten Zimmer stand er dann einem Major gegenüber, der ihm beide Hände entgegenstreckte und ihn mit» Guten Tag, mein lieber Herr Wolter!«begrüßte.
Das machte Karl Wolter stutzig. Freundlichkeit ist etwas charakterlich Wertvolles, weil sie so schwer zu halten ist — aber dieser trompetende Ton, als empfange man einen berühmten Fußballspieler, machte ihn vorsichtig.
«Ich suche meinen Sohn«, sagte er deshalb kühl.»Oberleutnant.«
«Ich weiß, ich weiß. Wird bereits verständigt und ist auf dem Weg hierher. Befindet sich gerade zu einer Besprechung beim General. Nehmen Sie doch Platz, bitte. Eine Zigarre? Ein Kognak? Eine Tasse Kaffee?«Der Major setzte sich auf den Rand des Schreibtisches und sah auf Wolter hinunter, der sich zögernd auf einen der Stühle gesetzt hatte.»Sie waren bis vor vier Wochen noch in Rußland?«fragte er.
Karl Wolter nickte. Aha, dachte er. Der warme Wind soll das Eis auftauen. Ganz sanft wird man verhört, ohne es zu merken, wenn man ein Dussel ist. Ein kleines Gespräch über Rußland, völlig harmlos. Freunde, hält man Kolka Iwanowitsch für einen Idioten?
«Zwanzig Jahre lang?«fragte der Major freundlich.»Mein Gott, welch eine lange Zeit.«
«Zweihundertvierzig Monate«, sagte Wolter gleichgültig.
«Da haben Sie viel gesehen, was?«
«Ja. Bau von Stauwerken, Ausbau einer Raketenstation. An einer unterirdischen Ölraffinerie habe ich selbst geholfen, als Maurer. Und die Truppenübungsplätze, enorm!«Karl Wolter sah auf seine Hände. Unmöglich wäre es ihm, jetzt den Major anzusehen. Dieser hatte rote Backen bekommen und einen flammenden Blick.
«Interessant! Interessant! Gehen wir mal zur Karte. Man kann sich das nur auf einer Karte vorstellen. Wenn Sie mir einmal zeigen, wo man das alles gebaut hat.«
«Nein!«sagte Wolter hart.
Der Major, schon auf dem Weg zu einer großen Wandkarte, blieb ruckartig stehen. Seine Schuhsohlen knirschten, so abrupt bremste er seinen Schritt.
«Was heißt nein?«
«Nein heißt nein oder njet oder non oder no, wie Sie wollen.«
«Mein Herr.«
«Wolter. Karl Wolter. Vor zehn Minuten konnten Sie meinen Namen noch geläufig aussprechen.«
«Sie sprechen mit einem Offizier!«rief der Major empört.»Sie haben mir eben erzählt, daß Sie mitgewirkt haben am Bau sowjetischer Militärbasen, und wenn ich Sie nun bitte, mir an der Karte.«
«Wozu?«Wolter sah den wütenden Offizier treuherzig an.»Was wollen Sie damit?«»Im Falle eines Krieges.«
«Wollen Sie Krieg? Hoffen Sie auf einen Krieg?«
Der Major versteinerte und ging um seinen Schreibtisch herum. Dort setzte er sich, drückte auf eine Sprechtaste und brüllte in das Mikrofon:»Oberleutnant Wolter! Wo bleibt er denn?«
Keine zwei Minuten dauerte es, und Wolfgang Wolter trat ein. Er war nicht überrascht; schon im Nebenzimmer hatte man ihm etwas Unschönes gesagt. Dort saß ein Hauptmann vor einem Tonbandgerät und hatte alles aufgenommen, was Wolter nebenan gesprochen hatte.»Sagen Sie mal«, sagte der Hauptmann zu Wolfgang Wolter,»Ihr Vater ist wohl ein wenig schwach möbliert im Kopf? Der gibt dem Herrn Major vielleicht Antworten! Wie Rotz am Ärmel benimmt er sich. Das wird für Sie noch ein Nachspiel haben.«
«Gehen wir in die Kantine, Vater«, sagte Wolfgang, als er seinen Vater begrüßt hatte.»Sie erlauben doch, Herr Major?«
«Aber ja. Nehmen Sie ihn mit!«sagte der Major abgehackt.
