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Dr. Vincent Lord hatte Probleme, die seiner Einbildung entsprangen, aber er hatte auch welche, die ganz real waren. Eines dieser Probleme war die FDA.
Die Food and Drug Administration, die amerikanische Gesundheitsbehörde, deren Zentrale außerhalb von Washinghton, D.C., lag, stellte so etwas wie einen Hinderniskurs dar, den jedes neue Medikament und seine Antragsteller durchlaufen mußten, bevor das Mittel für den allgemeinen Verkauf zugelassen wurde. Manche Arzneimittel wurden nie genehmigt; sie blieben auf der Strecke. Und da die Antragsteller fast immer auch diejenigen waren, die das Mittel entdeckt hatten, es herstellen und schließlich auf den Markt bringen wollten, befanden sich die großen Pharma-Konzerne die meiste Zeit über in einem Zweikampf mit der FDA. Dies war, je nach Stand der Dinge, ein intellektuelles, wissenschaftliches Scharmützel oder aber der totale Krieg.
Was Vince Lord betraf, so handelte es sich um Krieg.
Zu seinen Aufgaben bei Felding-Roth gehörte es, mit der FDA zu verhandeln oder die Verhandlungen zu überwachen. Er haßte das. Er mochte auch die Leute dort nicht, fand einige sogar widerlich, mußte aber, um überhaupt etwas bei der FDA zu erreichen, diese Gefühle unterdrücken und für sich behalten. Beides fand er schwierig, ja fast unmöglich.
Natürlich war Dr. Lord - wie die Vertreter anderer Arzneimittelfirmen, die mit der FDA zu tun hatten - voreingenommen. Manchmal war diese Voreingenommenheit berechtigt. Manchmal nicht.
Das lag daran, daß von der FDA mehrere Dinge gleichzeitig gefordert wurden:
Sie sollte ein Hüter der öffentlichen Gesundheit sein, und ihre Pflicht war es, die Verbraucher vor Habgier, Inkompetenz, Gleichgültigkeit oder Sorglosigkeit zu schützen, Sünden, die jede pharmazeutische Firma irgendwann einmal beging, da sie ja in erster Linie daran interessiert war, Gewinne zu machen. Gleichzeitig sollte sie aber auch die Rolle eines »rettenden Engels« spielen, Bündnispartner derselben pharmazeutischen Firmen sein und in aller Eile jene neuen und wunderbaren Medikamente verfügbar machen, die Leben verlängerten oder Schmerzen verkürzten.
Andererseits war die FDA Prügelknabe für alle möglichen Kritiker - Arzneimittelfirmen, Interessengruppen und Verbraucherorganisationen, Journalisten, Autoren, Rechtsanwälte und Lobbyisten -, die sie beschuldigten, zu streng oder zu nachsichtig zu sein, je nachdem, aus welchem Lager sie kamen. Außerdem wurde die FDA regelmäßig von Kongreßmitgliedern und Senatoren als politische Plattform benutzt, um sich Vorteile und Publicity zu verschaffen.
Dazu kam, daß die FDA ein unübersichtliches bürokratisches Gebilde war, das aus den Nähten platzte, überlastet und in wichtigen Bereichen unterbesetzt war, da die Mediziner und Wissenschaftler unterbezahlt wurden.
In Anbetracht all dessen war es erstaunlich, daß die FDA trotz allem ihre Arbeit im großen und ganzen bemerkenswert gut erledigte.
Aber zweifellos gab es auch Mißstände, und der sogenannte Pillenverzug war einer davon.
Wie schlimm der Pillenverzug war, hing ganz davon ab, von welcher Warte aus man es betrachtete. Aber daß es ihn gab, räumte selbst die FDA ein.
Vincent Lord hatte unter dieser Situation zu leiden, als Fel-ding-Roth um die Zulassung von Staidpace in den Vereinigten Staaten nachsuchte. Staidpace war ein Herz- und Kreislaufmittel, das in Großbritannien, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und verschiedenen anderen Ländern bereits erfolgreich angewendet wurde.
Die FDA stellte die Bedingung, daß mit Staidpace, bevor es in die Regale der amerikanischen Drugstores gelangte und von Ärzten verschrieben wurde, zusätzliche ausgedehnte Untersuchungen auf Unbedenklichkeit und Wirksamkeit durchgeführt wurden. Eine berechtigte Forderung, gegen die bei Felding-Roth niemand etwas hatte, selbst Vincent Lord nicht.
Wogegen sie jedoch etwas hatten - nachdem alle geforderten Tests erfolgreich durchgeführt und die FDA über die Resultate informiert worden war -, das waren die beiden folgenden Jahre, in denen die Gesundheitsbehörde ihre Entscheidung durch Spitzfindigkeiten und Wortklaubereien hinauszögerte.
1972 lieferte Felding-Roth den Staidpace-Antrag mit Hilfe eines Lastwagens in der FDA-Zentrale ab: Der Antrag umfaßte 125.000 Druckseiten in 307 Bänden, die ausreichten, um ein ganzes Zimmer zu füllen. Dieses Material war dem Gesetz nach erforderlich und umfaßte Einzelheiten der zweijährigen Testserien an Tieren und Menschen in den Vereinigten Staaten.
Obgleich die Informationen so komplett waren wie nur möglich, waren alle Beteiligten sich darüber klar, daß niemand in der FDA das alles lesen konnte. Material in ähnlichem Umfang ging auch häufig von anderen Firmen ein.
Die FDA bestimmte einen ihrer medizinisch-wissenschaftlichen Mitarbeiter dazu, den Staidpace-Antrag zu bearbeiten und zu begutachten. Es handelte sich um Gideon R. Mace, einen ausgebildeten Arzt, der seit einem Jahr bei der FDA tätig war.
Andere Experten der Behörde sollten Dr. Mace nach Maßgabe ihrer Zeit unterstützen.
Außerdem würde die FDA im Verlauf ihrer Prüfung Wissenschaftler von Felding-Roth heranziehen, um sich dies und jenes erläutern zu lassen oder weitere Informationen einzuholen. Das war ein normaler Vorgang.
Nicht ganz so normal allerdings war die Arbeitsweise von Dr. Mace. Er arbeitete im Schneckentempo - selbst für die Maßstäbe der FDA. Außerdem war er übertrieben pingelig und hatte an allem etwas auszusetzen.
Kein Wunder, daß Gideon Mace zu den Mitarbeitern der FDA gehörte, die Vincent Lord verabscheute.
Lord hatte den Staidpace-Antrag persönlich überwacht und war überzeugt, daß er vollständiger und sorgfältiger war als jeder Antrag, den die Firma gestellt hatte. Daher wuchs Lords Frustration, als Monat um Monat verging und die Entscheidung ausblieb. Als man endlich etwas von Mace hörte, ging es lediglich um Kleinigkeiten, und in der Folge »schien er jedes verdammte Komma in Frage zu stellen, was nicht das geringste mit der Sache selbst zu tun hatte« - wie einer von Lords Assistenten es ausdrückte. Genauso ärgerlich war es, daß Mace mehrmals dringend zusätzliche Daten anforderte und es sich dann herausstellte, daß das Verlangte in den Unterlagen bereits enthalten war. Lieferte man ihm die Daten, brauchte er wieder mehrere Wochen, um den Empfang - dazu noch höchst ungnädig - zu bestätigen.
Nachdem er sich das eine ganze Weile mit angesehen hatte, nahm Vincent Lord die Sache selbst in die Hand und entschloß sich zu tun, was ihm am meisten verhaßt war - er begab sich zur Gesundheitsbehörde.
Die FDA-Zentrale lag etwa fünfzehn Meilen nördlich von Washington, eine mühsame Autostunde vom Weißen Haus oder dem Capitol Hill entfernt. Sie war in einem einfachen Ziegelgebäude untergebracht, das wie ein »E« geformt und in den sechziger Jahren ohne jede architektonische Phantasie errichtet worden war.
Die Büros, in denen siebentausend Menschen arbeiteten, waren winzig und überfüllt. Viele hatten keine Fenster. Andere waren mit Menschen und Möbeln so vollgestopft, daß man sich kaum darin bewegen konnte. Der verbleibende Raum war mit Akten gefüllt. Stöße, Stapel, Tonnen davon. Akten über Akten. Die Postzentrale war ein Alptraum, und jeden Tag rollten weitere Papierlawinen an. Die Ströme bewegten sich in zwei Richtungen - allerdings erreichte die hinausgehende Post nicht annähernd den Umfang der hereinströmenden.
Dr. Gideon Mace arbeitete im zehnten Stockwerk in einem Raum, der nicht viel größer war als ein Schrank. Mace war Ende fünfzig, groß und hager, mit auffallend langem Hals, der immer wieder zu Giraffenwitzen Anlaß gab. Sein Gesicht war rot, die Nase mit Äderchen durchzogen. Er blinzelte durch eine randlose Brille. Im Gespräch gab er sich ironisch und war leicht zu verärgern. Dr. Mace trug gewöhnlich einen alten grauen, zerknitterten Anzug und eine ausgeblichene Krawatte.
Als Vincent Lord ihn aufsuchte, mußte Mace erst Akten von einem Stuhl räumen, bevor sich der Leiter der Forschungsabteilung von Felding-Roth setzen konnte.
»Es scheint Schwierigkeiten mit Staidpace zu geben«, begann Lord und bemühte sich, freundlich zu sein. »Ich bin gekommen, um herauszufinden, warum.«
»Ihr Antrag ist schlampig und unsystematisch«, erklärte Mace. »Es geht daraus nicht alles hervor, was ich wissen muß.«
»Wieso unsystematisch?« fragte Lord. »Und was müssen Sie noch wissen?«
»Das weiß ich noch nicht genau. Aber Sie werden von mir hören.«
»Wann werden wir von Ihnen hören?«
»Wenn ich soweit bin.«
»Es wäre hilfreich und könnte allen Beteiligten Zeit sparen«, sagte Lord, dem es nur mit Mühe gelang, seinen Ärger zu unterdrücken, »wenn Sie mir einen Hinweis darauf geben könnten, wo wir beide Probleme haben.«
»Ich habe keine Probleme«, sagte Gideon Mace. »Sie haben welche. Ich habe Zweifel an der Unbedenklichkeit Ihres Medikaments; es könnte karzinogen sein. Und was die Zeitersparnis betrifft, so interessiert mich das nicht. Es besteht keine Eile. Wir haben viel Zeit.«
»Sie vielleicht«, gab Lord zurück. »Aber was ist mit den Menschen, die herzkrank sind und Staidpace benötigen - jetzt benötigen? In Europa, wo es seit langem zugelassen ist, hat es schon vielen Menschen das Leben gerettet. Deshalb wären wir an einer baldigen Zulassung interessiert.«
Mace lächelte dünn. »Damit Felding-Roth ganz beiläufig auch einen Haufen Geld verdient.«
Lord mußte sich zusammennehmen. »Das hat für mich nie ir-gendwelche Bedeutung gehabt.«
»Wie Sie meinen«, sagte Mace skeptisch. »Aber für mich hören Sie sich mehr wie ein Verkäufer als wie ein Wissenschaftler an.«
Vincent Lord hatte sich auch jetzt noch in der Gewalt. »Sie erwähnten die Unbedenklichkeit. Wie aus unserem Antrag ersichtlich ist, sind die Nebenwirkungen minimal, in keiner Weise gefährlich, und es hat auch keinerlei Hinweise auf krebserregende Substanzen gegeben. Würden Sie mir also bitte den Anlaß für Ihre Zweifel nennen?«
»Nicht jetzt«, sagte Mace. »Ich denke noch immer darüber nach.«
»Und inzwischen wird keine Entscheidung getroffen.«
»Richtig.«
»Dem Gesetz nach haben sie eine Zeitspanne von sechs Monaten . . .«, begann Lord.
