1
»Ihre Frau wird sterben, John«, sagte Dr. Jordan leise. »Sie hat nur noch wenige Stunden zu leben.« Er sah in das blasse, gequälte Gesicht des schmächtigen jungen Mannes, der in seiner Arbeitskleidung vor ihm stand. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen. Aber ich dachte, Sie würden die Wahrheit hören wollen.«
Sie befanden sich im St. Bede's Hospital in Morristown, New Jersey. Von draußen drangen schwach die nachmittäglichen Geräusche einer Kleinstadt herein, Geräusche, die die Stille hier drinnen kaum störten.
In dem gedämpften Licht des Krankenzimmers beobachtete Andrew, wie bei dem Ehemann der Patientin der Adamsapfel zweimal auf und ab hüpfte, bevor er die Worte herausbrachte: »Ich kann es einfach nicht glauben. Es hatte für uns doch gerade erst angefangen. Wir haben ein Baby, wissen Sie.«
»Ja, ich weiß.«
»Das ist nicht. . .«
»Nicht fair?«
Der junge Mann nickte. Ein anständiger, ordentlicher, offenbar hart arbeitender Mann. John Rowe. Er war mit seinen fünfundzwanzig Jahren nur vier Jahre jünger als Dr. Jordan, und die Nachricht traf ihn schwer. Andrew wünschte, er könnte dem Mann irgend etwas Tröstliches sagen, und obwohl ihm diese Situation nicht fremd war und er gelernt hatte, die Anzeichen des nahenden Todes zu erkennen, wußte er noch immer nicht recht, wie er sich Verwandten und Freunden eines Sterbenden gegenüber verhalten sollte. Das gehörte zu den Dingen, die einem weder beim Medizinstudium noch später beigebracht wurden.
»Viren sind nicht fair«, sagte er, »auch wenn sie nicht immer das gleiche Ergebnis zeigen wie bei Mary. Gewöhnlich sprechen sie auf die Behandlung an.«
»Gibt es denn gar nichts? Kein Mittel, das . . .?«
Andrew schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Zweck zu antworten: Noch nicht. Bis jetzt gibt es noch kein Mitteigegen akutes KomabeifortgeschrittenerinfektiöserHepatitis. Und ebenso sinnlos war es, ihm zu sagen, daß er bereits Dr. Noah Townsend, seinen erfahrenen älteren Kollegen und Chefarzt des Krankenhauses, zu Rategezogen hatte.
Vor einer Stunde hatte Townsend zu Andrew gesagt: »Sie haben getan, was in Ihren Kräften steht. Ich hätte alles ganz genauso gemacht.« Daraufhin hatte Andrew eine Nachricht nach Boonton, einer nahe gelegenen Stadt, geschickt, wo John Rowe in einer Fabrik Spätschicht hatte.
Andrew warf einen Blick auf das hohe Metallbett mit der reglosen Gestalt darin. Es war das einzige Bett im Zimmer, denn im Gang draußen warnte ein Schild: »Isoliert«. Die Infusionsflasche mit der künstlichen Ernährung hing hinter ihrem Bett in einem Ständer, und ihr Inhalt - Traubenzucker, Kochsalz und B-Vitamine - tropfte durch eine Nadel in Mary Rowes Armvene. Draußen war es schon dunkel, ab und zu war Donnergrollen zu hören, und es regnete stark. Eine ungemütliche Nacht. Die letzte Nacht im Leben dieser jungen Frau und Mutter, die noch vor einer Woche gesund und munter gewesen war. Es war einfach nicht fair.
Am vergangenen Montag war Mary Rowe, zierlich und hübsch, aber mit deutlichen Anzeichen des Unwohlseins, in Andrews Praxis erschienen. Sie klagte über Übelkeit und Schwächegefühl und daß sie nichts essen könne. Sie hatte 41 Grad Fieber.
Schon vor vier Tagen, hatte Mrs. Rowe ihm erzählt, hatte sie die gleichen Symptome verspürt. Sie mußte sich übergeben, fühlte sich aber am nächsten Tag wieder besser und glaubte, die Beschwerden, wo immer sie herkommen mochten, würden vergehen. Aber sie waren wiedergekommen. Sie fühlte sich »ganz schrecklich«, noch viel schlechter als beim ersten Mal.
Andrew sah sich das Weiße in Mary Rowes Augen an; es war gelblich verfärbt. Einige Stellen ihrer Haut wiesen ebenfalls auf Gelbsucht hin. Er tastete die Leber ab, die weich und vergrößert war. Auf Befragen erfuhr er, daß sie mit ihrem Mann im vergangenen Monat zu einem kurzen Urlaub in Mexico gewesen war. Ja, sie hatten in einem kleinen, abgelegenen Hotel gewohnt, weil es billig gewesen war, und sie hatte einheimische Nahrung zu sich genommen und auch Wasser getrunken.
»Ich werde Sie sofort ins Krankenhaus einweisen«, sagte Andrew. »Wir müssen noch eine Blutprobe machen. Aber ich bin so sicher, wie man nur sein kann, daß es sich um infektiöse Hepatitis handelt.«
Er erklärte ihr, daß sie in Mexico höchstwahrscheinlich Nahrung oder Wasser zu sich genommen habe, die verseucht gewesen sei. Das käme in Ländern mit unzureichenden sanitären Einrichtungen häufig vor.
Die Behandlung würde vor allem aus »unterstützenden« Maßnahmen bestehen, ihrem Körper würde intravenös Nahrung zugeführt werden. Fünfundneunzig Prozent aller Erkrankten, hatte Andrew hinzugefügt, würden völlig wiederhergestellt. Das dauere in der Regel drei bis vier Monate, aber Mary werde bestimmt schon in ein paar Tagen soweit sein, daß sie das Krankenhaus verlassen und nach Hause gehen könne.
Mit einem schwachen Lächeln hatte Mary gefragt: »Und die restlichen fünf Prozent?«
Andrew hatte gelacht und gesagt: »Die können Sie vergessen! Eine Statistik, in der Sie nicht vorkommen werden.«
Doch darin hatte er sich getäuscht.
Mary Rowes Zustand hatte sich nicht gebessert, sondern verschlechtert. Das Bilirubin in ihrem Blut stieg immer mehr an und deutete auf eine sich noch verstärkende Gelbsucht hin, obwohl die gelbliche Färbung ihrer Haut schon jetzt besorgniserregend war. Am Mittwoch zeigten die Proben - und das war weitaus gefährlicher - einen bedrohlich gestiegenen Ammoniakspiegel im Blut an. Das Ammoniak stammte aus dem Darm und wurde von der geschädigten Leber nicht mehr verarbeitet.
Seit dem Vortag hatte sich auch ihr Allgemeinzustand wesentlich verschlechtert. Sie war verwirrt, wußte nicht, wo sie sich be-fand, und erkannte weder Andrew noch ihren Mann. Zu diesem Zeitpunkt hatte Andrew Rowe darüber informiert, daß seine Frau ernstlich krank sei.
Den ganzen Donnerstag über war Andrew niedergeschlagen, weil er nichts für Mary tun konnte, und sobald ein Patient seine Praxis verließ, dachte er angestrengt, aber erfolglos über eine Lösung nach. Er wußte, daß die Zunahme von Ammoniak im Blut eine Besserung in ihrem Befinden verhinderte. Doch ihm war ebenfalls klar, daß es beim gegenwärtigen Stand der Medizin kein wirksames Gegenmittel gab.
Schließlich hatte er - unfairerweise, wie er sich eingestand -seine Frustration an dieser verdammten Pharma-Vertreterin ausgelassen, die ihn am späten Nachmittag in seiner Praxis aufsuchte. Er konnte sich nicht mal mehr an ihren Namen oder daran erinnern, wie sie aussah, außer daß sie eine Brille trug und jung war, fast noch ein Mädchen, und vermutlich ohne jede Erfahrung.
Sie kam von der Firma Felding-Roth Pharmaceuticals, und später fragte Andrew sich, warum er überhaupt eingewilligt hatte, sie zu empfangen, als ihn die Sprechstundenhilfe über den Besuch informierte. Vielleicht hatte er es getan, weil er etwas Neues zu erfahren hoffte, doch seine Gedanken schweiften ab, während sie von den neuesten Antibiotika sprach, die ihre Firma gerade auf den Markt gebracht hatte. »Sie hören mir ja gar nicht zu«, hatte sie schließlich gesagt, und das hatte ihn in Wut versetzt.
»Vielleicht liegt es daran, daß ich an etwas Wichtigeres zu denken habe und Sie mir nur meine Zeit stehlen.«
Normalerweise hätte er sich nicht so benommen, aber zu den Sorgen, die er sich um Mary Rowe machte, kam seine langgehegte Abneigung gegen die pharmazeutische Industrie und ihre massiven Verkaufspraktiken. Sicherlich gab es ein paar gute Mittel, die von den großen Firmen hergestellt wurden, aber ihre billigen Reklametricks und die Art und Weise, wie sie die Ärzte vereinnahmten, empfand er als abstoßend. Schon während seines Medizinstudiums war er damit konfrontiert worden. Die Studenten - künftige Rezeptschreiber, wie die Firmen sehr wohl wußten - waren von den Vertretern der Arzneimittelfirmen aufgesucht, umworben und hofiert worden. Unter anderem hatten die Pharma-Vertreter Stethoskope und Arzttaschen verteilt, die die Studenten dankbar entgegennahmen. Andrew hatte nicht zu ihnen gehört. Obwohl er wenig Geld besaß, zog er es vor, unabhängig zu bleiben und sich derlei Dinge selbst zu kaufen.
»Vielleicht erzählen Sie mir mal, was es so ungeheuer Wichtiges gibt, Doktor«, hatte die Vertreterin von Felding-Roth gesagt.
Und da brach es aus ihm heraus. Er erzählte von Mary Rowe und der Ammoniakvergiftung und bemerkte sarkastisch, daß er es besser fände, wenn sich Firmen wie Felding-Roth damit beschäftigten, ein Mittel gegen die übermäßige Ammoniakproduktion zu entwickeln, statt mit irgendeinem Allerwelts-Antibioti-kum auf den Markt zu kommen, das wahrscheinlich nicht besser und nicht schlechter war als ein halbes Dutzend bereits vorhandener . . .
Dann hatte er innegehalten und sich für seinen Ausbruch geschämt, und er hätte sich wahrscheinlich entschuldigt, wenn die Vertreterin, die ihre Papiere und Proben inzwischen wieder eingepackt hatte, sich nicht schon auf dem Weg hinaus befunden und »Auf Wiedersehen, Doktor« gesagt hätte.
Heute morgen nun hatte ihn Schwester Ludlow, die Stationsschwester, angerufen.
»Dr. Jordan, ich mache mir Sorgen wegen Ihrer Patientin Rowe. Sie reagiert auf nichts mehr.«
Andrew war sofort ins Krankenhaus gefahren. Ein Stationsarzt bemühte sich bereits um Mary Rowe, aber sie lag inzwischen im Koma. Auch wenn es richtig gewesen war, sofort ins Krankenhaus zu fahren, wußte Andrew, bevor er dort ankam, daß es keine spektakulären Maßnahmen geben würde. Sie konnten nicht mehr tun, als ihr weiter intravenös Flüssigkeit zuführen. Und hoffen.
Jetzt, am Ende des Tages, war klar, daß sie umsonst gehofft hatten. Mary Rowes Zustand schien aussichtslos.
John Rowe bemühte sich, seine Tränen zurückzuhalten. »Wird sie wieder zu Bewußtsein kommen, Doktor? Weiß Mary, daß ich hier bin?«
»Tut mir leid«, sagte Andrew. »Aber das ist unwahrscheinlich.«
»Ich bleibe trotzdem bei ihr.«
»Selbstverständlich. Die Schwestern werden sich bereit halten, und ich gebe auch dem Stationsarzt Bescheid.«
»Vielen Dank, Doktor.«
Dank wofür? dachte Andrew, als er das Zimmer verließ. Er brauchte dringend eine Tasse Kaffee.
Der Aufenthaltsraum der Ärzte war ein viereckiger Kasten, der nur wenige Sitzgelegenheiten, einen Ständer für Post, einen Fernseher, einen kleinen Schreibtisch und Schließfächer für die diensthabenden Ärzte enthielt. Aber wenigstens war man hier ungestört, und es gab immer Kaffee. Als Andrew eintrat, war außer ihm niemand da.
Er goß sich einen Kaffee ein und ließ sich in einen alten zerschlissenen Sessel fallen. Eigentlich bestand keine Notwendigkeit, noch länger im Krankenhaus zu bleiben, aber instinktiv zögerte er die Rückkehr in sein Junggesellenapartment hinaus, das Noah Townsends Frau Hilda für ihn gefunden hatte und das behaglich, aber manchmal ein bißchen einsam war.
Der Kaffee war heiß. Während Andrew ihn abkühlen ließ, starrte er auf die Ausgabe des Newark Star-Ledger. Auf der Titelseite fiel ihm ein Bericht über einen gewissen »Sputnik« ins Auge: ein Erdsatellit - was immer das sein mochte -, den die Russen kürzlich mit bombastischen Sprüchen wie »Aufbruch in ein neues Zeitalter des Weltraums« gestartet hatten. Während man von Präsident Eisenhower, wie es in dem Bericht hieß, erwartete, daß er das Raumfahrtprogramm der USA beschleunigte, fühlten sich die amerikanischen Wissenschaftler durch die technologische Führung der Russen »schockiert und gedemütigt«. Andrew hoffte, daß sich dieser Schock ebenfalls auf die medizinische Forschung auswirken würde. Auch wenn in den zwölf Jahren seit Ende des Zweiten Weltkriegs Fortschritte gemacht worden waren, gab es doch immer noch viele deprimierende Lük-ken und unbeantwortete Fragen. Er legte die Zeitung beiseite und nahm ein Exemplar der Medical Economics in die Hand, eine Zeitschrift, die ihn amüsierte und faszinierte. Angeblich wurde sie von vielen Ärzten gelesen, die ihr mehr Aufmerksamkeit schenkten als dem angesehenen New EnglandJournalofMedicine oder anderen wissenschaftlichen Publikationen.
Die Medical Economics übte eine wichtige Funktion aus - sie unterwies die Ärzte darin, wie sie möglichst viel Geld verdienen und es dann günstig investieren oder ausgeben konnten. Andrew begann mit dem Artikel »Acht Möglichkeiten, in Ihrer Praxis Steuern zu sparen«. Eigentlich sollte er von diesen Dingen ein wenig mehr verstehen. Aber auch, wie man mit Geld umging, wenn man nach den langen Jahren des Studiums endlich etwas verdiente, war etwas, was sie einem auf der Hochschule nicht beibrachten. Seit Andrew vor anderthalb Jahren in Dr. Townsends Praxis eingetreten war, wunderte er sich darüber, wieviel Geld jeden Monat auf sein Bankkonto floß. Es war eine neue und keineswegs unerfreuliche Erfahrung. Auch wenn er nicht die Absicht hatte, sich vom Geld beherrschen zu lassen . . .
»Entschuldigen Sie, Doktor.« Eine Frauenstimme. Andrew drehte sich um. »Ich war schon in Ihrer Praxis, Dr. Jordan, und als Sie nicht da waren, beschloß ich, es im Krankenhaus zu versuchen.«
Die Pharma-Vertreterin, die ihn tags zuvor in seiner Praxis besucht hatte! Sie steckte in einem völlig durchgeweichten Regenmantel. Ihre braunen Haare tropften vor Nässe, und ihre Brille war beschlagen. Eine Unverschämtheit, einfach hier hereinzuplatzen!
»Sie scheinen übersehen zu haben«, sagte er, »daß dies ein Privatzimmer ist. Außerdem empfange ich keine Vertreter . . .«
». . . in der Klinik«, unterbrach sie ihn. »Ja, ich weiß. Aber ich dachte, es sei wichtig.« Mit einer raschen Bewegung stellte sie ihre Aktentasche auf den Boden, nahm die Brille ab und zog den Regenmantel aus. »Ein schreckliches Wetter. Ich bin ganz durchgeweicht.«
» Was soll wichtig sein?«
Die Vertreterin - ihm fiel wieder auf, wie jung sie war, wahrscheinlich nicht älter als vierundzwanzig - warf den Regenmantel über einen Stuhl. Sie sprach langsam und bedächtig.
»Ammoniak, Doktor. Gestern haben Sie mir von einer Patientin mit Hepatitis erzählt, die an einer Ammoniakvergiftung zu sterben droht. Sie sagten, Sie wünschten . . .«
»Ich weiß, was ich gesagt habe.«
Die Vertreterin sah ihn mit ihren klaren graugrünen Augen abschätzend an. Sie war nicht gerade das, was man hübsch nennen konnte, dachte er, obwohl sie ein sympathisches Gesicht mit breiten Backenknochen hatte. Wenn ihre Haare trocken und gekämmt waren, sah sie wahrscheinlich wesentlich besser aus. Und ohne Regenmantel hatte sie gar keine schlechte Figur.
»Das wissen Sie zweifellos, Doktor, und vermutlich ist Ihr Gedächtnis auch viel besser als Ihre Manieren.« Als er etwas erwidern wollte, hielt sie ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung davon ab. »Was ich Ihnen gestern nicht gesagt habe - nicht sagen konnte -, ist, daß meine Firma, Felding-Roth, seit vier Jahren an einem Mittel arbeitet, das die Ammoniakproduktion durch Darmbakterien reduziert, ein Mittel, das sich in einer lebensgefährlichen Situation wie der Ihrer Patientin als nützlich erweisen könnte. Ich wußte davon, wußte aber nicht, wie weit die Forschungen gediehen sind.«
»Es freut mich zu hören, daß es wenigstens jemand probiert«, sagte Andrew, »aber ich verstehe noch immer nicht . . .«
»Das werden Sie, wenn Sie mir zuhören.« Die Frau strich sich ein paar nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Das Medikament, das wir entwickelt haben - es heißt Lotromycin -, ist schon an Tieren erfolgreich angewendet worden. Jetzt stehen Tests an Menschen bevor. Ich habe mir etwas von dem Lotromycin besorgt und es mitgebracht.«
Andrew erhob sich aus dem Sessel. »Verstehe ich Sie recht, Miss . . .« Er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern und fühlte sich zum ersten Mal etwas unbehaglich.
»Ich habe nicht erwartet, daß Sie sich an meinen Namen erin-nern.« Wieder diese Ungeduld. »Ich heiße Celia de Grey.«
»Wollen Sie etwa vorschlagen, Miß de Grey, daß ich meiner Patientin ein unbekanntes Mittel verabreiche, das sich noch im Experimentierstadium befindet und bis jetzt nur an Tieren erprobt worden ist?«
»Bei jedem Mittel muß es einen Menschen geben, an dem es zum ersten Mal getestet wird.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Andrew, »ziehe ich es vor, mich nicht als Pionier zu betätigen.«
Die Besucherin zog die Augenbrauen hoch, ihre Stimme hatte jetzt einen schärferen Klang. »Nicht einmal, wenn Ihre Patientin im Sterben liegt und es nichts anderes gibt? Wie geht es ihr denn, Doktor?«
»Ihr Zustand hat sich verschlechtert.« Er zögerte. »Sie liegt im Koma.«
»Dann wird sie also sterben?«
»Hören Sie«, sagte Andrew, »ich weiß, daß Sie es gut meinen, Miß de Grey, und mein gestriges Benehmen tut mir leid. Aber jetzt ist es zu spät. Zu spät, um mit neuen Medikamenten herum-zuexperimentieren. Selbst wenn ich es wollte - haben Sie eine Ahnung, welche Formalitäten nötig wären?«
»Ja«, sagte die Frau; ihre glänzenden Augen ließen Andrew nicht los, und er merkte, wie ihm diese Mädchen-Frau mit ihrer direkten, lebendigen Art zu gefallen begann. »Ja, ich weiß genau, was erforderlich ist. Tatsächlich habe ich seit gestern kaum etwas anderes getan, als das festzustellen - und außerdem mußte ich dem stellvertretenden Leiter unserer Forschungsabteilung erst kräftig den Arm verdrehen, um ihn dazu zu bringen, mir etwas von dem Lotromycin zu überlassen. Es gibt bis jetzt nur sehr wenig davon. Aber ich habe es vor drei Stunden in unseren Labors in Camden gekriegt und bin gleich hergekommen - trotz des lausigen Wetters.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, begann Andrew, aber die Besucherin schüttelte ungeduldig den Kopf.
»Noch etwas, Dr. Jordan: Der ganze Papierkram ist bereits erledigt. Wenn Sie das Mittel anwenden wollen, brauchen Sie le-diglich die Zustimmung des Krankenhauses und des nächsten Angehörigen. Das ist alles.«
Er starrte sie an. »Also wirklich!«
»Wir vergeuden nur unsere Zeit«, sagte Celia de Grey. Sie hatte bereits ihre Aktentasche geöffnet und einen Stoß Papiere herausgeholt. »Lesen Sie das bitte. Es ist eine Beschreibung von Lotromycin, die die Forschungsabteilung von Felding-Roth für Sie vorbereitet hat. Und hier ist eine Notiz von unserem medizinischen Leiter - Anweisungen, wie das Mittel anzuwenden ist.«
Andrew nahm die beiden Blätter, die nur die ersten von vielen weiteren zu sein schienen, und war augenblicklich darin vertieft.
Fast zwei Stunden waren vergangen.
»Wenn sich Ihre Patientin in extremis befindet, Andrew, was haben wir dann zu verlieren?« Die Stimme am Telefon gehörte Noah Townsend. Andrew hatte den Chefarzt auf einer Dinnerparty ausfindig gemacht und ihm von der Möglichkeit, das noch nicht erprobte Arzneimittel Lotromycin anzuwenden, berichtet.
»Und Sie sagen, der Ehemann habe bereits zugestimmt?« fuhr Townsend fort.
»Ja, schriftlich. Ich habe den Verwaltungsdirektor zu Hause erreicht. Er ist ins Krankenhaus gekommen und hat die Erklärung aufgesetzt. Es ist alles unterzeichnet und von Zeugen bestätigt.«
Zuvor hatte Andrew im Gang vor dem Krankenzimmer mit John Rowe gesprochen, und der junge Ehemann hatte sofort zugestimmt. Er war so eifrig gewesen, daß Andrew ihn davor warnen mußte, sich allzu große Hoffnungen zu machen. Die Unterschrift auf dem Papier war krakelig, so sehr hatte John Rowes Hand gezittert. Aber sie war vorhanden und gültig.
»Die Bedenken des Verwaltungsdirektors sind ausgeräumt«, erklärte Andrew Noah Townsend, »denn die Papiere, die Felding-Roth mitgeschickt hat, sind in Ordnung. Offenbar ist es von Vorteil, daß das Mittel keine Bundesstaatsgrenzen überschreiten mußte.«
»Sorgen Sie dafür, daß im Krankenblatt der Patientin alles genauestens vermerkt wird.«
»Ist bereits geschehen.«
»Sie brauchen also nur noch meine Erlaubnis?«
»Für das Krankenhaus. Ja.«
»Ich erteile sie Ihnen hiermit«, sagte Dr. Townsend. »Nicht, daß ich mir allzu große Hoffnungen mache, Andrew. Ich glaube, daß es um Ihre Patientin schon zu schlecht steht, aber versuchen können wir es immerhin. Und jetzt werde ich zu meinem köstlichen Fasanenbraten zurückkehren, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Andrew legte im Schwesternzimmer den Hörer auf die Gabel. »Ist alles bereit?« fragte er.
Die Nachtschwester, die schon älter war und nur noch stundenweise arbeitete, hatte ein Tablett mit Spritzen vorbereitet. Sie öffnete den Kühlschrank und holte einen Glasbehälter heraus, den die Vertreterin von Felding-Roth mitgebracht hatte. »Ja, es ist alles bereit.«
Dr. Overton, der Stationsarzt, der schon am Morgen bei Mary Rowe gewesen war, stand neben dem Bett, als Andrew und die Schwester eintrafen. John Rowe wartete im Hintergrund.
Andrew erklärte Dr. Overton, einem stämmigen, jovialen Te-xaner, das neue Mittel. »Sie erwarten wohl ein Wunder, was?« meinte der in seiner gedehnten Sprechweise.
»Nein«, erwiderte Andrew barsch. Er drehte sich zu Mary Rowes Ehemann um.
»Ich möchte noch einmal betonen, John, daß das eine gewagte Sache ist, eine sehr gewagte Sache. Unter den gegebenen Umständen . . .«
»Ich weiß.« Die Stimme klang wie erstickt.
Während die Schwester die bewußtlose Mary Rowe für die intramuskuläre Injektion vorbereitete, wandte Andrew sich an den Stationsarzt: »Die Arzneimittelfirma rät, die Dosis alle vier Stunden zu wiederholen. Ich habe schriftliche Anweisungen gegeben, aber es wäre mir lieb, wenn Sie . . .«
»In Ordnung, Chef. Ich werde dabeisein - also Q-4.« Der Arzt senkte die Stimme: »Wie war's mit 'ner Wette? Ich . . .«
Andrew brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Der Te-xaner befand sich seit einem Jahr in der Ausbildung und galt als fähig, sein Feingefühl war allerdings mangelhaft entwickelt.
Die Schwester hatte die Injektion beendet und prüfte Puls und Blutdruck der Patientin. »Keine Reaktion, Doktor. Keinerlei Veränderung«, erklärte sie.
Andrew nickte und war für einen Augenblick erleichtert. Er hatte keine positive Wirkung erwartet, eher eine Gegenreaktion befürchtet, noch dazu bei einem Mittel, das sich erst im Erprobungsstadium befand. Er bezweifelte noch immer, daß Mary Rowe den nächsten Morgen erleben würde.
»Rufen Sie mich zu Hause an, wenn es ihr schlechter gehen sollte«, ordnete er an. Dann ging er mit einem leisen »Gute Nacht, John«, am Ehemann vorbei hinaus.
Erst als Andrew zu Hause war, fiel ihm ein, daß er ganz vergessen hatte, der Vertreterin von Felding-Roth, die im Aufenthaltsraum der Ärzte auf ihn wartete, eine Nachricht zu geben.
Diesmal erinnerte er sich an ihren Namen - de Grey. War es Cindy? Nein, Celia. Er war drauf und dran anzurufen, vermutete aber, daß sie inzwischen erfahren hatte, was geschehen war. Er würde morgen mit ihr reden.
2
Normalerweise begann Andrew am Samstagvormittag um zehn Uhr mit der Sprechstunde in seiner Praxis und fuhr gegen Mittag kurz ins Krankenhaus. Heute machte er es umgekehrt und war schon um neun im St. Bede's Hospital.
Auf Sturm und Regen der vergangenen Nacht war ein frischer, klarer Morgen gefolgt, kalt, aber sonnig.
Als Andrew die Treppe zum Krankenhaus hinaufging, wurde die Eingangstür aufgerissen, und Dr. Overton stürzte heraus. Er wirkte erregt. Seine Haare sahen aus, als wäre er in aller Eile aus dem Bett gesprungen und hätte vergessen, sich zu kämmen. Er packte Andrew am Arm.
»Hab' versucht, Sie anzurufen«, stieß er atemlos hervor. »Aber Sie waren schon weg. Der Hausmeister sagte mir, daß Sie kämen.
Ich mußte Sie einfach zuerst erwischen.«
Andrew zog seinen Arm zurück. »Was ist los?«
Der Arzt schluckte. »Warten Sie, bis Sie es mit eigenen Augen sehen.«
Overton lief vor Andrew den Gang entlang zum Aufzug. Er sagte kein Wort und wich Andrews Blicken aus, als sie in den vierten Stock hinauffuhren.
Vor dem Krankenzimmer, in dem Andrew am Abend zuvor die bewußtlose Mary Rowe, ihren Ehemann, die Krankenschwester und den Arzt zurückgelassen hatte, blieben sie stehen.
»Gehen Sie rein!« forderte Overton Andrew ungeduldig auf. »Machen Sie schon!«
Andrew betrat das Zimmer. Und blieb wie erstarrt stehen.
»Sie hätten meine Wette annehmen sollen, Dr. Jordan«, sagte Overton hinter ihm. »Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es nicht glauben.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich es glauben kann«, murmelte Andrew.
Mary Rowe war bei vollem Bewußtsein. Sie saß in ihrem blauen Spitzennachthemd im Bett und lächelte Andrew entgegen. Auch wenn es nur ein dünnes Lächeln war und Mary Rowe noch sehr schwach wirkte, war ihr Zustand im Vergleich zu dem tiefen Koma, in dem sie sich in der vergangenen Nacht befunden hatte, geradezu sensationell. Es schien wie ein Wunder. Sie hatte Wasser getrunken und hielt einen Plastikbecher in der Hand. Die gelbliche Färbung der Haut, die sich am Vortag noch vertieft hatte, war jetzt deutlich schwächer. Als Andrew näher trat, stand John Rowe, über das ganze Gesicht strahlend, auf und streckte die Hände aus.
»Danke, Doktor! Vielen, vielen Dank!« Sein Adamsapfel hüpfte, während er Andrews Hand ergriff.
»Gott segne Sie, Doktor!« sagte Mary Rowe leise, aber inbrünstig.
Als nächstes packte Overton Andrews Hand und drückte sie kräftig. »Gratuliere!« Und dann fügte er auf für ihn untypische Art hinzu: »Sir.« Andrew sah voller Überraschung Tränen in den Augen des stämmigen Texaners.
Mrs. Ludlow, die Oberschwester, kam herein. Normalerweise war sie sehr beschäftigt und ernst, aber jetzt strahlte sie. »Es hat sich schon im ganzen Krankenhaus herumgesprochen, Dr. Jordan. Alle reden von Ihnen.«
»Hören Sie«, sagte Andrew, »es handelt sich um ein neues Mittel. Es heißt Lotromycin, und es wurde mir gebracht. Ich habe nichts . . .«
»Aber hier im Haus sind Sie ein Held«, sagte die Schwester. »Und wenn ich Sie wäre, würde ich mich nicht dagegen wehren.«
»Ich habe einen Bluttest machen lassen«, berichtete der Arzt. »Der Ammoniakspiegel ist nicht mehr gefährlich erhöht. Auch das Bilirubin steigt nicht weiter an. Der Rest dürfte Routine sein.« Und wie zu sich selbst fügte er hinzu: »Unglaublich!«
»Ich freue mich für Sie, Mary«, sagte Andrew zu seiner Patientin. Dann fiel ihm etwas ein. »Hat übrigens jemand die junge Frau von Felding-Roth gesehen. Miß de Grey?«
»Sie war heute morgen schon mal hier«, berichtete Schwester Ludlow. »Vielleicht ist sie auf der Station.«
»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte Andrew und verließ das Zimmer.
Celia de Grey wartete im Gang. Sie hatte sich umgezogen. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
Als sie sich ansahen, spürte Andrew eine gewisse Befangenheit.
»Mit trockenem Haar sehen Sie viel besser aus«, sagte er.