«Wolter. Karl Wolter. «Kolka — denn das war er jetzt wieder — drehte sich herum.»Ein höflicher Mensch redet den anderen immer mit seinem Namen an! Das weiß ich als einfacher Feldwebel, befördert vor dem Feind bei Minsk. Sollte ein neuer deutscher Major das nicht mehr wissen.?«
«Vater!«Wolfgang schob Karl Wolter aus dem kleinen Zimmer und schloß die Tür. Auf dem Flur löste sich die starre Miene Wolters; er lächelte sogar.»Du hast dich wieder unmöglich benommen.«
«Wer war denn der Knabe?«
«Major Hennrichs vom MAD. Eine Kapazität.«
«Kommt sich vor wie ein kleiner Gott in seiner Uniform, was?«
«Du hast eine falsche Einstellung zur Uniform, Vater.«
«Ich habe schon eine getragen, da habt ihr noch in die Windeln geschissen.«
Karl Wolter strich sich über die stoppeligen weißen Haare. Seine Stimme war laut, und Wolfgang begann, sich zu schämen.
«Komm, gehen wir in die Kantine, Vater«, sagte er schnell.»Ich habe nur eine halbe Stunde Urlaub für dieses Gespräch. Wir leben
ja nach Dienstplänen.«
«In die Windeln geschissen!«brüllte Wolter.»Himmel, wie mich das alles anwidert! Keine Luft bekomme ich in dieser Atmosphäre von zackigen Reden und schon strafbarer Selbstüberschätzung! Ich kann mir nicht helfen — in Gegenwart von Uniformen bekomme ich den Geruch von Mist nicht aus der Nase.«
«Gehen wir, Vater«, sagte Wolfgang heiser.»Du änderst es nicht, ob du nun recht hast oder nicht. Du warst zwanzig Jahre hinter den Bergen, und die Welt hat sich gedreht und verändert.«
«In einen Paradies habe ich gelebt. «Wolter wurde in einen Aufzug gestoßen, die Tür schnarrte zu, sie schwebten abwärts.»In einem wahren Paradies, mein Sohn. Eine Wohnung, gutes Essen, jeden Tag zum Abend zweihundert Gramm Wodka, und im Frühjahr blühten die Aprikosen und Kirschen, im Herbst glühte der Wein an den Hängen, und man ging mit einem Korb zu den Bauern und sagte: >Ein reiches Jahr war's, Brüderchen. Ich seh's an deinem Bauch, noch fetter ist er geworden. Komm, mach mir den Korb voll Trauben. Und wenn du mehr verlangst als einen Rubel und zehn Kopeken, schlage ich dir aufs Hirn.< Das war ein Leben!«Karl Wolter sah seinen Sohn an.»Du verstehst das nicht.«
«Nein, Vater. So lebt doch kein Mitteleuropäer.«
«Einen Katzenschiß auf deinen Mitteleuropäer! Ich habe wie ein Mensch gelebt! O Himmel, wenn ich euch alle dazu bewegen könnte, so zu leben!«
In der Kantine waren sie fast allein, setzten sich in eine Ecke, bestellten ein Bier und sahen sich lange schweigend an. An weiter entfernten Tischen tranken und aßen ein paar Offiziere, sie lachten, einer von ihnen erzählte Witze.
«Warum bist du gekommen, Vater?«fragte Wolfgang, als Wolter nicht mit Sprechen begann.
Karl Wolter umfaßte mit beiden Händen sein kaltes Bierglas.»Nicht, um mich zu entschuldigen«, sagte er hart.
«Das habe ich auch nicht erwartet. Ich bin ausfällig geworden — es war meine Schuld, daß du so reagiertest, Vater.«»Danke, Wolf. «Viel Glück lag in diesem Satz, und Wolfgang verstand es und legte seine Hand auf den Arm seines Vaters.
«Was macht Dimitri?«fragte er.
«Er ist weg.«
«Weg? Wohin denn?«
«Nach Frankreich und wahrscheinlich nach Algerien. In die Wüste.«
«Als Ölingenieur, natürlich.«
«Bettina ist schon unterwegs, ihn zurückzuholen. Habe ich Dimitri großgezogen wie meinen Sohn, habe ich nächtelang um ihn gebangt, wenn er krank war, damit er jetzt in der Sahara vom Sandsturm zugeweht wird? Er wird zurückkommen, und auch du wirst es, Wolf.«
«Bist du deswegen gekommen, Vater?«
«Ja!«
«Ich habe große Schwierigkeiten gehabt, Vater. Aus völlig natürlichen Gründen mißtraut man Dimitri. Er ist Russe, er ist Kommunist. Ein solcher Mann in unserer Familie schließt aus, daß ich als Offizier der Bundeswehr ausgerechnet in der Dienststelle Ost sitze. Ich muß versetzt werden, um jede Möglichkeit der Spionage auszuschließen. Es ist einfach eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme. Nur daß ich mich von euch getrennt habe, war der Grund, daß ich noch in Bonn bin und kein Truppenkommando irgendwo, weit weg von Bonn, bekommen habe.«
«Und wäre das schlimm, mein Junge?«fragte Wolter leise.