»Halten Sie mir keine Vorträge über Gesetze«, sagte Mace gereizt. »Die sind mir bekannt. Aber wenn ich Ihren Antrag vorübergehend ablehne und auf weiteren Daten bestehe, fangen wir mit der Zeitrechnung ganz von vorn an.«
Das war fraglos richtig. Derartige verfahrenstechnische Verzögerungstaktiken waren bei der FDA üblich - manchmal aus gutem Grund, wie Vincent Lord zugeben mußte, manchmal aber auch nur aus einer Laune heraus oder um Entscheidungen hinauszuzögern.
Lord hatte die Grenzen seiner Geduld erreicht. »Keine Entscheidung zu treffen, ist immer der sicherste Weg für einen Bürokraten, nicht wahr?«
Mace lächelte, gab aber keine Antwort.
Das Gespräch blieb ergebnislos, abgesehen von einer noch größeren Frustration auf seifen Vincent Lords. Und er faßte einen Entschluß: Er würde sich bemühen, soviel wie möglich über Dr. Mace in Erfahrung zu bringen. Manchmal konnten derartige Informationen recht nützlich sein.
Im Lauf der nächsten Monate begab sich Lord noch mehrmals nach Washington in die Zentrale der FDA. Und jedesmal erfuhr er durch beiläufige Fragen, die er Kollegen von Mace stellte, und durch diskrete Nachforschungen außerhalb der Behörde eine erstaunliche Menge.
Inzwischen hatte Mace an einer der Studien, die Staidpace betrafen, etwas auszusetzen - es handelte sich um klinische Untersuchungen an Herzkranken. Mace, der seine Macht sichtlich genoß, verlangte, daß die gesamte Testserie wiederholt wurde. Lord konnte für dieses teure, ein ganzes Jahr währende Verfahren keinen Grund erkennen. Er hätte Einspruch erheben können, aber er war sich darüber im klaren, daß dies der Sache schaden würde und die Gefahr bestand, daß der Staidpace-Antrag bis in alle Ewigkeit storniert oder das Medikament überhaupt nicht zugelassen wurde. Daher gab Vincent Lord zögernd die Anweisung, eine weitere Testserie durchzuführen.
Kurz darauf informierte er Sam Hawthorne über die Entscheidung und berichtete ihm, was er über Gideon Mace in Erfahrung gebracht hatte.
»Mace ist ein verkrachter Arzt«, begann Lord. »Außerdem ist er Alkoholiker und in Geldschwierigkeiten, zum Teil weil er zwei Frauen Alimente zahlen muß. Er ist Doppelverdiener, weil er an den Abenden und Wochenenden in einer privaten Arztpraxis aushilft.«
»Was meinen Sie mit >ein verkrachter Arzt«
Lord blätterte in seinen Notizen. »Seit Abschluß seines Medizinstudiums hat Mace in fünf verschiedenen Städten gearbeitet -als Angestellter bei anderen Ärzten. Später hatte er eine eigene Praxis. Soviel ich erfahren habe, wurden alle Arbeitsverhältnisse aufgelöst, weil Mace mit niemandem auskam. Und wenn man ihn fragt, warum er seine eigene Praxis wieder aufgegeben hat, gibt er offen zu, daß er die Patienten nicht ertragen konnte.«
»Vermutlich haben die ihn auch nicht gerade geliebt«, sagte Sam. »Und warum hat die FDA ihn genommen?«
»Sie kennen doch deren Situation. Die haben Probleme, überhaupt jemanden zu kriegen.«
Auch Sam war bekannt, daß die FDA schon immer Schwierigkeiten gehabt hatte, Mediziner und Wissenschaftler einzustellen.
Die Gehälter, die die Regierung zahlte, waren notorisch niedrig; ein Mediziner verdiente bei der FDA weniger als die Hälfte dessen, was eine Privatpraxis einbrachte, und bei den Wissenschaftlern war die Diskrepanz zum Teil noch eklatanter.
Aber auch andere Faktoren spielten eine Rolle, zum Beispiel das berufliche Prestige. In medizinisch-wissenschaftlichen Kreisen galt ein Anstellungsverhältnis bei der FDA nicht gerade als Renommee. Ein Posten bei den National Institutes of Health, die auch der Regierung unterstanden, war zum Beispiel weitaus gefragter.
Darüber hinaus vermißten die Ärzte bei der FDA den direkten Kontakt mit den Patienten. Hier ging es nur um »Fälle aus zweiter Hand«, wie jemand einmal zu Sam gesagt hatte.
Es war erstaunlich, daß trotz all dieser Einschränkungen viele hochqualifizierte und engagierte Ärzte in der Behörde arbeiteten. Aber natürlich ließ es sich nicht vermeiden, daß es auch schwarze Schafe gab - die Erfolglosen, die Verdrossenen und Eigenbrödle-rischen, die es vorzogen, für sich selbst zu bleiben, statt mit Menschen zu tun zu haben. Die sich selbst schützten und schwierige Entscheidungen vermeiden wollten. Alkoholiker. Aus dem Gleichgewicht Geratene.
Zu ihnen gehörte ganz eindeutig Dr. Gideon Mace.
»Gibt es irgend etwas, das ich tun kann?« fragte Sam. »Vielleicht sollte ich den Leiter der Behörde informieren?«
»Das würde ich nicht raten«, erwiderte Lord. »Die Leiter der FDA sind Politiker; sie kommen und gehen. Aber die Bürokraten bleiben und haben ein gutes Gedächtnis.«
»Sie wollen damit andeuten, daß wir bei Staidpace vielleicht gewinnen, später aber viel mehr verlieren könnten?«
»Genau.«
»Und wie steht es mit Mace - als Alkoholiker?«
Lord zuckte die Achseln. »Das viele Trinken hat zwar seine Ehen zerstört, wie ich höre, aber er hat es unter Kontrolle. Er kommt zur Arbeit. Er funktioniert. Mag sein, daß er eine Flasche im Schreibtisch hat, aber es hat ihn noch niemand beim Trinken ertappt.«
»Verstößt der Doppelverdienst gegen die Vorschriften?«
»Offenbar nicht, solange Mace seine Nebentätigkeit auf seine Freizeit beschränkt. Kann sein, daß er am nächsten Tag im Büro müde ist, aber andere Ärzte in der FDA haben ähnliche Nebeneinkünfte.«
»Dann haben wir also nichts, womit wir Mace festnageln können?«
»Im Augenblick nicht«, sagte Lord. »Aber er muß noch immer die hohen Alimente zahlen, und Geldschwierigkeiten bringen die Leute manchmal dazu, die merkwürdigsten Dinge zu tun. Ich werde ihn im Auge behalten.«
Sam sah den Leiter der Forschungsabteilung nachdenklich an. »Sie sind ein wertvolles Mitglied der Firma geworden, Vince. Wie Sie diese ganze unangenehme Angelegenheit in die Hand nehmen und unsere Interessen wahren . . . Ich weiß das zu schätzen.«
»Also . . .« Vince sah erstaunt, wenn auch nicht gerade unzufrieden aus. »So habe ich es gar nicht gesehen. Ich wollte dieses Schwein nur festnageln, um die Genehmigung für Staidpace zu bekommen. Aber vielleicht haben Sie recht.«
Als Vincent Lord später darüber nachdachte, fand er viel Wahres an dem, was Sam gesagt hatte. Lord war jetzt fast achtzehn Jahre bei Felding-Roth, und nach so langer Zeit entwickelten sich zwangsläufig gewisse Loyalitäten. Er dachte jetzt auch immer weniger darüber nach, ob es richtig oder falsch gewesen war, in die Industrie überzuwechseln. Vielmehr war sein Denken auf seine Forschungen gerichtet, die freien Radikale auszuschaltenwann immer er sich von seinen dienstlichen Pflichten freimachen konnte.
Die Antworten, nach denen Lord suchte, waren noch nicht greifbar. Aber er wußte, daß es sie gab. Er würde nie, niemals aufgeben.
Außerdem hatte er einen neuen Ansporn bekommen - das Institut in Großbritannien, in dem Peat-Smith, den Vincent Lord noch nicht persönlich kannte, den mentalen Alterungsprozeß un-tersuchte. Es war ein Wettkampf. Wer würde zuerst einen Durchbruch erzielen - Lord oder Peat-Smith?
Lord war enttäuscht gewesen, als man ihm nicht auch die Leitung der Felding-Roth-Forschungen in England übertragen hatte. Aber Sam Hawthorne war in diesem Punkt unerbittlich geblieben und hatte darauf bestanden, daß »die da drüben« unabhängig arbeiteten. Vielleicht, so überlegte Lord, war das, wie die Dinge sich entwickelten, sogar besser. Aus Gerüchten, die von England herüberdrangen, durfte man schließen, daß Peat-Smith nicht vorankam. Wenn das zutraf, dann konnte man ihn, Lord, wenigstens nicht dafür verantwortlich machen.
Schließlich aber ergab sich im Hinblick auf Dr. Mace die Gelegenheit, auf die Vincent Lord gewartet hatte, wenn auch zu spät, um für Staidpace von Nutzen zu sein, das nach zahlreichen weiteren Verzögerungen und kleinlichen Querelen endlich doch zugelassen worden war und 1974 in den Handel kam.
Es war im Januar 1975, einen Tag nach seiner Rückkehr aus Washington, wo er wegen einer anderen Angelegenheit die FDA aufgesucht hatte, als Lord einen ungewöhnlichen Anruf bekam.
»Da ist ein Herr am Telefon«, teilte ihm seine Sekretärin mit, »der seinen Namen nicht nennen will. Er besteht darauf, Sie zu sprechen, und behauptet, Sie würden sich darüber freuen.«
»Sagen Sie ihm, er soll sich . . . Nein, warten Sie!« Lord war neugierig geworden. »Stellen Sie bitte durch.«
Lord nahm den Hörer. »Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, aber schnell, sonst lege ich auf.«
»Sie haben Informationen über Dr. Mace eingeholt. Ich habe welche.« Die Stimme des Mannes klang jung, aber gebildet.
Lord war sofort hellwach. »Was für Informationen?«
»Mace hat gegen die Gesetze verstoßen. Mit dem Material, das ich in Händen habe, können Sie ihn ins Gefängnis bringen.«
»Warum glauben Sie, daß ich das will?«
»Hören Sie«, sagte der Anrufer, »Sie wollten doch, daß ich mich beeile. Und jetzt stellen Sie lange Fragen. Sind Sie nun daran interessiert oder nicht?«
Lord war vorsichtig, Telefongespräche konnten schließlich aufgezeichnet werden. »Wie hat sich Dr. Mace denn strafbar gemacht?«
»Er hat vertrauliche FDA-Informationen verwendet, um auf dem Aktienmarkt Gewinne zu erzielen. Zweimal.«
»Und wie wollen Sie das beweisen?«
»Ich habe Unterlagen. Aber wenn Sie sie wollen, müssen Sie dafür zahlen, Dr. Lord. Zweitausend Dollar.«
»Wenn Sie mit solchen Informationen hausieren gehen, sind Sie nicht besser als Mace!«
»Schon möglich«, sagte der Mann. »Aber darum geht es hier nicht.«
»Wie heißen Sie?« fragte Lord.