»Und Sie wirken nicht so streng und grimmig wie gestern.«
Es entstand eine Pause, dann sagte Andrew: »Haben Sie schon gehört?«
»Ja.«
»Da drin . . .« Andrew deutete auf die Tür des Krankenzimmers. »Da drin hat man sich bei mir bedankt. Aber eigentlich müßten wir uns alle bei Ihnen bedanken.«
»Sie sind der Arzt«, sagte sie lächelnd.
Dann fielen plötzlich alle Schranken zwischen ihnen, und sie lachten und weinten gemeinsam. Einen Augenblick später nahm er sie zu seiner eigenen Überraschung in die Arme und gab ihr einen Kuß.
Bei Kaffee und einem Stückchen Kuchen, das sie sich in der Cafeteria des Krankenhauses teilten, nahm Celia de Grey ihre Brille ab und sagte: »Ich habe den medizinischen Leiter unserer Firma angerufen und ihm alles erzählt. Und er hat mit ein paar von unseren Leuten aus der Forschung gesprochen. Die sind alle unheimlich froh.«
»Das dürfen sie auch sein«, sagte Andrew. »Es ist ein hervorragendes Mittel.«
»Man hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob Sie für eine medizinische Zeitschrift einen Bericht über die Verwendung von Lotro-mycin schreiben würden.«
»Gern«, erwiderte er.
»Natürlich wäre das für Felding-Roth von Vorteil.« Ihr Ton war wieder geschäftsmäßig. »Wir halten Lotromycin nämlich für ein ganz wesentliches Mittel, das sich gut verkaufen läßt. Und auch Ihnen wird es nicht gerade schaden.«
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Andrew lächelnd zu.
Nachdenklich trank er seinen Kaffee. Er wußte, daß er aufgrund eines reinen Zufalls, eines Glücksfalls, der von dieser bemerkenswerten und entzückenden jungen Frau, die ihm da gegenübersaß, ausgegangen war, an einem Stück medizinischer Geschichte teilgehabt hatte. Eine solche Gelegenheit bot sich nur wenigen Ärzten.
»Ich möchte Ihnen gern etwas sagen, Celia«, erklärte Andrew. »Gestern meinten Sie, ich hätte schlechte Manieren, und Sie hatten recht. Ich war unhöflich, und ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Nicht nötig«, sagte sie rasch. »Mir hat Ihre Reaktion gefallen. Sie haben sich Sorgen um Ihre Patientin gemacht, alles andere war Ihnen egal. Und außerdem - so sind Sie nun mal.«
Er war überrascht. »Woher wissen Sie das?«
»Das hat man mir erzählt.« Erneut zeigte sie dieses flüchtige warme Lächeln. Sie hatte ihre Brille wieder aufgesetzt; es schien eine Angewohnheit zu sein, sie ständig abzunehmen und wieder aufzusetzen. »Ich weiß eine Menge über Sie, Andrew Jordan«, fuhr Celia fort. »Zum einen, weil es zu meinem Job gehört, Ärzte kennenzulernen, und zum ändern . . . Nun, darauf werde ich später noch zurückkommen.«
Ein wirklich ungewöhnliches Mädchen, dachte er. »Was wissen Sie denn alles?«
»Also, einmal weiß ich, daß Sie in Ihrem Semester im John Hopkins der Beste waren. Und dann noch, daß Sie Ihr Praktikum im Massachusetts General absolviert haben . . . Und ich weiß, daß sie nur die Besten nehmen. Und danach hat Dr. Townsend Sie unter fünfzig Bewerbern ausgewählt und Sie in seine Praxis geholt, weil er wußte, daß Sie gut sind. Wollen Sie noch mehr hören?«
Er lachte. »Gibt es denn noch was?«
»Nur, daß Sie ein netter Mann sind, Andrew. Das sagen alle. Natürlich habe ich auch Negatives über Sie erfahren.«
»Ich bin schockiert«, sagte er amüsiert. »Wollen Sie damit etwa andeuten, daß ich nicht vollkommen bin?«
»Es gibt da ein paar dunkle Punkte«, sagte Celia. »Zum Beispiel in bezug auf Arzneimittelfirmen. Da haben Sie starke Vorurteile. Na schön, ich gebe zu, daß es einiges gibt, was . . .«
»Nicht nötig!« Andrew hob die Hand. »Ich gestehe meine Vorurteile gern ein. Aber ich kann Ihnen auch versichern, daß ich heute morgen in der Stimmung bin, meine Meinung zu ändern.«
»Das ist gut, aber ändern Sie sie nicht zu sehr.« Celia hatte wieder einen geschäftsmäßigen Ton angenommen. »Unsere Branche leistet eine Menge Gutes, ein Beispiel dafür haben Sie ja gerade erlebt. Aber es gibt Dinge, die nicht in Ordnung sind, die mir nicht gefallen und die auch ich gern ändern würde.«
»Sie wollen etwas ändern?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Persönlich?«
»Ich weiß, was Sie jetzt denken - daß ich eine Frau bin.«
»Ja, das ist mir in der Tat eingefallen.«
»Es wird einmal eine Zeit geben«, erklärte Celia mit ernster Stimme, »und eigentlich hat sie schon begonnen, in der die Frauen viele Dinge tun werden, die sie nie zuvor getan haben.«
»In diesem Moment bin ich sogar bereit, es Ihnen zu glauben. Vor allem, was Sie selbst betrifft.« Und dann fügte Andrew hinzu: »Sie sagten vorhin, daß Sie später noch auf etwas zurückkommen wollten.«
Celia de Grey zögerte zum ersten Mal.
»Ja, das stimmt.« Ihre durchdringenden graugrünen Augen sahen Andrew an. »Eigentlich wollte ich damit bis zum nächsten Mal warten, aber ich kann es Ihnen genausogut auch gleich sagen. Ich habe vor, Sie zu heiraten.«
Was für ein außergewöhnliches Mädchen! Voller Leben und Persönlichkeit und voller Überraschungen. Noch nie war er jemandem wie ihr begegnet. Andrew war kurz davor, in Lachen auszubrechen, änderte aber plötzlich seine Meinung.
Einen Monat später feierten Dr. Andrew Jordan und Celia de Grey im Beisein einiger enger Freunde und Verwandten ihre Hochzeit.
3
»Wir werden eine gute Ehe führen. Wir werden dafür sorgen, daß sie funktioniert«, erklärte Celia am zweiten Tag ihrer Hochzeitsreise.
»Wenn du mich fragst . . .« Andrew rollte sich auf dem Badetuch herum und gab seiner Frau einen Kuß auf den Nacken. »Wenn du mich fragst, dann funktioniert sie schon jetzt.«
Sie waren auf Eleuthera, einer der Bahama-Inseln. Über ihnen schien warm die Morgensonne, und dünne Wolkenschleier überzogen den Himmel. Der weiße Sandstrand, an dem sie völlig allein waren, schien sich in unendliche Fernen zu erstrecken. Eine leichte Brise bewegte die Palmwedel und kräuselte direkt vor ihnen die Oberfläche des ruhigen, glasklaren Wassers.
»Wenn du Sex meinst«, sagte Celia, »da sind wir gar nicht mal so schlecht, findest du nicht auch?«
Andrew stützte sich auf den Ellbogen. »Nicht schlecht? Du bist das reinste Dynamit. Wo hast du das eigentlich gelernt . . .?« Er unterbrach sich. »Nein, sag's mir lieber nicht.«
»Dieselbe Frage könnte ich dir stellen«, neckte sie ihn und strich mit der Hand über seinen Schenkel, während ihre Zunge die Konturen seines Mundes nachzog.
Er streckte die Arme nach ihr aus und flüsterte: »Komm! Laß uns zum Bungalow gehen.«
»Warum nicht gleich hier? Oder in dem hohen Gras da drüben ?«
»Damit die Eingeborenen einen Schreck kriegen?«
Sie lachte, als er sie hochzog, und dann liefen sie über den Strand. »Du bist prüde! Ein richtiger Puritaner. Wer hätte das gedacht!«
Andrew führte sie in den malerischen, strohgedeckten Bungalow, in den sie tags zuvor eingezogen waren und der ihnen zehn Tage lang gehören würde.
»Wenn ich ein Puritaner bin, weil ich dich nicht mit den Ameisen und Krebsen teilen will, okay - dann bin ich eben einer.« Während er sprach, zog er seine Badehose aus.
Aber Celia war schneller als er. Sie hatte den Bikini bereits abgestreift und lag schon nackt und noch immer lachend im Bett.
Eine halbe Stunde später, als sie wieder am Strand waren, sagte Celia: »Wie gesagt, wir werden eine . . .«
». . . gute Ehe führen«, beendete Andrew den Satz. »Ich bin ganz deiner Meinung.«
»Und damit sie funktioniert, müssen wir beide zufrieden und ausgefüllt sein.«
Andrew lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Völlig richtig.«
»Deshalb müssen wir Kinder haben.«
»Falls ich dir dabei behilflich sein kann, laß es mich . . .«
»Andrew! Bitte, sei ernst.«
»Kann ich nicht. Dazu bin ich viel zu glücklich.«
»Dann werde ich für uns beide ernst sein.«
»Wieviel Kinder?« fragte er. »Und wann?«
»Ich hab' darüber nachgedacht«, sagte Celia, »und ich glaube, wir sollten zwei haben - das erste so bald wie möglich, das zweite zwei Jahre später. Auf diese Weise hab' ich das Kinderkriegen hinter mir, bevor ich dreißig bin.«
»Wie schön«, sagte er. »Und alles so geordnet. Übrigens, hast du auch schon Pläne für deine alten Tage - nach dreißig, meine ich?«
»Ich werde Karriere machen. Habe ich das noch nicht erwähnt?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Aber wenn du bedenkst, mit welcher Geschwindigkeit wir uns in den Genuß der Ehe gebracht haben, dann gab's auch nicht gerade übermäßig viel Zeit für Diskussionen oder philosophische Betrachtungen.«
»Also«, sagte Celia, »ich habe meine Pläne in bezug auf die Kinder Sam Hawthorne gegenüber erwähnt. Und er meinte, das ließe sich machen.«
»Prächtig, dieser Sam - wer immer das ist!« Andrew runzelte die Stirn. »Warte mal. War der nicht auf unserer Hochzeit, einer von Felding-Roth?«
»Genau. Sam Hawthorne ist mein Chef und regionaler Verkaufsleiter. Er war mit seiner Frau da, Lilian.«
»Klar. Jetzt fällt es mir wieder ein.«
Nun erinnerte Andrew sich an Sam Hawthorne - ein großer, freundlicher Mann von Mitte Dreißig, dessen Haar sich bereits lichtete, mit einem zerfurchten Gesicht, das Andrew an die zerklüfteten Felswände des Mount Rushmore erinnerte. Hawthor-nes Frau Lilian war eine eindrucksvolle Brünette. Andrew, der in Gedanken noch einmal die drei Tage zurückliegenden Ereignisse Revue passieren ließ, sagte: »Du mußt schon entschuldigen, wenn ich im Augenblick ein bißchen durcheinander bin.«
Ein Grund dafür war die Erinnerung an Celia, wie sie, ganz in Weiß und mit kurzem Schleier, in der Empfangshalle des Hotels, das sie für ihre Hochzeit ausgesucht hatten, erschienen war. Die Zeremonie wurde von einem freundlichen Richter durchgeführt, der auch Mitglied des Verwaltungsrates vom St. Bede's Hospital war. Dr. Townsend hatte als Brautführer fungiert.
Noah Townsends äußere Erscheinung paßte ausgezeichnet ins Bild - der Inbegriff eines vertrauenswürdigen Hausarztes. Mit seinen grauen Haaren sah er dem britischen Premierminister Harold Macmillan ähnlich, der in diesen Tagen häufig in den Nachrichten genannt wurde und die Beziehungen zwischen den USA und Großbritannien zu bessern bemüht war, die sich seit der Suez-Krise in den letzten Jahren stark abgekühlt hatten.
Celias Mutter, eine zierliche, zurückhaltende Dame, die verwitwet in Philadelphia lebte, war ebenfalls zur Hochzeit gekommen. Celias Vater war im Zweiten Weltkrieg gefallen, und deshalb war Townsend als Brautführer eingesprungen.
Andrew schloß die Augen, zum Teil, um sich vor der hellen Sonne zu schützen, vor allem aber, um den Augenblick, in dem Townsend ihm Celia zugeführt hatte, wiederauferstehen zu lassen . . .
In dem Monat nach jenem denkwürdigen Morgen in der Cafeteria des Krankenhauses, an dem Celia ihm mitgeteilt hatte, daß sie die Absicht habe, ihn zu heiraten, war Andrew immer stärker dem erlegen, was er nur als ihren Zauberbann bezeichnen konnte. Wahrscheinlich war es Liebe, schätzte er, auch wenn es ihm stärker und anders vorkam - die Preisgabe des SingleDaseins, für das Andrew immer eingetreten war, und die totale Verschmelzung zweier Lebenswege, was ihn zugleich verwirrte und entzückte. Es gab niemanden auf der Welt, der so war wie Celia. Kein Augenblick mit ihr war langweilig. Sie steckte voller Überraschungen, Ideen und Pläne, die alle der unerschöpflichen Quelle ihres kraftvollen, unabhängigen Wesens entsprangen. Von Anfang an hatte er dieses außerordentliche Glücksgefühl verspürt, als habe er durch irgendeinen Zufall den von allen anderen begehrten ersten Preis gewonnen. Und als er sie seinen Kollegen vorstellte, konnte er spüren, daß alle sie begehrten.
In Andrews Leben hatte es schon andere Frauen gegeben, aber nie für längere Zeit und noch nie eine, die er ernsthaft für eine Ehe in Betracht gezogen hätte. Darum war es um so bemerkenswerter, daß er von dem Augenblick an, als Celia ihm - um es kon-ventionell auszudrücken - »einen Antrag gemacht hatte«, nie den leisesten Zweifel, nicht das geringste Zögern oder gar den Wunsch verspürt hatte, sich zurückzuziehen.
Und dennoch . . . erst in jenem unglaublichen Augenblick, als er Celia in ihrem weißen Hochzeitskleid hereinkommen sah -strahlend, schön, jung, begehrenswert, alles, was sich ein Mann nur wünschen konnte, und noch viel, viel mehr -, erst da explodierte in Andrew etwas, und er wußte, daß er sie liebte, mit einer solchen Sicherheit, wie sie im Leben nur ganz selten vorkommt, wußte, daß er unglaubliches Glück hatte, daß es nie aufhören würde und daß es - trotz der Zeiten, in denen sie lebten - für ihn und Celia nie eine Trennung oder Scheidung geben würde.
Es war das Wort Scheidung gewesen, sagte sich Andrew später, wenn er darüber nachdachte, das ihn zu dem Zeitpunkt, als viele seiner Altersgenossen mit Anfang Zwanzig bereits verheiratet waren, davon abhielt, sich zu binden. Natürlich hatte das Vorbild seiner Eltern zu dieser Einstellung beigetragen; seine Mutter, die - wie Andrew es sah - die geschiedene Frau non grata verkörperte, war ebenfalls zur Hochzeit gekommen. Wie ein alternder Schmetterling war sie von Los Angeles herbeigeflattert und hatte jedem, der ihr zuhörte, erzählt, daß sie das Nest ihres vierten Ehemannes nur verlassen habe, um bei der »ersten Hochzeit« ihres Sohnes dabeizusein. Andrews Vater war ihr zweiter Ehemann gewesen, und als Andrew sich nach ihm erkundigte, hatte sie geantwortet: »Ach, mein armer Junge, ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie er aussah. Ich habe ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, und das letzte, was ich von ihm hörte, war, daß er ein alter Wüstling geworden ist, der mit einer siebzehnjährigen Hure in Paris zusammenlebt.«
Im Lauf der Jahre hatte sich Andrew bemüht, für seine Mutter und ihr Verhalten Verständnis aufzubringen. Aber leider kam er immer zu demselben Ergebnis: Sie war einfach eine hohlköpfige, oberflächliche egoistische Schönheit, von der sich eine bestimmte Sorte von Männern angezogen fühlte.
Er hatte seine Mutter aus Pflichtgefühl und aus der Überzeugung zur Hochzeit eingeladen, daß man für seine Eltern etwas empfinden sollte, aber später wünschte er, er hätte es nicht getan.
Er hatte auch eine Heiratsanzeige an die letzte ihm bekannte Adresse seines Vaters geschickt, aber keine Antwort erhalten, und er bezweifelte sehr, daß er je eine erhalten würde. Etwa alle drei Jahre brachten er und sein Vater es fertig, Weihnachtskarten auszutauschen, aber das war auch schon alles.
Andrew war das einzige Kind aus der kurzen Ehe seiner Eltern, und das einzige Mitglied seiner Familie, mit dem er Celia gern bekannt gemacht hätte, war vor zwei Jahren gestorben: eine unverheiratete Tante, bei der Andrew den größten Teil seiner Kindheit verbracht hatte und die, obgleich keineswegs begütert, es ohne die Hilfe seiner Eltern geschafft hatte, genug Geld aufzubringen, damit Andrew aufs College gehen und studieren konnte.
Erst nach ihrem Tod, als die Reste ihres Besitzes, ein paar hundert Dollar, beim Rechtsanwalt vor ihm ausgebreitet lagen, wurde ihm klar, wie groß ihr Opfer gewesen war.
Celia hatte sich mit Andrews Mutter ohne Schwierigkeiten arrangiert. Die Situation war ihr klar, ohne daß es irgendwelcher Erklärungen bedurft hätte. Sie war freundlich, ja sogar herzlich gewesen, wenn auch nicht gerade überschwenglich. Als sich Andrew für das etwas bizarre Benehmen seiner Mutter entschuldigte, hatte Celia geantwortet: »Schließlich haben wir einander geheiratet, Liebling, nicht unsere Familien.« Und dann hatte sie hinzugefügt: »Jetzt bin ich deine Familie, und du wirst von mir mehr Liebe bekommen, als du in deinem ganzen Leben erhalten hast.«
Und schon jetzt, hier am Strand, wußte Andrew, daß es stimmte.
»Wenn es dir recht ist«, setzte Celia das Gespräch fort, »würde ich während meiner ersten Schwangerschaft gern möglichst lange arbeiten, mir dann ein Jahr freinehmen, um rund um die Uhr Mutter zu sein. Danach werde ich bis zur zweiten Schwangerschaft wieder arbeiten, und so weiter.«
»Natürlich ist mir das recht«, sagte er. »Und während ich mich lieben lasse und dir Kinder mache, werde ich mich zwischendurch ein bißchen als Arzt betätigen.«
»Du wirst dich bestimmt ausgiebig betätigen und ein guter, verantwortungsvoller Arzt sein.«
»Das hoffe ich sehr.« Andrew seufzte zufrieden und war nach wenigen Minuten eingeschlafen.
Eines Morgens nach dem Frühstück, das ihnen von einer fröhlichen, mütterlichen Farbigen namens Remona in den Bungalow gebracht wurde, sagte Celia: »Mir gefällt es hier. Die Insel, die Menschen und die Ruhe. Ich bin froh, daß wir hier sind, Andrew, und ich werde diesen Ort nie vergessen.«
»Ich bin auch froh«, sagte er.
Zuerst hatte Andrew für ihre Hochzeitsreise Hawaii vorgeschlagen, aber als er Celias Zögern bemerkte, hatte er sofort diese Insel genannt, die ursprünglich seine zweite Wahl gewesen war.
Jetzt erklärte Celia: »Ich hab's dir nicht gesagt, aber Hawaii hätte mich traurig gemacht.«
Als er sie nach dem Grund fragte, wurde das Mosaik ihrer Vergangenheit durch ein weiteres Stück ergänzt.
Am 7. Dezember 1941, als Celia zehn Jahre alt war und bei ihrer Mutter in Philadelphia lebte, befand sich ihr Vater, ein Unteroffizier der amerikanischen Marine - Chief Petty Officer Willis de Grey -, in Hawaii an Bord des Schlachtschiffs USS Arizona, das in Pearl Harbor lag. Bei dem japanischen Angriff an diesem Tag wurde die Arizona versenkt und mit ihr 1102 Besatzungsmitglieder. Die meisten starben unter Deck, ihre Leichen wurden nie gefunden. Einer von ihnen war Willis de Grey.
»O ja, ich erinnere mich an ihn«, sagte Celia und beantwortete damit Andrews Frage. »Natürlich war er viel weg, auf See. Aber wenn er zum Urlaub nach Hause kam, war immer etwas los bei uns, und wir hatten viel Spaß. Wenn wir wußten, daß er kam, waren wir alle ganz aufgeregt. Sogar meine kleine Schwester Janet, auch wenn sie sich nicht mehr so genau an ihn erinnern kann wie ich.«
»Und wie war er?« fragte Andrew.
Celia dachte nach, bevor sie antwortete. »Sehr groß, mit einer dröhnenden Stimme; er brachte die Leute zum Lachen, und er mochte Kinder gern. Er war auch stark - in jeder Hinsicht. Meine Mutter ist nicht stark; das hast du wahrscheinlich schon bemerkt. Sie verließ sich völlig auf meinen Vater, auch wenn er nicht da war. Er schrieb ihr in seinen Briefen, was sie tun sollte.«
»Und jetzt verläßt sie sich auf dich?«
»Darauf lief es hinaus. Fast sofort nach dem Tod meines Vaters.« Celia lächelte. »Natürlich war ich schrecklich frühreif. Wahrscheinlich bin ich es noch.«
»Ein bißchen schon«, sagte Andrew. »Aber ich habe beschlossen, es zu ertragen.«
Später sagte er leise: »Ich kann verstehen, warum du nicht nach Hawaii wolltest. Bist du schon mal dort gewesen - in Pearl Harbor?«
Celia schüttelte den Kopf. »Meine Mutter wollte nie hin, und auch ich bin noch nicht soweit.« Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach. »Ich habe gehört, daß man ganz dicht bis an die Stelle heran kann, wo die Arizona gesunken ist, und daß man hinuntersehen und das Schiff erkennen kann. Aber man hat es nie geborgen. Vielleicht findest du das komisch, Andrew, aber ich würde später gern einmal dorthin fahren, allerdings nicht allein. Ich würde gern meine Kinder mitnehmen.«
Andrew schwieg, dann sagte er: »Das finde ich gar nicht komisch. Und ich verspreche dir, daß ich es, wenn unsere Kinder soweit sind, es zu begreifen, arrangieren werde.«
An einem anderen Tag, als sie in einem ramponierten, undichten Dinghy saßen und Andrew sich mit den Ruderstangen herumplagte, sprachen sie über Celias Arbeit.
»Ich dachte immer, bei den Arzneimittelfirmen gäbe es nur männliche Vertreter.«
»Bleib in der Nähe des Ufers. Ich habe das Gefühl, daß dieses Wrack gleich sinkt«, sagte Celia. »ja, du hast recht - meistens sind es Männer, aber es gibt auch ein paar Frauen; manche kommen vom Militärdienst. Aber bei Felding-Roth bin ich die erste und noch immer einzige Vertreterin.«
»Das ist eine Leistung. Wie hast du das geschafft?«
»Auf Umwegen.«
1952 hatte Celia am Penn State College ihr Examen in Chemie gemacht. Das Studium hatte sie zum Teil mit einem Stipendium und zum Teil dadurch finanziert, daß sie nachts und an den Wochenenden in einem Drugstore arbeitete.
»In dem Drugstore, wo ich mit der einen Hand rezeptpflichtige Arzneimittel und mit der anderen Lockenwickler oder Deodorants austeilte, habe ich eine Menge gelernt, was ich später gebrauchen konnte. Ach ja, und manchmal hab' ich auch Sachen unter dem Ladentisch verkauft.«
In den Laden seien häufig junge Männer gekommen, erzählte Celia, und hätten verlegen herumgestanden und versucht, die Aufmerksamkeit des Drogisten auf sich zu ziehen. Celia kannte das. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte sie und erhielt gewöhnlich zur Antwort: »Ich warte lieber auf den da.«
»Wenn Sie Kondome wollen«, pflegte Celia dann zu sagen, »da haben wir eine gute Auswahl.« Dann holte sie die verschiedenen Fabrikate unter dem Ladentisch hervor und stapelte die Kartons übereinander. Die Männer tätigten mit rotem Gesicht ihre Einkäufe und verschwanden schnell wieder.
Gelegentlich kam es vor, daß Celia gefragt wurde, ob sie beim Ausprobieren behilflich sein wolle. Darauf hatte sie eine Standardantwort: »In Ordnung. Wann Sie wollen. Ich glaube, meine Syphilis ist jetzt überstanden.« Manchen war natürlich klar, daß dies nur ein Scherz war, aber ein Risiko wollte wohl keiner eingehen.
Andrew lachte, hörte mit Rudern auf und ließ das Boot treiben.
Mit ihrem Abschlußdiplom bewaffnet, berichtete Celia, bewarb sie sich dann bei Felding-Roth Pharmaceuticals um einen Job als Chemikerin. Sie wurde eingestellt und arbeitete zwei Jahre im Labor.
»Dort hab' ich ein paar Dinge gelernt - vor allem, daß man ein begeisterter Wissenschaftler sein muß, um Laborarbeit nicht langweilig und eintönig zu finden. Verkauf und Marketing haben mich von Anfang an mehr interessiert. Und das ist noch heute so. Dort werden auch die großen Entscheidungen getroffen«, fügte sie hinzu.
Aber der Wechsel vom Labor in die Verkaufsabteilung erwies sich als schwierig. Celia versuchte es auf dem üblichen Weg, indem sie sich bewarb, und wurde abgewiesen. »Man sagte mir, es sei Firmenpolitik, im Verkauf Frauen nur als Sekretärinnen zu beschäftigen.«
Aber sie wollte die Entscheidung nicht akzeptieren und faßte einen Plan.
»Ich fand heraus, daß der einzige, der an dieser Politik etwas ändern könnte, Sam Hawthorne war.«
»Dein Boß, der regionale Verkaufsmaestro«, sagte Andrew, »der seine Zustimmung gegeben hat, daß wir zwei Kinder kriegen.«
»Ja - daß ich weiterarbeiten kann. Jedenfalls kam ich zu dem Schluß, daß der einzige Weg, Hawthorne zu beeinflussen, über seine Frau lief. Es war riskant. Fast hätte es nicht geklappt.« Mrs. Lilian Hawthorne war, wie Celia entdeckt hatte, in mehreren Frauengruppen tätig, und es schien durchaus möglich, daß sie den Karriereplänen einer Frau positiv gegenüberstand. Daher suchte Celia eines Tages, als Sam Hawthorne in der Firma war, seine Frau zu Hause auf.
»Ich war ihr noch nie begegnet«, berichtete Celia. »Und ich war nicht angemeldet. Ich ging einfach hin und klingelte.«
Der Empfang war nicht gerade freundlich. Mrs. Hawthorne, Anfang Dreißig und sieben Jahre älter als Celia, war eine starke Persönlichkeit, die für Kindereien wenig Sinn hatte. Sie hatte langes, rabenschwarzes Haar, das sie ungeduldig zurückschob, als Celia ihr Anliegen vorbrachte. Schließlich sagte Lilian Hawthorne: »Das ist ja lächerlich. Ich habe mit der Arbeit meines Mannes nichts zu tun. Er wird wütend sein, wenn er erfährt, daß Sie hergekommen sind.«
»Ich weiß«, sagte Celia. »Wahrscheinlich fliege ich raus.«
»Darüber hätten Sie sich vorher Gedanken machen sollen.«
»Das habe ich getan, Mrs. Hawthorne. Aber ich bin das Risiko eingegangen, weil ich annahm, daß Sie eine moderne Frau sind, und weil ich an die Gleichberechtigung der Frauen glaube und daran, daß sie nicht aufgrund ihres Geschlechts schlechter behandelt werden sollten.«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Lilian Hawthorne in die Luft gehen. »Sie haben vielleicht Nerven!« fuhr sie Celia an.
»Richtig«, sagte Celia gelassen. »Deshalb würde ich ja auch eine großartige Vertreterin abgeben.«
Die Frau starrte sie an, dann brach sie plötzlich in Lachen aus. »Mein Gott!« sagte sie. »Ich glaube, Sie verdienen es.«
Und einen Augenblick später: »Ich wollte mir gerade einen Kaffee machen, Miß de Grey. Kommen Sie mit in die Küche, dann können wir weiterreden.«
Es war der Beginn einer Freundschaft, die Jahrzehnte währen sollte.
»Aber auch dann«, fuhr Celia fort, »mußte Sam erst mühsam überzeugt werden. Doch wenigstens redete er mit mir, und ich glaube, ihm gefiel, was ich sagte, und Lilian hat ihn auch noch bearbeitet. Dann mußte er die Zustimmung seiner Chefs einholen. Aber am Ende hat es geklappt.« Sie sah auf das Wasser, mit dem sich das Dinghy füllte; es reichte ihr schon bis an die Knöchel. »Andrew, ich hatte recht! Der Kahn säuft ab!«
Lachend sprangen sie über Bord und schwammen ans Ufer. Das Boot zogen sie hinter sich her.
»Als ich als Vertreterin in der Verkaufsabteilung begann«, setzte Celia ihren Bericht beim Abendessen fort, »wurde mir klar, daß ich nicht nur so gut wie ein Mann sein mußte. Ich mußte besser sein.«
»Ich erinnere mich an das, was erst neulich passiert ist«, warf ihr Mann ein. »Da warst du nicht nur besser als ein Mann, da warst du sogar besser als der Arzt.«
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, sie nahm die Brille ab und legte eine Hand auf seine. »Das hat mir Glück gebracht, und nicht nur wegen des Lotromycin.«
»Du nimmst deine Brille oft ab«, bemerkte Andrew. »Warum?«
»Ich bin kurzsichtig, aber ich weiß, daß ich ohne Brille besser aussehe. Deshalb.«
»Du siehst immer gut aus«, sagte er. »Aber wenn dich die Brille stört, solltest du es mal mit Kontaktlinsen versuchen. Eine Menge Leute tragen Kontaktlinsen.«
»Ich werde mich danach erkundigen, sobald wir zurück sind«, erklärte Celia. »Sonst noch was, wenn wir schon dabei sind? Irgendwelche anderen Veränderungen erwünscht?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich mag an dir alles, wie es ist.«
Sie waren von ihrem Bungalow eine Meile zu Fuß gegangen, Hand in Hand, über eine gewundene, grob gepflasterte Straße, auf der es kaum Verkehr gab. Die Nachtluft war warm, die einzigen Geräusche kamen vom Sirren der Insekten und vom Klatschen der Wellen an ein Riff vor der Küste. Und jetzt aßen sie in dem kleinen, sparsam eingerichteten Cafe, dem Travellers Rest, das einheimische Standardgericht: gebratenen Barsch, Erbsen und Reis.
Auch wenn das Travellers Rest nicht gerade im Michelin erscheinen würde, gab es dort schmackhaftes Essen für hungrige Gäste.
Der Fisch war frisch und wurde vom Wirt, einem drahtigen Eingeborenen namens Cleophas Moss, in einem alten Tiegel über dem Holzfeuer gebraten. Er hatte Andrew und Celia einen Tisch gegeben, von dem aus sie aufs Meer blicken konnten. Zwischen ihnen stand eine Kerze, die in einer Bierflasche steckte. Am Himmel waren verstreute Wolken und ein fast voller Mond zu sehen. »In New Jersey ist es wahrscheinlich kalt und regnerisch«, sagte Celia.