«Ich kann hier eine glänzende Karriere machen, Vater.«
«Unter Opferung deiner Familie? Lohnt sich das? Bedeutet dir die Uniform so viel?«
«Die Uniform nicht, Vater. Aber ich bin mit meiner ganzen Seele Soldat.«
Wolter schwieg. Was sollte er darauf sagen? Ihm fehlten zwanzig Jahre. Ihm fehlten die Jahre, in denen Wolfgang herangewachsen war, in denen er sich sein Weltbild selbst bildete, in denen er sein Lebensziel zu erkennen glaubte. Damals hätte man es noch steuern können… und, bei Gott, der Sohn Karl Wolters wäre alles andere geworden, und wenn er Steine hätte klopfen müssen, nur kein Soldat! Nun war es zu spät. Zwanzig Jahre ließen sich nicht nachholen.
«Wenn ich dir fremd bin, Junge«, sagte Wolter leise, und seine Stimme zitterte, denn wie schwer ist es, so etwas zu sagen,»ich kann's verstehen. Mutter hat dir immer nur ein Bild gezeigt und aus der Erinnerung gesprochen von mir. Und was ist zurückgekommen? Ein Mann, der so viel erlebt hat, daß ihm das Leben auf der hektischen Welt wie ein schlechter Witz vorkommt. Ein sinnloses, wertloses, blindes Leben führt ihr alle! Doch reden wir nicht darüber. Aber so fremd ich dir bin — so fremd wie der Kolka Iwanowitsch Kaba-now, nicht wahr? — ich bitte dich, Junge: Denk an Mutter! Was du jetzt bist, bist du durch sie. Sie hat dich mit ihrer schwachen Kraft großgezogen, sie hat dich auf die Schulen geschickt, du konntest dein Abitur machen. Und sie hat das alles geschafft, weil sie hinterm Ladentisch stand, jeden Tag, von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Für dich. Und jetzt wirfst du ihre Liebe weg wie einen faulen Kürbis. O Gott, Junge, ich sollte dir jetzt, hier, vor deinen Offizierskameraden, noch eine herunterhauen!«
Wolfgang Wolter schwieg. Er sah aus dem Fenster auf die grünen Rasenflächen vor dem Ministerium. Über sein Gesicht zuckte es.
«Was sagt Irene?«fragte er leise.
«Sie ist mit mir nach Bonn zurückgekommen. Ich glaube nicht, daß sie dich in die Wohnung läßt, wenn du mit Mutter nicht anders verfährst.«
«Also alle gegen mich?«
«Wenn du es so siehst, brauchen wir gar nicht weiterzusprechen. Du benimmst dich wie ein dummer, trotziger Junge.«
«Ich werde mit dem General darüber sprechen, Vater.«
«Was hat der General damit zu tun?«
«Er entscheidet allein, ob ich mit Dimitri in einer Familiengemeinschaft leben darf.«
«Wohlan. «Wolter erhob sich.»Dann rede ich mit dem General!«
«Um Gottes willen, Vater!«Wolfgang Wolter zog ihn auf den Stuhl zurück.»Bloß das nicht! Außerdem wirst du nicht vorgelassen. Nur wenige kennen den General, und auch ich kenne sein Gesicht nur mit einer dicken Sonnenbrille. Aber vielleicht wird er einmal Dimitri sprechen wollen.«
«Das kann er! Bettina bringt ihn zurück. «Wolter stand wieder auf und sah auf die blonden gelockten Haare seines Sohnes. Eigentlich war er stolz auf diesen Jungen, aber das Gefühl mußte jetzt unterdrückt werden.»Und ich?«fragte er hart.»Soll ich zu Mutter mit leeren Händen zurückkommen? Was bringe ich von der Reise mit?«
«Einen Gruß, Vater. «Wolfgang Wolter sprang auf, und plötzlich umarmte er seinen Vater und gab ihm einen Kuß auf die faltige Stirn.»Und sag Mutter, zum Wochenende bin ich wieder in Göttingen.«
Zufrieden verließ Karl Wolter das Ministerium. Selbst der Gedanke an die Millionen, die >Pentabonn< gekostet hatte, regte ihn nicht mehr auf.