»Das sage ich Ihnen erst, wenn wir uns in Washington treffen.«
2
Die Bar lag in Georgetown. Sie war elegant in Rot-, Braun- und Beigetönen eingerichtet, das Mobiliar war bronzefarben - ganz eindeutig ein Treffpunkt für Homosexuelle. Mehrere Augenpaare blickten Vincent Lord interessiert entgegen, als er eintrat; er kam sich taxiert vor, was ihm Unbehagen bereitete. Aber bevor er noch darüber nachdenken konnte, stand ein junger Mann, der allein an einem Tisch in einer Nische gesessen hatte, auf und kam auf ihn zu.
»Guten Abend, Dr. Lord. Ich bin Tony Redmond.« Er lächelte verschwörerisch. »Die Stimme am Telefon.«
Lord nickte und ließ sich die Hand schütteln. Er hatte Redmond sofort wiedererkannt: Er hatte ihn bei der FDA mehrmals gesehen, konnte sich aber nicht genau erinnern, wo er arbeitete. Redmond, der Mitte Zwanzig war, sah mit seinen kurzen braunen Locken und den babyblauen Augen mit langen Wimpern recht gut aus.
Er führte Lord zu der Nische, und sie setzten sich. Redmond hatte schon etwas zu trinken. »Leisten Sie mir dabei Gesellschaft, Doktor?« fragte er.
»Ich bestelle mir selbst etwas«, erklärte Lord. Er hatte nicht die Absicht, aus dieser Zusammenkunft ein freundschaftliches Treffen zu machen. Je früher das, weswegen er hergekommen war, erledigt war, desto besser.
»Ich bin als medizinisch-technischer Assistent bei der FDA tätig«, half Redmond seinem Gedächtnis nach. »Ich habe Sie ein paarmal in unserer Abteilung gesehen.«
Jetzt erinnerte Lord sich: Der Mann arbeitete in derselben Abteilung wie Gideon Mace. Daraus erklärte sich auch, wie er an die Informationen gelangt war, die er nun zu Geld machen wollte.
Seit dem ersten Kontakt mit Redmond hatte es noch zwei weitere Telefongespräche gegeben. In dem einen war nochmals über Geld gesprochen worden. Redmond hatte sich von seiner ursprünglichen Forderung - zweitausend Dollar für Dokumente, die er zu besitzen behauptete - nicht abbringen lassen. Bei dem zweiten Anruf hatten sie dieses Treffen vereinbart, für das Redmond den Ort genannt hatte.
Vor ein paar Tagen hatte Lord Sam Hawthorne in seinem Büro aufgesucht. »Ich brauche zweitausend Dollar«, erklärte er. »Ohne Beleg.«
Als Sam die Augenbrauen hochzog, fuhr Lord fort: »Für Informationen, die der Firma nützen könnten. Wenn Sie unbedingt wollen gebe ich Ihnen Einzelheiten, aber meiner Meinung nach wäre es für Sie besser, wenn Sie nichts wüßten.«
»Ich mag so etwas nicht«, entgegente Sam. »Geht es um etwas Illegales?«
Lord überlegte. »Ich nehme an, ein Rechtsanwalt würde es als >an der Grenze der Legalität< bezeichnen. Aber ich kann Ihnen versichern, daß wir niemandem etwas wegnehmen - und es sich auch nicht um Firmengeheimnisse handelt.«
Sam zögerte noch immer, und Lord drängte: »Wenn Sie wollen, erzähle ich es Ihnen.«
Sam schüttelte den Kopf. »In Ordnung, Sie bekommen das Geld.«
»Gut«, sagte Lord. »Aber es wäre bessser, wenn so wenig Leute wie möglich etwas davon erführen. Mrs. Jordan zum Beispiel braucht nicht unbedingt etwas davon zu wissen.«
»Das überlassen Sie bitte mir«, sagte Sam gereizt. Dann gab er nach: »In Ordnung, sie wird nichts davon erfahren.«
Lord war erleichtert. Celia Jordan hatte die unangenehme Angewohnheit, penetrante Fragen zu stellen. Und es konnte durchaus sein, daß sie mit dem, was er vorhatte, nicht einverstanden war.
Noch am selben Tag erhielt Vincent Lord einen Firmenscheck über zweitausend Dollar. Der Betrag war als Rückerstattung für »Sonder-Reisespesen« deklariert.
Lord löste den Scheck in Boonton ein, bevor er nach Washington fuhr. Das Bargeld steckte in einem Umschlag in seiner Jakkentasche.
Ein Kellner trat an den Tisch. Er benahm sich ähnlich wie Redmond, den er mit »Tony« anredete. Lord bestellte sich einen Gin Tonic.
»Hübsch hier, finden Sie nicht?« bemerkte Redmond, als der Kellner wieder gegangen war. »Es gilt als chic. Die Gäste stammen überwiegend aus Regierungs- und Universitätskreisen.«
»Es ist mir völlig egal, wer hierherkommt«, sagte Lord. »Zeigen Sie mir die Papiere.«
»Haben Sie das Geld mitgebracht?« konterte Redmond.
Lord nickte knapp.
»Ich hoffe, ich kann mich auf Sie verlassen«, sagte Redmond. Auf dem Sitz neben ihm lag eine Aktentasche; er machte sie auf, holte einen großen braunen Umschlag heraus und reichte ihn Lord. »Da ist alles drin.«
Lords Drink wurde serviert, als er sich gerade in den Inhalt des Umschlags vertiefte.
Zehn Minuten später sah er Redmond an und gab widerwillig zu: »Sie waren sehr gründlich.«
»Tatsächlich«, bemerkte Redmond, »das ist das erste freundliche Wort, das ich von Ihnen höre.« Er lächelte verschwörerisch.
Lord saß schweigend da und wog die Möglichkeiten ab.
Was Dr. Gideon Mace betraf, so war die Sache klar. Redmond hatte ihm schon einiges am Telefon angedeutet, und die Papiere hier erklärten den Rest.
Es ging um das amerikanische Patentrecht, um die Prozeduren bei der Genehmigung von Arzneimitteln durch die FDA. Vincent Lord kannte das zur Genüge.
Wenn das Patent für ein wichtiges pharmazeutisches Produkt erlosch - normalerweise siebzehn Jahre nach Erteilung -, war stets eine Reihe kleiner Firmen daran interessiert, es nachzupro-duzieren und zu einem niedrigeren Preis zu verkaufen. Die Gewinne konnten dabei in die Millionen gehen.
Allerdings mußte die Firma bei der FDA einen Antrag auf erneute Zulassung stellen, auch wenn die Behörde dem ursprünglichen Hersteller die Genehmigung vor längerer Zeit bereits erteilt hatte. Dieser verkürzte Antrag auf Neuzulassung wurde kurz VAAN genannt.
Für jedes wichtige Präparat, dessen Patent bald erlöschen würde, stellten ein Dutzend oder mehr Firmen aus den verschiedensten Bereichen Anträge bei der FDA. Und genau wie bei den ursprünglichen Anträgen, wie etwa für Staidpace im Falle von Felding-Roth, dauerten Bearbeitung und Genehmigung ihre Zeit.
Wie die FDA diese Anträge handhabte, war niemandem so recht klar. Klar war lediglich, daß in der Regel zunächst nur eine einzige Genehmigung erteilt wurde. Die anderen folgten später, meist einzeln und in großen zeitlichen Abständen.
Folglich hatte die Herstellerfirma, die als erste die Genehmigung erhielt, einen enormen Vorteil gegenüber der Konkurrenz und aller Wahrscheinlichkeit nach einen hohen Gewinn, der sich auch auf dem Aktienmarkt auswirkte.
Da die Aktien kleinerer Firmen nicht an den großen Börsen gehandelt wurden, gingen ihre Anteile »unter der Hand« weg.
Diese Situation war für jemanden, der »Bescheid wußte« und unlautere Geschäfte machen wollte, natürlich verführerisch. Wer wußte, welche Firma demnächst die Genehmigung zur Herstellung eines patentfreien Arzneimittels erhalten würde, konnte eine Menge Geld verdienen, indem er Aktienanteile der betreffenden Firma »billig« erwarb, bevor die FDA die Genehmigung bekanntgab, und sie kurz darauf wieder »teuer« verkaufte.
Und Dr. Mace, der Zugang zu vertraulichen Informationen der FDA besaß, hatte genau das getan. Zweimal. Die Beweise hielt Vincent Lord in Form von Fotokopien in den Händen:
Quittungen der Börsenmakler, die »gekauft« und »verkauft« hatten, wiesen als Kunden eine Marietta Mace aus. Lord hatte von Redmond erfahren, daß es sich dabei um die unverheiratete Schwester von Mace handelte, offenbar eine Vorsichtsmaßnahme, die aber nicht erfolgreich gewesen war; zwei datierte FDA-Bestätigungen für die Genehmigung zur Herstellung patentfreier Arzneimittel an die Firmen Binvus Products und Minto Labs. Beide Namen tauchten auf den Quittungen der Börsenmakler auf; zwei Schecks von Gideon Mace, ausgestellt auf seine Schwester, mit demselben Endbetrag wie aufden beiden Aufträgen für den Aktienkauf; zwei Bankbelege auf den Namen von Gideon R. Mace, auf dessen Konto kurz nach dem Verkauf der Aktien größere Eingänge verbucht waren.
Lord rechnete schnell nach. Mace hatte, nach Zahlung von vermutlich zehn Prozent der Summe an seine Schwester, einen Reingewinn von insgesamt etwa 16.000 Dollar erzielt.
Vielleicht auch mehr. Es war möglich, daß Mace ähnliches schon öfter getan hatte - das würde sich bei einem Strafverfahren zeigen. Wie Redmond es bei seinem ersten Telefonanruf vorausgesagt hatte, würde Dr. Mace aufgrund seiner Machenschaften mit ziemlicher Sicherheit ins Gefängnis kommen.
Lord war drauf und dran, Redmond zu fragen, woher er das Beweismaterial habe, änderte dann aber seine Meinung. Die Antwort war nicht schwer zu erraten. Wahrscheinlich hob Mace alles in seinem Schreibtisch in der FDA auf, vielleicht, weil er es dort für sicherer hielt als zu Hause. Redmond, der gewitzt zu sein schien, hatte sich Zugang zu den Unterlagen verschafft. Natürlich mußte Redmond zunächst Verdacht geschöpft haben - zum Beispiel durch ein belauschtes Telefongespräch.
Wie hatte Gideon Mace nur so unglaublich dumm sein kön-nen, überlegte Lord. Dumm, weil er glaubte, damit durchzukommen. Dumm, weil er die Aktien unter seinem Familiennamen gekauft hatte; dumm, weil er die verräterischen Papiere an einem Platz aufbewahrte, wo jemand wie Redmond sie finden und ablichten konnte. Aber schließlich handelten kluge Leute oft dumm. Lord wurde in seinen Gedanken unterbrochen. »Na, wie steht's?« fragte Redmond ungeduldig. »Wollen Sie das Zeug haben? Wollen Sie das Geschäft machen oder nicht?«
Wortlos griff Lord in seine Jackentasche und reichte Redmond den unverschlossenen Umschlag. Der junge Mann zog das Geldbündel heraus und wog es in der Hand, seine Augen strahlten, und sein Gesicht rötete sich vor Freude.
»Zählen Sie es nach«, sagte Lord.