»Bald werden wir wieder dort sein. Erzähl mir noch ein bißchen von dir und den Arzneimitteln.«
Bei ihrem ersten Einsatz als Vertreterin, berichtete Celia, war sie nach Nebraska gekommen, wo Felding-Roth zuvor noch keinen Repräsentanten gehabt hatte.
»Und das war gut für mich. Ich wußte genau, woran ich war, weil ich mit nichts anfing. Es gab noch keine Organisation, kaum Aufzeichnungen, niemanden, der mir sagte, wen ich aufsuchen oder wohin ich gehen sollte.«
»Hat das dein Freund Sam absichtlich getan - als eine Art Prüfung ?«
»Kann sein. Ich habe ihn nie danach gefragt.«
Statt dessen machte sich Celia an die Arbeit. In Omaha suchte sie sich eine kleine Wohnung, die sie als Stützpunkt benutzte und von der aus sie den ganzen Staat bereiste, von einer Stadt zur anderen. In jedem Ort riß sie die gelben Seiten mit den Adressen von Ärzten und Chirurgen aus dem Telefonbuch, legte eine Kartei an und begann herumzutelefonieren. Sie stellte fest, daß es 1500 Ärzte in ihrem Gebiet gab, und beschloß, sich auf 200 zu konzentrieren, die sie für die ergiebigsten Verschreiber von Arzneimitteln hielt.
»Du warst ziemlich weit weg von zu Hause«, sagte Andrew. »Hast du dich nicht einsam gefühlt?«
»Dazu hatte ich keine Zeit. Ich war viel zu beschäftigt.«
Eine Erfahrung machte sie gleich zu Beginn: wie schwierig es war, an Ärzte heranzukommen. »Ich verbrachte Stunden damit, in Wartezimmern herumzusitzen. Und wenn ich endlich vorgelassen wurde, räumte mir der Arzt vielleicht fünf Minuten ein, mehr nicht. Und schließlich warf mich ein Arzt in North Platte aus der Praxis. Aber er hat mir damit auch einen großen Gefallen getan.«
»Wieso ?«
Celia probierte ein Stück von dem gebratenen Barsch und verkündete: »Er trieft vor Fett! Eigentlich sollte ich das nicht essen, aber es ist einfach zu köstlich, um es stehenzulassen.« Sie legte die Gabel aus der Hand, lehnte sich zurück und hing wieder ihren Erinnerungen nach.
»Er war Internist wie du, Andrew. So um die Vierzig etwa, und ich glaube, er hatte gerade seinen schlechten Tag. Kaum hatte ich jedenfalls mein Verkaufsgespräch begonnen, da unterbrach er mich auch schon: Junge Frauc, sagte er, >Sie wollen mit mir über Medizin reden? Dann will ich Ihnen mal was sagen: Ich habe vier Jahre an der medizinischen Hochschule verbracht, weitere fünf im Krankenhaus gearbeitet, und seit zehn Jahren praktiziere ich, und wenn ich auch nicht alles weiß, weiß ich doch eine ganze Menge mehr als Sie. Was Sie mir mit Ihren unzureichenden Kenntnissen da erzählen wollen, könnte ich in zwanzig Sekunden auf der Werbeseite irgendeiner medizinischen Fachzeitschrift nachlesen. Machen Sie also, daß Sie rauskommen!«
Andrew verzog das Gesicht. »Wie gemein!«
»Aber gut für mich«, sagte Celia. »Auch wenn ich mir vorkam, als habe man mich gerade wie ein Stück Dreck vom Fußboden gekratzt. Aber er hatte ja recht.«
»Hat man dir denn bei Felding-Roth keine Ausbildung gegeben?«
»Nur kurz und oberflächlich. Vorwiegend wurden Verkaufsgespräche durchgespielt. Meine chemischen Kenntnisse haben mir geholfen, aber nicht viel. Ich war einfach nicht darauf vorbereitet, mit vielbeschäftigten, hochqualifizierten Ärzten zu reden.«
»Das ist einer der Gründe«, bestätigte Andrew, »warum manche Ärzte sich weigern, Pharma-Vertreter zu empfangen. Abgesehen davon, daß man sich ein stereotypes Verkaufsgeschwätz anhören muß, kriegt man möglicherweise auch noch falsche Informationen aufgetischt, was gefährlich sein kann. Manche Vertreter erzählen einem Märchen, ja belügen einen sogar, nur damit man den Patienten ihr Produkt verschreibt.«
»Andrew, Liebster, ich möchte, daß du in dieser Sache etwas für mich tust. Worum es geht, sage ich dir später.«
»Gern, wenn ich kann. Und was geschah nach North Platte?«
»Zwei Dinge wurden mir klar: Erstens, daß ich aufhören mußte, wie ein Verkäufer zu denken, und niemanden zum Kauf drängen durfte. Zweitens, daß ich, auch wenn die Ärzte mehr wußten als ich, versuchen mußte, bestimmte Dinge über Arzneimittel herauszufinden, die sie noch nicht wußten und die für sie von Nutzen sein konnten. Und während ich dieses Ziel verfolgte, entdeckte ich zufällig noch etwas anderes: Ärzte lernen eine Menge über Krankheiten, aber über Medikamente sind sie nicht besonders gut informiert.«
»Stimmt«, gab Andrew zu. »Was man während des Medizinstudiums über Arzneimittel erfährt, ist so gut wie nichts, und in der Praxis ist es schon schwer genug, sich über die medizinischen Entwicklungen auf dem laufenden zu halten, geschweige denn über Pharmazeutika.«
»Und dann wurde mir noch etwas klar«, sagte Celia. »Nämlich, daß ich den Ärzten immer die Wahrheit sagen mußte und niemals übertreiben oder etwas verschweigen durfte. Und wenn mich einer nach dem Produkt einer Konkurrenzfirma fragte und es besser war als das unsere, dann gab ich das auch zu.«
»Wie kam es zu diesem großen Wandel?«
»Eine ganze Weile habe ich nachts immer nur vier Stunden Schlaf gekriegt.« Celie beschrieb, wie sie neben der Tagesarbeit ihre Abende und Wochenenden damit verbrachte, jedes Arzneimittelfachbuch zu lesen, das sie in die Hände bekam. Sie studierte alle Einzelheiten, machte sich Notizen und lernte alles auswendig. Wenn Fragen auftauchten, suchte sie in Bibliotheken nach Antworten. Sie fuhr in die Zentrale von Felding-Roth in New Jersey und drängte frühere Kollegen von der Forschungsabteilung, ihr mehr Informationen zu geben, als in den Fachbüchern standen; sie informierte sich auch über all das, woran gerade gearbeitet wurde und was in Kürze verfügbar sein würde. Es dauerte nicht lange, und ihre Besuche bei den Ärzten wurden erfolgreicher; manche Ärzte baten sie sogar, ihnen spezielle Informationen zu besorgen. Und allmählich nahmen die Bestellungen von Felding-Roth-Produkten in ihrem Gebiet zu.
»Celia, du bist wirklich fabelhaft«, sagte Andrew bewundernd.
Sie lachte. »Und du hast Vorurteile, aber ich liebe dich. Auf jeden Fall verdreifachte sich innerhalb eines Jahres der Umsatz der Firma in Nebraska.«
»Und dann haben sie dich aus dem Außendienst zurückgeholt?«
»Sie haben das Nebraska-Gebiet einem neuen Mann und mir ein wichtigeres Gebiet in New Jersey gegeben.« »Das muß man sich mal vorstellen«, sagte Andrew. »Wenn sie dich woandershin geschickt hätten, wären wir uns nie begegnet.«
»Doch«, sagte sie überzeugt, »wir wären uns begegnet. So oder so, denn wir sind füreinander bestimmt. >Heiraten ist Bestimmung.««
»>Und Hängen auch<«, fügte er hinzu.
Sie mußten beide lachen.
»Phantastisch!« sagte Celia entzückt. »Ein verstaubter Schulmediziner, der John Heywood zitieren kann.«
»Genau. Denselben Heywood, Schriftsteller aus dem sechzehnten Jahrhundert, der auch Musik für Heinrich den Achten gemacht und gesungen hat«, brüstete sich Andrew.
Sie standen auf, und der Wirt rief vom Holzfeuer herüber: »Ist das ein guter Fisch oder nicht, junges Hochzeitspaar? Alles in Ordnung?«
»Alles in bester Ordnung«, versicherte Celia. »Der Fisch und die Flitterwochen.«
»Auf einer kleinen Insel gibt es keine Geheimnisse«, bemerkte Andrew amüsiert. Er bezahlte das Essen mit einem Zehn-Schilling-Schein der Bahamas - in Dollar umgerechnet eine bescheidene Summe - und winkte ab, als der Wirt ihm das Wechselgeld herausgeben wollte.
Draußen war es jetzt kühler und die Brise vom Meer frischer. Glücklich gingen sie Arm in Arm die stille, gewundene Straße hinunter ins Tal.
Es war ihr letzter Tag.
Das Wetter auf den Bahamas war schlechter geworden, als paßte es sich der Abschiedsstimmung an. Die Wolkenschicht am Himmel war von einem morgendlichen Regenschauer begleitet, und der kräftige Nordostwind wühlte das Wasser auf, daß es schäumte, und peitschte die Wellen gegen die Küste.
Andrew und Celia wollten mittags mit den Bahamas Airways von Rock Sound abfliegen; in Nassau hatten sie Anschluß an eine PanAm in Richtung Norden, so daß sie noch am selben Abend in New York sein würden. Am nächsten Tag mußten sie wieder in Morristown sein und würden dort in Andrews Wohnung in der South Street wohnen, bis sie ein geeignetes Haus gefunden hatten.
Celia, die in Boonton in einem möblierten Zimmer gehaust hatte, war dort bereits ausgezogen und hatte ihre Sachen in einem Lager deponiert.
In dem Bungalow, in dem sie ihre Flitterwochen verbracht hatten und den sie in einer knappen Stunde verlassen würden, war Celia schon beim Packen; ihre Sachen lagen auf dem Doppelbett ausgebreitet. »Es war wunderbar hier. Und das ist erst der Anfang«, rief sie Andrew zu, der sich im Badezimmer rasierte.
»Ein spektakulärer Anfang! Aber ich bin trotzdem bereit, wieder an die Arbeit zu gehen«, antwortete er durch die geöffnete Tür.
»Weißt du, was ich glaube, Andrew? Wir beide haben eines gemeinsam: Wir fühlen uns bei der Arbeit wohl, und wir sind beide ehrgeizig. Das wird immer so sein.«
»Hm, hm.« Er kam nackt aus dem Bad und trocknete sich mit einem Handtuch das Gesicht ab. »Trotzdem kein Grund, die Arbeit nicht auch mal zu unterbrechen. Vorausgesetzt, daß es dafür gute Gründe gibt.«
»Haben wir denn noch Zeit?« wollte Celia fragen, konnte den Satz aber nicht beenden, weil Andrew sie küßte.
Etwas später murmelte er: »Könntest du bitte das Bett freimachen?«
Ohne sich umzusehen und ohne Andrew loszulassen, griff Celia nach hinten und begann, die Sachen auf den Fußboden zu werfen.
»Schon viel besser«, sagte er, während sie sich auf das freigemachte Bett legten. »Dazu sind Betten schließlich da.«
Sie lachte. »Und wenn wir das Flugzeug verpassen?«
»Wem macht das schon was aus?«
Etwas später sagte sie zufrieden: »Du hast recht. Wem macht das schon was aus?« Und noch später, zärtlich und glücklich: »Mir macht es . . .«, und dann: »Ach, Andrew, ich hab' dich so lieb!«
4
An Bord der PanAm-Maschine nach New York lagen Exemplare der New York Times aus. Celia blätterte darin. »Hat sich nicht viel geändert, während wir fort waren«, bemerkte sie.
Eine Meldung aus Moskau zitierte Nikita Chruschtschow, der die USA zu einem »Raketen-Duell« aufforderte. Der nächste Weltkrieg würde, brüstete sich der Sowjetführer, auf dem amerikanischen Kontinent ausgetragen werden, und er sagte »den Tod des Kapitalismus und den weltweiten Sieg des Kommunismus« voraus. Andererseits versicherte Präsident Eisenhower, daß die US-Verteidigung mit der sowjetischen Herausforderung Schritt halten könne.
Und die Untersuchung des Bandenmords an Mafia-Boß Albert Anastasia, der im New Yorker Park-Sheraton Hotel in einem Friseursessel erschossen worden war, war bisher ohne Erfolg geblieben.
Der Flug der DC-7 B sollte vier Stunden dauern, und schon bald nach dem Start wurde der Lunch serviert. Nach dem Essen wandte Andrew sich an seine Frau: »Du hast vorhin gesagt, ich könnte etwas tun. Wegen der Pharma-Vertreter.«
»Ja, das stimmt.« Celia Jordan machte es sich in ihrem Sitz bequem, dann nahm sie Andrews Hand und hielt sie fest. »Es hat mit dem Gespräch zu tun, das wir an dem Tag führten, als du das Lotromycin angewendet hast und sich deine Patientin wieder erholte. Da hast du gesagt, daß du deine Meinung über die Pharma-Industrie ändern und sie nicht mehr so ungünstig beurteilen würdest, und ich sagte: Ändere sie nicht zu sehr, denn es gibt Dinge, die nicht in Ordnung sind und die auch ich gern ändern würde. Erinnerst du dich daran?«
»Wie könnte ich das vergessen haben?« Er lachte. »Jede Einzelheit jenes denkwürdigen Tages hat sich mir tief eingeprägt.«
»Gut! Dann will ich dir ein bißchen von der Vorgeschichte erzählen.«
Andrew sah seine Frau von der Seite an und bewunderte wieder einmal, wieviel Energie und Intelligenz in dieser kleinen, attraktiven Person steckten. In den Jahren, die vor ihnen lagen, würde er aufmerksam und immer informiert sein müssen, um mit Celia Schritt halten zu können. Jetzt konzentrierte er sich darauf zuzuhören.
1957, begann Celia, hatte sich die pharmazeutische Industrie in gewisser Hinsicht noch nicht von ihren Wurzeln gelöst.
»Es ist noch gar nicht lange her, da verkauften wir auf Jahrmärkten Schlangenöl und Fruchtbarkeitssäfte und eine Pille, die gegen alles war - von Kopfschmerzen bis Krebs. Den Verkäufern, die diese Dinge an den Mann brachten, war es egal, was sie behaupteten oder versprachen. Ihnen ging es nur ums Verkaufen. Sie gaben jede Garantie ab, versprachen jeden Erfolg, nur um zum Ziel zu gelangen. Häufig wurden diese Quacksalbereien und Volksheilmittel von Familien auf den Markt gebracht«, fuhr Celia fort, »und einige dieser Familien eröffneten dann die ersten Drugstores. Später führten ihre Nachkommen die Familientradition fort und errichteten Fabriken, die Arzneimittel herstellten und im Verlauf der Jahre immer größer, wissenschaftlicher und solider wurden. Und allmählich änderten sich auch die ungehobelten Verkaufsmethoden der frühen Jahre. Allerdings nicht grundsätzlich. Das lag zum Teil daran, daß die Angehörigen der Familien weiterhin alles unter Kontrolle hatten und ihnen die harten Verkaufsmethoden noch im Blut lagen.«
»Aber es gibt doch nicht mehr viele Familien, die über Arzneimittelfirmen herrschen«, warf Andrew ein.
»Nicht sehr viele, aber trotzdem besitzen ein paar noch bedeutende Geschäftsanteile. Geblieben jedoch sind, auch wenn jetzt Angestellte die Firmen leiten, die altmodischen, unmoralischen und harten Verkaufsmethoden. Vor allem, wenn es gilt, neue Produkte anzupreisen. Da erzählen dann manche Vertreter das Blaue vom Himmel, um die Arzte dazu zu bringen, die von ihnen vertriebenen Medikamente zu verschreiben. Und obgleich die Arzneimittelfirmen offiziell behaupten, sie würden dergleichen nicht dulden, wissen sie, daß es trotzdem vorkommt.«
Sie wurden von der Stewardeß unterbrochen, die verkündete, daß man in vierzig Minuten in New York landen und die Bar bald geschlossen werde. Celia bestellte sich rasch ihr Lieblingsgetränk, einen Daiquiri, und Andrew Scotch mit Soda. Als die Getränke serviert waren und sie sich wieder in ihren Sitzen zurücklehnten, sagte Andrew: »Sicher, ich habe Ähnliches schon selbst erlebt. Ich kenne auch Geschichten von anderen Ärzten - über Patienten, die krank wurden oder sogar starben, nachdem sie etwas eingenommen hatten, und das alles nur, weil irgendwelche Vertreter den Ärzten falsche Informationen geliefert hatten.« Er trank einen Schluck. »Und dann gibt es auch noch die Werbung der Pharma-Industrie. Die Ärzte werden damit geradezu überschwemmt. Aber ein Großteil der Werbung sagt den Ärzten nicht, was sie eigentlich wissen sollten - vor allem nichts über die Nebenwirkungen, nicht einmal über die gefährlichen. Bei all den Problemen, die man im Kopf hat, kommt man gar nicht auf die Idee, der Pharma-Vertreter oder gar die Firma selbst könne darauf aus sein, einen absichtlich zu täuschen.«
»Aber so was kommt vor«, sagte Celia, »und hinterher wird es unter den Teppich gekehrt, und niemand will etwas davon wissen. Ich weiß das, weil ich versucht habe, bei Felding-Roth darüber zu reden.«
»Und was hast du nun vor?«
»Ich will eine Dokumentation zusammenstellen. Eine Dokumentation, die niemand in Zweifel ziehen kann und die ich zu gegebener Zeit verwenden werde. Von jetzt an - das ist Firmenpolitik - werde nicht mehr ich, sondern irgend jemand anders von Felding-Roth zu dir und Dr. Townsend in die Praxis kommen.
Meine Bitte an dich geht nun dahin, daß du jedesmal, wenn du feststellst, daß ein Vertreter - von welcher Firma auch immer -dir falsche Informationen gegeben hat oder dich nicht vor irgendwelchen Nebenwirkungen gewarnt oder eine wichtige Information verschwiegen hat, einen Bericht schreibst und ihn mir gibst. Ich habe schon ein paar andere Ärzte, die das für mich tun, Ärzte, die mir vertrauen, in Nebraska und auch in New Jersey, und meine Akte wird immer dicker.«
Andrew stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist aber eine ziemlich große Sache. Und nicht ohne Risiko.«
»Man muß Risiken eingehen, wenn man etwas verbessern will. Ich habe keine Angst.«
»Nein«, sagte er, »und ich glaube auch nicht, daß du je welche haben wirst.«
»Ich will dir was sagen, Andrew: Wenn sie großen Pharma-Konzerne nicht bald anfangen, ihr Haus selbst reinzuhalten, wird das über kurz oder lang die Regierung für sie tun. Im Kongreß wird schon Kritik laut. Und wenn erst neue Gesetze mit großen Einschränkungen beschlossen werden, wird die Pharma-Indu-strie es bereuen, nichts aus eigener Initiative unternommen zu haben.«
Andrew schwieg nachdenklich. Schließlich sagte er: »Ich hab' dich das noch nicht gefragt, Celia, aber vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, darüber zu reden.«
Seine Frau blickte ihn ernst an. Andrew wählte seine Worte mit Bedacht.
»Du hast davon gesprochen, daß du Karriere machen möchtest. Dagegen habe ich nichts, und ich bin auch überzeugt, daß du ohne das nicht glücklich sein würdest. Aber ich habe in den vergangenen gemeinsamen Wochen den Eindruck gewonnen, daß du dir unter einer Karriere mehr vorstellst als die Tätigkeit einer Pharma-Vertreterin.«
»Stimmt. Ich will ganz nach oben«, erwiderte Celia gelassen.
»Ganz nach oben?« fragte Andrew verwundert. »Du meinst, an die Spitze eines großen Pharma-Konzerns?«
»Wenn ich kann, ja. Aber auch wenn ich es nicht bis ganz nach oben schaffe, will ich doch so weit nach oben kommen, daß ich Einfluß und Macht habe.«
»Das willst du wirklich? Macht?« fragte er zweifelnd.
»Ich weiß, was du denkst, Andrew - daß Macht besessen und korrupt machen kann. Ich beabsichtigte, weder das eine noch das andere zu werden. Ich wünsche mir nur ein erfülltes Leben, mit Ehe und Kindern, aber auch noch etwas darüber hinaus - eine be-sondere Leistung.«
»An dem Tag in der Cafeteria . . .« Andrew verbesserte sich: »An jenem erinnernngswürdigen Tag sagtest du, daß es für die Frauen an der Zeit sei, Dinge zu tun, die sie noch nie getan haben. Das glaube ich auch, und es gibt schon hier und dort Beispiele dafür, auch in der Medizin. Aber ich frage mich, wie es in deiner Branche ist - in der Pharmaindustrie. Das ganze Geschäft ist konservativ und wird von Männern beherrscht - das hast du selbst gesagt.«
Celia lächelte. »Schrecklich!«
»Ist denn die Zeit schon reif - für jemanden wie dich? Ich frage das nur, Celia, weil ich nicht gern mit ansehen möchte, wie man dich verletzt oder unglücklich macht, während du große Anstrengungen auf dich nimmst und am Ende vielleicht doch nichts dabei herauskommt.«
»Ich werde nicht unglücklich sein. Das verspreche ich dir.« Sie drückte Andrews Arm. »Ich bin es nicht gewöhnt, daß sich jemand um mich Sorgen macht, Liebling, aber es gefällt mir. Und was deine Frage betrifft: Nein, die Zeit ist in dieser Branche noch nicht reif - weder für mich noch für andere Frauen mit gewissen Ambitionen. Aber ich habe einen Plan.«
»Hätte ich mir denken können, daß du dir schon alles zurechtgelegt hast.«
»Als erstes«, sagte Celia, »habe ich die Absicht, mich in meinem Job so zu bewähren, daß Felding-Roth es sich gar nicht leisten kann, mich nicht zu befördern.«
»Darauf möchte ich wetten. Aber du sagst >als erstesc. Ist das noch nicht alles?«
Celia schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die Geschichte anderer Firmen genau angesehen. Die Leute, die bis zur Spitze gelangten, schafften es, indem sie sich an die Rockschöße eines ändern hängten. Versteh mich bitte nicht falsch - sie mußten hart arbeiten und sehr gut sein. Aber vorher haben sie sich irgend jemanden ausgesucht, der ein bißchen höher stand und schon etwas älter war und von dem sie glaubten, daß er vor ihnen auf dem Weg zur Spitze sein würde. Dann machten sie sich bei dieser Person beliebt und nützlich, erwiesen sich als loyal und folgten ihr. Der springende Punkt ist der: Wenn ein älterer Angestellter befördert wird, ist es ihm lieb, wenn jemand, an den er sich gewöhnt hat, der etwas kann und dem er vertraut, mit ihm aufrückt.«
»Und hast du jemanden im Auge, dem du folgen willst?«
»Das habe ich schon vor längerer Zeit beschlossen«, erklärte Celia. »Es ist Sam Hawthorne.«
»Ach, wirklich!« Andrew zog die Augenbrauen hoch. »Dieser Sam scheint ja in unserem Leben eine entscheidende Rolle zu spielen.«
»Nur in geschäftlicher Hinsicht. Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein.«
»Na schön. Weiß Sam von deiner Entscheidung?«
»Natürlich nicht. Aber Lilian Hawthorne weiß es. Wir haben es vertraulich besprochen, und Lilian ist einverstanden.«
»Kommt mir ganz so vor«, sagte Andrew, »als hättet ihr Frauen ein richtiges Komplott geschmiedet.«
»Und warum nicht?« Einen Augenblick kam Celias Härte zum Vorschein. »Eines Tages wird das alles vielleicht nicht mehr nötig sein. Aber im Augenblick ist die Geschäftswelt ein einziger privater Männerclub. Deshalb muß einer Frau jedes Mittel, das sich ihr bietet, recht sein, um da reinzukommen und aufzusteigen.«
Andrew überlegte, dann sagte er: »Bis jetzt hab' ich noch nicht viel darüber nachgedacht; schätze, die meisten Männer tun es nicht. Aber was du sagst, leuchtet mir ein. Also gut, Celia, wenn du dich auf den Weg nach oben machst - und ich glaube fast, daß du es schaffen wirst -, werde ich auf der ganzen Strecke hinter dir bleiben.«
Celia beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuß. »Das habe ich gewußt, und das ist auch einer der Gründe, warum ich dich geheiratet habe.«
Sie spürten, wie die Flugzeugmotoren gedrosselt wurden, und dann leuchteten die Zeichen »Fasten Seat Belts« auf. Durch die Fenster schimmerten die Lichter von Manhattan in der Abenddämmerung. »In wenigen Minuten werden wir auf dem Idlewild International Airport landen«, verkündete die Stewardeß.
Wieder ergriff Celia Andrews Hand.
»Und wir starten in ein gemeinsames Leben«, sagte sie. »Was soll da noch schiefgehen?«
5
Als Andrew und Celia zu ihrer Arbeit zurückkehrten, stellten beide fest, daß sie, jeder auf seine Art, berühmt geworden waren.
Wie bei vielen bedeutenden medizinischen Entwicklungen hatte es eine Weile gedauert, bis sich die Nachricht über Andrews erfolgreiche Anwendung von Lotromycin verbreitet hatte, aber jetzt, sechs Wochen nach Mary Rowes bemerkenswerter Genesung, ging sie im ganzen Land durch die Zeitungen.
Der Daily Record, das Lokalblatt von Morristown, brachte die Meldung unter der Schlagzeile: Einheimischer Arzt wendet Wundermittel an
»Wundersame« Genesung einer Patientin Der Newark Star-Ledger, der die lokalen Zeitungen auf Besonderheiten hin durchforstete, griff das Thema auf, was wiederum die Aufmerksamkeit von Wissenschaftsredakteuren der New York Times und der Time erregte. Als Andrew zurückkam, fand er die dringende Bitte vor, sich bei beiden Publikationen zu melden.
Die Time, mit einem Hang fürs Romantische, erzielte mit ihrem Bericht eine größere Publicity, weil sie auf Andrews und Celias Heirat einging.
Außerdem erhielt Andrew vom New England Journal ofMedicine die Nachricht, daß seine Arbeit über Lotromycin vorbehaltlich einiger Korrekturen demnächst veröffentlicht werden würde. Die vorgeschlagenen Änderungen erwiesen sich als geringfügig, und Andrew stimmte ihnen zu.
»Ich gestehe gern, daß ich neidisch bin«, bemerkte Dr. Noah Townsend, als Andrew ihm vom New England Journal erzählte. »Aber ich tröste mich mit dem Glanz, den die Angelegenheit schon jetzt auf unsere Praxis wirft.«
Später verriet Hilda, Townsends Frau, die Anfang Fünfzig und noch sehr attraktiv war: »Noah wird es Ihnen nicht sagen, aber er ist so stolz auf Sie, Andrew, daß er seit neuestem von Ihnen wie von einem Sohn spricht - ein Sohn, den wir uns beide so sehr gewünscht, aber nie bekommen haben.«
Celia, die persönlich keine so große Berühmtheit erlangte, stellte immerhin fest, daß sich ihre Position bei Felding-Roth ganz eindeutig geändert hatte.
Früher hatte sie in der Firma einen Anachronismus dargestellt, war für viele Anlaß zu Neugier oder nachsichtigem Lächeln gewesen - die einzige Vertreterin der Firma, die sich trotz anfänglicher und unerwarteter Erfolge in Nebraska weiterhin bewähren mußte. Das war nun vorbei. Die Anwendung des Lotromycin und die darauffolgende Publicity, die Felding-Roth genoß, hatte sowohl das Mittel als auch Celia auf den Weg zum Erfolg gebracht.
Innerhalb der Firma war ihr Name jetzt bis hinauf zu den Führungskräften bekannt, einschließlich Eli Camperdowns, des Präsidenten von Felding-Roth, der Celia einen Tag nach ihrer Rückkehr zu sich rufen ließ.
Mr. Camperdown, ein schlanker, blasser Industrieveteran von Mitte Sechzig, der immer makellos gekleidet war und den noch nie jemand ohne eine rote Rose im Knopfloch angetroffen hatte, empfing Celia in seinen überladen wirkenden Büroräumen im elften Stock, der Direktionsetage des Felding-Roth-Gebäudes in Boonton.
»Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Eheschließung«, begrüßte er Celia und fügte mit einem Lächeln hinzu: »Ich hoffe, daß Ihr Ehemann von jetzt an nur noch Felding-Roth-Produkte verschreiben wird.«
Celia bedankte sich, beschloß aber, die letzte Bemerkung zu übergehen, und verkniff sich auch, darauf hinzuweisen, daß ihr Mann in bezug auf Arzneimittel und medizinische Fragen unabhängig sei.
»Sie sind eine Art Legende geworden, junge Frau«, fuhr der Präsident fort. »Der lebende Beweis dafür, daß eine tüchtige Frau gelegentlich genauso gut sein kann wie ein Mann.«
»Ich hoffe sehr«, bemerkte Celia mit honigsüßer Stimme, »daß Sie eines Tages auch noch das >gelegentlich< weglassen, Sir. Ich bin überzeugt, daß es in dieser Branche noch eine ganze Reihe Frauen geben wird, die sogar besser sein werden als Männer.«
Zunächst schien Camperdown verblüfft, er runzelte die Stirn. Dann faßte er sich wieder und fuhr jovial fort: »Gewiß, es hat schon merkwürdigere Dinge gegeben. Man wird sehen. Man wird sehen.«
Dann stellte Camperdown Celia Fragen über ihre Verkaufserfahrungen und zeigte sich von ihren gut informierten, klaren Antworten beeindruckt. Schließlich zog der Präsident eine Uhr aus der Westentasche, warf einen Blick darauf und verkündete: »Ich halte gleich eine Sitzung ab, Mrs. Jordan. Es geht dabei um ein neues Präparat, das wir möglichst bald nach dem Lotromycin auf den Markt bringen wollen. Vielleicht haben Sie Lust, daran teilzunehmen.«
Als Celia zustimmte, ließ der Präsident ein halbes Dutzend Mitarbeiter hereinrufen, die im Sekretariat gewartet hatten. Nachdem alle miteinander bekannt gemacht waren, gingen sie in den Konferenzraum der Suite. Camperdown nahm am Kopfende des Tisches Platz.
Unter den Teilnehmern befanden sich Dr. Vincent Lord, der Leiter der Forschungsabteilung, ein noch ziemlich junger Wissenschaftler, der erst seit kurzem der Firma angehörte, der Leiter der Verkaufsabteilung, der kurz vor der Pensionierung stand, sowie vier weitere leitende Angestellte, darunter Sam Hawthorne. Mit Ausnahme von Sam - der einzige, den Celia kannte - starrten alle sie mit offener Neugier an. Das neue Mittel, um das es ging, war kein von Felding-Roth entwickeltes Präparat, wie Cam-perdown Celia erklärte, es handelte sich um eine Lizenz einer westdeutschen Firma, der Chemie-Grünenthal.