Seht, Freunde, so subjektiv ist ein Mensch, ob er nun Ludwig Maier oder Karl Wolter oder Kolka Iwanowitsch Kabanow heißt.
An dem Tage, an dem Jurij Alexandrowitsch Borokin zugreifen und Dimitri nach alter, aber immer noch guter Agentenmanier in einen langsam fahrenden Wagen zerren wollte, fand sich Borokin allein in Göttingen.
Dimitri Sotowskij war weg.
Zwei Tage wartete Borokin vor dem Haus, umschlich es wie eine Katze den Milchtopf, legte sich auf die Lauer wie ein Wolf, der eine Hammelherde aus der Ferne wittert — aber kein Dimitri kam mehr aus dem Haus.
Der Fahrer des Entführungswagens schließlich erfuhr als Käufer von drei Frottierhandtüchern im Geschäft der Agnes Wolter, daß Dimitri verreist sei. Wohin, das sagte keiner.
Borokin fuhr zurück nach Bonn und meldete es nach Moskau.
Und Moskau antwortete so, wie es Borokin befürchtet hatte: Wir erwarten die Meldung, daß Sotowskij unschädlich gemacht ist und sich in unseren Händen befindet!
Wer die russische Befehlssprache kennt, weiß, daß das Leben Bo-rokins auf dem Papier bereits erloschen war. Schon ein normaler Mensch ist gefährlich, wenn er Unfähigkeit beweist — ein unfähiger Offizier aber ist ein Übel fürs ganze Volk. Ein Geschwür, das man entfernt. Verwunderlich war nur, daß Borokin nicht abberufen wurde, sondern weiter mit dem Auftrag betraut war. Das war allein Oberst Jassenskij zu verdanken, der kein Interesse daran hatte, Borokin im Kreml erzählen zu lassen, was er, Jassenskij, für eine Riesendummheit mit dem Sarg der falschen Bettina Wolter verursacht hatte. Die Mißerfolge wogen sich gegenseitig also auf, und so lebte Borokin weiter mit einem Druck im Nacken, der unbeschreiblich war.
Eine Stunde lang verbrachte Borokin sogar mit dem verständlichen Gedanken, sich selbst umzubringen. Dies erschien ihm erträglicher als alles, was man eventuell in Moskau für ihn bereit hielt. Aber dann verwarf er den Gedanken, nicht aus Feigheit, denn feig war Borokin nicht, sondern aus Verzweiflung und purem Lebenswillen.
Noch lebt Dimitri irgendwo, dachte er. Und solange er lebt, kann auch ich leben. Und dann dachte er plötzlich an Irene Brandes, und er wurde ruhig, zuversichtlich, ja innerlich sogar befreit von allem Druck.
Jede Festung hatte eine schwache Stelle in der Mauer, von hundert Türen lassen sich zwei bestimmt eintreten. Und keine Kette ist so fest, daß nicht ein Glied reißen könnte, wenn auch keiner weiß, warum.
Es war spät am Abend, als es bei Irene Brandes klingelte. Sie hatte gerade zu Bett gehen wollen. Nun warf sie ihren Bademantel über, ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Eine kräftige Hand fuhr dazwischen, drückte die Tür auf, und ehe Irene sich wehren konnte, stand Borokin in der Diele und warf hinter sich die Tür zu.
«Ich mußte klingeln, Täubchen«, sagte er, packte Irene an der Schul-ter, drehte sie um und schob sie vor sich her ins Wohnzimmer.»Du hast die Schlösser auswechseln lassen. Leider lohnt es sich nicht mehr, von den neuen Schlössern Abdrücke zu machen, denn meine Aufgabe in Deutschland ist bald beendet.«
«Sie verlassen Deutschland, Borokin?«Irene Brandes war bis zur Couch zurückgewichen. Nicht weit davon stand das Telefon… nur noch zwei Meter. Borokin lächelte. Er machte ein paar lange Schritte und riß die Leitung aus der Wand.