»Das brauche ich nicht. Sie würden mich nicht betrügen. Dazu ist die Sache für Sie zu wichtig.«
Schon vor einer Weile war Lord ein anderer junger Mann aufgefallen, der ein paar Meter entfernt auf einem Barhocker saß und gelegentlich zu ihnen herüberschaute. Jetzt sah er wieder in ihre Richtung, und diesmal erwiderte Redmond den Blick und lächelte; er hielt das Geld hoch, bevor er es wegsteckte. Der andere lächelte zurück. Lord bemerkte es angewidert.
»Ich schätze, das war's dann«, sagte Redmond fröhlich.
»Ich habe nur noch eine Frage«, erklärte Vincent Lord.
»Fragen Sie ruhig.«
Lord berührte den braunen Umschlag mit dem verräterischen Inhalt. »Warum tun Sie Dr. Mace das an?«
Redmond zögerte. »Wegen etwas, das er mal zu mir gesagt hat.«
»Und was war das?«
»Wenn Sie es unbedingt wissen wollen«, sagte Redmond, und seine Stimme war schrill und haßerfüllt, »er hat mich einen drek-kigen Homo genannt.«
»Und was ist daran so schlimm?« fragte Lord, während er aufstand. »Schließlich sind Sie doch einer, oder?«
Bevor er die Bar verließ, warf er noch einen Blick zurück. Tony Redmond starrte ihm mit wutverzerrtem Gesicht nach.
Eine Woche lang konnte Vincent Lord sich nicht entscheiden, was er tun sollte. Er wußte es noch immer nicht, als er Sam Haw-thorne traf.
»Ich hörte, Sie waren in Washington«, sagte Sam. »Ich nehme an, es hatte etwas mit dem Geld zu tun, das ich Ihnen gegeben habe.«
Lord nickte. »Stimmt.«
»Ich rede nicht gern lange um eine Sache herum«, sagte Sam. »Und Sie müssen mich auch nicht schützen. Ich bin ein neugieriger Mensch - ich will es wissen.«
»In diesem Fall muß ich ein paar Unterlagen aus meinem Büro holen«, erklärte Lord.
Eine halbe Stunde später, nachdem er alles gelesen hatte, stieß Sam einen leisen Pfiff aus. Seine Miene war düster. »Sie sind sich bestimmt darüber im klaren«, sagte er zu Lord, »daß wir uns der Beihilfe bei einer strafbaren Handlung schuldig machen, wenn wir nicht sofort etwas unternehmen.«
»Ich weiß«, sagte Lord. »Aber was sollen wir tun? Wenn wir damit an die Öffentlichkeit gehen, gibt es einen großen Wirbel. Wir werden erklären müssen, wie wir an die Papiere gekommen sind. Und was auch passiert - die FDA wird es uns nie verzeihen!«
»Warum haben Sie uns denn da hineingezogen?«
»Weil diese Papiere für uns sehr nützlich sein können«, erwiderte Lord zuversichtlich, »wir müssen die Sache nur richtig anpacken.« Lord gab sich gelassen; er wußte selbst nicht, warum, aber er hatte das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Gerade eben war ihm eingefallen, welchen Weg man am besten einschlagen konnte. »Hören Sie«, sagte er zu Sam, »früher habe ich geglaubt, daß uns so etwas bei Staidpace weiterhelfen könnte. Das ist zum Glück inzwischen gelaufen. Aber es werden garantiert bei anderen Medikamenten neue Probleme auftauchen.«
»Sie wollen damit doch nicht etwa andeuten . . .« Sam war schockiert.
»Ich deute überhaupt nichts an. Außer, daß wir früher oder später wieder mit Mace zu tun haben werden. Und wenn er uns Schwierigkeiten macht, haben wir etwas in der Hand, das wir gegen ihn verwenden können. Daher schlage ich vor, im Augenblick gar nichts zu unternehmen.«
Sam war aufgestanden und ging ruhelos im Zimmer auf und ab. Schließlich brummte er: »Vielleicht haben Sie recht. Aber es gefällt mir nicht.«
»Mace wird es auch nicht gefallen«, sagte Lord. »Und gestatten Sie mir bitte, daran zu erinnern, daß er sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat, nicht wir.«
Sam schien etwas sagen zu wollen, aber Lord kam ihm zuvor. »Wenn die Zeit gekommen ist, können Sie die schmutzige Arbeit ruhig mir überlassen.« Während Sam zögernd nickte, fügte Lord in Gedanken hinzu: Es wird mir vielleicht sogar Freude machen.
3
Anfang 1975 wurde Celia erneut befördert.
Sie hatte jetzt den Verkauf der rezeptpflichtigen Produkte unter sich und stand damit nur eine Stufe unter dem Leiter der Verkaufs- und Marketingabteilung. Für jemanden, der als Pharma-Vertreterin angefangen hatte, eine beachtliche Leistung - eine ganz außergewöhnliche aber für eine Frau.
Celia hatte jedoch seit geraumer Zeit beobachtet, daß bei Fel-ding-Roth niemand mehr daran Anstoß zu nehmen schien, daß sie eine Frau war.
Sie wurde - wie sie es sich immer gewünscht hatte - nur danach beurteilt, was sie leistete.
Celia gab sich nicht der Illusion hin, daß dies nun auch für andere Firmen Gültigkeit haben mußte, aber es war immerhin ein Beweis, daß die Chancen einer Frau, in Spitzenpositionen zu gelangen, stiegen. Wie bei jeder Veränderung mußte es Pioniere geben, und Celia war sich darüber im klaren, daß sie Pionierarbeit leistete.
Obwohl Celia bei ihrer neuen Aufgabe nicht mehr wie in den vergangenen drei Jahren mit Sam Hawthorne zu tun hatte, hatte Sam ihr versprochen, jederzeit für sie dazusein. »Wenn Ihnen in der Firma irgend etwas auffällt, das einer Korrektur bedarf, oder wenn Sie der Meinung sind, daß wir etwas versäumt haben, möchte ich es erfahren, Celia«, sagte Sam am letzten Tag ihrer Tätigkeit als seine persönliche Assistentin. Und Lilian Hawthorne hatte während eines Essens für Celia und Andrew in ihrem Haus das Glas erhoben und gesagt: »Auf Ihr Wohl, Celia - auch wenn ich mir egoistischerweise wünschte, Sie würden nicht befördert werden und könnten auch weiterhin Sam das Leben erleichtern. jetzt werde ich mir wieder mehr Sorgen um ihn machen müssen.«
An dem Essen nahm auch Julie, die neunzehnjährige Tochter der Hawthornes, teil, die aus dem College zu Besuch gekommen war - eine hübsche, ausgeglichene junge Frau, der es nicht im geringsten geschadet zu haben schien, daß sie als verwöhntes Einzelkind aufgewachsen war. Sie hatte einen interessanten jungen Mann mitgebracht, den sie als »mein Freund Dwight Good-smith« vorstellte. »Er studiert Jura und will Rechtsanwalt werden.«
Wie schnell war doch die Zeit vergangen, seit Juliet und Lisa in ihren Schlafanzügen durch das Zimmer getobt waren, dachte Ce-lia wehmütig.
Nach Lilians Trinkspruch sagte Sam lächelnd: »Von ihrer eigentlichen Beförderung weiß Celia noch gar nichts - sie hat jetzt ihren eigenen Parkplatz auf dem >Laufsteg<.«
Als »Laufsteg« wurde die oberste Etage des mehrstöckigen Parkhauses neben dem Hauptgebäude von Felding-Roth bezeichnet. Diese Etage war den Führungskräften der Firma vorbehalten. Von dort aus konnte man über eine Glasrampe bequem in das gegenüberliegende Stockwerk des Haupthauses und zu dem Aufzug gelangen, der in die elfte Etage, den »Direktionsbereich«, hinauffuhr.
Natürlich gehörte auch Sam zu denjenigen, die den »Laufsteg« benutzen durften. Hier stellte er seinen silbergrauen Rolls-Bent-ley ab, den er einer Limousine mit Chauffeur, die ihm als Präsident zugestanden hätte, vorzog. Die anderen Angestellten parkten ihre Fahrzeuge in den unteren Etagen und erreichten das gegenüberliegende Gebäude weit umständlicher über den Hof.
Über Celias »doppelte Beförderung« wurde, bevor der Abend zu Ende ging, noch viel gescherzt.
»Es war eine weise Entscheidung, dich damals an Sams Fersen zu heften«, sagte Andrew auf der Rückfahrt.
»Ja«, bestätigte Celia. »Aber in letzter Zeit mache ich mir Sorgen um ihn.«
»Warum?«
»Er ist sehr viel mehr eingespannt als früher und trägt eine weit größere Verantwortung. Manchmal habe ich das Gefühl, daß er sich Sorgen macht, die er mit niemandem teilen will.«
»Du hast genug eigene Verantwortung zu tragen«, erwiderte Andrew, »und solltest dir nicht noch wegen Sam den Kopf zerbrechen. Aber da wir gerade beim Thema sind - was ist eigentlich aus dem jungen Mann geworden, der sich an deine Fersen geheftet hat?
»Bill Ingram?« Celia lachte; sie mußte daran denken, wie Ingram ihr zum ersten Mal aufgefallen war - bei Quadrille-Brown, der New Yorker Werbeagentur. »Bill hat zuletzt in meiner früheren Position als Verkaufsleiter für Lateinamerika gearbeitet. Und wir überlegen, ob wir ihn nun befördern und in den Verkauf für rezeptpflichtige Produkte nehmen sollen.«
»Fein«, sagte Andrew. »Sieht fast so aus, als hätte auch er sich an die richtigen Rockschöße gehängt.«
In Celias Freude über die Beförderung fiel ein Wermutstropfen. Teddy Upshaw starb an einem Herzanfall - an seinem SchreibTeddy war Verkaufsleiter für rezeptfreie Produkte geblieben und hatte seinen Platz erfolgreich und zufrieden ausgefüllt. Er hatte ein Jahr vor der Pensionierung gestanden. Celia würde seine lebhafte Stimme, seine Energie und Begeisterung sehr vermissen.
Mit Andrew und ein paar anderen Firmenangehörigen nahm sie an Teddys Beerdigung teil. Es war ein trüber, stürmischer Märztag, mit Regenschauern, die zu Eis gefroren. Die Trauernden waren in dicke Mäntel gehüllt und suchten Schutz unter den vom Wind gebeutelten Schirmen.
Später, im Haus der Upshaws, nahm Zoe, Teddys Witwe, Celia beiseite.
»Teddy hat Sie sehr bewundert, Mrs. Jordan«, sagte Zoe. »Er war stolz darauf, für Sie arbeiten zu dürfen, und sagte immer, daß die Firma ein Gewissen habe, solange Sie da seien.«
Celia erinnerte sich gerührt an den Tag, an dem sie Teddy zum ersten Mal gesehen hatte - vor fünfzehn Jahren, kurz nach ihrer Rede bei der Waldorf- Verkaufskonferenz, als man sie des Saales verwiesen hatte. Teddy hatte zu den wenigen gehört, die sie auf ihrem Weg hinaus mit Mitgefühl begleitet hatten.
»Ich habe Teddy auch sehr gern gemocht«, erklärte sie.
Als sie Andrew später berichtete, was Mrs. Upshaw ihr gesagt hatte, fügte sie hinzu: »Ich habe mich nicht immer an Teddys Ideale gehalten. Denk an unseren Streit in Ecuador. Du hattest damals so recht.«
»Wir hatten beide recht«, verbesserte Andrew, »denn auch du hast ein paar Dinge erwähnt, die ich getan oder unterlassen habe. Keiner von uns ist vollkommen - aber ich stimme Teddy zu: Du bist tatsächlich das gute Gewissen von Felding-Roth. Ich bin stolz auf dich, und ich hoffe, daß du bleibst, wie du bist.«
Der folgende Monat brachte bessere Nachrichten - im großen wie im kleinen.