»Es ist ein Sedativum und so sicher, wie selten eins entwickelt worden ist«, erklärte der Präsident. »Es bewirkt einen normalen, erfrischenden Schlaf ohne unerwünschte Benommenheit am nächsten Morgen.« Das Produkt habe keine signifikanten Nebenwirkungen, fuhr er fort, und es sei so ungefährlich, daß man es sogar kleinen Kindern verabreichen könne. Es sei bereits in fast allen Ländern, außer in den USA, im Handel und sehr beliebt. Und nun habe Felding-Roth die Chance, die amerikanischen Rechte zu erwerben. Der Name des Mittels sei Thalidomid, fügte Mr. Camperdown hinzu.
Trotz der erwiesenen Unbedenklichkeit von Thalidomid mußten in den Vereinigten Staaten erst noch Versuche an Menschen durchgeführt werden, bevor die Food and Drug Administration, die staatliche Gesundheitsbehörde, das Mittel für den Verkauf freigab. »Unter den gegebenen Umständen«, brummte Camper-down, »und bei den erstklassigen ausländischen Ergebnissen, die uns vorliegen, ist das eine alberne, bürokratische Forderung, aber wir müssen uns beugen.«
Dann wurde darüber diskutiert, wo und wie die Versuche mit Thalidomid durchgeführt werden sollten. Dr. Lord, der Leiter der Forschungsabteilung, schlug vor, mit etwa fünfzig Privatärzten zusammenzuarbeiten, die das Mittel an Patienten erproben sollten; Felding-Roth würde die Ergebnisse dann an die FDA weitergeben. »Es sollte ein Gremium aus praktischen Ärzten, Internisten, Psychiatern und Gynäkologen sein«, erklärte er.
»Und wie lange soll diese ganze Salbaderei dauern?« fragte der Leiter der Verkaufsabteilung.
»Voraussichtlich drei Monate.«
»Würden nicht zwei genügen? Wir sollten das Präparat so bald wie möglich auf dem Markt haben.«
»Das ließe sich vielleicht machen.«
Ein anderer gab zu bedenken, die Versuche könnten zu breit gestreut sein. Die Konzentration auf ein Krankenhaus dürfte einfacher sein und schneller zu Ergebnissen führen.
Nachdem sie eine Weile diskutiert hatten, sagte Camperdown mit einem Lächeln: »Vielleicht hat unsere junge Dame auch etwas zu diesem Thema zu sagen.«
»Ja, das habe ich«, erklärte Celia.
Alle Köpfe drehten sich zu ihr um.
Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, war sich darüber im klaren, daß ihre Anwesenheit in diesem Kreis ungewöhnlich war, ein Privileg; es wäre daher nicht klug, alles zu verderben, indem sie sich zu selbstsicher gab und zu sehr vorpreschte.
»Den Vorschlag, das Mittel von Frauenärzten verschreiben zu lassen, finde ich ein wenig bedenklich«, sagte Celia. »Das hieße, daß es auch von schwangeren Frauen eingenommen würde, und während der Schwangerschaft sind Experimente gewöhnlich tabu.«
»Das trifft in diesem Fall nicht zu«, unterbrach Dr. Lord sie gereizt. »Thalidomid wurde in Europa und andernorts schon auf breiter Basis angewendet, und schwangere Frau waren davon nicht ausgeschlossen.«
»Trotzdem«, sagte Sam Hawthorne ruhig. »Was Mrs. Jordan sagt, stimmt.«
»Eine Frage, die man stellen könnte«, fuhr Celia fort, »wäre: Welche Menschen haben die größten Schlafschwierigkeiten und daher einen besonderen Bedarf an Schlaftabletten? Nach meinen Erfahrungen als Vertreterin - bei Besuchen in Krankenhäusern und Heimen ebenso wie bei Ärzten - würde ich sagen: alte Menschen, vor allem Patienten, die an Altersschwäche leiden.«
Die Herren hörten ihr nun aufmerksam zu. Einige nickten zustimmend, nur Dr. Lord saß steif da.
»Ich würde deshalb empfehlen«, fuhr Celia fort, »Thalidomid in ein oder zwei Altersheimen an alten Leuten zu erproben. Falls erwünscht, könnte ich zwei Heime nennen - eins in Lincoln in Nebraska, das andere in der Nähe von Plainfield, hier bei uns. Beide werden hervorragend geführt und würden bestimmt brauchbare Resultate liefern. Ich kenne die leitenden Ärzte persönlich und könnte den Kontakt herstellen.«
Als Celia geendet hatte, herrschte unsicheres Schweigen. Eli Camperdown schien überrascht:
»Ich weiß nicht, wie sie darüber denken, aber was Mrs. Jordan vorgeschlagen hat, scheint mir sehr vernünftig.«
Nachdem man ihnen die Richtung gezeigt hatte, nickten die anderen zustimmend, nur Dr. Lord äußerte sich nicht. Celia spürte zum ersten Mal, daß zwischen ihr und dem Leiter der Forschungsabteilung eine feindselige Spannung herrschte, die auch in Zukunft anhalten sollte.
Kurz darauf wurde beschlossen, daß Celia am nächsten Tag die Ärzte in den beiden Heimen anrufen sollte. Sobald deren Einverständnis vorlag, konnte die Forschungsabteilung tätig werden. Als die Sitzung aufgehoben wurde, verabschiedete sich Celia als erste und wurde von lächelnden Gesichtern und freundschaftlichem Händeschütteln begleitet.
Etwa eine Woche später, nachdem Celia den gewünschten Kontakt hergestellt hatte, erfuhr sie von Sam Hawthorne, daß die Erprobung von Thalidomid schon bald in beiden Heimen durchgeführt werden würde.
Eine eher unbedeutende Angelegenheit schien damit erledigt.
Trotz ihres anstrengenden Berufslebens fanden Andrew und Ce-lia Zeit, sich nach Häusern umzusehen, die zum Verkauf standen. Celia entdeckte eins, das ihr gut gefiel; es lag in Convent Station, einer Wohngegend in Morris Township mit Rasenflächen und Bäumen zwischen den weit verstreut liegenden Häusern. Als sie Andrew anrief, hob sie hervor, daß das Haus nur zwei Meilen von seiner Praxis entfernt und das St. Bede's Hospital fast noch näher war. »Das ist wichtig«, erklärte Celia, »denn ich möchte nicht, daß du lange unterwegs bist, vor allem nicht, wenn du nachts herausgeholt wirst.«
Bis zur Felding-Roth-Zentrale in Boonton waren es zehn Meilen mit dem Auto. Da Celia jedoch meistens in anderen Teilen von New Jersey zu tun hatte, spielte das keine Rolle.
Aber das große unbewohnte und vernachlässigte Haus im Kolonialstil mit weißem Gebälk erschreckte Andrew. »Diese heruntergekommene Scheune ist nichts für uns, Celia!« protestierte er. »Und selbst wenn wir es aufmöbeln, was fast unmöglich erscheint - sag mir bitte, was wir mit fünf Schlafzimmern anfangen sollen!«
»Eins für uns«, erklärte seine Frau geduldig, »eins für jedes der beiden Kinder; und wenn sie erst mal da sind, werden wir jeman-den brauchen, der im Haus wohnt, das wäre also noch mal eins.« Das fünfte Schlafzimmer sollte für Gäste sein. »Meine Mutter wird uns gelegentlich besuchen, und deine vielleicht auch.«
Celia stellte sich auch »ein gemütliches Arbeitszimmer« vor, »das wir uns teilen könnten, damit wir zusammen sind, wenn wir Arbeit mit nach Hause bringen.«
Obwohl Andrew nicht die Absicht hatte, eine derart unpraktische Idee zu unterstützen, lachte er. »Du planst wirklich weit voraus.«
»Wir wollen doch beide verhindern, daß wir alle paar Jahre umziehen müssen, nur weil wir immer mehr Platz brauchen und nicht vorausgeplant haben«, gab Celia zu bedenken. Sie sah sich um und ließ ihren Blick über den mit Spinnweben bedeckten, vor Schmutz starrenden Flur des Hauses schweifen, in dem sie an einem Sonntagnachmittag im Januar standen, während fahles Licht durch die schmutzigen Fenster fiel. »Dieses Haus muß nur geputzt, neu gestrichen und eingerichtet werden, dann ist es wunderschön - ein Zuhause, das wir nur verlassen werden, wenn wir unbedingt müssen.«
»Ich verlasse es augenblicklich«, sagte Andrew. »Was dieses Haus am meisten benötigt, ist ein Bulldozer.« Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Du hattest bisher in vielen Dingen recht, diesmal aber nicht.«
Celia gab nicht auf. Sie schlang die Arme um Andrew und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuß zu geben. »Ich glaube trotzdem, daß ich recht habe. Laß uns nach Hause gehen und noch mal darüber reden.« Ein paar Stunden später willigte Andrew zögernd ein, und bereits am nächsten Tag handelte Celia einen Preis aus, machte den Kauf perfekt und nahm eine Hypothek auf. Die Anzahlung bereitete keine Schwierigkeiten, denn sie hatten beide in den vergangenen Jahren etwas gespart und verdienten auch jetzt nicht schlecht.
Ende April zogen sie ein, und Andrew mußte zugeben, daß er sich in dem Haus getäuscht hatte. »Es gefällt mir schon jetzt«, sagte er gleich am ersten Tag. »Vielleicht werde ich es eines Tages richtig gern haben.« Die Renovierung hatte weniger gekostet als befürchtet, und das Ergebnis war beeindruckend.
Es war für beide eine glückliche Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil Celia inzwischen im fünften Monat schwanger war.
6
Die Geburt ihres ersten Kindes verlief - wie Andrew seinen Kollegen im Krankenhaus gern erzählte - »genau nach Celias Plan«.
Im August 1958, neun Monate und eine Woche nach ihrer Hochzeit, kam ein gesundes, siebeneinhalb Pfund schweres Mädchen zur Welt, ein zufriedenes Baby, das fast nie schrie. Sie nannten es Lisa. Schon während der Schwangerschaft hatte Celia, was den Verlauf der Geburt betraf, so feste Vorstellungen gehabt, daß es bald zu einem Zusammenstoß mit ihrem Arzt, Dr. Paul Keating, kam, einem von Andrews Kollegen im St. Bede's Hospital. Keating, ein etwas umständlicher Mann mittleren Alters, konnte es sich eines Tages nicht verkneifen, zu Andrew zu sagen:
»Ihre Frau ist wirklich ganz unmöglich.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Andrew verständnisvoll. »Aber das macht das Leben interessant. Merkwürdig ist nur, daß Dinge, die für andere Leute unmöglich erscheinen, für Celia überhaupt kein Problem darstellen.«
Ein oder zwei Tage zuvor hatte Celia zu Dr. Keating gesagt: »Ich beschäftige mich mit der natürlichen Geburt und habe auch schon mit den notwendigen Übungen begonnen.« Als der Arzt nachsichtig lächelte, fügte sie hinzu: »Ich möchte bei den Wehen aktiv mithelfen, den Augenblick der Geburt bewußt miterleben. Das heißt, daß ich keine Narkose benötige. Und einen Dammschnitt möchte ich auch nicht.«
Keatings Lächeln verschwand, er runzelte die Stirn. »Meine liebe Mrs. Jordan, diese beiden Entscheidungen muß Ihr Geburtshelfer während der Entbindung treffen.«
»Das finde ich aber nicht«, sagte Celia ruhig. »In diesem Fall wird man mich wahrscheinlich in einem Augenblick, wenn ich gerade nicht in bester Verfassung bin, überstimmen.«
»Und wenn ein Notfall eintritt?«
»Das ist etwas völlig anderes. In dem Fall müßten Sie die Situation beurteilen und tun, was nötig ist. Allerdings müßten Sie hinterher mich und auch Andrew davon überzeugen, daß es sich tatsächlich um einen Notfall gehandelt hat.«
Dr. Keating brummte etwas vor sich hin, dann sagte er: »Und was die Episiotomie betrifft, so soll durch den Dammschnitt direkt vor der Geburt verhindert werden, daß ein Riß entsteht, wenn der Kopf des Babys durchtritt - ein Riß, der sehr schmerzhaft ist und nicht so gut heilt wie ein sauberer chirurgischer Schnitt.«
»O doch, das ist mir schon klar«, sagte Celia. »Aber ich bin überzeugt, daß auch Sie sich darüber im klaren sind, wie sehr die Zahl der Ärzte und Hebammen zunimmt, die mit dieser Ansicht nicht übereinstimmen.«
Celia kümmerte sich nicht um die wachsende Mißbilligung des Arztes und fügte hinzu: »Es gibt eine ganze Menge Berichte darüber, daß solche Risse schneller verheilt sind als Dammschnitte, bei denen Infektionen oder monatelange Schmerzen auftraten.«
Dr. Keating betrachtete sie mürrisch. »Sie scheinen auf alles eine Antwort zu haben.«
»Durchaus nicht«, versicherte Celia. »Aber es handelt sich hier schließlich um meinen Körper und mein Baby.«
»Da wir schon von Ihrem Körper reden«, reagierte der Arzt gereizt, »möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß durch das spätere Vernähen die Festigkeit der Vagina erhalten bleibt, auch wenn das nicht der Zweck einer Episiotomie ist.«
»Ja, natürlich«, bestätigte Celia. »Ich bin mir im klaren, daß die Scheidenfestigkeit dem erhöhten Genuß meines Partners dient. Und da ich von meinem Mann in dieser Hinsicht keine Klagen hören möchte, Doktor, werde ich, sobald das Baby da ist, mit Übungen beginnen, die die Beckenmuskeln stärken.«
Kurz darauf wechselte Celia im beiderseitigen Einverständnis den Arzt und wurde die Patientin von Dr. Eunice Nashman, der zwar älter als Dr. Keating, aber jung genug geblieben war, um viele von Celias Ideen zu teilen.
»Ihre Frau ist wirklich bemerkenswert«, vertraute Eunice Nashman Andrew nach Lisas Geburt an. »Es gab Augenblicke, in denen sie wirklich große Schmerzen hatte und ich sie fragte, ob sie ihre Meinung über die Narkose ändern wolle.«
Andrew, der vorgehabt hatte, bei der Geburt dabeizusein, aber dringend zu einem seiner Patienten gerufen worden war, fragte neugierig: »Und was hat sie gesagt?«
»Sie sagte nur: >Nein, aber wenn mich bitte jemand festhalten könnte.< Und da hat eine der Schwestern den Arm um Ihre Frau gelegt und ihr Mut zugesprochen, und mehr brauchte sie nicht. Und nachdem Ihre Tochter geboren ist, haben wir ihr das Baby nicht weggenommen, wie es üblich ist, sondern haben es bei ihr gelassen, und die beiden waren zusammen so friedlich, daß es wunderbar anzusehen war.«
Wie Celia es von Anfang an vorgehabt hatte, ließ sie sich ein Jahr lang von ihrer Arbeit beurlauben, um sich voll und ganz ihrer Tochter Lisa zu widmen. Sie nutzte diese Zeit auch, um die Einrichtung des Hauses in Convent Station zu vervollkommnen, das alle ihre Erwartungen erfüllte. »Ich mag es wirklich gern«, erklärte auch Andrew eines Tages.
Die ganze Zeit aber blieb Celia mit Felding-Roth in Kontakt. Sam Hawthorne war inzwischen weiter aufgestiegen und zum Verkaufsleiter für den Inlandsbereich ernannt worden. Er hatte Celia einen guten Posten versprochen, wenn sie bereit wäre, zur Firma zurückzukommen.
Es war ein erfolgreiches Jahr für Felding-Roth Pharmaceuti-cals. Einige Monate, nachdem Dr. Andrew Jordan das Lotromy-cin angewendet und einen so durchschlagenden Erfolg erzielt hatte, gab die Food and Drug Administration das Mittel zum Verkauf frei. Lotromycin war auch weiterhin erfolgreich, erntete weltweites Lob und gehörte zu den einträglichsten Produkten in der Firmengeschichte. Celias Beitrag zu dem erfolgreichen Einsatz von Lotromycin veranlaßte die Firmenleitung, Sam Haw-thornes Wunsch nach ihrer Rückkehr zu unterstützen.
Aus historischer Sicht war 1959 kein besonders spektakuläres Jahr. Alaska wurde im Januar, Hawaii im Juli ein selbständiger Staat. Im April wurde der Sankt-Lorenz-Seeweg fertiggestellt. Im Mai versprach der israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion aller Welt, daß sein Land mit den arabischen Nachbarn Frieden schließen würde. Noch im selben Monat flogen zwei Affen an Bord einer amerikanischen Rakete dreihundert Meilen weit in den Weltraum - und überlebten. Man hoffte, daß dies eines Tages auch mit Menschen möglich sein würde.
Ein Ereignis, das Celia aufmerksam verfolgte, waren die Anhörungen eines Unterausschusses des US-Senats, dessen Vorsitz Senator Estes Kefauver führte, die im Dezember begannen. Der demokratische Senator aus Tennessee mit Ambitionen für die Präsidentschaft hatte während früherer Debatten über Verbrechensbekämpfung starkes Interesse auf sich gezogen und wünschte, erneutes Aufsehen zu erregen. Zielscheibe der neuen Anhörungen war die Pharma-Industrie.
Die meisten aus der Branche taten Kefauver als lästigen, unbedeutenden Störenfried ab. Die Pharma-Industrie hatte in Washington eine starke Lobby, und man rechnete nicht mit irgendwelchen Langzeitwirkungen. Celia war anderer Ansicht, aber das vertraute sie nur Andrew an.
Schließlich, gegen Ende des Jahres, nahm Celia ihre Arbeit als Vertreterin in ihrem Verkaufsgebiet in New Jersey wieder auf. Schon vorher hatte sie über das St. Bede's Hospital eine pensionierte Krankenschwester gefunden, die tagsüber ins Haus kam und sich um Lisa kümmerte. Es war typisch für Celia, daß sie dieses Arrangement testete, indem sie mit Andrew einen Ausflug aufs Land machte und die ältere Frau sich selbst überließ. Alles klappte ausgezeichnet.
Gelegentlich kam Celias Mutter Mildred aus Philadelphia zu Besuch und freute sich, wenn die Tagesschwester einmal nicht da war und sie aushelfen und dabei ihre Enkelin besser kennenlernen konnte.
Mildred und Andrew verstanden sich ausgezeichnet, und Ce-lia kam ihrer Mutter mit der Zeit so nah wie nie zuvor. Das lag vielleicht auch daran, daß Celias jüngere Schwester Janet jetzt sehr weit entfernt in den Vereinigten Emiraten lebte, nachdem sie einen Geologen geheiratet hatte, der bei einer ölgesellschaft tätig war.
Und so erhielten Celia und Andrew von mehreren Seiten Unterstützung und konnten sich wieder ganz ihrer beruflichen Karriere widmen.
Bei Andrew gab es allerdings etwas, das ihm die Arbeit ein wenig verleidete, ohne daß er wußte, welche Bedeutung es hatte. Es betraf Noah Townsend.
Andrews Seniorpartner hatte einige Male in größeren Zeitabständen Anzeichen einer gewissen emotionalen Instabilität, ein »wunderliches Benehmen«, an den Tag gelegt. Was Andrew vor allem irritierte, war die Tatsache, daß dieser Zustand dem sonst so ausgeglichenen Wesen des älteren, würdigen Arztes so wenig entsprach.
Drei Vorfälle hatte Andrew selbst miterlebt.
Einmal passierte es, daß Noah, als er sich mit Andrew im Sprechzimmer unterhielt, die Geduld verlor, nur weil sie von einem Telefonanruf unterbrochen wurden. Er wies den Anrufer schroff ab, riß dann kurzerhand die Telefonleitung aus der Wand und warf den Apparat quer durchs Zimmer, so daß er gegen einen Aktenschrank krachte und zerbrach. Dann redete Noah weiter, als sei nichts geschehen.
Am nächsten Tag stand ein neues Telefon auf Noahs Schreibtisch; das Vorkommnis wurde nicht mehr erwähnt.
Einige Wochen später ließ Andrew sich von Noah im Auto mitnehmen. Plötzlich trat er zu Andrews Entsetzen den Gashebel durch, und sie rasten durch Morristown, schleuderten um Straßenecken und mißachteten eine rote Ampel. Andrew schrie auf, aber Noah schien ihn nicht zu hören. Sie hatten Glück, daß es keinen Unfall gab, bis sie den Parkplatz des St. Bede's Hospitals erreichten und dort mit quietschenden Reifen zum Stehen kamen. Andrew protestierte, aber Noah zuckte nur die Achseln, und als Andrew ihn beim nächsten Mal sah, fuhr er wieder mit ganz normaler Geschwindigkeit.
Ein dritter Vorfall, der besorgniserregendste, hatte einige Zeit später mit Mrs. Parsons, ihrer Sekretärin und Sprechstundenhilfe, zu tun, die schon lange vor Andrews Zeit für Noah gearbeitet hatte. Violet Parsons war Mitte Sechzig, wurde schon etwas langsam und war zuweilen vergeßlich. Aber es handelte sich selten um etwas Wichtiges, und sie konnte mit den Patienten umgehen. Sie und Andrew kamen gut miteinander aus, und ihre Verehrung für Noah, die fast an Bewunderung grenzte, war Anlaß zu heimlichen Spaßen.
Bis zu der Sache mit dem Scheck.
Als sie einen zur Begleichung einer Büromaterialrechnung ausschrieb, unterlief ihr ein Fehler. Die Rechnung belief sich auf 45 Dollar. Sie vertauschte die beiden Ziffern, stellte den Scheck über 54 Dollar aus und legte ihn zur Unterschrift auf Noahs Schreibtisch. Das Ganze war nicht weiter schlimm, denn der überschüssige Betrag würde auf der Abrechnung des nächsten Monats als Gutschrift erscheinen.
Aber Noah kam mit dem Scheck in der Hand aus seinem Sprechzimmer gestürmt und schrie Violet Parsons an: »Sie dumme Gans! Wollen Sie mich ruinieren?«
Andrew, der in diesem Augenblick die Praxis betrat, wollte seinen Ohren nicht trauen. Genausowenig wie Violet, die würdevoll aufstand und erwiderte: »So hat noch niemand mit mir gesprochen, Dr. Townsend, und ich werde es auch nicht zulassen. Ich gehe und komme nie wieder.«
Als Andrew vermitteln wollte, fuhr Noah ihn an: »Halten Sie sich da raus!« Und Violet sagte: »Vielen Dank, Dr. Jordan, aber hier kann ich nicht mehr arbeiten.«
Am nächsten Tag wollte Andrew das Thema noch einmal ansprechen, aber Noah brummte nur: »Sie hat ihre Arbeit nicht ordentlich gemacht. Ich habe schon eine Neue eingestellt; sie fängt morgen an.«
Hätten sich derartige Vorfälle nicht in so großen Abständen ereignet, wäre Andrew vielleicht nachdenklicher geworden. So aber meinte er: Wenn man älter wird, führt der tägliche Streß schneller zu Spannungen, die sich irgendwann entladen. Das ist nur menschlich. Andrew spürte zuweilen selbst eine gewisse Gereiztheit, die er aber im Zaum hielt. Noah hatte sie offenbar nicht zügeln können.
Dennoch beunruhigten ihn diese Vorfälle.
Celia hatte beruflich mehr Glück.
An einem Tag im Februar 1960, als sie in die Zentrale von Fel-ding-Roth gefahren war, um dort etwas zu erledigen, ließ Sam Hawthorne sie in sein Büro rufen. Sam war gut gelaunt und begrüßte Celia herzlich. Die neue Verantwortung, die ihm mit der Leitung der Verkaufsabteilung Inland übertragen worden war, schien ihn nicht übermäßig zu strapazieren - ein gutes Zeichen, dachte sie, auch in Anbetracht ihrer eigenen Pläne. Aber Sams Haare hatten sich merklich gelichtet; an seinem vierzigsten Geburtstag in genau einem Jahr würde er wahrscheinlich völlig kahl sein, was ihm aber nicht schlecht zu Gesicht stehen würde.
»Ich wollte wegen der Verkaufstagung mit Ihnen reden.«
Celia wußte bereits, daß die Verkaufstagung von Felding-Roth, die alle zwei Jahre abgehalten wurde, im April im New Yorker Waldorf-Astoria Hotel stattfinden sollte. Es war eine geschlossene Veranstaltung, an der alle Angestellten der Firma, die mit dem Verkauf in den USA zu tun hatten, sowie die Mitarbeiter der ausländischen Niederlassungen teilnahmen. Auch der Vorsitzende, der Präsident und einige andere Angehörige der Geschäftsleitung würden während des dreitägigen Treffens anwesend sein.
»Ich rechne damit dabeizusein«, sagte Celia. »Und ich hoffe, Sie wollen mir jetzt nicht sagen, daß nur Männer eingeladen sind.«
»Erstens sind nicht nur Männer eingeladen, und zweitens möchte die Firmenleitung, daß Sie einen Vortrag halten.«
»Aber gern«, sagte Celia. »Das dachte ich mir«, bemerkte Sam trocken. »Und jetzt zum Thema. Ich habe mit Eli Camperdown gesprochen, und er und die anderen würden gern etwas über Ihre Verkaufserfahrungen hö-ren - als Frau. Das Thema, das vorgeschlagen wurde, heißt: >Der Verkauf von Arzneimitteln aus der Sicht einer Frauc.«
»Das ist zwar nicht direkt was für 'n Kinoplakat«, bemerkte Ce-Ha, »aber ich werd's trotzdem tun.«
»Der Vortrag sollte möglichst locker und humorvoll sein«, fuhr Sam fort. »Nichts Schweres oder Ernstes. Nichts Kontroverses. Und nicht länger als zehn bis fünfzehn Minuten.«
»Ich verstehe«, sagte Celia nachdenklich.
»Wenn Sie wollen, können Sie einen Entwurf einreichen. Ich würde ihn durchsehen und vielleicht ein paar Vorschläge machen.«
»Ich werde mich an dieses Angebot gern erinnern«, sagte Ce-lia, die bereits Ideen für ihre Rede, aber keineswegs die Absicht hatte, irgend etwas einzureichen.
»Die Umsätze in Ihrem Gebiet waren ausgezeichnet«, lobte Sam. »Weiter so!«
»Das habe ich auch vor«, bestätigte Celia, »allerdings wären ein paar neue Produkte dabei sehr hilfreich. Was ist übrigens mit diesem Thalidomid geworden, von dem Mr. Camperdown vor einem Jahr gesprochen hat?«
»Wir haben es fallenlassen. Haben es der Chemie-Grünenthal zurückgegeben.«
»Warum?«
»Unsere Leute von der Forschung meinten, es sei kein gutes Präparat«, erklärte Sam. »Sie haben es in den Altersheimen getestet, die Sie uns vermittelt haben. Als Schlafmittel schien es nicht viel zu taugen.«
»Und das ist das Aus?«
»Was Felding-Roth betrifft, ja. Allerdings hörte ich gerade, daß Merrell es nehmen will. Sie nennen es Kevadon und wollen es hier bei uns und in Kanada ganz groß herausbringen. Bei dem Erfolg, den das Thalidomid in Europa hat, ist das nicht weiter erstaunlich«, fügte er hinzu.
»Sie scheinen darüber nicht gerade glücklich zu sein«, stellte Celia fest. »Glauben Sie, daß unsere Firma einen Fehler gemacht hat?«
Sam zuckte die Achseln. »Mag sein. Aber wir können nur das in den Handel bringen, was unsere Forschungsabteilung gutheißt, und dieses Mittel hat sie abgelehnt.« Er zögerte ein wenig.
»Ich will es Ihnen ruhig sagen, Celia: Manche haben Sie kritisiert, weil sich unsere Tests mit Thalidomid auf alte Menschen beschränkt haben und nicht auf breiterer Basis durchgeführt wurden - wie es Vincent Lord ursprünglich vorgeschlagen hatte.«
»Und Sie? Kritisieren Sie mich auch?«
»Nein. Ich habe Ihnen damals zugestimmt, wenn Sie sich erinnern.«
»Ja, ich weiß.« Celia dachte nach, dann fragte sie: »Und die anderen - sind die wichtig?«
»Für Sie?« Sam schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
An den folgenden Abenden und Wochenenden arbeitete Celia zu Hause an ihrer Rede für die Verkaufstagung. In dem ruhigen, gemütlichen Arbeitszimmer, das sie und Andrew sich teilten, umgab sie sich mit allen möglichen Papieren und Aktennotizen.
»Du heckst da doch irgendwas aus, nicht wahr?« fragte Andrew eines Sonntags, als er ihr zusah.
»Stimmt«, gab sie zu.
»Darf ich erfahren, was?«
»Ich erzähl's dir später«, sagte Celia. »Wenn ich es dir jetzt sage, versuchst du bestimmt, mich davon abzubringen.«
Andrew lächelte und war klug genug, es dabei zu belassen.
7
»Ich weiß, daß die meisten von Ihnen verheiratet sind«, sagte Ce-lia und blickte vom Podium auf das Meer männlicher Gesichter hinunter. »Daher werden Sie auch wissen, wie das mit uns Frauen ist. Wir drücken uns häufig ziemlich unklar aus, geraten leicht durcheinander, und manchmal vergessen wir einfach alles.«
»Aber Sie doch nicht, Kindchen«, sagte jemand in den vorderen Reihen leise, und Celia lächelte.
»Was mir, zum Beispiel, völlig entfallen ist - wie lange ich heute eigentlich sprechen soll. Ich kann mich dunkel erinnern, daß jemand etwas von zehn bis fünfzehn Minuten gesagt hat, aber das kann doch wohl nicht stimmen, oder? Welcher Frau würde es gelingen, sich innerhalb so kurzer Zeit fünfhundert Männern vorzustellen?«
Gelächter klang auf, und aus dem hinteren Teil des Saals rief eine volltönende Stimme: »Laß dir ruhig Zeit, Baby!« Erneutes Gelächter, schrille Pfiffe und: »Völlig richtig!«, »Lassen Sie sich soviel Zeit, wie Sie brauchen!«
Celia beugte sich über das Mikrofon. »Vielen Dank! Ich hatte gehofft, daß jemand das sagen würde.« Sie vermied es, dem Blick von Sam Hawthorne zu begegnen, der nicht weit entfernt saß und sie beobachtete.
Es war Same, der noch am Morgen zu Celia gesagt hatte: »Bei der Eröffnung einer Verkaufskonferenz sticht sie alle der Hafer. Daher geht es am ersten Tag immer ziemlich locker zu. Wir bemühen uns, die Leute ein bißchen aufzumöbeln - erzählen denen, die vom Außendienst kommen, was für tolle Kerle sie sind, was für ein prima Laden Felding-Roth ist und wie froh wir sind, sie bei uns zu haben. An den beiden folgenden Tagen wenden wir uns dann ernsteren Geschäften zu.«
»Gehöre ich zum lockeren Teil?« hatte Celia gefragt, als sie dem Programm entnommen hatte, daß sie am Nachmittag des ersten Tages reden sollte.