«Sie können damit nur Wolfgang heranlocken«, sagte Irene heiser vor Angst.»Wenn er anruft, und er ruft jeden Abend an, und dauernd kommt das Besetztzeichen.«
«Ein paar Minuten nur, mein wildes Schwänchen. «Borokin sah sich um. Er suchte etwas, und als er es gefunden hatte, wurde sein Lächeln breiter. Mit einem harten Griff faßte er Irene und stieß sie durch das Wohnzimmer zu der kleinen Eßnische. Dort umfing er sie und warf sie auf den Tisch. Das geschah alles so schnell und mit einer solchen wilden Kraft, daß Irene sich erst wehrte, als sie mit dem Rücken auf dem Tisch lag. Da trat sie um sich, boxte und krümmte sich zusammen und dann schrie sie, hell und kreischend.»Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Borokin beugte sich vor. Mit der Faust hieb er ihr auf den Mund, die Lippen platzen auf, Blut lief über Kinn und Hals, und vor den Augen Irenes drehte sich das Zimmer, und die Decke zerfloß in gelbe Wellen. Von ganz weit hörte sie die Stimme Borokins, als säße sie in einem Karton voller Watte.
«Den Mund hältst du, du Hure«, sagte Borokin. Er hielt ihre Arme fest und schwang sich auf den Tisch, setzte sich auf ihre Beine und preßte sie damit völlig auf die Platte.»Wo ist Dimitri?«fragte er, als er sah, daß Irenes Benommenheit nachließ. Ihre Augen, voller Entsetzen, begannen zu flattern.
«Ich weiß es nicht«, sagte sie. Jedes Wort brannte auf den zerschlagenen Lippen. Borokin schüttelte den Kopf.
«Sei kein Held, Hürchen! Keinen Zweck hat es. «Mit beiden Händen riß er ihren Bademantel auf, zerfetzte das Nachthemd, das sie darunter trug, und holte aus der Tasche ein zusammengeklapptes Messer.
«Ich weiß es nicht!«schrie Irene. Grauen lähmte sie, ihr Körper versagte die geringste Gegenwehr.»Ich schwöre es. ich weiß es nicht!«
«Die Mongolen sind Meister im Fragen«, sagte Borokin kalt.»Meistens sind es die Männer, die Mut bis zu einem gewissen Grad beweisen. Kommt ihnen einmal eine Frau in die Hand, die verhört wird, so hat man folgende Methode: Man zieht sie aus, man fesselt sie, legt sie auf einen Tisch und nimmt ein scharfes Messer. Nach dem ersten Nein schneidet man die linke Brustwarze ab, nach dem zweiten Nein die rechte. Nach dem dritten Nein schlitzt man die linke Brust auf, nach dem vierten Nein die rechte. Bisher hat noch keine Frau über das erste Nein hinaus gelogen. «Borokin klappte sein Messer auf. Mit starrem Gesicht sah er hinunter auf den schönen weißen Körper Irenes und auf ihre festen, runden Brüste.»Wo ist Dimitri?«fragte er dumpf.
«Ich weiß es nicht!«schrie Irene. Ihr Mund klappte auf, Schweiß überzog plötzlich ihren Körper, sie starrte auf die blanke Messerklinge und fühlte, wie die Hand Borokins nach ihrer linken Brust tastete.»Bei Gott! Bei meiner Mutter! Bei allem, was es gibt, ich weiß es wirklich nicht! Er ist weggegangen, er ist geflüchtet. es hat Streit gegeben zwischen Wolfgang und seinem Vater, wegen Dimitri. Da ist er weg. Borokin. Borokin. glauben Sie mir.«
Dann wurde sie besinnungslos, als sie sah, wie sich das Messer auf ihre linke Brust senkte.
Nach einer halben Stunde verließ Borokin die Wohnung von Irene Brandes. Er hatte ihren leblosen Körper zur Couch getragen und mit einer Decke zugedeckt.
Nichts, dachte er, als er draußen im Treppenhaus stand. Dimitri ist geflüchtet. Wo auf der weiten Welt soll man jetzt einen Menschen suchen? Unmöglich ist's, auch die Genossen werden es einsehen müssen.
Doch wenn Moskau es nicht einsah?
Jurij Alexandrowitsch Borokin verließ fast traurig das Haus, stieg in seinen Wagen und fuhr hinaus in die Nacht. Irgendwohin, planlos, nach Westen oder Osten, er kannte nicht die Richtung. Sie war auch gleichgültig. Denn wo immer er auch hinkam — überall blieb das Bewußtsein, daß sein Leben nichts mehr galt.
Bettina hatte viel Zeit, sich Algier, die weiße Stadt auf den roten Felsen, anzusehen. Sie stand oben an der Hafenstraße und sah hinunter auf das Gewimmel an den Molen, sie ging mit einem eingeborenen Führer durch die Kasbah, die alte Berberstadt, und sie fuhr hinaus zum Botanischen Garten, diesem Märchen aus 1001 blühenden Pflanzen.