Der Krieg in Vietnam war vorbei. Es war eine vernichtende Niederlage für Amerika, für eine Nation, die an Niederlagen nicht gewöhnt war. Aber das tragische Blutvergießen hatte ein Ende, und nun galt es, die nationalen Wunden zu heilen.
»Solange wir leben, wird die Bitterkeit bleiben«, sagte Andrew eines Abends, nachdem er und Celia den endgültigen, demütigenden Auszug der Amerikaner aus Saigon im Fernsehen miterlebt hatten. »Und in zweihundert Jahren werden sich die Historiker noch immer darüber streiten, ob unser Engagement richtig oder falsch war.«
»Ich weiß, es ist egoistisch«, sagte Celia, »aber ich kann nichts anderes denken als: Gott sei Dank, daß es zu Ende ist, bevor Bru-cie alt genug ist, um daran teilzunehmen.«
Ein oder zwei Wochen später herrschte bei Felding-Roth Freude über die Nachricht aus Frankreich, daß das Medikament Montayne zur Herstellung und für den Verkauf in Frankreich zugelassen worden war. Das bedeutete, daß gemäß dem Lizenzvertrag zwischen Felding-Roth Pharmaceuticals und Laboratoires Gironde-Chimie jetzt auch die amerikanischen Tests mit Mon-tayne beginnen konnten.
Als Celia erfahren hatte, welchem Zweck das Medikament dienen sollte, war sie zunächst beunruhigt. Wie viele andere erinnerte sie sich an Thalidomid und seine schrecklichen Folgen. Sie erinnerte sich auch daran, wie froh sie gewesen war, daß Andrew ihr untersagt hatte, während ihrer Schwangerschaft Medikamente einzunehmen.
Sie teilte Sam ihre Bedenken mit. »Als ich das erste Mal von Montayne hörte«, gab er zu, »habe ich genauso reagiert wie Sie. Aber seit ich mehr darüber weiß, bin ich überzeugt, daß es ein sehr wirksames und völlig unbedenkliches Mittel ist.« Seit Thali-domid waren fünfzehn Jahre vergangen, und in dieser Zeit waren in der pharmazeutischen Forschung gewaltige Fortschritte gemacht worden, auch bei den Erprobungen neuer Arzneimittel. Außerdem waren jetzt, 1975, die Gesetze viel strenger als in den fünfziger Jahren.
»Es hat sich viel geändert«, sagte Sam. »Schließlich hat es auch mal Zeiten gegegen, als der Gedanke an Betäubungsmittel während der Entbindung strikt abgelehnt wurde. Genauso kann und muß es Mittel geben, die während der Schwangerschaft gefahrlos eingenommen werden können. Und Montayne ist so ein Mittel.«
Er riet Celia, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, bevor sie nicht alle Daten geprüft hatte.
Wie wichtig Montayne für Felding-Roth war, erfuhr sie schon bald von Seth Feingold, dem Vizepräsidenten und Chef des Rechnungswesens: »Den mit Montayne zu erwartenden Riesen-umsatz brauchen wir dringend. In diesem Jahr ist es um uns so schlecht bestellt, daß wir über kurz oder lang ein Fall für die Wohlfahrt sein werden.«
Feingold, ein lebhafter, weißhaariger Firmenveteran, hatte schon das Pensionsalter überschritten, aber man hatte ihn wegen seines umfassenden Finanzwissens und wegen seiner Fähigkeit behalten, in schlechten Zeiten Geldquellen zu erschließen. In den vergangenen zwei Jahren waren er und Celia gute Freunde geworden, wozu auch die Tatsache beigetragen hatte, daß Andrew die Arthritis von Feingolds Frau mit Erfolg behandelt hatte.
»Meine Frau glaubt fest daran, daß Ihr Mann Wasser in Wein verwandeln kann«, vertraute Feingold Celia an. »Und bei seiner Frau scheint es ähnlich zu sein . . .«
Dann kam er wieder auf Montayne zu sprechen: »Ich habe mit den Finanzleuten von Gironde-Chimie telefoniert; sie sind überzeugt davon, daß ihnen das Mittel einen Riesenumsatz bringen wird.«
»Auch wenn es noch ein bißchen früh ist - wir vom Vertrieb strengen uns schon mächtig an«, versicherte Celia.
»Apropos Anstrengung - manche bei uns fragen sich allmählich, was diese Engländer in unserem Forschungsinstitut da drüben eigentlich treiben. Scheinen die ganze Zeit nur Tee zu trinken.«
»Ich habe in letzter Zeit nicht viel gehört . . .«, begann Celia.
»Und ich habe überhaupt noch nichts gehört«, unterbrach Feingold. »Außer, daß sie uns Millionen kosten und unser Geld zum Schornstein rausjagen. Auch das ist ein Grund dafür, daß sich unsere Bilanzen in einem so katastrophalen Zustand befinden. Eine Menge Leute hier, einschließlich einiger Mitglieder des Aufsichtsrats, machen sich wegen dieser britischen Kapriole Sorgen. Fragen Sie Sam.«
Aber Celia brauchte Sam nicht zu fragen - er ließ sie ein paar Tage später zu sich rufen. »Sie werden vielleicht schon gehört haben«, begann er, »daß ich wegen Martin Peat-Smith unter ziemlichem Beschüß stehe.«
»Seth Feingold hat es mir gesagt.«
Sam nickte. »Seth gehört auch zu denen, die Zweifel hegen. Aus finanziellen Gründen würde er Harlow gern schließen, und bei unserer Jahresversammlung darf ich auf bohrende Fragen unserer Aktionäre gefaßt sein. Manchmal habe ich das Gefühl, als sollte ich es aufgeben«, fügte er düster hinzu.
»Es ist kaum zwei Jahre her, daß das Harlower Forschungsinstitut seine Arbeit aufgenommen hat. Sie hatten doch Vertrauen zu Martin.«
»Martin hat damals zumindest ein paar positive Ergebnisse innerhalb von zwei Jahren in Aussicht gestellt«, erwiderte Sam. »Außerdem sind dem Glauben Grenzen gesetzt, wenn die Gelder derart verpulvert werden und mir der Aufsichtsrat und die Aktionäre im Nacken sitzen. Und noch etwas - Martin liefert einfach keine Berichte ab. Ich brauche unbedingt eine Bestätigung, daß die Sache vorangeht und daß es sich lohnt weiterzumachen.«
»Warum fahren Sie nicht hin und überzeugen sich?«
»Dafür habe ich im Augenblick leider keine Zeit. Ich möchte aber, daß Sie hinfahren, Celia - sobald Sie können.«
»Glauben Sie nicht, daß Vince Lord dazu besser geeignet wäre?« fragte sie zweifelnd.
»Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sicherlich. Aber Vince ist voreingenommen. Er war von Anfang an gegen das Projekt, und es wäre ihm nur recht, wenn wir Harlow schließen.«
Celia lachte. »Wie gut Sie uns alle kennen!«
»Ich kenne Sie, Celia«, sagte Sam ernst, »und ich habe gelernt, mich auf Ihr Urteil und Ihren Instinkt zu verlassen. Ich beschwöre Sie deshalb - wie sehr Sie Martin Peat-Smith auch mögen -, bei Ihrer Beurteilung hart und rücksichtslos zu sein! Wann können Sie fahren?«
»Wenn es geht, schon morgen«, sagte Celia.
4
Als Celia am frühen Morgen zu einem zweitägigen Besuch auf dem Londoner Flughafen Heathrow eintraf, wartete bereits eine Limousine auf sie, die sie direkt zum Felding-Roth-Forschungs-institut brachte.
Von Anfang an versuchte man, ihr deutlich zu machen, daß alles in bester Ordnung sei. Jeder versicherte ihr, wie gut die Forschungen vorangingen, wieviel man bereits in Erfahrung gebracht habe und wie hart das ganze Team arbeitete. Nur gelegentlich kam es ihr vor, als spüre sie gewisse Anzeichen von Zweifel. Doch dann waren sie wieder verschwunden, so daß sie sich fragte, ob sie sich alles nicht nur eingebildet hatte. Am ersten Tag ging Martin mit ihr durch die Labors und erklärte ihr die laufenden Arbeiten, die immer noch das ursprüngliche Ziel verfolgten - »eine m-RNS zu entdecken und zu isolieren, die in den Gehirnen junger Tiere anders beschaffen ist als in denen alter Tiere«. Und er fügte hinzu: »Später wird sich sicher herausstellen, daß dies auch für die Menschen zutrifft.«
Dann fuhr er in wissenschaftlichem Jargon fort:
». . . m-RNS, extrahiert aus den Gehirnen von Ratten verschiedenen Alters . . . nach der Extraktion inkubiert mit aufgebrochenen Hefezellen unter Hinzufügung von radioaktiven Aminosäuren . . . das Hefesystem synthetisiert die tierischen Gehirnpep-tide, die gleichzeitig auch radioaktiv werden ... als nächstes folgt eine Trennung der Peptide entsprechend ihrer elektrischen Ladung auf Spezialgelen . . . dann finden wir mit Hilfe eines Röntgenfilms die Peptide als Banden wieder . . .«
Wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht, schob Martin mehrere 8 x 10 große Negative über den Labortisch. »Das sind Filme von den Chromatogrammen.«
Auf Celia wirkten sie wie leeren Filmstreifen, aber Martin erklärte: »Sehen Sie genau hin, dann werden Sie zwei Reihen dunkler Streifen erkennen. Die eine ist von einer jungen Ratte, die andere von einer alten. Und sehen Sie . . . hier bei der jungen Ratte sind mindestens neun Peptide, die im Gehirn des älteren Tieres nicht mehr produziert werden.« Seine Stimme bebte vor Erregung. »Jetzt haben wir den positiven Beweis dafür, daß sich die RNS und wahrscheinlich auch die DNS während des Alterungsprozesses verändern.«
»Ja«, sagte Celia unsicher. War diese Entdeckung wirklich so bedeutend, daß sie zwei Jahre Forschungsarbeit und die enormen Kosten rechtfertigte?
Man sah, wo das Geld geblieben war, wenn man sich umblickte: geräumige Labors und moderne Büros mit beweglichen Trennwänden, breite Korridore, ein gemütlicher Konferenzraum.
Die Labors waren mit modernen Arbeitstischen aus Kunststoff ausgestattet, da Holz nach Meinung der Wissenschaftler nicht ausreichend gereinigt werden konnte. Ventilatoren filterten Verunreinigungen aus der Luft. Alles war hell erleuchtet. In zwei Räumen standen große Inkubatoren mit Glastüren, in denen Reagenzgläser mit Bakterien und Hefe aufbewahrt wurden. Einige andere Räume hatten Doppeltüren mit der Aufschrift: »Vorsicht! Radioaktivität!«
Der Kontrast zu den Labors in Cambridge, wo Martin früher gearbeitet hatte, war erstaunlich, wenn auch einiges noch daran erinnerte, zum Beispiel die Aktenberge, die auf sämtlichen Tischen verstreut waren. Man konnte die Umgebung eines Wissenschaftlers verändern, dachte Celia, nicht aber seine Arbeitsgewohnheiten.