»Sicher. Sie sind die einzige Frau, die für uns als Vertreterin tätig ist. Viele haben schon von Ihnen gehört, und alle wollen mal was anderes sehen und hören.«
»Ich werde mich bemühen, sie nicht zu enttäuschen«, erklärte Celia.
Das war, als Sam und Celia kurz nach dem Frühstück im Waldorf gemeinsam mit anderen Tagungsteilnehmern auf der Park Avenue einen Spaziergang machten. In einer Stunde sollte die Konferenz beginnen. Zuvor genossen sie den milden und sonnigen Aprilmorgen. Klare, frische Winde wehten durch Manhattan, und der Frühling kündigte sich mit zahlreichen Tulpen und Narzissen auf den Promenaden der Park Avenue an. Zu beiden Seiten toste der mehrspurige Verkehr, und auf den Gehwegen strömte eine Flut von Büroangestellten an Sam und Celia vorbei, während sie selbst gemächlich dahinschlenderten.
Celia, die am frühen Morgen aus New Jersey gekommen war und die nächsten beiden Nächte im Waldorf bleiben sollte, hatte ihre Garderobe für diese Gelegenheit sorgfältig ausgewählt. Sie trug ein neues, maßgeschneidertes marineblaues Kostüm mit einer weißen Rüschenbluse. Celia wußte, daß sie gut aussah und daß diese Kombination aus Weiblichkeit und geschäftlicher Kühle ihr gut stand. Sie war auch froh, daß sie keine Brille mehr trug. Jetzt gehörten Kontaktlinsen, wie Andrew es auf ihrer Hochzeitsreise vorgeschlagen hatte, zum festen Bestandteil ihres Lebens.
»Sie haben also beschlossen, mir den Entwurf Ihrer Rede nicht zu zeigen«, stellte Sam plötzlich fest.
»Oje!« sagte sie. »Das hab' ich ganz vergessen.«
Sam sprach mit erhobener Stimme, um sich über den Verkehrslärm hinweg verständlich zu machen. »Das mögen andere glauben - ich nicht, denn ich weiß, daß Sie fast nie etwas vergessen.«
Als Celia antworten wollte, brachte er sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Sie brauchen nichts zu sagen. Ich weiß, daß Sie anders sind als die meisten, die für mich arbeiten, und das bedeutet auch, daß Sie die Dinge auf Ihre Weise anpacken, und bis jetzt haben Sie sich fast nie geirrt. Aber ich muß Sie warnen, Celia - wagen Sie sich nicht zu weit vor. Seien Sie vorsichtig. Verderben Sie sich nicht alles, indem Sie zuviel auf einmal wollen oder zu rasch vorgehen.«
Als sie umkehrten, die Park Avenue überquerten und zurück ins Waldorf gingen, war Celia schweigsam und nachdenklich. Ging das, was sie an diesem Nachmittag vorhatte, zu weit? Überlegte sie.
Jetzt, da die Verkaufstagung begonnen hatte und sie der gesamten Verkaufsmannschaft von Felding-Roth im Astor Room des Wa/dorf gegenüberstand, wurde ihr klar, daß sie dabei war, es herauszufinden.
Ihre Zuhörer waren zum größten Teil Vertreter sowie Inspektoren und Bezirksleiter, alle von Außenposten der Firma, von Alaska bis Florida, Hawaii, Kalifornien, den Dakotas, Texas, New Mexico, Maine und vielen anderen Gegenden. Für die meisten war es der einzige direkte Kontakt, den sie alle zwei Jahre mit ihren Vorgesetzten in der Geschäftszentrale hatten. Es war eine Zeit des kameradschaftlichen Zusammenseins und frisch auflebender Begeisterung. Neue Ideen und Produkte wurden vorgestellt und bei manchen sogar Idealismus und Hingabe wiedergeweckt. Es herrschte lärmende gute Laune, Lust auf Frauen und Alkohol - Dinge, wie sie zu jeder Verkaufstagung in jeder anderen Branche an jedem anderen Ort auch gehören.
»Als ich eingeladen wurde, vor Ihnen zu sprechen«, erklärte Celia ihren Zuhörern, »schlug man mir vor, einige Erfahrungen, die ich als Vertreterin gesammelt habe, zu beschreiben, und das will ich tun. Man hat mich davor gewarnt, allzu Ernstes oder Kontroverses vorzubringen. Aber darauf kann ich leider nicht verzichten. Wir alle wissen, daß es sich bei unserer Tätigkeit um ein ernstes Geschäft handelt. Wir sind Teil eines Unternehmens, das wichtige, lebenswichtige Produkte auf den Markt bringt. Daher sollten wir uns bemühen, ernst zu sein. Und genau das will ich tun. Aber ich glaube auch noch etwas anderes: Ich glaube, daß gerade wir, die wir an der vordersten Front tätig sind, fähig sein sollten, offen, ehrlich und wenn nötig kritisch miteinander umzugehen.«
Während sie sprach, war sich Celia nicht nur der vielen Vertreter unter den Zuhörern bewußt, sondern auch einer kleineren Gruppe, die auf den reservierten Plätzen in den beiden vorderen Reihen saß: die Führungskräfte von Felding-Roth - der Vorsitzende des Aufsichtsrats, der Präsident, der Vizepräsident, der Leiter der Verkaufsabteilung und ein Dutzend andere. Sam Haw-thorne, dessen fast kahler Kopf wie ein Leuchtturm herausragte, saß mitten unter ihnen.
Eli Camperdown saß ganz vorn in der Mitte, wie es sich für den Präsidenten geziemte, neben ihm der alte und gebrechliche Vorsitzende des Aufsichtsrats, Floyd VanHouten, der die Firma vor zehn Jahren geleitet und geformt hatte. Heute beschränkten sich VanHoutens Pflichten offiziell hauptsächlich darauf, den Sitzungen des Direktoriums vorzustehen, aber er hatte trotzdem noch immer einen starken Einfluß.
»Ich habe den Ausdruck >kritisch< benutzt«, sagte Celia ins Mikrofon, »und genau das beabsichtige ich zu sein - auch wenn es dem einen oder anderen unter Ihnen nicht gefallen wird. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Ich möchte einen positiven Beitrag zu dieser Veranstaltung leisten und nicht nur als Schmuckstück dienen. Außerdem bewegt sich alles, was ich sagen werde, innerhalb der Grenzen des Themas, das man mir gestellt und das im Programm mit >Der Verkauf von Arzneimitteln aus der Sicht einer Frau< angeführt ist.«
Die Aufmerksamkeit aller war jetzt auf sie gerichtet. Im Saal war es mucksmäuschenstill.
Das war ihre größte Sorge gewesen - ob sie das geweckte Interesse würde wachhalten können. Als sie am Morgen nach dem Spaziergang auf der Park Avenue die volle, rauchige, lärmerfüllte Vorhalle betreten hatte, in der sich die Teilnehmer versammelten, hatte Celia zum ersten Mal, seit sie zugestimmt hatte, den Vortrag zu halten, Nervosität verspürt. Sie mußte sich eingestehen, daß die Felding-Roth-Verkaufstagung, jedenfalls im Augenblick, eben doch eine männliche Angelegenheit war - mit jovialem Schulterklopfen, zweideutigen Witzen und polterndem Gelächter, vermischt mit mehr oder weniger - aber eher weniger - originellen Gesprächen. Celia konnte schon nicht mehr zählen, wie oft sie »Tag, lange nicht gesehen, was?« gehört hatte, als wäre es eine neue, eben erfundene Redensart.
»Genau wie Ihnen«, fuhr sie fort, »liegt auch mir sehr viel an dieser Firma, für die wir arbeiten, und an der pharmazeutischen Industrie, zu der wir gehören. Beide haben in der Vergangenheit Gutes geleistet und werden das auch in Zukunft tun. Aber es gibt einige Dinge, die nicht ganz in Ordnung sind, ganz und gar nicht in Ordnung, vor allem beim Verkauf. Ich möchte Ihnen gern sagen, welche Dinge das meiner Meinung nach sind und wie man sie ändern könnte.«
Celia warf einen Blick zu der Reihe hinüber, in der die Geschäftsleitung saß, und entdeckte auf mehreren Gesichtern Unbehagen; ein paar Zuhörer rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Ganz offensichtlich waren ihre Worte nicht gerade das, was man erwartet hatte.
Sie blickte in eine andere Richtung und versuchte, sich zu konzentrieren.
»Bevor wir heute morgen hierherkamen, haben wir alle die Wimpel und den Ausstellungsstand für Lotromycin gesehen -ein hervorragendes Heilmittel, ein ganz großer Durchbruch in der Medizin, und ich für meinen Teil bin stolz darauf, es verkaufen zu dürfen.«
Die Männer klatschten, und es waren ein paar freundliche Zurufe zu hören. Celia machte eine Pause. Die Stände in der Vorhalle stellten ein Dutzend der wichtigsten Präparate von Felding-Roth zur Schau, aber sie hatte das Lotromycin erwähnt, weil sie persönlich damit zu tun hatte.
»Wenn Sie sich eine der Broschüren ansehen - manche von Ihnen werden das schon getan haben -, dann werden Sie feststellen, daß darin die Anwendung von Lotromycin durch meinen Mann beschrieben ist. Er ist Arzt - Internist. Mein Mann hat mit diesem und einigen anderen Mitteln ausgezeichnete Erfahrungen gemacht. Er hat aber auch schlechte Erfahrungen mit Arzneimitteln und mit Vertretern gemacht, die ihn getäuscht haben, weil sie ihm über die Medikamente falsche Informationen gaben. Er steht mit dieser Erfahrung nicht allein. Andere Ärzte - viel zu viele, wie ich aus Berichten, die ich gesammelt habe, weiß - teilen diese Erfahrung. Das ist etwas in unserem Geschäft, das sich ändern sollte und das geändert werden kann.«
Celia war sich darüber im klaren, daß sie sich nun auf gefährlichem Boden befand. Sie sah die Zuhörer an und überlegte ihre Worte sorgfältig, bevor sie fortfuhr:
»Als Folge seiner Erfahrungen als Arzt teilt mein Mann, wie er mir sagte, die Pharma-Vertreter in drei Gruppen ein - in diejenigen, die ihm ehrlich Auskunft über die Produkte ihrer Firmen geben, einschließlich nachteiliger Nebenwirkungen; in jene, die nicht informiert sind und ihm keine richtige Auskunft über das Präparat geben können, für das sie werben; und in diejenigen, die ihm alles mögliche, ja sogar Lügen auftischen, nur um ihn dazu zu bringen, seinen Patienten das Mittel zu verschreiben, das sie anbieten.
Ich würde gern sagen, daß die erste dieser drei Gruppen - die Vertreter, die informiert und ehrlich sind - die größte Gruppe ist, und daß die anderen beiden kaum vorkommen. Leider aber ist das nicht der Fall. Die zweite und dritte Gruppe überwiegen, umfassende und richtige Information ist selten. Das trifft auf alle Firmen im pharmazeutischen Bereich zu, auch auf uns.«
Celia konnte jetzt Anzeichen von Bestürzung erkennen, nicht nur unter den vorn sitzenden leitenden Angestellten, sondern auch weiter hinten. Das allgemeine mißmutige Gemurmel wurde übertönt von einem: »He, was soll das denn?«
Sie hatte diese Reaktion vorausgesehen und einkalkuliert. Als sie weitersprach, war ihre Stimme kräftig und durchdringend.
»Ich bin überzeugt, daß Sie sich jetzt zwei Fragen stellen. Erstens: >Woher will sie das alles wissen, und kann sie es überhaupt beweisen?< Und zweitens: >Warum erzählt sie uns das gerade jetzt, zu einem Zeitpunkt, an dem wir glücklich und zufrieden sind und uns wohl fühlen und keine unangenehmen Dinge hören wollen?<«
Wieder eine Stimme aus den Reihen der Zuhörer: »Verdammt richtig, genau das würden wir gern wissen!«
»Das sollen Sie auch!« gab Celia zurück. »Sie haben das Recht auf eine Antwort, und ich werde sie Ihnen geben.«
»Hoffentlich eine gute!«
Auf noch etwas hatte Celia gesetzt - darauf, daß sie, welche Reaktionen ihre Rede auch hervorrufen mochte, Gelegenheit haben würde, sie zu Ende zu bringen. Das schien der Fall zu sein. Obwohl in den Reihen der Geschäftsführung Stirnrunzeln und Mißbilligung vorherrschten, stand niemand auf, um ihr das Wort zu entziehen.
»Der Grund dafür, daß ich weiß, wovon ich rede«, erklärte Ce-lia, »ist, daß ich selbst zu dieser zweiten Gruppe gehört habe - zu den uninformierten. Weil ich ungenügend ausgebildet war, als ich loszog, um den Ärzten Medikamente anzupreisen. Im Grunde hatte ich so gut wie gar keine Ausbildung. Und in diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen.«
Sie beschrieb die Begegnung mit dem Arzt in North Platte, der sie beschuldigt hatte, »unzureichende Kenntnisse« zu besitzen, und ihr die Tür gewiesen hatte. Celia erzählte die Geschichte sehr farbig, und es wurde wieder völlig still im Saal. Manche nickten, andere murmelten Zustimmung. Celia vermutete, daß eine ganze Reihe von Vertretern anwesend waren, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.
»Der Doktor hatte recht«, fuhr sie fort. »Ich war einfach nicht kompetent genug, um mit hochqualifizierten Ärzten über Medikamente zu reden, obgleich man es mir hätte beibringen müssen, bevor man mich losschickte.«
Sie griff hinter sich und nahm einen Aktenordner vom Tisch.
»Ich habe vorhin Berichte von Ärzten erwähnt, die von Vertretern falsch informiert wurden. Ich habe in den knapp vier Jahren, seit ich für Felding-Roth arbeite, solche Berichte gesammelt. Lassen Sie mich ein paar Beispiele zitieren.«
Celia zog ein Blatt aus dem Ordner. »Wie Sie wissen, gibt es ein rezeptpflichtiges Arzneimittel namens Pernaltone. Es ist ein ausgezeichnetes Medikament zur Behandlung von Bluthochdruck und gehört zu den gut verkäuflichen Produkten von Fel-ding-Roth. Aber es sollte nie von Patienten mit rheumatischen Beschwerden oder Diabetes eingenommen werden. Das wäre gefährlich, und in der Fachliteratur wird ausdrücklich davor gewarnt. Trotzdem haben Vertreter dieser Firma vier Ärzten in New Jersey und zwei weiteren in Nebraska versichert, daß Pernaltone für alle Patienten unschädlich sei, einschließlich jener mit den erwähnten Krankheiten. Ich habe hier die Namen der Ärzte, falls Sie sie sehen wollen. Natürlich sind es nur die, von denen ich zufällig weiß. Bestimmt gibt es noch andere, vermutlich sehr viele. Zwei der genannten Ärzte haben die Information nachgeprüft und festgestellt, daß sie nicht stimmte. Zwei andere haben den Angaben Glauben geschenkt und das Pernaltone Patienten mit Bluthochdruck verschrieben, die auch Diabetiker waren. Mehrere dieser Patienten wurden sehr krank, einer wäre fast gestorben, hat sich aber schließlich Gott sei Dank wieder erholt.«
Celia zog ein weiteres Blatt aus ihrer Akte. »Eine unserer Konkurrenzfirmen hat ein Antibiotikum, Chloromycetin, auf dem Markt, ebenfalls ein erstklassiges Mittel, das aber nur bei ernsten Infektionen angewandt werden sollte, denn zu seinen möglichen Nebenwirkungen gehören Veränderungen im Blut, die sogar zum Tode führen können. Und dennoch - ich besitze wieder Daten, Namen und Orte - haben die Vertreter dieser Firma den Ärzten versichert, daß das Mittel harmlos sei. Und jetzt komme ich zurück zu Felding-Roth . . .«
Im weiteren Verlauf ihrer Rede häuften sich die belastenden Beweise.
»Ich könnte noch viel mehr erzählen«, sagte Celia nach einer Weile, »werde das aber nicht tun, denn in dieser Akte hier ist alles genau aufgezeichnet, so daß sich jeder selbst davon überzeugen kann. Aber ich werde die zweite Frage beantworten: Warum habe ich das alles ausgerechnet heute vorgebracht?
Ich habe es hier und heute vorgebracht, weil es für mich keine andere Möglichkeit gab, darauf aufmerksam zu machen. Seit einem Jahr habe ich mich immer wieder bemüht, jemanden in der Firma dazu zu bringen, mir zuzuhören und sich meine Akte anzusehen. Aber niemand war dazu bereit.«
Jetzt richtete Celia ihren Blick auf die beiden Reihen mit den Führungskräften. »Man mag der Ansicht sein, daß das, was ich heute getan habe, eigensinnig, ja sogar dumm ist. Vielleicht ist es das auch. Aber ich möchte betonen, daß ich es aus tiefer Überzeugung und aus Sorge getan habe - um diese Firma, um unsere Branche und um ihren guten Ruf.
Dieser gute Ruf ist getrübt, und doch tun wir wenig oder gar nichts dagegen. Die meisten von uns werden wissen, daß gegenwärtig im Kongreß Anhörungen über die pharmazeutische Industrie stattfinden. Diese Debatten richten sich gegen uns, und dennoch scheint es in der gesamten Pharma-Industrie kaum jemanden zu geben, der das ernst nimmt. Aber es ist ernst. Schon jetzt werden wir von der Presse kritisiert; und bald wird es einen öffentlichen Schrei nach Reformen geben. Wenn wir nicht schleunigst selbst etwas unternehmen, um unsere Verkaufspraktiken und unseren Ruf zu verbessern, dann wird es die Regierung für uns tun - und zwar auf eine Weise, die keinem von uns gefallen, die uns vielmehr nur schaden wird.
Aus all diesen Gründen möchte ich unsere Firma dringend bitten, als erste die Initiative zu ergreifen - indem sie ein Verkaufsethos aufstellt und indem sie für ihre Vertreter ein Ausbildungsund Trainingsprogramm entwickelt. Ich habe dafür bereits ein paar Ideen ausgearbeitet.« Celia machte eine Pause und lächelte. »Falls sich jemand dafür interessiert - sie befinden sich ebenfalls in meiner Akte.«
Und dann schloß sie mit den Worten: »Vielen Dank, ich wünsche noch einen schönen Nachmittag.«
Als Celia ihre Papiere zusammensammelte und sich daran machte, das Podium zu verlassen, gab es vereinzelten schwachen Beifall, der aber fast sofort wieder verstummte. Ganz offensichtlich richteten sich die meisten nach der kleinen Gruppe leitender Angestellter, die nicht applaudierten und deren Gesichter Mißbilligung verrieten. Der Vorsitzende des Aufsichtsrats schien verärgert; er redete mit leiser Stimme heftig auf den Präsidenten von Felding-Roth, Eli Camperdown, ein, der zustimmend nickte. Der Leiter der Verkaufsabteilung, Irving Gregson, ein New Yorker, der erst kürzlich befördert worden war, ging auf Celia zu. Gregson war von athletischem Wuchs, freundlich und beliebt. Jetzt aber war sein Gesicht finster und rot angelaufen. »Junge Frau«, erklärte er, »Sie waren bösartig und anmaßend, und außerdem stimmen Ihre sogenannten Tatsachen nicht. Das werden Sie noch bereuen. Wir werden uns später mit Ihnen befassen, im Augenblick aber fordere ich Sie auf, die Tagung zu verlassen.«
»Sir«, sagte Celia, »wollen Sie sich das Material nicht wenigstens einmal ansehen . . .«
»Ich werde mir nichts ansehen!« Gregsons Stimme war durch den ganzen Saal zu hören. »Machen Sie, daß Sie rauskommen!« »Auf Wiedersehen, Mr. Gregson«, sagte Celia. Sie drehte sich um und ging mit festen Schritten und hoch erhobenen Hauptes zum Ausgang. Später würde Zeit sein, das Ganze zu bereuen und niedergeschlagen zu sein, im Augenblick aber hatte sie nicht die Absicht, sich vor dieser Versammlung von Männern geschlagen zu geben, sich als Schwächling zu erweisen. Dennoch, sie war geschlagen, und natürlich hatte sie geahnt, daß es so kommen würde, auch wenn sie das Gegenteil erhofft hatte. Für Celia waren die aufgeführten Fehler so offensichtlich und einleuchtend, wurden Reformen so dringend benötigt, daß sie sich nur schwer hatte vorstellen können, daß die anderen ihr nach Kenntnis der Tatsachen nicht zustimmen würden.
Aber sie hatten ihr nicht zugestimmt. Und damit war ihre Tätigkeit bei Felding-Roth mit ziemlicher Sicherheit beendet oder würde es in Kürze sein. Schade. Sam Hawthorne würde wahrscheinlich betonen, er habe sie gewarnt - sie war zu weit gegangen, hatte zuviel erreichen wollen. Auch Andrew hatte sie gewarnt - damals, beim Rückflug von ihrer Hochzeitsreise, als sie ihm erzählt hatte, daß sie eine Akte mit Berichten von Ärzten zusammenstellen wolle. Sie erinnerte sich noch an Andrews Worte: »Das ist aber eine ziemlich ggroße Sache. Und nicht ohne Risiko.« Wie recht er gehabt hatte! Doch es hatte etwas mit Prinzipien zu tun und mit ihrer eigenen Integrität, und Celias Entschluß hatte schon vor langer Zeit festgestanden, in dieser Hinsicht niemals Kompromisse zu schließen. Wie hieß der Ausspruch Hamlets, den sie in der Schule gelernt hatte: » Vorallemseidem eignenSelbst getreu . . .« Allerdings zahlte man dafür seinen Preis. Und manchmal einen ziemlich hohen.
Als sie durch den Saal ging, war sie sich der mitfühlenden Blicke einiger Anwesender bewußt, die noch auf ihren Plätzen saßen. Das hatte sie nicht erwartet - nach der Kritik, die sie geübt hatte. Aber das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr.
»Einen Augenblick, bitte!« Erschrocken hörte sie plötzlich von irgendwoher eine Stimme aus dem Lautsprecher dröhnen. »Mrs. Jordan, würden Sie bitte warten?«
Celia zögerte und blieb stehen, als die Stimme wiederholte: »Warten Sie bitte, Mrs. Jordan!«
Sie drehte sich um und stellte erstaunt fest, daß es Sam Haw-thornes Stimme war. Sam hatte seinen Platz verlassen, war aufs Podium geklettert und beugte sich jetzt übers Mikrofon. Die anderen schienen ebenfalls erstaunt. Irving Gregson war zu hören: »Sam . . . was, zum Teufel?«
Sam strich sich mit der Hand über den Kopf, der im Scheinwerferlicht glänzte - eine typische Bewegung, wenn er über ein Problem nachdachte. Sein zerfurchtes Gesicht sah ernst aus. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Irving, möchte ich gern etwas sagen, das alle hören sollten, bevor Mrs. Jordan uns verläßt.«
Celia überlegte, was jetzt wohl kommen mochte. Bestimmt würde Sam ihren Rauswurf nicht bekräftigen, indem er aller Welt von ihrer Unterhaltung heute morgen und seiner Warnung berichtete. Das paßte nicht zu ihm. Aber Ehrgeiz brachte manchmal Leute dazu, die merkwürdigsten Dinge zu tun. War es möglich, daß Sam glaubte, irgendeine Art Kommentar zu der Sache könne ihn in den Augen der versammelten Firmenspitze besser dastehen lassen?
Der Leiter der Verkaufsabteilung blickte zum Podium hinauf und fragte gereizt: »Was gibt's denn?«
»Nun«, sagte Sam, der dicht am Mikrofon stand, so daß seine Stimme im ganzen Saal zu hören war, in dem es jetzt mucksmäuschenstill war, »vielleicht könnte man sagen, Irving, daß ich hier oben stehe, um mich auszählen zu lassen.«
»In welcher Hinsicht?« Die Frage kam von Eli Camperdown, der aufgestanden war.
Sam Hawthorne wandte sich dem Präsidenten von Felding-Roth zu und rückte noch ein bißchen näher ans Mikrofon. »Mit Mrs. Jordan zusammen, Eli. Um zuzugeben, daß alles, was sie gesagt hat, wahr ist, auch wenn sonst niemand dazu bereit zu sein scheint. Wir wissen doch alle ganz genau, daß es wahr ist, auch wenn wir es nicht zugeben wollen.«
Im Saal herrschte ehrfürchtige Stille. Nur wenige Geräusche drangen von draußen herein - Straßenverkehrslärm von weit her; das Klirren von Glas aus einer Küche; gedämpfte Stimmen aus dem Gang draußen. Es schien, als wären alle verstummt, nie-mand bewegte sich, um ja kein Wort zu versäumen. In die Stille hinein fuhr Sam fort:
»Ich möchte Ihnen außerdem gern sagen, daß ich wünschte, ich hätte selbst den Mut aufgebracht, eine solche Rede zu halten. Und noch etwas.«
Aber Irving Gregson unterbrach ihn: »Finden Sie nicht, daß Sie schon genug gesagt haben?«
»Lassen Sie ihn zu Ende reden«, befahl Eli Camperdown. »Jetzt kann auch gleich alles an die große Glocke gehängt werden.«
Der Leiter der Verkaufsabteilung setzte sich wieder.
»Vor allem«, fuhr Sam Hawthorne fort, »bin auch ich der Meinung, daß unsere Industrie es nicht versäumen darf, selbst etwas zu unternehmen, um Mißstände zu beheben, weil sonst Gesetze in Kraft treten, die uns dazu zwingen werden, es zu tun. Mehr noch - diese Gesetze werden uns viel mehr Einschränkungen auferlegen, als wenn wir den guten Rat, den wir gerade bekommen haben, beherzigen und unser Haus selbst in Ordnung bringen.
Und schließlich noch etwas zu Mrs. Jordan. Sie hat schon des öfteren unter Beweis gestellt, wie wertvoll sie für unsere Firma ist. Meiner Meinung nach hat sie das heute wieder getan, und wenn wir sie jetzt fortschicken, sind wir alle kurzsichtige Narren.«
Celia konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie schämte sich, Sams Motive jemals angezweifelt zu haben. Ihr war klar, daß er gerade seine Karriere bei Felding-Roth ihretwegen aufs Spiel gesetzt hatte.
Noch immer herrschte eine unheimliche Stille im Saal. Alle schienen sich bewußt zu sein, daß sie einem Augenblick großer Dramatik beiwohnten.
Eli Camperdown machte als erster eine Bewegung, indem er an seinen Platz neben dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats zurückkehrte und seine eindringliche Unterhaltung mit ihm fortsetzte. Diesmal war es Camperdown, der mehr sprach - es sah aus, als versuchte er den anderen zu überreden -, während VanHouten zuhörte. Zuerst schüttelte der ältere Mann resolut den Kopf, dann schien er nachzugeben, und am Ende zuckte er die Achseln. Camperdown winkte Irving Gregson herbei.
Da offenbar gerade auf höchster Ebene Entscheidungen getroffen wurden, verhielten sich die anderen abwartend. Allmählich setzte eine leise Unterhaltung ein.
Sie erstarb, als der Leiter der Verkaufsabteilung aufs Podium stieg. Er nahm Sam Hawthorne das Mikrofon ab, und der ging an seinen Platz zurück. Gregson blickte in das Meer neugieriger Gesichter, machte der Wirkung halber eine Pause und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.
»Was immer man über unsere Verkaufstagungen sagen mag«, erklärte er, »langweilig sind sie nie.«
Das war in diesem Augenblick genau das Richtige, und er ern- tete dröhnendes, zustimmendes Gelächter, in das selbst der mürrische VanHouten einstimmte.
»Im Namen unseres Vorsitzenden und unseres Präsidenten stelle ich fest«, sagte Gregson, »und ich schließe mich dem ausdrücklich an, daß wir vor wenigen Minuten vielleicht alle ein wenig voreilig, wenn nicht gar unklug gehandelt haben.« Wieder das breite Grinsen. »Wenn ich als kleiner Junge mal in Schwierigkeiten geriet - wie das bei allen kleinen Jungs vorkommt -, pflegte meine Mutter zu sagen: >lrving, wenn du dich zum Narren gemacht hast und dich entschuldigen mußt, dann steh aufrecht da, sei ein Mann und entschuldige dich.< Meine liebe Mutter, Friede ihrer Seele, ist tot, aber ich vermeine ihre Stimme zu hören: >lrving, mein Junge, es wäre an der Zeit!<«
Gregson hat wirklich Stil, dachte Celia, während sie dastand und zuhörte. Kein Wunder, daß er in der Verkaufshierarchie aufgestiegen ist.
Dann sah sie, daß er direkt auf sie wies. »Mrs. Jordan, kommen Sie bitte zu mir. Und Sie auch, Sam.«
Als alle drei auf dem Podium standen - Celia ganz benommen, weil sie es noch immer nicht fassen konnte -, sagte Gregson: »Ich habe versprochen, mich zu entschuldigen, Mrs. Jordan, und ich tue es hiermit. Wir werden Ihre Vorschläge sorgfältig prüfen. Und wenn es Ihnen recht ist, werde ich Ihnen jetzt diese dicke Akte abnehmen.«
Gregson drehte sich zu den Zuhörern um. »Wissen Sie nun, warum wir eine so großartige Firma sind . . .«
Seine nächsten Worte gingen in tosendem Beifall unter, und einen Augenblick später war Celia von Direktoren und Kollegen umringt, die ihr die Hand schütteln und ihr gratulieren wollten.
»Warum haben Sie das riskiert?« fragte Sam Hawthorne.
»Und Sie?« erwiderte Celia. »Warum haben Sie es getan?«
Eine Woche war vergangen, und Celia und Andrew verbrachten den Abend bei den Hawthornes. Während des Essens - ein ausgezeichnetes Dinner, das Lilian Hawthornes kulinarische Fähigkeiten unter Beweis stellte - hatten sie das Thema Verkaufstagung vermieden und über andere Dinge geredet. Ein paar Tage zuvor hatten die Russen den Abschuß eines amerikanischen Aufklärungsflugzeugs vom Typ U-2 und die Gefangennahme des Piloten, Gary Powers, bekanntgegeben. Moskau beschuldigte die USA der Spionage. Die Vereinigten Staaten leugneten zunächst, aber schon bald mußte Präsident Eisenhower mit rotem Kopf zugeben, daß es stimmte. Die meisten Amerikaner, so meinten die Hawthornes und die Jordans, waren davon peinlich berührt.
In Großbritannien hatte Prinzessin Margaret, die Schwester der Königin, durch die Eheschließung mit Antony Armstrong-Jones, einem Berufsfotografen, Anlaß zu Klatsch und Tratsch gegeben. Man fragte sich, ob diese Heirat das Ansehen des Throns schmälern würde. Andrew glaubte nicht daran.
Nach dem Essen hörten sie sich eine neue Schallplatte von Elvis Presley an - Fame andFortune, eine Pop-Ballade. Presley hatte nach einjährigem Dienst in der US Army seine Karriere wiederaufgenommen, und die Abwesenheit hatte seiner Popularität nichts anhaben können. Den Frauen gefiel Fame and Fortune. Den Männern nicht.