Die Ölgesellschaft im Marseille hatte alles bestens vorbereitet. Der Flug verlief glatt. Die Paßkontrolle war nur eine Formsache. Von einem Beauftragten der Ölfirma wurde sie nach der Ankunft vom Maison-Blanche, dem Flugplatz Algiers, abgeholt. Sie erhielt ein schönes großes Zimmer im Hotel Oasis unter den Kolonnaden der Hafenstraße. Und dann kaufte sie erst einmal ein, um Dimitri mit Geschenken zu überraschen. Eine goldene Armkette kaufte sie, lang und mit dicken Gliedern; die wollte sie Dimitri um das Handgelenk schlingen und dann um ihren Arm und zu ihm sagen:»So, nun kannst du nicht mehr weglaufen! Du müßtest mich schon hinterherziehen. «Dann würde Dimitri sicher lachen, dieses herrliche, jungenhafte Lachen, das sie zuerst geliebt hatte, damals, an der nächtlichen Ölleitung von Tiflis, und er würde mitkommen zum nächsten Flugzeug und zurückfliegen nach Deutschland, wo seine neue Heimat war.
Vier Tage wartete Bettina im Hotel Oasis auf das Schiff >Liberte<. Der Hotelportier wollte es ihr sofort mitteilen, wenn das Einlaufen im Hafen gemeldet wurde. Drei Tage lang kam überhaupt kein Schiff. Die Kais und Molen waren wie ausgestorben. Nur die Bettler standen herum oder das Heer der Nichtstuer, das die afrikanischen Straßen und Märkte bevölkert.
Am vierten Tag rief sie endlich die Ölgesellschaft an, das Kontaktbüro in Algier, nahe der Präfektur. Dort saß ein verschlafener Mann, der ins Telefon gähnte, denn es war mittags 13 Uhr, eine Zeit, in der sich ein anständiger Mensch ausruhte und vor der Hitze verkroch.
«Die >Liberte«fragte der Verschlafene.»Wieso, Mademoiselle? Sie warten auf die >Liberte«
«Seit drei Tagen! Sie müßte längst in Algier sein. Ist etwas passiert? Haben Sie irgendwelche Nachricht?«Bettina wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Weniger die Hitze war es, die sie seufzen ließ, als die Angst um Dimitri.
«Die >Liberte< kommt nicht nach Algier«, antwortete der schläfrige Mensch.»Wissen Sie denn nicht… seit zwei Tagen haben wir in Algier einen Hafenarbeiterstreik. Alle französischen Schiffe werden umgeleitet nach Oran oder Bone. Die >Liberte< wird wahrscheinlich Oran angelaufen haben.«
«In Oran.«, stammelte Bettina.»Und ich warte hier in Algier. Was geschieht mit den Angestellten Ihrer Gesellschaft, die mit dem Schiff gekommen sind?«
«Sie kommen sofort an ihre Stellen.«
«Und die Bohringenieure?«
«Werden am nächsten Tag in die Wüste geflogen.«
Bettina legte auf. Ihr Kopf sank nach vorn gegen das Fenster. Unten, unter der Kolonnade, stand ein einbeiniger Bettler und sang leise vor sich hin. Ein Schwarm Fliegen umsurrte ihn.
In die Wüste.
Dimitri ist schon in der Wüste. und ich warte hier.
Mein Gott, hilf mir… ich werde in die Wüste müssen, um Dimitri zu holen.
Und plötzlich verließ sie alle Kraft, sie legte das Gesicht auf die Arme und weinte und wußte doch, daß sie, so schnell es möglich war, in die Sahara ziehen würde, in die unendlich Schweigende, wie der Araber sie nennt.
In die Einsamkeit aus Sand, Felsen, Salzseen, Geröll, glutender Sonne und brennendem Himmel.
«Und wenn ich auf Kamelen und Mauleseln quer durch die Wüste reite«, sagte Bettina zu sich, als sie sich wieder gefaßt hatte und vor dem großen Spiegel in der Brausekabine ihres Hotelzimmers in Algier stand,»ich werde Dimitri mitbringen! Eher komme ich nicht zurück nach Deutschland.«
Sie begann damit, daß sie das algerische Büro der Ölgesellschaft aufsuchte und nach langem Warten endlich einem Subdirektor gegenübersaß, der Grenadine-Limonade trank und stinkende schwarze Zigaretten rauchte.