Als sie weitergingen, fuhr Martin mit seinen Erklärungen fort:
»Nachdem wir nun die RNS haben, können wir die korrespondierende DNS herstellen . . . müssen sie in die DNS lebender Bakterien einschleusen . . . und versuchen, die Bakterien >zu überlistenc, damit sie das gewünschte Gehirnpeptid produzieren . . .«
Gegen Ende der Führung öffnete Martin die Tür zu einem kleinen Labor, in dem ein älterer Laborant mit weißem Kittel vor einem halben Dutzend Rattenkäfigen stand. »Das ist Mr. Yates«, stellte Martin vor. »Er will gerade ein paar Tiere sezieren.«
»Mickey Yates.« Der Mann streckte die Hand aus. »Ich weiß, wer Sie sind. Alle wissen es.«
Martin lachte. »Das stimmt. Darf ich Sie ein paar Minuten allein lassen? Ich muß einen Anruf erledigen.«
Als Martin das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Celia an Yates: »Wenn es Sie nicht stört, würde ich gern ein wenig zusehen.«
»Es stört mich überhaupt nicht. Aber zuerst muß ich einem von diesen kleinen Burschen hier den Garaus machen.« Er öffnete einen Kühlschrank und nahm einen kleinen durchsichtigen Plastikkasten aus dem Gefrierfach. Unter einer Pattform im Inneren des Kastens stand ein Tablett mit einem kristallinen Stoff, von dem Dampf aufstieg. »Trockeneis«, sagte Yates. »Hatte es gerade reingelegt, bevor Sie kamen.«
Er öffnete einen der Käfige und ergriff geschickt eine große, zappelnde weißgraue Ratte, die er in den Plastikbehälter setzte; dann verschloß er den Deckel. Celia konnte die Ratte auf der kleinen Plattform im Inneren des Kastens sitzen sehen.
»Das Trockeneis schafft eine CO2-Atmopshäre«, erklärte Yates. »Wissen Sie was das bedeutet?«
Celia lächelte über die einfache Frage. »Ja. Kohlendioxyd - wir atmen es aus, wenn wir den Sauerstoff aus der Lunge verbraucht haben. Am Leben kann es uns nicht erhalten.«
»Richtig. Der kleine Bursche hier ist schon fast hinüber.«
Sie beobachteten, wie die Ratte zweimal zuckte und dann still liegenblieb. Eine Minute verging. »Jetzt atmet er nicht mehr«, verkündete Yates fröhlich. Nach weiteren dreißig Sekunden machte er den Plastikbehälter auf, zog das bewegungslose Tier heraus und bestätigte noch einmal: »Mausetot. Aber es geht zu langsam.«
»Mir kam es ziemlich schnell vor.« Celia versuchte sich daran zu erinnern, auf welche Weise man die Ratten während ihrer lange zurückliegenden Laborzeit getötet hatte, aber es fiel ihr nicht ein.
»Es ist zu langsam, wenn man viel zu tun hat. Dr. Peat-Smith benutzt gern den CO2-Behälter, aber es gibt eine schnellere Methode. Diese hier.« Yates zog eine Schublade unter dem Labortisch auf und holte einen anderen Kasten hervor, diesmal aus Metall. Auf der einen Seite befand sich eine kleine runde Öffnung, unmittelbar darüber hing ein scharfes Messer. »Das ist eine Guillotine«, sagte Yates noch immer fröhlich. »Die Franzo-sen sind geschickt in solchen Dingen.«
»Aber keine sehr saubere Methode«, erwiderte Celia. Sie erkannte die Einrichtung wieder - auf ähnliche Weise hatte man die Ratten auch früher getötet.
»Ach, das ist nicht so schlimm. Und - es geht ruckzuck.« Yates warf einen Blick über die Schulter zur Tür, dann holte er, bevor Celia ihn davon abhalten konnte, eine weitere Ratte aus dem Käfig und steckte sie blitzschnell in den Kasten, so daß ihr Kopf aus dem Loch ragte. Dann ließ er das Messer nach unten sausen.
Man hörte ein knackendes Geräusch und so etwas wie einen Schrei, dann fiel der Kopf der Ratte herunter. Blut schoß aus den Arterien. Obwohl Celia mit Labors und Forschungsarbeiten vertraut war, wurde ihr schlecht.
Yates warf dem blutenden und noch immer zuckenden Tierkörper gleichgültig in einen Abfalleimer und behielt den Kopf in der Hand. »Jetzt brauche ich nur noch das Gehirn rauszuholen. Schnell und schmerzlos!«
Celia war von Abscheu erfüllt. »Das hätten sie mir wirklich nicht vorzuführen brauchen!«
»Was denn?« fragte Martin hinter ihr. Er war unbemerkt zurückgekommen und begriff sofort, was geschehen war. Nach einer kurzen Pause bat er Celia, draußen auf ihn zu warten.
Sie konnte Martins wütende Stimme durch die Tür hören: »Tun Sie das nicht noch mal, wenn Sie hier weiterarbeiten wollen .. . Meine Anweisung lautet: den CO2-Kasten benutzen; das ist schmerzlos. Und nichts anderes! . . . Sehen Sie zu, daß dieses Ding hier rauskommt! Haben Sie verstanden?«
Dann hörte sie Yates' kleinlaute Stimme: »Jawohl, Sir.«
»Es tut mir leid«, sagte Martin zu Celia, als sie wenig später mit zwei Bechern Kaffee im Konferenzraum saßen. »Das hätte nicht passieren dürfen. Yates ist es nicht gewöhnt, daß ihm eine hübsche Frau bei der Arbeit zusieht - die er im übrigen sonst zu meiner Zufriedenheit verrichtet. Das ist auch der Grund, warum ich ihn von Cambridge mitgebracht habe. Er kann ein Rattengehirn sezieren wie ein Chirurg.«
Celias Ärger war verflogen. »Macht nichts.«
»Aber mir macht es was.«
»Tiere bedeuten Ihnen viel, nicht wahr?« fragte sie.
»Ja, das stimmt.« Martin nahm einen Schluck Kaffee. »Es ist unmöglich, Forschungen zu betreiben, ohne Tieren Schmerzen zuzufügen. Menschliche Bedürfnisse aber gehen vor - das müssen auch die Tierschützer akzeptieren. Doch sollten die Schmerzen so gering wie möglich sein. Und wenn man sich bemüht, geht das auch.«
Celias Sympathie für Martin wuchs, aber sie rief sich immer wieder ins Gedächtnis, daß sie sich bei ihrer Beurteilung nicht von Neigungen oder Abneigungen beeinflussen lassen durfte. »Kommen wir zurück auf die Fortschritte, die Sie gemacht haben«, sagte sie knapp. »Sie haben von Unterschieden in den Gehirnen junger und alter Tiere gesprochen und von Plänen, eine DNS synthetisch herzustellen. Aber Sie haben bis jetzt noch kein Protein isoliert - das Peptid, nach dem Sie suchen, auf das es ankommt. Richtig?«
»Richtig. Das ist der nächste Schritt, aber auch der schwerste. Wir arbeiten daran, und es wird gelingen - auch wenn es noch einige Zeit dauern wird.«
»Als das Institut eingerichtet wurde, haben Sie gesagt: >Geben Sie mir zwei Jahre.< Sie erhofften sich in dieser Zeit positive Resultate. Das war vor zwei Jahren und vier Monaten.«
Er schien überrascht. »Habe ich das wirklich gesagt?«
»Ja. Sam erinnert sich genau daran. Und ich auch.«
»Dann war das ziemlich unüberlegt von mir. Bei unserer Forschungsarbeit lassen sich keine Zeitpläne aufstellen.« Martin gab sich noch immer zuversichtlich, aber Celia spürte seine Anspannung. Auch körperlich schien Martin nicht in besonders guter Verfassung. Er war blaß, seine Augen sahen müde aus, und in sein Gesicht hatten sich Falten eingegraben, die sie vor zwei Jahren noch nicht bemerkt hatte.
»Martin«, sagte Celia, »warum schicken Sie uns keine Arbeitsberichte? Sam muß sich vor dem Aufsichtsrat und den Aktionären rechtfertigen . . .«
Martin schüttelte ungeduldig den Kopf. »Es ist wichtiger, daß ich mich auf die Forschungsarbeit konzentriere. Mit diesem ganzen Papierkram verplempert man nur seine Zeit.« Und dann fragte er unvermittelt: »Haben Sie John Locke gelesen?«
»Im College - ein wenig.«
»Er schreibt, daß der Mensch Entdeckungen macht, indem er >seine Gedanken ständig in eine Richtung lenkt<. Ein Wissenschaftler darf das nie vergessen.«
Celia beließ es für den Augenblick dabei, aber später griff sie das Thema mit dem Verwalter, Ex-Major Bentley, wieder auf, der einen anderen Grund für das Ausbleiben von Berichten andeutete.
»Für Dr. Peat-Smith scheint es außerordentlich schwierig zu sein, überhaupt etwas schriftlich niederzulegen«, erklärte er. »Vielleicht, weil er der Ansicht ist, daß das, was für ihn gestern wichtig war, heute längst überholt sein kann. Am liebsten würde er alles, was er je geschrieben hat, wieder vernichten. Das habe ich bei Wissenschaftlern häufig erlebt. Womöglich liegt es daran, daß sie sich ständig weiterbilden und erst sehr spät mit den Realitäten des Alltagslebens konfrontiert werden. Es hat große Gelehrte gegeben, die im Alltag nie zurechtgekommen sind. Man findet in akademischen Kreisen zuweilen auch ein geradezu kindisches Benehmen - kleinliche Zänkereien und dergleichen bei ganz banalen Dingen.«
»Ich hätte nicht gedacht, daß das auch auf Martin Peat-Smith zutrifft«, sagte Celia nachdenklich.
»Vielleicht nicht auf diese Weise«, stimmte Bently zu. »Aber Dr. Peat-Smith hat zum Beispiel Schwierigkeiten, ganz unbedeutende Entscheidungen zu treffen. Er kann sich wochenlang damit herumquälen, welchen von zwei Laboranten er einstellen oder ob er an einem dreitägigen Seminar in London teilnehmen soll. Das sind Kleinigkeiten, die Sie oder ich in ein paar Minuten klären würden, und es ist schon oft vorgekommen, daß schließlich ich die Entscheidungen getroffen habe, weil mein Vorgesetzter sich nicht dazu durchringen konnte. All das berührt natürlich keineswegs Dr. Peat-Smiths wissenschaftliche Integrität und Hin-gabe.«
»Jetzt wird mir manches klarer«, sagte Celia. »Auch warum Martin uns keine Berichte geschickt hat.«
»Da wäre noch etwas, das ich vielleicht erwähnen sollte.«
»Reden Sie.«
»Dr. Peat-Smith ist der Leiter dieses Projekts, und jemand, der eine Führungsfunktion ausübt, kann es sich nicht leisten, Schwächen oder Zweifel zu zeigen. Darunter würde die Moral seiner Mitarbeiter leiden. Und außerdem: Dr. Peat-Smith war es gewohnt, immer allein zu arbeiten, sein Tempo selbst zu bestimmen. Jetzt trägt er plötzlich die Verantwortung für viele Menschen, die von ihm abhängig sind, und sieht sich nun auch noch durch Ihre Anwesenheit, Mrs. Jordan, unter Druck gesetzt.«
»Dann bestehen also doch Zweifel hinsichtlich der Arbeit?« fragte Celia.
Bentley, der Celia in seinem Büro am Schreibtisch gegenübersaß, legte die Fingerspitzen gegeneinander und sah sie nachdenklich an. »Ich habe eine Verpflichtung gegenüber Dr. Peat-Smith, aber ich habe auch Ihnen und Mr. Hawthorne gegenüber eine Verpflichtung - und die schätze ich höher ein. Daher muß ich Ihnen Ihre Frage ehrlich beantworten: Ja, es gibt Zweifel.«
»Ich möchte gern mehr darüber wissen«, sagte Celia.