Beim Brandy in dem geräumigen, geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer der Hawthornes griff dann Sam das Thema auf, das ihnen allen im Kopf herumging.
Er beantwortete Celias Frage, indem er sagte: »Als ich nach Ihnen auf das Podium stieg, konnte ich vielleicht nur nicht widerstehen, an dieser dramatischen Szene meinen Anteil zu haben.«
»Sie wissen, daß es mehr war als das«, widersprach sie.
»Das wissen wir alle«, warf Andrew ein. Er lehnte sich in seinem bequemen Sessel zurück und genoß den Brandy; er hatte in seiner Praxis, die sich immer mehr ausweitete, einen arbeitsreichen Tag mit vielen Patienten hinter sich und war müde. »Sie haben alles aufs Spiel gesetzt, Sam - viel, viel mehr als Celia.«
»Natürlich bin ich dankbar . . .« begann Celia, aber Sam unterbrach sie.
»Das brauchen Sie nicht. Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen - ich hatte das Gefühl, einer Prüfung unterzogen zu werden.« Er wandte sich jetzt an Andrew. »Ihre Frau hatte bereits demonstriert, daß sie mehr Verstand besitzt und größeren Respekt vor der Wahrheit hat als jeder der im Saal Anwesenden. Ich wollte nicht unter ihr Niveau sinken.« Sam lächelte Celia an. »Vor allem nicht, weil Sie mir bei Felding-Roth auf der Leiter nach oben folgen wollen.«
»Das wissen Sie?«
»Ich habe es ihm gesagt«, gestand Lilian Hawthorne ein. »Es tut mir leid, wenn ich Ihr Vertrauen mißbraucht habe, Celia, aber Sam und ich haben keine Geheimnisse voreinander.«
»Aber ich habe ein Geheimnis«, sagte Sam, »es betrifft Celia.« Als die anderen ihn neugierig ansahen, fuhr er fort: »Sie wird nicht mehr als Vertreterin tätig sein.«
Andrew stieß ein kurzes Lachen aus. »Sie werfen Sie also doch raus?«
»Nein. Wir befördern sie. Unsere Firma wird eine Abteilung für Verkaufstraining einrichten, genau wie Celia es vorgeschlagen hat. Und sie soll helfen, sie aufzubauen - als stellvertretende Leiterin.«
»Bravo!« Lilian hob ihr Glas. »Die Männer haben also doch Verstand gezeigt. Darauf möchte ich trinken.«
»Wenn alles gerecht zugegangen wäre«, sagte Sam, »hätte Ce-lia die Leitung übernehmen müssen. Aber für manche in der Firma wäre das einfach zuviel. Für den Augenblick. Übrigens wird es morgen bekanntgegeben.«
Andrew stand auf und ging durchs Zimmer, um Celia einen Kuß zu geben. »Ich freue mich für dich, Liebling. Du hast es verdient.«
»Also«, meinte Celia, »ich kann nicht sagen, daß ich darüber böse bin. Ich danke Ihnen, Sam, und ich gebe mich mit der >Stell-vertreterin< zufrieden.« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Für den Augenblick.«
Sie wurden von zwei kleinen Gestalten in Schlafanzügen unterbrochen, die kreischend ins Wohnzimmer gelaufen kamen. Voran Lisa, die Andrew und Celia mitgebracht hatten, und die jetzt zwanzig Monate alt war. Sie war quietschvergnügt und neugierig, obwohl sie schon längst hätte im Bett liegen und schlafen sollen. Hinter ihr kam Juliet, das vierjährige einzige Kind der Hawthornes. Lilian hatte Celia vor einiger Zeit anvertraut, daß sie keine weiteren Kinder würde bekommen können, und daher überschütteten sie und Sam die Tochter, die aufgeweckt, intelligent und anscheinend nicht verzogen war, mit ihrer ganzen Liebe. Die beiden kleinen Mädchen waren völlig überdreht.
Lisa stürzte sich in die Arme ihres Vaters. Kichernd berichtete sie Andrew: »Julie mich jagen.«
Lilian stand auf. »Ich werde euch beide auch gleich jagen. Und zwar zurück ins Bett.« Unter Gelächter und Geschrei verschwanden die drei in Juliets Schlafzimmer.
Als Lilian zurückkam, sagte Celia: »Übrigens - ich werde mich von dem neuen Job schon bald beurlauben lassen müssen, Sam. Ich glaube, ich bin wieder schwanger.«
»Das ist ja eine Nacht voller Offenbarungen«, sagte Lilian. »Zum Glück haben wir noch was zu trinken. Darauf müssen wir anstoßen.« In ihrer Stimme glaubte Celia eine Spur von Neid zu entdecken.
8
Bis Ende 1960 und auch noch Anfang 1961 war Celia damit be-schäftigt, die Vertreter von Felding-Roth in der Praxis des Arzneimittelverkaufs zu unterweisen. Ihr neuer Chef, der Abteilungsleiter für Verkaufstraining, war Teddy Upshaw, früher Generalvertreter von Kansas City. Als sie einander vorgestellt wurden, erkannte Celia ihn sofort wieder. Er war damals, als sie von der Verkaufstagung im Waldorf ausgeschlossen werden sollte, eine der sympathischen Erscheinungen gewesen.
Upshaw, klein, dynamisch und wendig, war Ende Vierzig und hatte die Angewohnheit, sehr schnell zu sprechen; er hatte während seines ganzen Berufslebens nie etwas anderes getan, als Arzneimittel zu verkaufen. Er strahlte Energie aus, war immer in Eile und nickte bei der Unterhaltung ständig mit seinem kleinen runden Kopf. Bevor er in die Geschäftsleitung berufen wurde, war Upshaw der Topverkäufer der Firma gewesen, und er vertraute Celia an, daß er seinem Leben als Handelsreisender nachtrauere. Damals hatte er »frei atmen« können, wie er sich ausdrückte, und er fügte hinzu: »In unserem Geschäft braucht man keine faulen Tricks anzuwenden, um Erfolg zu haben, denn die meisten Arzte verstehen verdammt wenig von Arzneimitteln; und wenn man ehrlich ist und sie merken, daß sie einem vertrauen können, kann man soviel Geschäfte abschließen, wie man will. Nur eins darf man nicht vergessen: Man muß sie wie Götter behandeln. Das erwarten sie.«
Als Celia Andrew eines Nachts im Bett den Satz über die Götter zitierte, lachte er. »Einen netten Boß hast du. Vergiß nur nicht, deinen Doc auch zu Hause so zu behandeln.« Sie warf mit einem Kissen nach ihm, und dann balgten sie sich ein bißchen. Und am Ende schliefen sie miteinander. Danach strich Andrew über Ce-lias Bauch, der die Schwangerschaft schon erkennen ließ, und sagte: »Paß gut auf den kleinen Kerl auf, und vergiß nicht, daß es für dich, solange er da drin ist, keinerlei Arzneimittel gibt!«
Diese Vorsichtsmaßnahme hatte er schon vor Lisas Geburt verlangt, und Celia sagte: »Das ist dir wohl sehr wichtig?«
»Ja, das ist es.« Andrew gähnte erschöpft. »Und jetzt braucht dein Götter-Doktor ein bißchen Schlaf.«
Ein anderes Mal, als sich Celia mit Teddy Upshaw unterhielt, bezeichnete er »faule Verkaufstricks« als »dumm und unnötig«. Trotzdem kam so etwas, wie er zugab, im Pharma-Geschäft sehr häufig vor. »Glauben Sie nur nicht, daß wir die Vertreter davon abbringen können, Dinge von sich zu geben, die nicht stimmen, nicht einmal bei Felding-Roth. Aber wir können versuchen, ihnen zu zeigen, daß die andere Methode klüger ist.«
Upshaw stimmte mit Celia darin überein, daß ein Verkaufstraining notwendig war. Er selbst war für seine Arbeit so gut wie gar nicht ausgebildet worden und hatte sich seine wissenschaftlichen Kenntnisse - in erstaunlichem Umfang, wie sie entdeckte - im Laufe der Jahre selbst angeeignet.
Sie kamen gut miteinander aus und hatten schon bald eine Aufteilung der Pflichten vereinbart. Celia arbeitete Trainingsprogramme aus, eine Tätigkeit, die Upshaw haßte, und er führte sie in der Praxis durch, was ihm Spaß machte.
Eine von Celias Übungsszenen war eine fiktive Begegnung zwischen einem Vertreter und einem Arzt, wobei ersterer ein Fel-ding-Roth-Produkt präsentierte und letzterer harte, manchmal aggressive Fragen stellte. Gewöhnlich spielten Teddy, Celia oder ein anderer Mitarbeiter die Rolle des Arztes; gelegentlich konnte man aber auch mit Andrews Hilfe einen praktischen Arzt überreden, daran teilzunehmen, um das Ganze noch realistischer zu gestalten. Diese Sitzungen erwiesen sich als ungemein populär, sowohl bei den Teilnehmern als auch bei den Zuschauern.
Alle Vertreter, die von Felding-Roth neu eingestellt wurden, mußten jetzt ein fünf Wochen dauerndes Ausbildungstraining absolvieren, während andere, die bereits fest angestellt waren, in kleinen Gruppen einen zehntägigen Refresher-Kurs in der Zentrale mitmachten. Zum großen Erstaunen aller waren die älteren Vertreter nicht nur kooperativ, sondern ganz begierig darauf, etwas dazuzulernen. Celia, die regelmäßig Vorträge hielt, war sehr beliebt. Sie fand heraus, daß sie von denjenigen, die bei der Verkaufstagung im Waldorf dabeigewesen waren, als »Johanna von Orleans« bezeichnet wurde, denn es hätte nicht viel gefehlt, und »die Jordan wäre wegen Ketzerei verbrannt worden«.
Wenn Celia an die Verkaufskonferenz zurückdachte, wurde ihr im nachhinein klar, wieviel Glück sie gehabt hatte und wie kurz sie vor dem Ende ihrer beruflichen Laufbahn gestanden hatte. Manchmal fragte sie sich, ob es ihr, wenn Sam Hawthorne nicht für sie eingetreten wäre und sie von der Tagung ausgeschlossen und ihr später gekündigt worden wäre - ob es ihr hinterher leid getan hätte. Sie hoffte, daß das nicht der Fall gewesen wäre. Sie hoffte auch, daß sie in Zukunft den gleichen Mut aufbringen würde, bei welcher Gelegenheit auch immer. Aber im Augenblick war sie mit dem zufrieden, was dabei herausgekommen war. Im Rahmen ihrer neuen Arbeit sah Celia Sam Hawthorne recht häufig, denn obwohl Teddy Upshaw ihm offiziell Bericht erstattete, nahm Sam ein persönliches Interesse an dem Trainingsprogramm und wußte genau, wieviel Celia dazu beitrug.
Weniger harmonisch war Celias Verhältnis zu Dr. Vincent Lord, dem Leiter der Forschungsabteilung. Da sie für das Verkaufstraining wissenschaftliche Hilfe benötigten, mußten sie häufig die Forschungsabteilung aufsuchen, was Dr. Lord, wie er ihr klarmachte, als eine Belästigung empfand. Trotzdem weigerte er sich, die Verantwortung an jemand anderen zu delegieren. Während einer ihrer Begegnungen bekam Celia von ihm zu hören: »Sie mögen vielleicht Mr. Camperdown und ein paar andere übertölpelt haben, damit Sie sich Ihr kleines Reich aufbauen konnten, mich aber können Sie nicht täuschen.«
Sie mußte sich zusammennehmen, um ruhig zu bleiben.
»Das ist nicht mein >Reich<, erwiderte sie, »ich bin nur die Assistentin, nicht die Leiterin. Wäre es Ihnen denn lieber, wenn die Ärzte weiterhin falsch informiert würden, so wie früher?«
»So oder so«, sagte Dr. Lord und starrte sie böse an, »bezweifle ich sehr, ob man den Unterschied erkennen könnte.«
Als sie Upshaw von der Unterhaltung berichtete, zuckte der die Achseln und sagte: »Vince Lord ist ein Arsch ersten Ranges. Aber er ist ein Arsch, der was von seinem Fachgebiet versteht. Soll ich mal mit Sam reden, damit er ihm eins aufs Dach gibt?«
»Nein«, sagte sie grimmig. »Ich werde schon allein mit ihm fertig.«
Sie schluckte also weiterhin seine Beleidigungen, lernte aber auch etwas dabei, und schließlich hatte sie Respekt vor Vincent Lords Fähigkeiten. Obwohl er nur sieben Jahre älter war als Celia - sechsunddreißig -, hatte er beeindruckende Qualifikationen aufzuweisen: den Bachelor of Science mit Auszeichnung von der University of Wisconsin, den Doktor der Chemie von der Univer-sity of Illinois und die Ehrenmitgliedschaft bei mehreren wissenschaftlichen Gesellschaften. Vincent Lord hatte als Assistenzprofessor an der University of Illinois einige Arbeiten veröffentlicht, in denen er bemerkenswerte Entdeckungen darlegte - dazu gehörte auch die orale Schwangerschaftsverhütung, die zur Verbesserung der Pille führte. Alle erwarteten von Dr. Lord einen großen Durchbruch, die Entwicklung eines wichtigen neuen Medikaments.
Im Laufe seiner Karriere aber hatte Vincent Lord es nie gelernt, umgänglich zu sein. Vielleicht war er deshalb Junggeselle geblieben, dachte Celia, obwohl er auf seine asketische Art durchaus anziehend wirkte.
Eines Tages wollte sie wieder einmal den Versuch machen, ihre Beziehung zu verbessern, und schlug ihm vor, sich beim Vornamen zu nennen, was in der Firma allgemein üblich war. »Es wäre wohl für beide Teile besser, Mrs. Jordan«, erwiderte er kühl, »wenn wir uns jederzeit an unseren unterschiedlichen Status erinnerten.«
Celia spürte, daß die Feindschaft, die bei ihrer ersten Begegnung vor anderthalb Jahren entstanden war, zu einem bleibenden Bestandteil ihrer Beziehung wurde. Dennoch erwies sich der Beitrag, den die Forschungsabteilung zu ihrem Trainingsprogramm leistete, dank Celias Beharrlichkeit als wesentlich.
Allerdings wurde ihr Plan, wie man das Verkaufsniveau heben könnte, nicht voll und ganz akzeptiert. Celia hatte sich ein Prüfungssystem ausgedacht, bei dem durch Stichproben und vertrauliche Befragung ermittelt werden sollte, welchen Eindruck die Vertreter bei ihren Arztbesuchen hinterließen. Dazu sollten Fragebogen an die Ärzte verschickt werden. Der Vorschlag wurde auf höchster Ebene diskutiert und abgelehnt. Dann forderte Celia, daß Beschwerdebriefe von Ärzten über Vertreter an die Abteilung für Verkaufstraining weitergeleitet und registriert werden sollten. Sie wußte durch eigene Kontakte, daß derartige Briefe bei der Firma eingingen. Aber niemand wollte zugeben, sie gesehen zu haben. Vermutlich waren sie in irgendwelchen Archiven vergraben, und korrigierende Maßnahmen wurden, falls es sie überhaupt gab, geheimgehalten. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt.
»Es gibt Dinge«, erklärte Teddy Upshaw ihr geduldig, »von denen die da oben einfach nichts wissen wollen. Nach Ihrem Auftritt auf der Verkaufstagung konnten sie nicht umhin, ein paar zu ändern. Aber treiben Sie es nicht zu weit.«
Das ähnelte dem Rat, den Sam Hawthorne ihr vor der Rede im Waldorf gegeben hatte, und Celia erwiderte: »Eines Tages wird die Regierung Schritte unternehmen und uns vorschreiben, was wir zu tun haben.«
»Das haben Sie schon mal gesagt«, gab Upshaw zu, »und wahrscheinlich haben Sie recht.«
Das Thema Arzneimittel und Pharma-Industrie beschäftigte die Menschen auch andernorts.
Das ganze Jahr 1960 über war das Arzneimittelgeschäft fast täglich ein Thema in den Nachrichten - und meistens im negativen Sinn. Die ausgedehnten Senatsanhörungen, bei denen Senator Kefauver den Vorsitz hatte, waren ein gefundenes Fressen für die Presse und für Firmen wie Felding-Roth ein unerwartetes Martyrium. Das beruhte zum Teil auf der gekonnten Zurschaustellung des Senators und seiner Mitarbeiter.
Wie bei allen Kongreßdebatten dieser Art ging es dabei im wesentlichen um Politik, und die Richtung war zumeist vorher festgelegt. Wie Douglass Cater, ein Reporter aus Washington, schrieb: »Sie . . . kommen von einer vorgefaßten Idee zu einer vorher festgelegten Lösung.« Zudem waren Senator Estes Kefau-ver und seine Helfer einzig auf Schlagzeilen aus und ihre Darstellung der Dinge daher höchst einseitig. Der Senator erwies sich als ein Meister darin, sensationelle Anschuldigungen immer gerade in dem Augenblick vorzubringen, wenn die Reporter den Sitzungssaal verlassen mußten, um ihre Berichte durchzugeben -11.30 Uhr für die Abendzeitungen, 16.30 Uhr für die Morgenausgabe. Das hatte zur Folge, daß die Widerlegungen immer dann stattfanden, wenn die Reporter den Saal bereits verlassen hatten.
Auf diese Weise aber kamen manche häßliche Wahrheiten ans Licht: überzogene Arzneimittelpreise; gesetzwidrige Preisabsprachen; Preismanipulationen bei Regierungsaufträgen zur Lieferung von Arzneimitteln; irreführende Werbung bei Ärzten, einschließlich der Verharmlosung oder des Verschweigens gefährlicher Nebenwirkungen; Unterwanderung der Food and Drug Administration durch pharmazeutische Firmen und Bestechung eines hohen FDA-Mitarbeiters seitens einer pharmazeutischen Firma.
Die Schlagzeilen zielten - wenn auch zuweilen sehr einseitig -auf folgende Mißstände ab:
SENATOREN STELLEN BEI ARZNEIMITTELN UM 1118 PROZENT ÜBERHÖHTE PREISE FEST
Washington Evening Star
SENATSAUSSCHUSS BEZIFFERT DIE GEWINNSPANNE BEI ARZNEIMITTELN MIT 7079 PROZENT
New York Times
RISIKO BEI ARZNEIMITTELN FESTGESTELLT
Miami Herald
HOHER GEWINN BEI TRANQUILIZERN
Chlorpromazin in den USA sechsmal so teuer wie in Paris
New York Times
Es wurde bekannt, daß Arzneimittel, die im Ausland entwickelt worden waren, in jenen Ländern weitaus billiger verkauft wurden als in den USA. Das war, wie hervorgehoben wurde, absurd, denn den amerikanischen Firmen, die die Arzneimittel vertrieben, waren absolut keine Kosten für die Entwicklung entstanden.
In französischen Apotheken kosteten zum Beispiel 50 Tabletten Chlorpromazin 51 Cents - im Vergleich zu 3.03 Dollar in den Vereinigten Staaten. Auch der Preis von Reserpin war in den USA dreimal so hoch wie in Europa, wo das Präparat entwickelt worden war.
Eine weitere merkwürdige Differenz zeigte sich bei dem in den USA hergestellten Penicillin, das in Mexico nur zwei Drittel von dem kostete, was dafür in seinem Ursprungsland verlangt wurde. Wie behauptet wurde, waren die hohen US-Preise das Resultat ungesetzlicher Preisabsprachen zwischen den Herstellerfirmen.
TIERNAHRUNG GRÜNDLICHER GEPRÜFT ALS ARZNEIMITTEL
Los Angeles Times
VORTRAG EINES FDA-BEAMTEN VON WERBETEXTER
UMGESCHRIEBEN
Werbeslogan von Pharma-Firma für offizielle Rede verwendet
New York Times
Es wurde bekannt, daß eine Rede, die der Chef einer Abteilung der Food and Drug Administration vor einem internationalen Antibiotika-Symposium halten wollte, zuvor an Pfizer, eine Arzneimittelfirma, geschickt worden war, um deren Zustimmung einzuholen. Ein Werbetexter schrieb den Text um und baute einen Hinweis auf Sigmamycin, ein Pfizer-Produkt, ein. Später kaufte die Arzneimittelfirma 260.000 Nachdrucke der Rede und tat so, als handele es sich um eine Empfehlung der FDA.
Die negativen Schlagzeilen in den regionalen und überregionalen Zeitungen und die Kommentare in Rundfunk und Fernsehen nahmen kein Ende.
Alles in allem war es »nicht gerade ein sehr ruhmreiches Jahr für das Gebiet, auf dem ich arbeite«, sagte Celia im Dezember zu Andrew.
Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich im Mutterschaftsurlaub, weil Ende Oktober ihr zweites Kind zur Welt gekommen war, wieder ganz nach Plan. Wie Andrew vorausgesagt hatte, wurde es ein Junge. Sie nannten ihn Bruce.
Ihr Leben wurde seit einigen Monaten durch eine junge Engländerin, Winnie August, erleichtert, die bei ihnen wohnte und sich während ihrer Abwesenheit um die Kinder kümmerte. Andrew hatte sie durch eine Agentur gefunden, die in medizinischen Zeitschriften warb. Sie war neunzehn, hatte vorher als Verkäuferin in London gearbeitet und wollte, wie sie es ausdrückte, »mal einen Arbeitsurlaub machen, um herauszufinden, was die Amis für Leute sind, und dann vielleicht ein, zwei Jahre unten bei den Australiern verbringen«. Sie war fröhlich, flink und brachte zu Andrews großer Freude jeden Morgen in Windeseile das Frühstück auf den Tisch. »Reine Übungssache. Hab' ich zu Hause immer für meine Mutter gemacht«, erklärte sie, als er ihr deshalb Komplimente machte. Winnie mochte Kinder und vergötterte Lisa. Andrew und Celia hofften sehr, daß sich Winnies Abreise nach Australien noch möglichst lange hinauszögern würde.
Ein anderer Vorfall, auf den Celia aufmerksam wurde, ereignete sich Ende 1960. Für das deutsche Mittel Thalidomid, das in den USA und Kanada unter dem Namen Kevadon bekannt war, wurde bei der FDA der Antrag auf Zulassung zum Verkauf gestellt. Nach Aussagen der pharmazeutischen Fachblätter hatte die Merrell Company, die die Lizenz für Nordamerika erworben hatte, großangelegte Pläne mit Thalidomid-Kevadon, weil sie glaubte, dieses Präparat würde sich in den USA genauso gut verkaufen lassen wie in Europa. Die Firma drängte die FDA, ihre Zustimmung möglichst rasch zu erteilen. Inzwischen wurden Proben des Medikaments - offiziell, um es zu »testen«, in Wirklichkeit aber ohne Einschränkung - von begeisterten Merrell-Vertre-tern an über tausend Ärzte verteilt.
Diese Nachricht erinnerte Celia an die Unterhaltung, die sie acht Monate zuvor mit Sam Hawthorne geführt halte, nachdem er innerhalb der Firma eine gewisse Verstimmung über Celias Vorschlag verspürt hatte, Thalidomid nur an alten Leuten testen zu lassen. Sie überlegte kurz, ob man es ihr wohl noch immer übelnahm, schob den Gedanken dann aber als unwichtig bei-seite.
Andere Dinge beschäftigten sie.
Mitte Dezember bereits, früher als nach Lisas Geburt, kehrte Celia an ihren Arbeitsplatz bei Felding-Roth zurück. Einerseits, weil es in der Abteilung für Verkaufstraining ziemlich viel zu tun gab; die Firma wurde erweitert, und es kamen hundert neue Vertreter sowie - auf Celias Drängen - einige Vertreterinnen hinzu, wenn es auch nur ein halbes Dutzend war. Ein anderer Grund für ihre Entscheidung war aber auch das ansteckende Gefühl nationaler Erregung. Im November war John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt worden, und es hatte, nicht zuletzt dank geschickter Rhetorik, den Anschein, als sei dies der Beginn einer neuen, kreativen Ära.
»Ich möchte einfach dazugehören«, gestand Celia Andrew. »Die Leute reden von einem >Neubeginn< und von einer geschichtlichen Wende<, es heißt, es sei eine Zeit, um jung zu sein, um Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich jetzt die Arbeit wiederaufnehme, dann bedeutet das, daß ich daran teilhabe.«
»Soso«, hatte Andrew fast gleichgültig gesagt, was ungewöhnlich war. Dann, als habe er es gemerkt, fügte er hinzu: »Ich habe nichts dagegen.«
Aber Andrews Gedanken waren ganz woanders, bei einem Problem, das ihn persönlich betraf.
Es ging um Dr. Noah Townsend, Andrews Seniorpartner und angesehener Chefarzt des St. Bede's Hospitals. Andrew hatte etwas Häßliches und Unerfreuliches über Noah in Erfahrung gebracht, das die Frage aufwarf, ob der ältere Arzt überhaupt noch fähig war, seinen Beruf auszuüben.
Dr. Townsend war drogensüchtig.
9
Noah Townsend, der jetzt achtundfünfzig Jahre alt war, hatte über viele Jahre den tüchtigen, erfahrenen Arzt verkörpert, wie er im Buche steht. Er war überaus gewissenhaft und behandelte alle Patienten, ob arm oder reich, mit derselben Sorgfalt. Er war eine vornehme Erscheinung, stets höflich und würdevoll. Infolgedessen florierte seine Praxis, seine Patienten mochten ihn und blieben ihm treu - aus gutem Grund, denn sie waren bei ihm in den besten Händen. Seine diagnostischen Fähigkeiten waren bemerkenswert. Townsends Frau Hilda hatte Andrew erzählt: »Ich war mit Noah auf einer Party; er erblickte am anderen Ende des Raums einen völlig fremden Menschen und sagte zu mir: >Dieser Mann da drüben ist sehr krank und weiß es nicht.< Oder ein anderes Mal: >Diese Frau dort - ich weiß nicht, wie sie heißt - wird in sechs Monaten sterben.< Und er hat immer recht gehabt. Immer.«
Townsends Patienten waren derselben Meinung. Manche erzählten sich Anekdoten über seine zutreffenden Diagnosen und nannten ihn den »Zauberdoktor«. Einer brachte ihm aus Afrika die Maske eines Medizinmannes mit, die Townsend stolz in der Praxis aufhängte.
Auch Andrew hatte Respekt vor den Fähigkeiten des älteren Kollegen. Zwischen den beiden hatte sich eine wirkliche Freundschaft entwickelt, und Townsend verhielt sich seinem wesentlich jüngeren Kollegen gegenüber in jeder Hinsicht großzügig. Andrew bewunderte besonders, daß Noah Townsend systematisch alles las, was auf dem medizinischen Sektor publiziert wurde, um sich auf dem laufenden zu halten, was bei den wenigsten Ärzten seines Alters üblich war. Dennoch war Andrew schon seit mehreren Monaten aufgefallen, daß Townsend zeitweise unkonzentriert wirkte und gelegentlich undeutlich artikulierte. Und dann hatte es Anfang des Jahres ein paar Vorfälle gegeben, bei denen sich Noah höchst merkwürdig verhalten hatte. Andrew war beunruhigt, auch wenn er weiterhin glaubte, daß alles auf Überanstrengung und Übermüdung zurückzuführen sei.
An einem Novembernachmittag schließlich wurden Unbehagen und vager Verdacht zur Gewißheit, und obwohl es erst einen Monat her war, kam es Andrew im nachhinein wie der Beginn einer Zeit qualvoller Gewissenserforschung vor.
Es passierte, als Andrew mit Townsend die freien Tage durchsprechen wollte, an denen sie sich gegenseitig vertreten sollten.
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß Townsend keinen Patienten hatte, klopfte Andrew leise an die Sprechzimmertür und trat ein. Das hatte er schon häufig getan.
Townsend stand mit dem Rücken zu Andrew und drehte sich abrupt um; er war erschrocken, und in der Eile gelang es ihm nicht zu verbergen, was er gerade in der Hand hielt - eine beträchtliche Menge Tabletten und Kapseln. Andrew hätte sich dabei noch nichts gedacht, wenn sich der ältere Kollege nicht so merkwürdig benommen hätte. Townsend wurde vor Verlegenheit rot, dann hob er, als wollte er mit seinem Mut prahlen, die Hand zum Mund, stopfte die Tabletten hinein und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.
Es gab für Townsend keine Möglichkeit, die Bedeutung dessen, was gerade geschehen war, vor Andrew zu vertuschen, aber er versuchte, es auf die leichte Schulter zu nehmen. »Jetzt haben Sie mich also dabei ertappt, wie ich mich aufmöbele . . . Ich gebe zu, daß ich das ab und zu brauche ... Sie wissen ja selbst, daß in letzter Zeit 'ne ganze Menge los war . . . Aber ich lasse mich nie gehen . . . ich bin ein alter Kuhdoktor, mein Junge . . . ich weiß zuviel, um die Kontrolle zu verlieren . . . viel zuviel.« Townsend lachte, aber das Lachen klang nicht echt. »Machen Sie sich nur keine Sorgen, Andrew ... ich weiß, wann ich aufhören muß.«
Diese Erklärung überzeugte Andrew keineswegs. Noch weniger überzeugend war die undeutliche Aussprache, die darauf schließen ließ, daß die Tabletten, die Noah Townsend eben geschluckt hatte, nicht die ersten an diesem Tag gewesen waren.
Andrew fragte mit einer Schärfe, die er sofort bedauerte: »Was haben Sie da eben genommen?«
Wieder das falsche Lachen. »Ach, nur ein paar Dexedrine und ein paar Percodan, wegen des Geschmacks . . . Andrew, verdammt noch mal, was ist denn schon dabei?« Und dann, fast angriffslustig: »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich alles unter Kontrolle habe. Und nun - warum sind Sie hier?«
Als Andrew die freien Tage erwähnte, die ihm jetzt grotesk unwichtig vorkamen, war er noch völlig durcheinander. Sie einigten sich rasch, und Andrew verließ das Sprechzimmer, so schnell er konnte. Er mußte allein sein, um nachzudenken.
Andrew war entsetzt über die Mischung von Tabletten und Kapseln - es mußten zwölf, wenn nicht fünfzehn gewesen sein -, die der ältere Kollege ganz beiläufig heruntergeschluckt hatte. Es handelte sich, wie Noah selbst zugegeben hatte, um Stimulantia und Beruhigungsmittel - Mittel mit gegensätzlicher Wirkung also, die kein vernünftiger Arzt in dieser Kombination verschreiben würde. Obwohl er kein Experte für Rauschmittel war, wußte Andrew, daß die Menge und die Beiläufigkeit der Einnahme deutliche Anzeichen dafür waren, daß Townsend auf der Straße der Süchtigen schon eine weite Strecke zurückgelegt hatte. Und rezeptpflichtige Arzneimittel, die wahllos eingenommen wurden, konnten genauso gefährlich und zerstörerisch sein wie jede andere Droge, die illegal auf der Straße verkauft wurde.