«Ein ausgesprochenes Pech, Mademoiselle«, sagte er höflich, wie alle Franzosen höflich gegenüber einer schönen Frau sind, auch wenn sie — wie Bettina — im Augenblick störte, denn der Hafenarbeiterstreik von Algier lähmte einen sonst reibungslosen und für Algerien lebensnotwendigen Betrieb: den Schiffsverkehr zwischen Afrika und Frankreich. Es war zu erwarten, daß der wilde Streik auch auf die anderen Häfen übergriff, auf Oran und Bone vor allem. Das bedeutete, daß der Nachschub zu den Öl-Oasen gefährdet war.»Wer konnte das ahnen, als Sie von Marseille abflogen? Die >Liberte Ich muß einmal in der Liste nachsehen. «Der Subdirektor sah nach und nickte mehrmals, was Bettina durchaus nicht beruhigte.»In Bone. Dachte ich es mir doch. Nicht in Oran. Die >Liberte< hatte Material für die Stationen Fort Lallemand, Hassi el Gassi und Ain Tai-ba an Bord. Von Bone aus können die Dinge in die Wüste geflogen werden.«
«Und Dimitri auch.«, sagte Bettina.
«Ich nehme an, daß Monsieur Sotowskij ebenfalls schon in Ain Taiba eingetroffen ist. «Der Subdirektor war so höflich, sogar an eine große Karte zu treten und mit seinem gelben Nikotinfinger auf einen Flecken inmitten eines gelbgetönten Gebietes zu zeigen.
«Hier.«
«Mitten in der Wüste also?«
«Ja.«
«Veranlassen Sie bitte, Monsieur, daß auch ich dorthin fliegen kann«, sagte Bettina mit fester Stimme. Der Subdirektor ließ die Hand von der Karte fallen, als sei sie plötzlich aufgeglüht.
«Nach Ain Taiba?«
«Ja.«
«Unmöglich, Mademoiselle.«
«Warum?«
«Es gibt da viele Gründe. Die wichtigsten sind: Keine Frau, keine europäische Frau, darf in dieses Gebiet. Dort leben einige hundert wilde Männer, die wochen- oder monatelang keine Frau sehen. Sie verstehen, Mademoiselle? Ein Berberlöwe ist ein Schoßkätzchen gegen diese Kerle, wenn sie eine schöne Frau sehen. Zweitens sind die Ölgebiete sowieso Sperrzonen. Drittens muß — falls man eine Ausnahme macht — diese vom Ministerium in Paris eingeholt werden, und das ist, Sie sehen das ein, aussichtslos. Und viertens — warum schreiben Sie nicht Monsieur Sotowskij? Wenn er den Willen hat, doch wieder nach Europa zurückzukehren, wird er das auch tun, wenn er weiß, daß Sie in Bone auf ihn warten. Denn bis Bone kann ich Sie bringen lassen.«
«Sie kennen Dimitri nicht«, sagte Bettina leise und sah auf die große gelbe Karte. Einöde, Sand, glutende Hitze. Und irgendwo in der grenzenlosen, heißen Einsamkeit ein paar Bohrtürme, ein paar Baracken um einen Brunnen, ein paar armselige Palmen, eine weiße Fahnenstange mit der Trikolore — und Dimitri, der Heimatlose, der Mann, dem nichts mehr blieb als das Ende der Welt.»Er ist Russe. Was sind Worte bei ihm? Geschriebene Worte. Er wird sie hundertmal lesen, auf ihnen schlafen, sie küssen, Buchstaben nach Buchstaben. aber er wird bleiben, wo er ist. Nein. Ich muß ihn selbst sehen, ich muß ihn an der Hand nehmen und zu ihm sagen: >Komm, Dimitri, du großer Dummkopf, benimm dich nicht wie ein alter Bär, der nicht mehr tanzen kann und sich brummend verkriecht. Komm!< Und dann wird er mitgehen, nur dann!«
Der Subdirektor steckte sich eine neue Zigarette an. Sie roch wie versengte Matratzenfüllung. Was soll man sagen, dachte er, während er das Streichholz bis zum Ende in der Hand hielt und die Flamme bis zu seiner Fingerkuppe kriechen ließ, nur um Zeit zu gewinnen. Sie ist ein so hübsches Mädchen — muß es gerade ein Russe in Ain Taiba sein? So viele schöne, junge Männer gibt es.
«Es ist unmöglich«, wiederholte er. Ihm fiel nichts anderes ein.
«Dann gehe ich allein zu dieser Oase«, sagte Bettina fest. Der Subdirektor lächelte mild, wie über einen faden Witz, der aus Höflichkeit wohlwollend aufgenommen werden will.