»Von den wissenschaftlichen Dingen verstehe ich zuwenig«, erwiderte Bentley zögernd. »Vielleicht sollten Sie sich aber einmal ganz privat mit Dr. Sastri unterhalten. Bitten Sie ihn, ganz offen mit Ihnen zu reden.«
Dr. Rao Sastri war, wie Celia wußte, der auf Nukleinsäuren spezialisierte Chemiker, ein Pakistani, den Martin zu seinem Stellvertreter gemacht hatte.
»Vielen Dank, Mr. Bentley, ich werde Ihrem Rat gern folgen«, sagte Celia.
»Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«
Celia überlegte. »Martin erwähnte heute John Locke. Ist er ein Anhänger von Locke?«
»Ja, und ich auch.« Bentley lächelte. »Wir sind beide der Überzeugung, daß Locke zu den größten Philosophen gehört, die es je gegeben hat.«
»Ich würde heute abend gern etwas von Locke lesen«, sagte Celia. »Können Sie mir etwas besorgen?«
»Ich werde es in Ihr Hotel schicken lassen.«
Erst am späten Nachmittag des zweiten Tages kam Celia dazu, mit Dr. Sastri zu sprechen. Nach ihrem Gespräch mit Nigel Bentley hatte sie sich mit anderen Mitarbeitern des Instituts unterhalten, die alle guten Mutes und optimistisch zu sein schienen. Trotzdem hatte Celia das Gefühl, daß man etwas vor ihr verbarg, und daß niemand ganz aufrichtig war.
Rao Sastri war ein gutaussehender, dunkelhäutiger junger Mann von Ende Zwanzig. Celia wußte, daß er einen ausgezeichneten Ruf als Wissenschaftler genoß. Sastri und Celia trafen sich unter vier Augen in einem Nebenraum der Cafeteria, der von den leitenden Angestellten gewöhnlich für gemeinsame Abendessen benutzt wurde.
»Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin«, sagte Celia nach der Begrüßung.
»Ja, Mrs. Jordan. Mein Kollege Peat-Smith hat oft und sehr freundlich von Ihnen gesprochen. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«
»Ich freue mich ebenfalls, Sie kennenzulernen«, sagte Celia, »und ich würde mich gern mit Ihnen über die Fortschritte bei Ihrem Forschungsvorhaben unterhalten.«
»Alles läuft ganz wunderbar!«
»Ja«, bemerkte Celia, »das haben mir alle anderen auch schon versichert. Aber bevor wir weiterreden, möchte ich gern klarstellen, daß ich in Vertretung von Mr. Hawthorne, dem Präsidenten von Felding-Roth, hier bin und alle Vollmachten besitze.«
»O je! Ich frage mich, was jetzt kommt.«
»Ich muß Sie bitten, Dr. Sastri, nein, Sie auffordern, ganz offen mit mir zu sein und auch nicht mit eventuellen bisher nicht geäußerten Zweifeln hinter dem Berg zu halten.«
»Das ist mir aber sehr peinlich«, sagte Sastri. »Und auch nicht ganz fair, wie ich Bentley schon gesagt habe, der mich über das bevorstehende Gespräch informierte. Ich habe schließlich Peat-Smith gegenüber eine Verpflichtung, und er ist ein anständiger Kerl.«
»Sie haben Felding-Roth gegenüber eine noch größere Verpflichtung«, klärte Celia ihn in scharfem Ton auf. »Die Firma zahlt Ihr Gehalt - ein gutes Gehalt - und hat daher Anspruch auf Ihre ehrliche, fundierte Meinung.«
»Sie reden nicht lange um den heißen Brei herum, nicht wahr?«
»Dafür habe ich keine Zeit, da ich morgen schon wieder nach Amerika zurückfliegen muß. Sagen Sie mir also bitte möglichst genau, wie es Ihrer Meinung nach um die Forschungen im Institut steht und in welche Richtung sie sich bewegen.«
Sastri hob resignierend die Hände und stieß einen Seufzer aus. »Mit den Forschungen steht es nicht besonders gut. Und meiner bescheidenen Meinung nach - wie auch der vieler anderer, die an diesem Projekt beteiligt sind - führen sie nirgendwohin.«
»Erklären Sie mir das genauer.«
»In mehr als zwei Jahren haben wir nichts weiter erreicht, als die Theorie zu bestätigen, daß mit fortschreitendem Alter in der Gehirn-DNS Veränderungen stattfinden. Gewiß, das ist eine interessante Erkenntnis, aber dahinter türmt sich eine verdammte Mauer auf, und wir besitzen keine geeigneten Techniken, um sie zu durchdringen. Und selbst im positiven Fall könnte sich herausstellen, daß das von Peat-Smith postulierte Peptid gar nicht dahinter zu finden ist.«
»Sie teilen seine Theorie nicht?« fragte Celia.
»Ich gebe zu, Mrs. Jordan, daß ich ihr früher einmal beigepflichtet habe.« Sastri schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich es jetzt nicht mehr.«
»Martin hat mir gesagt, daß Sie die Existenz einer einzigartigen RNS nachgewiesen haben und in der Lage sein müßten, die entsprechende DNS herzustellen.«
»Das stimmt. Aber was er Ihnen nicht gesagt hat - daß das isolierte Material möglicherweise unbrauchbar ist. Es ist ein sehr langer Strang, auf dem die Codes zahlreicher Proteine Platz ha-ben, möglicherweise bis zu vierzig. Daher ist es nicht zu gebrauchen - es ist ein >Nonsens-Peptid<.«
»Läßt sich das Material spalten? Kann man die Peptide isolieren?« fragte Celia, um Verständnis bemüht.
Sastri lächelte; seine Stimme bekam einen überlegeneren Klang. »Genau hier befindet sich die Mauer. Wir wissen noch nicht, wie wir sie überwinden sollen. In zehn Jahren vielleicht . . .« Er zuckte die Achseln.
In den folgenden zwanzig Minuten erfuhr Celia weitere Einzelheiten und auch, daß Martin der einzige war, der noch daran glaubte, daß sie zu brauchbaren Ergebnissen gelangen würden.
»Ich danke Ihnen, Dr. Sastri«, sagte Celia zum Schluß. »Sie haben mir gesagt, was ich wissen wollte und weswegen ich hergekommen bin.«
Der junge Mann nickte bedrückt. »Ich habe nur meine Pflicht getan, wie Sie es von mir verlangt haben. Aber ich werde heute nacht bestimmt kein Auge zumachen.«
»Ich glaube, ich auch nicht«, erwiderte Celia. »Aber das ist der Preis, den wir manchmal bezahlen müssen.«
5
Auf Martins Einladung hin besuchte Celia ihn an ihrem zweiten und letzten Abend zu einem Drink in seinem Haus. Danach wollten sie im Churchgate-Hotel, in dem Celia wohnte, zusammen essen.
Martin lebte in einem kleinen Haus, einer Doppelhaushälfte, ungefähr zwei Meilen vom Institut entfernt. Es war modern und praktisch und ähnelte einem guten Dutzend anderer Häuser in der Nachbarschaft, die offenbar in Serie errichtet worden waren.
Martin führte sie in ein kleines Wohnzimmer, und wie schon bei anderen Gelegenheiten spürte sie auch heute seine bewundernden Blicke. Sie hatte für die kurze Reise nach Großbritannien nur ein wenig Kleidung eingepackt und trug tagsüber ein maßgeschneidertes Kostüm, an diesem Abend aber hatte sie ein Modellkleid von Diane von Fürstenberg mit hübschen braunen und weißen Drucken angezogen und eine Perlenkette umgelegt. Ihre weichen braunen Haare waren modisch kurz geschnitten.
Im Flur stolperte Celia fast über die vielen Tiere - einen freundlichen irischen Setter, eine knurrende englische Bulldogge und drei Katzen. Im Wohnzimmer hockte ein Papagei auf einer Stange.
Sie lachte. »Sie sind wirklich ein Tiernarr, nicht wahr?«
»Ich glaube schon«, stimmte Martin lächelnd zu. »Ich habe gern Tiere um mich, und auf heimatlose Katzen wirke ich wie ein Magnet.« Die Katzen schienen derselben Meinung zu sein und folgten ihm auf Schritt und Tritt.
Celia wußte, daß Martin allein lebte; tagsüber kam eine Zugehfrau. Das Wohnzimmer war spärlich möbliert - ein Ledersessel, eine Leselampe und drei Bücherregale, die mit wissenschaftlichen Werken vollgestopft waren. Auf einem kleinen Tisch standen Flaschen, ein Mixer und Eiswürfel.
»Ich habe alles für einen Daiquiri, wenn Sie einen mögen.«
»Es ist nett, daß Sie sich daran erinnern.« Celia fragte sich, ob sie am Ende des Abends noch immer so entspannt und freundschaftlich miteinander umgehen würden. Bei früheren Begegnungen mit Martin hatte sie sich von ihm als Mann stets angezogen gefühlt, aber ihr kamen Sam Hawthornes Abschiedsworte in den Sinn: ». . . wiesehrSieMartinPeat-Smithauchmögen. . . bei Ihrer Beurteilung hart und rücksichtslos zu sein. . . «
»Übermorgen werde ich Sam sehen«, sagte Celia. »Und dann werde ich ihm berichten, wie es meiner Meinung nach mit dem Harlow-Institut weitergehen soll. Ich würde gern von Ihnen erfahren, wie Sie die Dinge sehen.«
»Ganz einfach.« Er reichte ihr den Daquiri. »Sie sollten sich dafür einsetzen, daß unsere Forschungen noch ein Jahr oder, falls nötig, länger fortgesetzt werden.«
»Es gibt eine Reihe von Leuten, die dagegen sind. Das wissen Sie.«
»Ja.« Die Zuversicht, die Martin seit Celias Ankunft ausge-strahlt hatte, hielt auch jetzt noch an. »Es gibt immer kurzsichtige Leute, die nicht fähig sind, eine Sache als Ganzes zu sehen.«
»Ist Dr. Sastri kurzsichtig?«
»Leider ja. Rao war vor einer Stunde bei mir, weil er meinte, daß ich wissen sollte, was er Ihnen heute nachmittag gesagt hat. Rao ist ein durch und durch ehrlicher Mann.«
»Und?«
»Er irrt sich. Absolut. Genau wie alle anderen, die Zweifel hegen.«
»Können Sie die Zweifel mit Fakten widerlegen?« fragte Celia»Natürlich nicht!« Martin wurde ungeduldig. »Jede wissenschaftliche Forschung basiert auf einer Theorie. Wenn wir schon vorher Fakten hätten, brauchten wir keine Forschung zu betreiben. Was wir aber brauchen, ist ein fundiertes, professionelles Urteilsvermögen und Instinkt; manche nennen das wissenschaftliche Arroganz. In jedem Fall ist es die Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein, und das Wissen, daß zwischen einem selbst und dem, wonach man sucht, nur die Zeit - in diesem Fall eine sehr kurze Zeit - steht.«
»Zeit und sehr viel Geld«, wandte Celia ein. »Und die Frage, ob Sie oder Sastri oder wer sonst die Sache richtig beurteilen.«
Martin nahm einen Schluck von seinem Scotch mit Wasser. »Über Geld denke ich nicht gern nach, jedenfalls nicht mehr als unbedingt nötig, vor allem nicht über Geld, das aus dem Verkauf von Medikamenten stammt. Aber da Sie es erwähnt haben, will ich darüber reden, weil es vielleicht die einzige Möglichkeit ist, mich Ihnen oder Sam oder den anderen verständlich zu machen.«
Celia sah Martin aufmerksam an.
