In der Ersten Klasse der 747 war der Lunch beendet, das Geschirr wieder abgeräumt. Andrew, der seinen Platz kurz verlassen hatte, kam zurück.
»Ich mußte da drin gerade daran denken«, sagte er zu Celia und deutete in Richtung der Toiletten, »daß wir heute so viele Dinge als selbstverständlich hinnehmen. Als Lindbergh zum ersten Mal den Atlantik überquerte, mußte er in eine Flasche urinieren.«
Celia lachte. »Ich bin froh, daß sich wenigstens das geändert hat.« Sie sah ihren Mann fragend an. »Ist das alles? Ich habe das Gefühl, daß eine Philosophie dahintersteckt.«
»Völlig richtig. Ich habe über euch - die Pharma-Industrie -nachgedacht. Und da sind mir ein, zwei Dinge eingefallen, die dich vielleicht ein bißchen aufmuntern.«
»Das kann ich gut gebrauchen.«
»Leute wie du, die unter ständigem Streß stehen, sind so tief in ihre Arbeit verstrickt, daß sie manchmal - und ich glaube, dir geht es zur Zeit so - dazu neigen, alles schwarz und voller Wolken zu sehen, aber keinen Regenbogen.«
»Könntest du mir vielleicht ein paar Regenbögen zeigen?«
»Einen hast du mir vor langer Zeit gebracht, mit Lotromycin. Das gibt es heute noch, und es ist noch immer ein gutes Medikament wie damals, als ich es zum ersten Mal angewendet habe -es ist wirksam und kann Leben retten. Natürlich spricht heute niemand mehr von Lotromycin; man hat sich daran gewöhnt. Aber zähl es zu den vielen anderen hinzu, und du hast - seit den fünfziger Jahren - ein ganzes Füllhorn von Medikamenten, so viele, daß man von einer Revolution in der Medizin sprechen kann. Ich habe es miterleben dürfen, aus nächster Nähe.«
Andrew überlegte, dann fuhr er fort: »Als ich sieben Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs mein Examen machte, konnten wir die meiste Zeit nichts anderes tun, als die Kranken moralisch zu unterstützen, konnten nur abwarten und hoffen. Es waren so viele Krankheiten, gegen die wir noch keine Waffe besaßen, es war frustrierend. Heute ist das nicht mehr so. Wir Ärzte haben ein ganzes Arsenal von Medikamenten, mit denen wir kämpfen und heilen können. Und wir verdanken sie euch, der Pharma-Industrie.«
»Das ist Musik in meinen Ohren«, sagte Celia. »Mach weiter.«
»Nimm zum Beispiel zu hohen Blutdruck. Vor zwanzig Jahren gab es ein paar begrenzte Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun, und oft genug ohne Erfolg. Ein hoher Blutdruck führte häufig zum Tod. Jetzt ist die Behandlung durch Medikamente unbegrenzt und sicher. Die Häufigkeit von Schlaganfällen, die durch einen hohen Blutdruck ausgelöst werden, ist um die Hälfte zurückgegangen und sinkt weiter. Arzneimittel verhindern Herzanfälle. Sie stoppen Tuberkulose, Magen-Darm-Geschwüre und erleichtern das Leben des Diabetikers. Für jedes andere Gebiet der Medizin gilt das gleiche. Es gibt so viele gute Medikamente, die ich täglich verschreibe. Ich will damit sagen, daß die erfolgreichen, nützlichen Medikamente die >Verlierer< zahlenmäßig weit übertreffen. Für jeden Verlierer - Thalidomid und andere - hat es immer schon Hunderte von Gewinnern gegeben. Und es sind nicht nur die pharmazeutischen Firmen, die dadurch gewinnen. Die eigentlichen Gewinner sind die Menschen - die jetzt gesund sind statt krank, die leben, statt sterben zu müssen.«
Andrew dachte nach, dann fügte er hinzu: »Wenn ich eine Rede halten müßte, würde ich sagen, daß das, was die Pharmaindustrie geleistet hat, ein Segen für die ganze Menschheit ist.«
»Genug!« sagte Celia. »Das war so wunderbar und so richtig, daß jedes weitere Wort es nur verderben kann. Es ist dir wirklich gelungen, mich aufzumuntern.« Sie lächelte. »Und jetzt werde ich die Augen zumachen und ein bißchen nachdenken.«
Zehn Minuten später schlug Celia die Augen wieder auf. »Andrew, Liebster, ich möchte dir gern etwas sagen.« Sie machte eine Pause. »Du warst für mich schon so viel; jetzt bist du auch noch mein Beichtvater. Erstens trage ich für diese furchtbaren Ereig-nisse um Hexin W die Verantwortung. Daran besteht für mich überhaupt kein Zweifel. Hätte ich schneller gehandelt, hätte es vielleicht ein paar Tote weniger gegeben. Ich hätte mehr Fragen stellen müssen, aber ich habe mich einfach auf alles verlassen. Macht und Erfolg sind mir zu Kopf gestiegen, ich war wie betrunken - zuerst Peptid 7, dann Hexin W -, so daß ich einfach übersehen habe, was doch offensichtlich war. In gewisser Hinsicht war es nichts anderes als das, was Sam mit Montayne passiert ist. Ich kann das jetzt alles viel besser verstehen.«
»Ich hoffe, du hast nicht die Absicht, das alles auch vor Gericht von dir zu geben«, bemerkte Andrew.
Celia schüttelte den Kopf. »Das wäre töricht. Ich habe immer gesagt, daß ich kämpfen werden, wenn sie mich vor Gericht stellen. Aber zu irgend jemandem muß ich von meinen Schuldgefühlen sprechen.«
»Und Vince Lord - was ist, wenn er auch angeklagt wird?«
»Wir werden ihm einen juristischen Beistand geben. Das habe ich beschlossen. Aber ansonsten muß er für sich selbst geradestehen.«
»Trotz allem, was du mir erzählt hast«, sagte Andrew leise, »und ich gebe zu, daß es im großen und ganzen richtig ist - sei nicht zu hart mit dir selbst. Du bist auch nur ein Mensch. Niemand ist vollkommen. Und du bist besser als die meisten.«
»Nicht gut genug. Aber ich weiß, daß ich besser sein kann, und die Erfahrungen, die ich jetzt mache, helfen mir.« Celias Stimme hatte wieder den gewohnten, klaren, überzeugenden Klang. »Das sind Gründe für mich weiterzumachen, und darum habe ich auch vor weiterzumachen. Ich bin erst dreiundfünfzig. Es gibt noch viel, was ich bei Felding-Roth tun kann.«
»Und du wirst es schaffen«, sagte er. »Wie du es immer geschafft hast.«
Sie schwiegen. Und als Andrew Celia nach einer Weile von der Seite ansah, hatte sie die Augen zugemacht und schlief.
Sie schlief, bis das Flugzeug an Höhe verlor und zur Landung ansetzte. Als sie aufwachte, berührte sie Andrews Arm.
»Danke, Liebster«, sagte Celia. »Vielen Dank für alles.« Sie lä-chelte. »Ich habe noch ein bißchen nachgedacht und weiß jetzt genau: Was auch geschieht, ich werde gewinnen.«
Andrew nahm schweigend ihre Hand. Er hielt sie noch immer fest, als sie in New York landeten.