«Ain Taiba liegt am Rande des Großen Östlichen Erg. Wenn Sie wissen, was das bedeutet. ein Meer aus Sand, aus glühendem weißem Sand, und der Wind darüber ist nicht erfrischend wie an der Küste, sondern ist ein Sandsturm, der Sie begräbt, der Sie erstickt. Staubfeiner Sand, der selbst zwischen die zusammengepreßten Lippen in den Mund dringt.«
«Ich bin aus Rußland herausgekommen, ich werde auch in die Wüste hineinkommen!«rief Bettina und sprang auf. Der Subdirektor sah sie bewundernd an, aber das änderte nichts daran, was er jetzt sagen mußte.
«Ich werde Sie festsetzen lassen müssen, um solchen Wahnsinn zu vereiteln, Mademoiselle«, sagte er fast bedauernd.»Die Suchaktionen, die Sie dann bestimmt auslösen, würden den Staat Hunderttausende kosten! Ganz davon abgesehen, daß Sie keinerlei Möglichkeiten hätten, bis Ain Taiba zu kommen.«
«Mit der Eingeborenenkarawane.«
«Nur bis Fort Lallemand.«
«Das ist weit genug.«
«Luftlinie bis zur Oase dreihundertfünfundsiebzig Kilometer. «Der Subdirektor lächelte wieder.»Das hört sich winzig an. Aber dreihundertfünfundsiebzig Kilometer durch Wüste. Ohne eine Wasserstelle zwischendurch. Bei fünfzig Grad Hitze in der Sonne, denn Schatten gibt's da nicht. Sehen Sie doch ein, daß es Wahnsinn ist, Mademoiselle. Zwingen Sie mich nicht, Sie in eine Art Schutzhaft nehmen zu lassen oder Sie nach Europa abzuschieben.«
«Ich sehe es ein«, sagte Bettina und nickte. Aber sie blickte dabei den Subdirektor nicht an, denn es wäre möglich gewesen, daß er in ihren Augen die Lüge erkennen konnte.»Wenn ich von Bone aus schreiben könnte. wenn Sie mich nach Bone bringen könnten. Ich will es mit dem Brief versuchen.«
Gegen Abend flog Bettina mit einer Privatmaschine von Maison-Blanche nach Bone. Die algerische Vertretung hatte noch einmal in Marseille nachgefragt, ob es tatsächlich notwendig sei, diese Privataffäre eines jungen Mädchens mit einem Russen in französischen Diensten derart bevorzugt zu behandeln. Die Direktion in Marseille sagte ja, was in Algier niemand verstand, aber respektierte.»Ich finde«, sagte der Subdirektor zu seinem Sekretär,»Galanterie ist schön. Aber sie kann auch zum Blödsinn werden. Doch wir kennen ja Monsieur Janeune, den Direktor. Dreiundsechzig Jahre alt, und wenn er ein nacktes Mädchenknie sieht, bekommt er eine Hitzewelle und bläst die Nüstern wie ein im Hafer stehender Hengst. Also gut, bringen wir das Mädchen nach Bone! Aber jede Verantwortung lehne ich ab.«
Das war ein kluges Wort, denn Bettina dachte gar nicht daran, in Bone brav im Gasthaus der Ölfirma zu warten und Dimitri einen sehnsuchtsvollen Brief in die Wüste zu schreiben. Allerdings sprach sie nicht mehr von dem Gedanken, in die Wüste zu gehen, zumal sie sah, daß man ihr in Bone, anders als in Algier, eher feindlich gegenüberstand. Hier hatte man überhaupt kein Verständnis mehr für eine romantische Liebesgeschichte. Hier ging es um Öl, um Frankreichs Monopol in Algerien, das letzte Bollwerk, das der Grande Nation nach der Unabhängigkeit Algeriens geblieben war. Hier ging es um Milliarden Francs, durch eine blitzende Pipeline gepumpt von den einsamsten Wüstenstationen zur Küste, und um die Ausbeutung unvorstellbarer Erdgasvorkommen, die man gewissermaßen so nebenbei entdeckt hatte und die eine völlig neue Energieversorgung Frankreichs für die Zukunft bedeuteten.
Ein deutsches Mädchen, das einen Russen liebt! Blödsinn! Und so ließ man Bettina völlig ungeschoren, nahm sie wahr, mehr aber auch nicht, betrachtete sie als Gast der Gesellschaft, um den man sich so wenig wie möglich kümmern sollte, und ließ ihr so alle Freiheit, sich in Bone umzusehen und einen Plan zu zimmern, wie ihn noch keine Frau erdacht hatte.