Was sollte er tun? Andrew beschloß, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Während der nächsten zwei Wochen verbrachte er jede freie Minute in der medizinischen Bibliothek. Das St. Bede's Hospital hatte nur eine relativ kleine, aber Andrew kannte eine in Newark. In beiden fand er Aufzeichnungen über Ärzte, die drogensüchtig geworden waren, und studierte das vorhandene Material eingehend. Es war auffallend, wie weit verbreitet dieses Phänomen war. Die American Medical Association schätzte, daß fünf Prozent aller Ärzte durch Drogen, Alkohol oder ähnliches »geschädigt« waren. Wenn die AMA schon diese erschreckend hohe Zahl zugab, überlegte Andrew, mußte die wirkliche Zahl noch weit höher liegen. Die meisten Schätzungen lagen bei zehn, ja sogar bei fünfzehn Prozent.
In einem Punkt waren sich alle Beobachter einig - daß Ärzte leicht in Schwierigkeiten gerieten, weil sie sich selbst überschätzten. Sie waren davon überzeugt, daß ihnen die Drogen nicht gefährlich werden konnten, weil sie soviel darüber wußten. Aber meistens täuschten sie sich. Noah Townsends Worte: ». . . ich lasse mich nie gehen. . . ich weiß zuviel, um die Kontrolle zu verlieren . . . ich weiß, wann ich aufhören muß . . .« schienen nur ein pathetisches Echo all dessen, was Andrew nun las.
Es wurde hervorgehoben, daß Ärzte süchtig wurden und über lange Zeit unbemerkt blieben, weil sie sich die Drogen so leicht beschaffen konnten. Das war etwas, worüber Andrew schon mit Celia gesprochen hatte: daß Ärzte von jedem Mittel in praktisch unbegrenzten Mengen Gratisproben erhalten konnten, wenn sie einen Vertreter der betreffenden Firma darum baten.
Als Andrew den Arzneimittelschrank in Noah Townsends Sprechzimmer inspizierte, schämte er sich zwar, rechtfertigte es aber mit dem Gedanken, daß es notwendig war. Er hatte gewartet, bis Townsend zur Visite ins Krankenhaus gefahren war.
Eigentlich hätte der Schrank verschlossen sein müssen, war es aber nicht. Ganze Berge von Ärztemustern quollen ihm entgegen. Andrew erkannte einige der Medikamente wieder, die Townsend genannt hatte, darunter auch Betäubungsmittel, von denen er einen besonders großen Vorrat besaß.
Andrew hielt in seinem eigenen Sprechzimmer auch einige Mittel unter Verschluß, Muster von Medikamenten, die er regelmäßig verschrieb und die er zuweilen Patienten aushändigte, die sie sich selbst nicht leisten konnten. Aber verglichen mit dem, was er hier vorfand, war sein eigener Vorrat verschwindend gering. Außerdem hob Andrew aus Sicherheitsgründen niemals Narkotika auf. Er stieß einen Pfiff aus. Wie konnte Noah nur so sorglos sein? Wie hatte er sein Geheimnis so lange bewahren können? Und wie hatte er alle diese Mittel nehmen und dabei die Kontrolle über sich behalten können? Die Antwort auf all diese Fragen schien nicht einfach zu sein.
Bei seinen Nachforschungen stellte Andrew beunruhigt fest, daß es kein umfassendes Programm gab, um Ärzten, die wegen übermäßigen Tablettenkonsums Probleme hatten, zu helfen oder ihre Patienten zu schützen. Die Ärzteschaft ignorierte das Problem, wo sie nur konnte; und wenn es sich einmal nicht ignorieren ließ, wurde es totgeschwiegen und vertuscht. Wie es schien, hatte noch nie ein Arzt einen Kollegen der Drogensucht bezichtigt. Nirgends fand Andrew einen Hinweis darauf, daß man einem drogensüchtigen Arzt die Approbation entzogen hätte.
Eine Frage ließ ihn nicht los: Was passierte mit Townsends Pa-tienten, die gewissermaßen auch Andrews Patienten waren, weil sie eine gemeinsame Praxis hatten und sich auch gegenseitig vertraten? Waren diese Patienten gefährdet? Auch wenn sich Townsend normal benahm und, soweit Andrew wußte, bisher keine Fehler gemacht hatte - würde dieser Zustand anhalten? Konnte man sich darauf verlassen? Würde Noah eines Tages nicht doch eine falsche Diagnose stellen oder ein wichtiges Symptom übersehen? Und wie verhielt es sich mit seiner noch größeren Verantwortung als Chefarzt des St. Bede's Hospitals?
Je mehr Andrew darüber nachdachte, desto mehr Fragen stellten sich ihm, und um so schwieriger waren die Antworten.
Schließlich vertraute er sich Celia an.
Es war kurz vor Weihnachten. Celia und Andrew waren zu Hause und hatten mit Lisa, die ganz aufgeregt war, den Baum geschmückt. Lisa erlebte »Weihnach«, wie sie es nannte, zum ersten Mal bewußt. Als sie vor Aufregung und Müdigkeit fast einschlief, trug Andrew sie in ihr Bett. Danach blieb er einen Augenblick im angrenzenden Schlafzimmer stehen, in dem Bruce, das Baby, in seiner Wiege schlief. Dann ging er ins Wohnzimmer zurück; Celia hatte einen Scotch mit Soda gemixt. »Ich hab' ihn ordentlich stark gemacht«, sagte sie, als sie ihm das Glas reichte. »Ich glaube, du kannst einen gebrauchen.«
Als er sie fragend ansah, fügte sie hinzu: »Lisa hat dir heute abend gutgetan; du hast dich richtig entspannt, mehr als in den letzten Wochen. Du hast Sorgen, nicht wahr?«
»Kann man das denn sehen?« fragte er überrascht.
»Liebling, wir sind seit vier Jahren verheiratet!«
»Es waren die schönsten vier Jahre meines Lebens«, sagte er gerührt. Während er seinen Scotch trank, betrachtete er den Weihnachtsbaum, und Celia wartete schweigend ab. Schließlich sagte er: »Wenn es so deutlich zu sehen war, warum hast du mich dann nicht gefragt, was los ist?«
»Ich wußte, daß du es mir zu gegebener Zeit von selbst sagen würdest.« Celia trank einen Schluck von ihrem Daiquiri. »Möchtest du es mir jetzt erzählen?«
»Ja«, antwortete er langsam. »Ja, ich glaube, das möchte ich.«
»Mein Gott!« sagte Celia leise, als Andrew geendet hatte. »Du lieber Gott!«
»Du siehst«, sagte er, »daß ich gute Gründe habe, nicht gerade fröhlich zu sein.«
Sie ging zu ihm hinüber, legte ihm die Arme um den Hals, lehnte ihr Gesicht an seines und hielt ihn fest. »Mein armer, armer Liebling. Was für eine Last hast du mit dir herumgetragen! Ich hatte ja keine Ahnung. Es tut mir so leid für dich.«
»Vielleicht sollte dir - Noah mehr leid tun.«
»Das tut er auch. Das tut er wirklich. Aber du bist mir am wichtigsten, und ich werde nicht zusehen, daß du dich weiter so quälst.«
»Dann sag mir, was ich tun soll«, erwiderte er schroff.
»Ich weiß, was du tun mußt.« Celia ließ ihn los und sah ihn an. »Du mußt es jemandem erzählen, Andrew, nicht nur mir.«
»Und wem - zum Beispiel?«
»Jemandem aus dem Krankenhaus. Jemandem, der Autorität besitzt - der etwas unternehmen kann, um Noah zu helfen.«
»Celia, das kann ich nicht! Wenn ich das täte, gäbe es Gerede, auch außerhalb des Krankenhauses. Noah würde sein Ansehen einbüßen; er würde seinen Posten als Chefarzt verlieren, und der Himmel weiß, was mit seiner Approbation geschähe. Auf jeden Fall würde es ihn zerstören. Ich kann es nicht, ich kann es einfach nicht tun.«
»Und was nun?«
»Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte er düster.
»Ich möchte dir helfen«, erklärte Celia. »Das möchte ich wirklich, und ich habe eine Idee.«
»Ich hoffe, sie ist besser als die vorige.«
»Ich bin nicht sicher, daß die vorige so schlecht war. Aber wenn du Noahs Namen nicht erwähnen willst, warum sprichst du dann nicht mit irgend jemandem rein theoretisch über die Angelegenheit. Horch sie aus, sprich ganz allgemein über das Thema, versuch herauszufinden, wie die anderen im Krankenhaus darüber denken.«
»Denkst du an jemand Bestimmtes?«
»Warum nicht der Verwaltungsdirektor?«
»Len Sweeting? Ich weiß nicht recht.« Andrew ging im Zimmer auf und ab, überlegte, dann blieb er neben dem Weihnachtsbaum stehen. »Nun, es ist zumindest eine Idee. Danke. Ich werde darüber nachdenken.«
»Ich hoffe, Sie und Celia hatten ein schönes Weihnachtsfest«, sagte Leonard Sweeting.
»Ja«, versicherte Andrew, »das hatten wir.«
Sie befanden sich im Büro des Verwaltungsdirektors hinter geschlossenen Türen. Sweeting saß hinter seinem Schreibtisch, Andrew ihm gegenüber.
Der Verwaltungsdirektor war ein ehemaliger Rechtsanwalt, groß und schlank wie ein Basketballspieler, der dem ungewöhnlichen Hobby des Hufeisenwerfens nachging und schon mehrere Wettbewerbe gewonnen hatte. Manchmal behauptete er, es sei leichter gewesen zu siegen, als die Ärzte dazu zu bringen, irgendeinem Vorschlag zuzustimmen. Er hatte die Tätigkeit im Krankenhaus aufgenommen, als er noch nicht dreißig war, und jetzt, mit Ende Vierzig, schien er genausoviel zu wissen wie manche Mediziner. Andrew hatte Len Sweeting anläßlich der erfolgreichen Anwendung von Lotromycin vor vier Jahren recht gut kennengelernt und respektierte ihn.
»Sie sagten, Sie hätten ein Problem, Andrew. Etwas, wobei Sie meinen Rat brauchten.« Sweetings buschige Augenbrauen bewegten sich beim Sprechen wie vibrierende Bürsten auf und ab.
»Es handelt sich um einen Freund von mir, einen Arzt in Florida«, log Andrew. »Er arbeitet dort in einem Krankenhaus und hat etwas entdeckt, mit dem er nicht fertig wird. Mein Freund hat mich gebeten, ihm zu sagen, wie wir uns in einer solchen Situation verhalten würden.«
»In was für einer Situation?«
»Es hat mit Drogen zu tun.« Andrew entwarf kurz eine Geschichte, die seiner eigenen glich, war aber darauf bedacht, nicht zu deutliche Parallelen zu ziehen.
Während er sprach, bemerkte er, wie Sweeting ihn aufmerk-sam musterte; die anfängliche Freundlichkeit war verschwunden. Er runzelte die Stirn und stand schließlich abrupt auf.
»Andrew, ich habe genügend eigene Probleme und kann mich nicht auch noch um die anderer Krankenhäuser kümmern. Aber ich werde Ihnen einen Rat geben: Sagen Sie Ihrem Freund, daß er sehr, sehr vorsichtig sein soll. Er bewegt sich auf gefährlichem Boden, vor allem, wenn er einen Kollegen beschuldigt. Und nun müssen Sie mich, bitte, entschuldigen . . .«
Er wußte es. Blitzartig erkannte Andrew, daß Len Sweeting genau wußte, wovon er sprach und über wen. Die Geschichte mit dem Freund in Florida hatte Sweeting keinen Augenblick hinters Licht führen können. Weiß der Himmel woher, dachte Andrew, aber er weiß es schon länger als ich. Er wollte nur nichts damit zu tun haben. Alles, was er wollte, war, Andrew so schnell wie möglich loszuwerden.
Und noch etwas. Wenn Sweeting es wußte, dann mußten es auch noch andere im Krankenhaus wissen. Ganz bestimmt waren Kollegen darunter, die ranghöher und dienstälter waren als Andrew. Und auch sie unternahmen nichts.
Andrew stand auf, um zu gehen; er kam sich ziemlich naiv und dumm vor. Len Sweeting begleitete ihn zur Tür. Er gab sich jetzt wieder ganz freundlich, legte ihm sogar den Arm um die Schultern.
»Tut mir leid, daß ich Sie so schnell vertreiben muß, aber ich erwarte gleich wichtige Besucher - Geldgeber, von denen wir uns ein paar Millionen Dollar für unser Krankenhaus erhoffen. Wir benötigen diese Spenden dringend. Übrigens - Ihr Chef wird auch dabeisein. Noah ist eine ungeheure Hilfe, wenn es darum geht, Gelder flüssigzumachen. Scheint Gott und die Welt zu kennen und ist sehr beliebt. Manchmal frage ich mich, wie das Krankenhaus ohne unseren Dr. Townsend überhaupt existieren könnte.«
Das war es also. Die Botschaft, unverblümt und unmißverständlich, lautete: Hände weg von Noah Townsend! Wegen seiner Verbindungen zu Geldgebern war er für das St. Bede's Hospital viel zu wertvoll, als daß man ihn in irgendeinen Skandal hätte verwickeln wollen. Laßtesuns vertuschen, Jungs; wenn wirso tun, als gäbe es das Problem gar nicht, verschwindet es vielleicht von allein.
Und wenn Andrew je versuchen sollte, das, was Sweeting ihm gerade durch die Blume gesagt hatte, zu verbreiten, würde der Verwaltungsdirektor entweder leugnen, daß die Unterhaltung je stattgefunden hatte, oder behaupten, man habe ihn falsch verstanden.
Noch am selben Tag sagte sich Andrew, daß ihm gar nichts anderes übrigblieb, als zu tun, was alle anderen auch taten - nämlich nichts.
Er beschloß jedoch, Noah Townsend von jetzt an, so gut er konnte, zu beobachten und dafür zu sorgen, daß Noahs Praxis und seine Patienten nicht darunter litten.
Als Andrew Celia von den Ereignissen berichtete und ihr seinen Entschluß mitteilte, sah sie ihn mit einem seltsamen Ausdruck an. »Es ist deine eigene Entscheidung, und ich kann verstehen, warum du so entschieden hast. Trotzdem - es könnte sein, daß du es einmal bereuen wirst.«
10
Dr. Vincent Lord, Leiter der Forschungsabteilung bei Felding-Roth, war ein schwieriger Mensch - unfreundlich und mit sich selbst im unreinen. Einer seiner Kollegen, ebenfalls Wissenschaftler, hatte einmal trocken bemerkt: »Vince benimmt sich, als würde seine Psyche pausenlos in einer Zentrifuge herumgeschleudert und als wüßte er nicht, wie sie da wieder herauskommen wird - oder wie er möchte, daß sie da wieder rauskommt.«
Eine solche Beurteilung war an sich paradox. Denn Dr. Lord hatte mit seinen sechsunddreißig Jahren bereits eine Stufe des Erfolgs erreicht, von der viele träumen, die aber nur wenige erreichen. Doch diese Tatsache bereitete ihm Sorgen, und er begann sich zu fragen, ob es darüber hinaus etwas gab. Und noch etwas ließ sich über Dr. Lord sagen: Wenn es in seinem Leben keine Enttäuschungen gegeben hätte, dann hätte er sie erfunden.
Eine seiner Enttäuschungen bestand darin, daß ihm von akademischer Seite nicht die Achtung zuteil wurde, die ihm, wie er glaubte, zustand - nur weil man über die Wissenschaftler in der pharmazeutischen Industrie die Nase rümpfte und sie ganz allgemein - wenn auch häufig zu Unrecht - als zweitklassig ansah.
Und doch war es Vincent Lords eigene freie Entscheidung gewesen, die Stelle als Assistenzprofessor an der University of Illinois aufzugeben und in die Industrie, zu Felding-Roth, zu gehen. Das war vor drei Jahren gewesen. Allerdings war dieser Entschluß damals stark von Frustration und Zorn bestimmt gewesen, die sich gegen die Universität richteten; der Zorn war auch jetzt noch lebendig - ein ätzendes Gefühl der Bitterkeit.
Manchmal fragte er sich, ob er nicht vielleicht doch voreilig und unklug gehandelt hatte, als er die akademische Laufbahn aufgab. Wäre er heute ein international anerkannter Wissenschaftler, wenn er seinerzeit dort geblieben oder an eine andere Universität gegangen wäre?
Alles hatte 1954, vor sechs Jahren also, begonnen.
Damals hatte Vincent Lord, Student an der University of Illinois, mit einer ausgezeichneten Arbeit über organische Chemie promoviert. Der Fachbereich Chemie in Champaign-Urbana galt als einer der besten auf der ganzen Welt, und Lord war ein brillanter Schüler gewesen.
Er sah aus, wie man sich einen Gelehrten vorstellt, mit einem schmalen, sensiblen, fein geschnittenen und auf gewisse Weise ansprechenden Gesicht. Weniger ansprechend war, daß er selten lächelte und häufig besorgt die Stirn runzelte. Durch jahrelanges intensives Lesen hatte er seine Augen überanstrengt und trug eine randlose Brille, durch die dunkelgrüne Augen - Lords auffälligstes Gesichtsmerkmal - wachsam, ja mißtrauisch blickten. Er war groß und schlank, letzteres, weil ihn Essen nicht sonderlich interessierte. Mahlzeiten waren für ihn reine Zeitverschwendung, und er aß überhaupt nur, weil sein Körper es verlangte. Frauen, die sensible Männer mochten, fanden Vincent Lord attraktiv. Männer schienen geteilter Meinung - entweder sie mochten ihn, oder sie fanden ihn abscheulich. Sein Fachgebiet waren die Steroide, einschließlich der männlichen und weiblichen Hormone - Testosteron, Östrogen, Progesteron -, die Fruchtbarkeit und Sexualverhalten beeinflussen; in den fünfziger Jahren, bei Einführung der »Pille«, wurde den Steroiden großes wissenschaftliches und kommerzielles Interesse zuteil.
Als nach seiner Promotion die Arbeit an den Steroid-Synthe-sen gut voranging, schien es Dr. Lord angebracht, ein zweijähriges Stipendium an der University of Illinois anzunehmen.
Die Universität zeigte sich kooperativ, eine Regierungsstelle stimmte schon bald der Finanzierung eines Forschungsvorhabens zu, und diese beiden Jahre brachten erfolgversprechende wissenschaftliche Resultate und nur geringfügige persönliche Probleme. Die Probleme bestanden im wesentlichen darin, daß Lord die Gewohnheit, ja fast die Obsession hatte, sich selbst über die Schulter zu schauen und zu fragen: Habe ich das Richtige getan?
Er grübelte, ob es ein Fehler gewesen war, »zu Hause«, an der University of Illinois, zu bleiben. Hätte er nicht besser nach Europa gehen sollen, wo man ihm eine abgerundete Ausbildung geboten hätte? Die - höchst überflüssigen - Fragen multiplizierten sich. Er wurde mißmutig und trübsinnig, ein Charakterzug, der ihn im Laufe der Zeit alle seine Freunde kosten sollte.
Andererseits aber besaß Vincent Lord eine hohe Meinung von seinen eigenen Fähigkeiten und seiner Arbeit, eine Meinung, die voll und ganz gerechtfertigt war. Daher überraschte es ihn nicht, als ihm die Universität am Ende seines zweijährigen Forschungsstipendiums eine Stelle als Assistenzprofessor anbot. Er akzeptierte. Wieder blieb er »zu Hause«. Wieder grübelte er während der ganzen Zeit über seine letzte Entscheidung nach, stellte immer wieder dieselben, quälenden Fragen.
Während seiner Tätigkeit als Assistenzprofessor wuchs Lords Ruf als Experte für Steroide über die Grenzen der University of Illinois hinaus. In weniger als vier Jahren veröffentlichte er fünfzehn wissenschaftliche Arbeiten, einige davon waren in angesehenen Fachzeitschriften, unter anderem im Journal of the American
Chemical Society und im Journal of Biological Chemistry. Das war eine beachtliche Leistung, wenn man bedachte, welch niedrigen Rang er am Totempfahl der Universität einnahm.
Und genau das war es, was Dr. Lord mehr und mehr in Wut versetzte.
In der Welt der Gelehrten und Wissenschaftler gehen Karrieren selten schneller vonstatten. Die nächste Stufe auf der akademischen Leiter wäre für Vincent Lord der außerordentliche Professor gewesen - ein Titel, der lebenslanger finanzieller Sicherheit gleichkam, wie man es auch betrachtete. Der Titel eines »außerordentlichen Professors« berechtigte zu der Feststellung: Du hast es geschafft, du gehörst zur akademischen Elite. Du hast etwas, das man dir nicht wieder nehmen kann, und du kannst dir deine Arbeit selbst aussuchen, bis auf ein paar kleine Einmischungen von oben. Du hast es geschafft. Vincent Lord wünschte sich diese Ernennung sehr. Und er wollte sie jetzt. Nicht erst in zwei Jahren.
Und so beschloß er - und wunderte sich, warum ihm die Idee nicht schon früher gekommen war -, die Angelegenheit ein wenig zu beschleunigen. Bei seinem Ruf würde das nicht schwer sein, überlegte er, eine reine Formalität. Voller Selbstvertrauen stellte er eine Bibliographie seiner Veröffentlichungen zusammen, ließ sich für die darauffolgende Woche einen Termin beim Dekan geben und schickte die Liste, nachdem er den Termin ausgemacht hatte, ab - damit sie vor ihm eintraf.
Dekan Robert Harris war ein kleiner Mann, runzlig und weise, so weise, daß er an seiner Fähigkeit zweifelte, sokratische Entscheidungen treffen zu können, die so häufig von ihm gefordert wurden. Im Grunde seines Herzens war er Wissenschaftler, hatte noch immer ein kleines Labor und nahm mehrmals im Jahr an wissenschaftlichen Tagungen teil. Jetzt war der größte Teil seiner Arbeitszeit von Verwaltungsaufgaben ausgefüllt.
An einem Märzmorgen des Jahres 1957 saß Dekan Harris in seinem Büro, blätterte in Dr. Vincent Lords Bibliographie und überlegte, warum man sie ihm geschickt haben mochte. Wenn jemand so launisch und unberechenbar war wie Lord, konnte es dafür ein Dutzend Gründe geben. Nun, er würde es bald heraus-finden. Der Urheber dieser Bibliographie sollte in fünfzehn Minuten bei ihm erscheinen.
Er klappte den umfangreichen Ordner zu, den er sorgfältig von Anfang bis Ende durchgelesen hatte - der Dekan war von Hause aus gewissenhaft -, lehnte sich in dem Sessel hinter seinem Schreibtisch zurück und dachte über die ihm bekannten Tatsachen und seine persönliche instinktive Meinung über Vincent Lord nach.
Der Mann besaß zweifellos geniale Fähigkeiten. Wenn der Dekan es nicht bereits gewußt hätte, dann hätte er es jetzt, beim Lesen von Lords neueren Veröffentlichungen, den Kritiken und Ehrungen, die damit verbunden waren, erfahren. Auf seinem Gebiet konnte Vince Lord höchste wissenschaftliche Höhen erreichen, und das würde ihm vermutlich sogar gelingen. Mit einigem Glück, das Wissenschaftler genauso wie andere Sterbliche benötigen, würde er irgendwann einmal eine Erfindung machen, die ihm und der University of Illinois Ruhm einbringen würde. Alles sah positiv aus, alle Signale standen auf Grün.
Trotzdem . . .
Manchmal bereitete Dr. Vincent Lord dem Dekan Unbehagen.
Der Grund war nicht das reizbare Temperament, das Lord an den Tag legte; dergleichen ging häufig mit einem scharfen Verstand einher und wäre noch zu ertragen gewesen. Jede Universität - bei dem Gedanken daran stieß der Dekan einen Seufzer aus - war eine Brutstätte von Haß und Neid, und oft genug geriet man sich um unbedeutender Dinge willen in die Haare.
Nein, es war etwas anderes, etwas, das weit darüber hinausging. Und diese Frage hatte sich schon früher einmal gestellt:
Barg Vincent Lord tief in seinem Inneren den Samen intellektueller Unredlichkeit und wissenschaftlichen Betrugs?
Vor fast vier Jahren, im ersten Jahr seiner Assistenzprofessur, hatte Dr. Lord eine wissenschaftliche Arbeit über eine Reihe von Experimenten vorbereitet, die, wie er behauptete, außergewöhnliche Ergebnisse zeitigten. Die Arbeit stand kurz vor der Veröffentlichung, als ein Kollege der University of Illinois - ein älterer Wissenschaftler der Organchemie - wissen ließ, daß er sich be-müht habe, die Versuche, die Dr. Lord beschrieb, nachzuvollzie-hen, daß es ihm aber nicht gelungen sei; er sei zu anderen Ergebnissen gelangt.
Es folgte eine genaue Untersuchung, die erbrachte, daß Vincent Lord Fehler unterlaufen waren. Es schienen »ehrliche« Fehler zu sein, Fehlinterpretationen; Lord schrieb seine Arbeit um, und sie wurde etwas später veröffentlicht. Allerdings weckte sie nicht dasselbe wissenschaftliche Interesse, wie es die ursprünglichen Ergebnisse getan hätten - wenn sie gestimmt hätten.
An und für sich war diesem Vorfall keine allzu große Bedeutung beizumessen. Was Dr. Lord unterlaufen war, konnte den besten Wissenschaftlern passieren. Jeder machte einmal einen Fehler. Aber wenn ein Wissenschaftler nachträglich einen Irrtum entdeckte, dann war es üblich, ihn zuzugeben und bereits veröffentlichte Arbeiten zu berichtigen.
In Lords Fall war es anders gewesen. Unter seinen Kollegen breitete sich ein Verdacht aus, der durch Lords Reaktion zustande kam, als man ihn damit konfrontierte - daß er nämlich von den Fehlern bereits gewußt hatte, als die Arbeit noch nicht abgeschlossen war, aber geschwiegen hatte in der Hoffnung, daß niemand außer ihm es bemerken würde.
Eine Zeitlang wurde auf dem Campus viel über Moral und Ethik geredet. Als Vincent Lord aber eine ganze Serie unangefochtener und vielgerühmter Entdeckungen machte, verstummten die Gerüchte wieder, und der Vorfall schien vergessen.
Auch Dekan Harris hatte ihn fast vergessen. Bis zu dem Gespräch, das er vor zwei Wochen auf einer wissenschaftlichen Tagung in San Francisco geführt hatte.
»Hören Sie, Bobby«, hatte ein Professor von der Stanford Uni-versity, ein alter Bekannter, eines Abends bei ein paar Drinks zu Harris gesagt, »wenn ich Sie wäre, würde ich diesen Lord genauer unter die Lupe nehmen. Einige von uns haben festgestellt, daß seine beiden letzten Arbeiten sich nicht nachvollziehen lassen. Seine Synthesen sind in Ordnung, aber zu diesen spektakulären Ergebnissen, die er für sich in Anspruch nimmt, gelangen wir nicht.«
Nach Einzelheiten befragt, erklärte der Professor: »Ich sage nicht, daß Lord ein Betrüger ist, und wir alle wissen, daß er was kann. Aber man hat den Eindruck, daß er ein junger Mann ist, dem alles nicht schnell genug geht. Wir beide wissen, was das bedeuten kann, Bobby - ab und zu ein paar Kurven schneiden, Daten so interpretieren, wie man sie gern haben möchte. Das führt zu wissenschaftlicher Arroganz und ist gefährlich. Ich sage also nur: Zum Wohle der University of Illinois und zu Ihrem eigenen - halten Sie die Augen offen!«
Besorgt und nachdenklich hatte sich Dekan Harris für den Rat bedankt.
Als er wieder im Champaign-Urbana war, ließ er den Leiter von Lords Fachbereich zu sich rufen und informierte ihn über die Unterhaltung in San Francisco. »Und was ist mit den beiden letzten Veröffentlichungen von Vince Lord?« wollte er schließlich wissen.
Am nächsten Tag brachte der Fachbereichsleiter die Antwort. Ja, Dr. Lord räume ein, daß es wegen seiner neuesten Ergebnisse Diskussionen gegeben habe; er beabsichtige, die Versuche zu wiederholen, und werde gegebenenfalls eine Berichtigung veröffentlichen.
Oberflächlich betrachtet war daran nichts auszusetzen. Und doch hing über der Unterhaltung die unausgesprochene Frage: Hätte Lord etwas unternommen, wenn niemand das Thema zur Sprache gebracht hätte?
Jetzt, zwei Wochen später, sann Dekan Harris erneut über diese Frage nach, als seine Sekretärin verkündete: »Dr. Lord ist da.«
»Das war's«, schloß Vincent Lord zehn Minuten später. Er saß dem Dekan am Schreibtisch gegenüber. »Sie haben anhand meiner Bibliographie gesehen, was ich alles veröffentlicht habe, Herr Dekan. Ich glaube, daß sie eindrucksvoller ist als die aller anderen Assistenzprofessoren dieser Fakultät. Es gibt tatsächlich niemanden, der nur annähernd soviel vorzuweisen hat. Ich habe Ihnen auch berichtet, was ich für die Zukunft plane. Wenn man al-les zusammennimmt, glaube ich, daß eine beschleunigte Ernennung gerechtfertigt wäre.«
Der Dekan sah Dr. Lord über seine Fingerspitzen hinweg an und sagte leicht belustigt: »An Selbstunterschätzung scheinen Sie nicht gerade zu leiden.«
»Warum sollte ich?« Die Antwort kam schnell und scharf, ohne jeden Humor. Lords dunkelgrüne Augen starrten den Dekan an. »Ich weiß so gut wie jeder andere, was ich wert bin. Und ich kenne eine ganze Menge Leute hier, die längst nicht soviel tun wie ich.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Dekan Harris mit einer Spur Schärfe in der Stimme, »dann lassen wir die anderen aus dem Spiel. Die stehen nicht zur Debatte. Sie stehen zur Debatte.«
Lords Gesicht lief rot an. »Ich verstehe nicht, warum überhaupt etwas zur Debatte stehen soll. Die Sache scheint mir völlig klar. Ich dachte, das hätte ich Ihnen deutlich gemacht.«
»Das haben Sie, in der Tat. Mit ziemlicher Zungenfertigkeit.« Dekan Harris beschloß, sich nicht provozieren zu lassen. Schließlich hatte Lord in bezug auf seine Leistungen recht. Warum sollte er falsche Bescheidenheit an den Tag legen? Selbst seine aggressive Art ließ sich entschuldigen. Viele Wissenschaftler - auch er selbst - hatten einfach keine Zeit, sich mit Diplomatie und Nettigkeiten abzugeben.
Sollte er Lords Bitte um eine vorzeitige Ernennung also entsprechen? Nein. Dekan Harris wußte schon jetzt, daß er es nicht tun würde.
»Sie müssen sich darüber im klaren sein, Dr. Lord«, erläuterte er, »daß ich die Entscheidung über eine Ernennung nicht allein treffe. Als Dekan muß ich mich mit dem Fakultätskomitee beraten.«
»Das sind doch . . .« Lord fehlten die Worte, und er verstummte.
Schade, dachte der Dekan. Wenn er gesagt hätte »ein Haufen Schwachköpfe« oder Ähnliches, hätte ich jetzt einen Vorwand, ihn hinauszuwerfen, aber da es sich um eine förmliche Unterre-dung handelt, wollen wir es auf sich beruhen lassen.
»Eine von Ihnen befürwortete Ernennung wird immer akzeptiert.« Vincent Lord runzelte die Stirn. Er haßte es, diesem Mann gegenüber, den er für einen minderwertigen Wissenschaftler hielt und der in seinen Augen nichts als ein Bürohengst war, unterwürfig zu sein. Aber leider hatte dieser Bürohengst die Autorität der Universität hinter sich.
Dekan Harris gab keine Antwort. Was Lord gesagt hatte, traf zu, aber das lag nur daran, daß er nie irgendeine Stellung bezog, bevor er nicht sicher war, daß die Fakultät sie akzeptieren würde. Obgleich ein Dekan ranghöchstes Mitglied einer Fakultät war, besaß die Fakultät als Ganzes mehr Macht als der Dekan. Deshalb wußte er, daß Lord zu diesem Zeitpunkt niemals berufen werden würde, selbst wenn er es befürwortete.
Inzwischen gingen über die beiden letzten Veröffentlichungen von Vincent Lord auf dem Campus schon Gerüchte um, und auch der vier Jahre zurückliegende Vorfall, den man fast vergessen hatte, würde wieder ans Tageslicht gezerrt werden.
Es hatte keinen Sinn, überlegte der Dekan, eine Entscheidung, die bereits getroffen war, länger zu verschweigen.
»Dr. Lord«, erklärte er ruhig, »ich werde Sie nicht für eine vorzeitige Ernennung empfehlen.«
»Und warum nicht?«
»Ich glaube nicht, daß die Gründe, die Sie vorgebracht haben, zwingend sind.«
»Was meinen Sie mit >zwingend?<« Die Worte schössen wie ein Befehl heraus.
Jede Geduld hat ihre Grenzen, entschied der Dekan. »Ich glaube, es wäre für beide Teile besser«, erwiderte er kühl, »wenn wir dieses Gespräch beendeten. Auf Wiedersehen!«
Aber Lord rührte sich nicht vom Fleck. Er blieb vor dem Schreibtisch sitzen und starrte den Dekan an. »Ich bitte Sie, es sich noch einmal zu überlegen. Wenn Sie das nicht tun, könnten Sie es eines Tages bedauern.«
»Wieso bedauern?«
»Ich könnte mich entschließen, von hier wegzugehen.«
»Das würde mir leid tun«, bemerkte Dekan Harris und meinte es ehrlich. »Es wäre ein Verlust für uns, Dr. Lord. Sie haben der Universität zu Ansehen verholfen und werden es sicher auch weiterhin tun. Andererseits glaube ich« - der Dekan gestattete sich ein dünnes Lächeln -, »daß wir auch ohne Sie auskommen würden.« Lord erhob sich von seinem Stuhl, das Gesicht rot vor Zorn. Wortlos stapfte er aus dem Büro und warf die Tür hinter sich zu.
Dekan Harris rief sich, wie schon so oft, ins Gedächtnis, daß es zu seinem Job gehörte, mit talentierten jungen Leuten, die oft überreagierten, gelassen und fair umzugehen, und wandte sich wieder anderen Arbeiten zu.
Im Gegensatz zum Dekan vermochte Dr. Lord die Angelegenheit nicht aus seinen Gedanken verbannen. Immer wieder spulte er das Gespräch in seinem Gedächtnis ab und wurde dabei immer verbitterter und böser, bis Haß in ihm aufwallte, nicht nur auf Harris, sondern auf die gesamte Universität. Obwohl dieser Punkt bei dem Gespräch nicht erwähnt worden war, hatte Vincent Lord den Verdacht, daß die geringfügigen Berichtigungen, die er in bezug auf seine beiden letzten Veröffentlichungen würde vornehmen müssen, etwas mit der Ablehnung zu tun hatten. Dieser Verdacht machte ihn noch wütender, denn im Vergleich zu seinen umfassenden wissenschaftlichen Leistungen war das, seiner Meinung nach, geradezu banal. O ja, er wußte genau, wie es zu diesen Fehlern hatte kommen können. Er war tatsächlich ungeduldig gewesen, allzu euphorisch und in Eile. Er hatte für einen ganz kurzen Augenblick seinem Wunschdenken nachgegeben und jede wissenschaftliche Vorsicht außer acht gelassen. Aber er hatte sich vorgenommen, daß ihm so etwas nie wieder passieren würde. Außerdem gehörte das alles der Vergangenheit an, er würde sich in Kürze öffentlich berichtigen. Warum machte man sich darüber also noch Gedanken? Das war kleinlich! Banal!
Zu keinem Zeitpunkt wäre Vincent Lord in den Sinn gekommen, daß es gar nicht diese Vorfälle selbst waren, auf die sich seine Kritiker bezogen, sondern gewisse Züge seines Charakters. Da er derartige Überlegungen aber nicht anstellte und auch kein Verständnis dafür gehabt hätte, wuchs seine Bitterkeit.
Infolgedessen reagierte er drei Monate später, als ihn auf einer wissenschaftlichen Tagung in San Antonio ein Repräsentant von Felding-Roth Pharmaceuticals ansprach und einlud, »an Bord« zu kommen - eine beschönigende Bezeichnung für das Angebot, für die Firma zu arbeiten -, wenn auch nicht sofort positiv, so doch mit einem »mal sehen, vielleicht«.
Das Angebot selbst war nichts Ungewöhnliches. Die großen Pharma-Konzerne waren ständig auf der Suche nach neuen Talenten für die wissenschaftliche Forschung und sahen sorgfältig alle Veröffentlichungen aus dem Universitätsbereich durch. Wenn sie etwas Interessantes fanden, wurde in der Regel zunächst eine Gratulation geschickt. Es folgten erste Kontakte bei akademischen Veranstaltungen, auf denen sich die Firmen-Repräsentanten mit Wissenschaftlern auf neutralem Boden begegneten. Lange vor der Tagung in San Antonio war Vincent Lord als mögliches »Ziel« ausgewählt worden.
Dann folgten konkretere Gespräche. Was Felding-Roth suchte, war ein hochkarätiger Wissenschaftler seines Fachgebiets, der die Leitung einer neuen Abteilung, die sich mit Steroi-den beschäftigte, übernehmen sollte. Von Anfang an behandelten ihn die Vertreter der Firma mit Respekt und Hochachtung, eine Einstellung, die ihm gefiel und die er als angenehmen Kontrast zu der »schäbigen« Behandlung seitens der Universität empfand.
Das Angbot war, unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten, äußerst interessant. Ebenso das Gehalt, 14.000 Dollar pro Jahr, fast doppelt soviel, wie er an der Universität verdiente.
Aber um gerecht zu sein: Geld war für Vincent Lord fast genauso uninteressant wie Essen. Persönliche Bedürfnisse hatte er kaum und folglich auch nie Schwierigkeiten, mit seinem Geld auszukommen. Aber das Geld, das ihm der Pharma-Konzern bot, war ein weiteres Kompliment - eine Anerkennung dessen, was er wert war.
Nachdem Dr. Lord zwei Wochen lang überlegt hatte, nahm er das Angebot an. Und verließ die Universität, ohne sich richtig zu verabschieden. Im September 1957 nahm er seine Tätigkeit bei Felding-Roth auf.
Kurz darauf ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Anfang November brach der Leiter der Forschungsabteilung über einem Mikroskop zusammen und starb an einer schweren Gehirnblutung.
Vincent Lord war zur Stelle. Er besaß die nötigen Qualifikationen und erhielt den Posten.
Jetzt, drei Jahre später, hatte sich Dr. Lord bei Felding-Roth fest etabliert. Er wurde respektiert. Seine Fähigkeiten wurden nie in Frage gestellt. Er leitete seine Abteilung erfolgreich - Einmischungen von außen gab es nur selten -, und seine Beziehungen zum Personal waren trotz seines schwierigen Charakters gut.
Und was genauso wichtig war: Seine eigene wissenschaftliche Arbeit ging voran.
Jeder andere wäre unter diesen Umständen glücklich gewesen. Für Vincent Lord aber gab es dieses ständige Syndrom des Zweifeins und Grübeins über lang zurückliegende Entscheidungen -und Zorn und Bitterkeit über die verhinderte Universitätslaufbahn. Die Gegenwart war ebenfalls voller Probleme, zumindest glaubte er das. Den Firmenangehörigen außerhalb seiner Abteilung brachte er tiefes Mißtrauen entgegen. Wollten Sie seine Stellung untergraben? Es gab mehrere, die er nicht mochte und denen er nicht traute - dazu gehörte auch diese penetrante Frau. Celia Jordan erfuhr viel zuviel Beachtung. Ihre Beförderung hatte ihm nicht gepaßt. Er betrachtete sie als eine Konkurrenz um Prestige und Macht.
Aber es bestand immerhin die Möglichkeit - und darauf hoffte er -, daß diese Hexe Jordan sich übernahm, stolperte und verschwand. Was ihn betraf, so konnte das nicht schnell genug geschehen.
Dies alles aber würde unwichtig, selbst die erlittenen Beleidigungen an der Universität würden verblassen, wenn ein ganz be-stimmter Fall eintrat, der schon jetzt im Bereich des Wahrscheinlichen lag. Dann würde niemand soviel Macht besitzen und soviel Achtung genießen wie Vincent Lord.
Wie die meisten Wissenschaftler fühlte sich auch Vincent Lord durch das Unbekannte herausgefordert. Und wie viele andere hatte er lange davon geträumt, einen persönlichen großen Durchbruch zu erzielen, eine Entdeckung zu machen, die die Grenzen des Wissens auf dramatische Weise erweiterte und seinen Namen in die Geschichte eingehen ließ.
Die Verwirklichung dieses Traums schien jetzt möglich.
Nach drei Jahren beharrlicher Arbeit bei Felding-Roth, einer Arbeit, die, wie er wußte, wohldurchdacht war, zeichnete sich schließlich eine chemische Verbindung ab, die Grundlage für ein revolutionäres neues Heilmittel werden könnte. Es blieb noch immer viel zu tun.
Die notwendigen Experimente und Tierversuche würde noch mindestens zwei Jahre dauern, aber die ersten Schritte waren erfolgreich gewesen, die Zeichen gesetzt. Mit seinem Wissen, seiner Erfahrung und seiner wissenschaftlichen Intuition konnte Vincent Lord sie deutlich erkennen.
Das neue Mittel würde Felding-Roth zu ungeahnten Einnahmen verhelfen. Aber das war unwichtig. Wichtig war, daß es Dr. Vincent Lord weltweiten Ruhm einbringen würde.
Er brauchte nur noch ein bißchen Zeit. Dann würde er es ihnen zeigen.
Bei Gott, er würde es ihnen allen zeigen!
11
Die Ereignisse um Thalidomid schlugen ein wie eine Bombe.
»Auch wenn keiner von uns es damals ahnte«, sollte Celia später sagen, »nach dem Bekanntwerden der Tatsachen über Thali-domid konnte in der Pharma-Industrie nichts mehr so sein wie zuvor.«
Die Entwicklung begann ganz allmählich, blieb zunächst auf lokale Bereiche beschränkt und wurde von denen, die anfänglich damit zu tun hatten, nicht mit einem Arzneimittel in Verbindung gebracht. In der Bundesrepublik Deutschland gab es im April 1961 bei den Ärzten Beunruhigung über das plötzliche Auftreten von Phokomelie. Die Bezeichnung stammt aus dem Griechischen: phoco bedeutet »Seehund« und melos »Gliedmaßen«. Es handelte sich bei diesem Phänomen um das Auftreten von Mißbildungen bei Neugeborenen - anstelle von Armen und Beinen hatten sie kleine unbrauchbare, flossenähnliche Gebilde. Im Jahr davor waren zwei Fälle bekanntgeworden - eine noch nie dagewesene Zahl, weil, wie ein Forscher meinte, »Kinder mit zwei Köpfen viel häufiger vorkommen«. Und jetzt tauchten plötzlich Dutzende von Babys mit mißgebildeten Gliedmaßen auf.
Manche Mütter, denen man die Neugeborenen zeigte, schrien vor Entsetzen und Verzweiflung auf. Andere weinten, wußten, daß »mein Sohn nie fähig sein wird, ohne Hilfe zu essen, sich zu waschen, die einfachsten sanitären Dinge zu verrichten, nie fähig sein wird, eine Tür aufzumachen, eine Frau in die Arme zu nehmen oder auch nur seinen Namen selbst zu schreiben«.
Einige Mütter begingen Selbstmord; viele benötigten psychiatrische Hilfe. Ein Vater, der früher fromm gewesen war, verfluchte Gott: »Ich scheiße auf ihn!« Dann korrigierte er sich: »Es gibt keinen Gott. Es kann ihn nicht geben!«
Die Ursache für das Auftreten von Phokomelie blieb weiterhin unbekannt. Eine Studie machte den radioaktiven Abfall von Atombomben dafür verantwortlich, eine andere Untersuchung glaubte, einen Virus entdeckt zu haben.
Manche Babys wiesen außer den fehlenden Gliedmaßen noch andere Mißbildungen auf. Die Ohren fehlten oder waren fehlentwickelt; Herz, Darm und andere Organe waren unvollständig oder nicht funktionsfähig. Einige Babys starben - »die glücklichen«, wie jemand schrieb. Im November 1961 brachten zwei Ärzte - ein Kinderarzt in Deutschland und ein Gynäkologe in Australien - unabhängig voneinander und ohne etwas voneinander zu wissen, die Phokomelie mit dem Arzneimittel Thalidomid in Verbindung. Bald darauf stellte man fest, daß dieses Präparat tatsächlich die Ursache für die Mißbildungen war. Die australi-schen Behörden reagierten sofort und verboten die Anwendung von Thalidomid noch im selben Monat.
In der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien wurde es einen Monat später aus dem Handel gezogen. In den USA aber dauerte es noch weitere zwei Monate, bis Thalidomid-Kevadon von der FDA verboten wurde. In Kanada blieb dieses Präparat unerklärlicherweise bis März auf dem Markt.
Celia und Andrew, die diese Entwicklung in wissenschaftlichen Publikationen und in den Tageszeitungen verfolgten, sprachen oft darüber. »Ich bin ja so froh, Andrew«, sagte Celia eines Abends beim Essen, »daß du mir nicht erlaubt hast, während der Schwangerschaft irgendwelche Mittel einzunehmen!« Wenige Minuten zuvor hatte sie voller Liebe und Dankbarkeit ihre beiden gesunden und normalen Kinder betrachtet. »Vielleicht hätte ich auch Thalidomid genommen. Es soll Frauen von Ärzten geben, die es getan haben.«
»Ich hatte auch Kevadon«, sagte Andrew ruhig.
»Tatsächlich?«
»Ein Vertreter hat mir Proben gegeben.«
»Aber du hast sie doch nicht verwendet?« fragte Celia erschrocken.
Andrew schüttelte den Kopf. »Ich würde ja gern sagen, daß mir das Mittel von Anfang an verdächtig vorgekommen ist, aber das wäre gelogen. Ich hatte es einfach vergessen.«
»Und wo sind die Proben jetzt?« »Gerade heute sind sie mir wieder eingefallen. Ich hab' sie hervorgeholt, ein paar hundert Tabletten. Irgendwo hab' ich gelesen, daß mehr als zweieinhalb Millionen Tabletten an amerikanische Ärzte verteilt worden sind. Ich habe meine ins Klo geschüttet und runtergespült.«
»Gott sei Dank!«
In den darauffolgenden Monaten trafen ständig neue Hiobsbotschaften über Thalidomid ein. Man schätzte, daß in zwanzig verschiedenen Landern zwanzigtausend mißgebildete Babys geboren worden waren, auch wenn man die genaue Zahl nie erfahren würde.
In den Vereinigten Staaten war die Zahl der phokomel Geborenen niedrig - man schätzte achtzehn oder neunzehn -, weil das Mittel nie zur allgemeinen Verwendung freigegeben worden war. Andernfalls hätte es wahrscheinlich an die zehntausend amerikanische Babys ohne Arme und Beine gegeben.
»Ich schätze, wir schulden alle dieser Mrs. Kelsey Dank«, sagte Andrew an einem Sonntag im ]uli 1962 zu Celia. Er saß in dem gemütlichen Arbeitszimmer, das sie sich teilten, und hatte eine Zeitung um sich herum ausgebreitet.
Dr. Frances Kelsey, eine Mitarbeiterin der FDA, hatte trotz starken Drucks seitens der Arzneimittelfirma, die Thalidomid-Kevadon auf den Markt bringen wollte, die Genehmigung mit bürokratischen Maßnahmen hinausgezögert, um sie zu verhindern. Als sie nun erklärte, sie habe die ganze Zeit aus wissenschaftlichen Gründen die Sicherheit des Mittels angezweifelt, wurde sie zur Nationalheldin gekürt. Präsident Kennedy verlieh ihr die Goldmedaille für hervorragende Dienste, die höchste zivile Auszeichnung des Landes.
»Wenn man das Ergebnis betrachtet«, sagte Celia, »so hat sie durchaus richtig gehandelt, und ich gebe zu, daß ich froh darüber bin. Aber manche behaupten auch, daß sie die Medaille für Nichtstun erhalten habe, dafür, daß sie eine Entscheidung hinausgeschoben hat. Das ist für Bürokraten immer am sichersten, und jetzt behauptet sie, klüger gewesen zu sein, als sie es in Wirklichkeit war. Außerdem befürchtet man, daß durch Kennedys Auszeichnung künftig die Zulassung dringend benötigter Heilmittel von anderen Mitarbeitern der FDA, die auch eine Medaille haben wollen, verzögert werden könnte.«
»Alle Politiker sind Opportunisten«, sagte Andrew, »und Kennedy ist da keine Ausnahme, genausowenig wie Kefauver. Beide machen sich die Publicity von Thalidomid zunutze. Trotzdem benötigen wir eine Art gesetzlicher Regelung für diese Dinge, denn unabhängig davon, was Thalidomid angerichtet hat, es hat deutlich gemacht - so deutlich wie das Amen in der Kirche -, daß eure Branche nicht in der Lage ist, sich selbst zu reglementieren, und daß einiges zum Himmel stinkt.«
Diese Bemerkung bezog sich auf Enthüllungen, die es im Laufe der Untersuchungen bei den für Thalidomid verantwortlichen Arzneimittelfirmen gegeben hatte: Gleichgültigkeit, Gier, Vertuschungen und Inkompetenz waren ans Tageslicht gekommen.
»Das kann wohl niemand mit einigermaßen gesundem Menschenverstand abstreiten«, gab Celia traurig zu.
Überraschenderweise und trotz aller damit verbundenen politischen Manöver kam eine gute Gesetzesvorlage zustande; im Oktober 1962 wurde das Gesetz von Präsident Kennedy unterzeichnet und trat damit in Kraft. Auch wenn es alles andere als vollkommen war und bestimmte Auflagen beinhaltete, die in der Folge dringend benötigten wertvollen neuen Arzneimittel im Wege standen, bot das Gesetz dem Verbraucher dennoch Sicherheiten, die es »v. T.« - in der Zeit »vor Thalidomid« also - nicht gegeben hatte.
Ebenfalls im Oktober erhielt Celia die Nachricht, daß Eli Camper-down, der Präsident von Felding-Roth, der mehrere Monate krank gewesen war, im Sterben lag.
Er hatte Krebs.
Ein paar Tage, nachdem sie es erfahren hatte, ließ Sam Haw-thorne Celia in sein Büro kommen. »Eli hat mitteilen lassen, daß er Sie gern sehen würde. Man hat ihn aus dem Krankenhaus entlassen, und er ist wieder zu Hause. Ich habe veranlaßt, daß man Sie morgen zu ihm bringt.«
Das Haus befand sich fünf Meilen südwestlich von Morristown am Mount Kemble Lake am Ende einer langen Auffahrt und war von Bäumen und dichtem Buschwerk verdeckt; es war groß und alt und mit rauhen Steinen verkleidet, die verwittert und mit einer grünen Patina überzogen waren. Von außen wirkte das Innere düster, und das war es auch.
Ein gebückter älterer Butler ließ Celia ein. Er führte sie in einen mit Stilmöbeln ausgestatteten, überladen wirkenden Salon und forderte sie auf zu warten. Es war still im Haus. Vermutlich des-halb, dachte Celia, weil Eli allein lebte; sie wußte, daß er seit vielen Jahren Witwer war.
Nach einigen Minuten erschien eine Krankenschwester in Schwesterntracht. In dieser Umgebung wirkte sie besonders jung, hübsch und lebhaft. »Würden Sie bitte mitkommen, Mrs. Jordan? Mr. Camperdown erwartet sie.«
»Wie geht es ihm?« fragte Celia, als sie eine breite, geschwungene, mit Teppichen belegte Treppe hinaufstiegen.
»Er ist sehr schwach und hat Schmerzen«, erklärte die Schwester sachlich. »Obwohl wir ihm Beruhigungsmittel geben, die ihm ein wenig helfen. Heute aber wollte er keine. Er sagte, er wolle wach sein.« Oben angekommen, öffnete die Schwester eine Tür und ließ Celia eintreten.
Fast hätte Celia die magere, von Kissen gestützte Gestalt in dem großen Bett nicht erkannt. Eli Camperdown, vor gar nicht langer Zeit noch die Verkörperung von Macht und Stärke, war jetzt ausgezehrt, bleich und gebrechlich - eine Karikatur seiner selbst. Seine in tiefe Höhlen gesunkenen Augen sahen Celia entgegen, das Gesicht verzog sich zu einem schwachen Lächeln. »Es tut mir leid, Mrs. Jordan«, sagte er mit leiser Stimme, »aber Krebs im fortgeschrittenen Stadium ist nicht gerade etwas Schönes. Ich wußte zunächst nicht, ob ich mich Ihnen so zeigen sollte, aber ich wollte Ihnen doch gern ein paar Dinge sagen. Danke, daß Sie gekommen sind.«
Die Schwester brachte einen Stuhl, bevor sie sie allein ließ, und Celia nahm neben dem Bett Platz. »Ich bin froh, daß ich kommen durfte, Mr. Camperdown. Es tut mir nur so leid, daß Sie krank sind.«
»Meine direkten Mitarbeiter nennen mich Eli. Ich würde mich freuen, wenn Sie das auch täten.«
Sie lächelte. »Und ich bin Celia.«
»Ja, ich weiß. Und ich weiß auch, wie wichtig Sie für mich waren, Celia.« Er hob die durchsichtige Hand und deutete auf einen Tisch an der anderen Seite des Zimmers. »Da drüben liegen das >Life<-Magazin und noch ein paar andere Papiere. Würden Sie sie mir bitte bringen?«
Mühsam blätterte Eli Camperdown in der »Life«-Ausgabe, bis er gefunden hatte, was er suchte.
»Vielleicht kennen Sie ihn schon.«
»Den Artikel über Thalidomid mit den Fotos der mißgebildeten Babys? Ja, den hab' ich gesehen.«
Er griff nach den anderen Papieren. »Und hier sind weitere Berichte und Fotos, die zum Teil noch unveröffentlicht sind. Ich habe den Fall genau verfolgt. Es ist schrecklich, nicht wahr?«
»Ja.«
Sie schwiegen, dann sagte er: »Celia, Sie wissen, daß ich sterben werde?«
»Ja, ich weiß«, antwortete sie leise.
»Ich habe die verdammten Ärzte dazu gebracht, es mir zu sagen. Ich habe höchstens noch ein oder zwei Wochen, vielleicht nur noch Tage. Deshalb habe ich sie überredet, mich nach Hause zu bringen. Damit ich hier sterben kann.« Als sie etwas sagen wollte, brachte er sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Hören Sie mich zu Ende an.«
Er machte eine Pause, um sich auszuruhen. Man sah, daß ihn die Anstrengung ermüdete. Dann sprach er weiter.
»Es hört sich egoistisch an, Celia. Und nichts kann diesen armen, unschuldigen Kindern auch nur im geringsten helfen.« Seine Finger berührten die Fotos in der Zeitschrift. »Aber ich bin froh, daß ich sterben kann, ohne das hier auf dem Gewissen zu haben. Und das habe ich allein Ihnen zu verdanken.«
Sie protestierte: »Als ich damals vorschlug . . .«
Er sprach weiter, als habe er sie nicht gehört. »Als Felding-Roth für dieses Mittel im Gespräch war, hatten wir vor, es ganz groß herauszubringen. Wir glaubten, daß es eine tolle Sache würde. Wir wollten es auf breiter Basis testen und dann die FDA unter Druck setzen, damit es schnell genehmigt würde. Vielleicht hätte es geklappt. Wir hätten einen anderen Zeitplan gehabt, es hätte womöglich einen anderen Prüfer gegeben. Diese Dinge laufen nicht immer logisch ab.«
Wieder machte er eine Pause, versuchte, seine Kräfte und Gedanken zu sammeln. »Sie haben uns überredet, es bei alten Men-schen zu testen, und deshalb hat es niemand unter sechzig genommen. Es hat die Erwartungen nicht erfüllt, und wir haben es fallenlassen. Danach wurden Sie, wie ich weiß, kritisiert . . . aber wenn es abgelaufen wäre . . . so, wie wir es anfangs beabsichtigt hatten . . . dann wäre ich verantwortlich . . .« Wieder tasteten seine Finger nach den Fotos im Magazin. »Ich müßte mit dieser schrecklichen Belastung auf dem Gewissen sterben. So wie die Dinge liegen . . .«
Celias Augen standen voller Tränen. Sie nahm seine Hand. »Eli, beruhigen Sie sich.«
Er nickte, seine Lippen bewegten sich, und sie beugte sich zu ihm hinunter. »Celia, ich glaube, Sie besitzen etwas - eine Gabe, einen Instinkt -, um beurteilen zu können, was richtig ist . . . In unserer Branche wird es große Veränderungen geben, Veränderungen, die ich nicht miterleben werde . . . Manche in unserer Firma sind der Meinung, daß Sie zu weit gehen. Das ist gut . . . Daher will ich Ihnen einen Rat geben, meinen letzten Rat . . . Nutzen Sie Ihre Begabung, Celia. Vertrauen Sie Ihrem Instinkt. Und sollten Sie Macht erlangen, dann haben Sie die Kraft, das zu tun, woran Sie glauben . . . Lassen Sie sich von Kleingeistern nichts ausreden . . .«
Seine Stimme versagte, das Gesicht verzog sich vor Schmerzen.
Celia drehte sich um, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Die Krankenschwester hatte leise das Zimmer betreten. Sie trug ein Spritzentablett, das sie neben dem Bett abstellte. Ihre Bewegungen waren schnell und sicher. Sie beugte sich über den Patienten und fragte: »Haben Sie wieder Schmerzen, Mr. Camperdown?« Als er schwach nickte, rollte sie den Ärmel seiner Pyjamajacke hoch und gab ihm eine Spritze. Fast augenblicklich entspannten sich seine Gesichtszüge, und er schloß die Augen.
»Er wird jetzt einschlummern, Mrs. Jordan«, erklärte die Krankenschwester. »Ich glaube, es hat wenig Sinn, wenn Sie noch bleiben.« Sie sah Celia neugierig an. »Konnten Sie Ihr Gespräch zu Ende führen? Es schien ihm wichtig zu sein.«
Celia klappte das »Life«-Magazin zu und legte es zusammen mit den anderen Papieren zurück auf den Tisch.
»Ja«, sagte sie. »Ja, ich glaube schon.«
Obwohl Celia selbst darüber Stillschweigen bewahrte, sickerte etwas über ihre Begegnung mit Eli Camperdown in der Firma durch. Sie stellte fest, daß man sie daraufhin mit einer Mischung aus Neugier, Achtung und gelegentlich sogar Ehrfurcht betrachtete. Niemand, auch Celia nicht, gab sich der Illusion hin, daß eine außergewöhnliche Erkenntnis sie vor fünf Jahren dazu veranlaßt hatte, Felding-Roth zu raten, das Thalidomid zu testen.
Tatsache aber war, daß der Weg, den die Firma eingeschlagen hatte, sie vor einer Katastrophe bewahrt hatte. Und daß Celia dazu beigetragen hatte, sie zu verhindern, war Grund genug, ihr dankbar zu sein.
Eine Person in der Führungsspitze der Firma allerdings verweigerte Celia die Anerkennung. Der Leiter der Forschungsabteilung zog es vor, über seine Rolle bei der Beurteilung des Präparats Stillschweigen zu bewahren, obwohl er ursprünglich zu denen gehörte, die auf Tests mit Thalidomid auf breiter Basis gedrungen hatten. Statt dessen erinnerte er daran, daß er die Entscheidung getroffen habe, das Mittel abzulehnen, nachdem es sich bei den Tests an alten Leuten nicht bewährt hatte. Das war zwar richtig, stellte die Situation jedoch unvollkommen dar.
Für lange Diskussionen war indes keine Zeit. Zwei Wochen, nachdem Celia ihn besucht hatte, starb Eli Camperdown. Am folgenden Tag, dem 8. November 1962, standen respektvolle Nachrufe in den Zeitungen, allerdings kürzere als die auf Mrs. Eleanor Roosevelt, die tags zuvor gestorben war. »Es sieht fast so aus«, bemerkte Celia zu Andrew, »als wären zwei unterschiedliche Abschnitte der Geschichte gemeinsam zu Ende gegangen -und an dem bescheideneren durfte ich teilhaben.«
Der Tod des Felding-Roth-Präsidenten löste Veränderungen innerhalb der Firmenleitung aus; dadurch, daß der Aufsichtsrat einen neuen Präsidenten bekam, kletterten auch andere Mitarbeiter auf der Leiter des Erfolgs eine Stufe nach oben. Zu ihnen gehörte Sam Hawthorne, der Vizepräsident und Verkaufsleiter für den Inlandsbereich wurde, während Teddy Upshaw zu seiner großen Freude den Posten des Verkaufsleiters für rezeptfreie Produkte erhielt, die von Bray & Commonwealth, einer Tochtergesellschaft, vertrieben wurden. »Eine tolle Chance für die Rezeptfreien, endlich einen gescheiten Umsatz zu machen«, erklärte Teddy aufgeregt, als er Celia von seiner bevorstehenden Versetzung erzählte. »Ich habe vorgeschlagen, Sie zu meiner Nachfolgerin zu machen«, fuhr er fort, »aber ich muß gestehen, daß es noch immer einige gibt, die von der Idee einer Leiterin nicht gerade begeistert sind. Um ganz ehrlich zu sein: das war früher auch meine Meinung, aber Sie haben mich gründlich bekehrt.«
Es vergingen noch ganze acht Wochen, in denen Celia alle Funktionen des Abteilungsleiters für Verkaufstraining ausübte, ohne den Titel zu besitzen. Ihre Frustration über diese ungerechte Behandlung wuchs von Tag zu Tag. Eines Morgens Anfang Januar kam dann Sam Hawthorne unangemeldet und strahlend in ihr Büro und rief: »Wir haben's geschafft! Es kam zwar einem Dolchstoß gleich, und es ist Blut geflossen, aber jetzt ist es soweit: Sie sind die Leiterin dieses Bereichs, und was noch wichtiger ist, Celia, Sie befinden sich damit offiziell auf der >Renn-bahn<.«