»Selbst ich in meiner Abgeschiedenheit«, begann er, »weiß, daß Felding-Roth in Schwierigkeiten steckt. Wenn nicht bald etwas geschieht, wird es mit der Firma bergab gehen. Stimmt's?«
Celia zögerte und nickte dann. »Ja, das stimmt.«
»Und ich kann, wenn man mir noch ein bißchen mehr Zeit läßt, Ihre Firma retten. Ich werde sie nicht nur retten, sondern ihr dazu verhelfen, wieder produktiv, angesehen und reich zu werden.
Denn am Ende meiner Forschungen wird ein wichtiges Mittel stehen - ein Medikament.« Martin verzog das Gesicht, bevor er weitersprach. »Mir persönlich ist es egal, welche kommerziellen Folgen meine Arbeit hat. Es ist mir sogar peinlich, jetzt darüber zu reden. Aber wenn ich Erfolg habe, dann wird es auch für Sie ein Erfolg sein.«
Martins Worte waren genauso eindrucksvoll wie damals bei ihrem Besuch in seinem Cambridger Labor. Seinerzeit, dachte Celia, hatte er auch Sam beeindruckt. Aber die mehr als zwei Jahre zurückliegende Prognose hatte sich nicht bestätigt. Warum, fragte Celia sich, sollte das heute anders sein?
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich weiß einfach nicht.«
»Verdammt, aber ich weiß, ich weiß, daß ich die Sache richtig beurteile!« Martin sprach jetzt lauter. »Wir sind schon ganz nahe dran, sehr nahe!« Er trank sein Glas und stellte es heftig auf den Tisch. »Verdammt! Wie kann ich Sie nur überzeugen!«<
»Sie können es ja noch mal beim Essen versuchen.« Celia warf einen Blick auf die Uhr. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.«
Das Essen im Churchgate-Hotel war zwar gut, aber die Portionen waren für Celia zu groß. Nach einer Weile schob sie die Reste auf ihrem Teller lustlos hin und her, während sie überlegte, was sie als nächstes sagen sollte. Dabei betrachtete sie die schöne Umgebung.
Vor mehr als sechshundert Jahren, bevor Churchgate in ein Hotel umgewandelt wurde, hatte an dieser Stelle eine Votivka-pelle gestanden, die später ein Privathaus wurde. Reste der Bauweise aus der Zeit Jakobs I. waren in dem hübschen Hotel noch zu erkennen, das vergrößert und renoviert worden war, als Har-low nach dem Zweiten Weltkrieg vom Dorf zur Stadtgemeinde aufstieg. Der Speisesaal gehörte zu diesen historischen Überbleibseln.
Celia mochte die Atmosphäre - die niedrige Decke, die gepolsterten Fensterbänke, die Tischtücher aus rot-weiß gemustertem Leinen, den angenehmen Service, zu dem es gehörte, die Speisen aufzutragen, bevor die Gäste aus der angrenzenden Bar zu Tisch gebeten wurden, wo sie die Bestellung zuvor aufgegeben hatten.
An diesem Abend saß Celia auf einer der Fensterbänke, Martin ihr gegenüber. Sie hörte ihm zu, warf gelegentlich eine Frage ein, während Martin selbstsicher über wissenschaftliche Dinge redete. Aber Nigel Bentleys Worte waren ihr noch frisch im Gedächtnis. »Dr. Peat-Smith ist der Leiter dieses Projekts, er kann es sich nicht leisten, Schwächen oder Zweifel zu zeigen. . . ««
War Martin trotz der festen Zuversicht, die er nach außen hin bekundete, dennoch unsicher? Celia überlegte, wie sie das herausfinden konnte. Eine Idee war ihr beim Lesen des Buchs gekommen, das ihr Nigel Bentley - wie versprochen - ins Hotel geschickt hatte.
Sie sah ihn offen an. »Vorhin, bei Ihnen zu Hause, sprachen Sie von wissenschaftlicher Arroganz.«
»Verstehen Sie das, bitte, nicht falsch«, gab er zurück. »Das war positiv, nicht negativ gemeint - eine Kombination aus Wissen und dem Willen, der eigenen Arbeit kritisch gegenüberzutreten, aber auch aus einer Überzeugung, die ein erfolgreicher Wissenschaftler unbedingt braucht, um überleben zu können.«
Bei diesen Worten hatte Celia zum ersten Mal das Gefühl, eine Andeutung von Schwäche in der zur Schau getragenen Zuversicht zu entdecken.
»Wäre es nicht möglich«, fragte sie, »daß wissenschaftliche Arroganz, oder wie man es nennen will, auch einmal zu weit gehen kann? Daß jemand einfach nur von dem überzeugt ist, was er glauben will, und daß am Ende alles nur Wunschdenken wird?«
»Schon möglich«, erwiderte Martin. »Wenn auch nicht in diesem Fall.«
Aber seine Stimme klang flach, nicht mehr so überzeugend wie zuvor. Jetzt war sie sich ganz sicher. Sie hatte einen schwachen Punkt berührt, und er war nahe daran, es einzugestehen.
»Ich hab' gestern abend etwas gelesen«, fuhr Celia fort. »Ich hab's mir aufgeschrieben, aber ich könnte mir denken, daß Sie es kennen.« Sie zog einen Hotelbriefbogen aus ihrer Tasche und las vor:
»Ein Irrtum entsteht nicht durch einen Mangel an Wissen, sondern durch ein mangelhaftes Urteil . . . Wer in seinem Kopf nicht eine Folge von Konsequenzen durchdenken oder gegenteilige Beweise richtig abwägen kann . . . läßt sich vielleicht dazu verleiten, Positionen einzunehmen, die nicht wahrscheinlich sind.«
Es entstand eine Pause, dann sagte Celia, wohl wissend, wie rücksichtslos, ja grausam sie war: »Das stammt aus einem Essay von John Locke, an den Sie glauben und den Sie verehren.« »Ja«, sagte er, »ich weiß.«
»Könnte es nicht sein«, bohrte sie weiter, »daß Sie diese >gegenteiligen Beweise< nicht richtig abwägen und daß Sie ^Positionen einnehmen, die nicht wahrscheinlich sind«
Martin sah sie an, in seinen Augen lag eine stumme Anklage. »Glauben Sie das wirklich?« »Ja, das glaube ich«, sagte Celia ruhig.
»Tut mir leid, dann . . .« Er erstickte fast an den Worten, und sie erkannte seine Stimme kaum wieder. »Dann . . . gebe ich auf.«
Martins Gesicht war aschfahl geworden, sein Mund stand offen, der Unterkiefer klappte herunter. Er stammelte unzusammenhängende Worte. ». . . sagen Sie Ihren Leuten, daß sie Schluß machen sollen . . . sie sollen zumachen . . . ich glaube daran, aber vielleicht bin ich nicht gut genug, nicht allein . . . Wonach wir gesucht haben, wird gefunden werden . . . es wird geschehen, muß geschehen . . . aber irgendwo anders . . .«
Celia war entsetzt. Was hatte sie angerichtet? Sie hatte Martin einen Schock versetzen wollen, um ihn in die Realität zurückzuholen, aber so weit hatte sie nicht gehen wollen. Die Anspannung der letzten beiden Jahre, die Verantwortung, die er ganz allein getragen hatte - all das hatte seinen Preis gefordert. Wieder hörte sie Martins Stimme: ». . . müde, so müde . . .« Celia verspürte den übermächtigen Wunsch, ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten. Und ganz plötzlich wußte sie, was als nächstes geschehen würde. »Martin«, sagte sie entschlossen, »lassen Sie uns von hier verschwinden.«
Eine Kellnerin, die an ihrem Tisch vorbeikam, warf ihnen einen neugierigen Blick zu. Celia war aufgestanden. »Schreiben Sie alles auf meine Rechnung. Meinem Freund geht es nicht gut«, sagte sie.
»Gewiß, Mrs. Jordan.« Das Mädchen schob den Tisch beiseite. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, danke. Es geht schon.« Sie ergriff Martins Arm und führte ihn hinaus, durch die Halle, die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Auch dieser Teil des Gebäudes war aus der Zeit Jakobs 1. erhalten geblieben. Das rechteckige Schlafzimmer hatte eine niedrige, stuckverzierte Decke, mit Eichenholz verkleidete Wände und einen mit Steinen eingefaßten Kamin. Die Fenster waren klein und erinnerten daran, daß Glas im siebzehnten Jahrhundert ein Luxus gewesen war.
Das große Himmelbett war bereits für die Nacht hergerichtet, die Decken waren zurückgeschlagen und Celias Nachthemd über ein Kissen gebreitet.
Celia mußte daran denken, was sich im Laufe der Jahrhunderte in diesem Zimmer abgespielt haben mochte: Geburt und Tod, Krankheiten, Leidenschaften, Freude und Kummer, Streit, geheime Zusammenkünfte. Heute würde zu dieser Liste noch etwas hinzukommen . . .
Martin war noch immer benommen und sah sie unsicher an. Sie nahm das Nachthemd vom Bett und sagte, während sie zum Badezimmer ging, sanft: »Zieh dich aus und leg dich ins Bett. Ich bin gleich bei dir.«
Als er sie nur anstarrte, noch immer reglos, flüsterte sie ihm zu: »Das möchtest du doch auch, nicht wahr?«
Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust: »O mein Gott, ja!«
Sie hielten sich fest umschlungen, und sie tröstete ihn, wie man ein Kind tröstet. Dann spürte sie, wie Martins Verlangen nach ihr wuchs und wie ihr eigenes erwachte. Martin hatte diesen Augen-blick gewollt, und Celia wußte, daß auch sie sich danach gesehnt hatte. Seit ihrer ersten Begegnung in Cambridge, als etwas Stärkeres als nur flüchtige gegenseitige Zuneigung zwischen ihnen aufgeflammt war, waren sie unvermeidlich darauf zugetrieben. Von Anfang an war es nie darum gegangen, »ob«, sondern immer nur: »Wann?«
Daß es sich hier und jetzt ereignete, war ein reiner Zufall. Wenn nicht an diesem Abend, so wäre es zu einem anderen Zeitpunkt geschehen - jede Begegnung hätte sie diesem schicksalhaften Augenblick näher gebracht.
Während sie sich leidenschaftlich küßten, spürte sie seinen Körper. Alle Fragen und Zweifel verstummten. Celia hatte für nichts anderes mehr Kraft, als das Verlangen zu stillen, das sie erfüllte - und das mit Martins Verlangen verschmolz. Dann schrien sie beide auf vor Liebe und Glück. Später schliefen sie erschöpft ein. Als sie gegen Morgen aufwachten, liebten sie sich noch einmal, sanfter diesmal und zarter.
Und als Celia das nächste Mal erwachte, fiel helles Tageslicht durch die altmodischen Fenster ins Zimmer.
Martin war nicht mehr bei ihr. Er hatte eine Nachricht hinterlassen.
Liebste, Du warst und bist für mich eine Inspiration.
Heute früh, während Du schliefst, hatte ich eine Idee, vielleicht die Lösung unseres Problems. Ich gehe ins Labor, wenn ich auch weiß, daß mir nicht viel Zeit bleibt, um herauszufin- den, ob es uns weiterbringt.
Auf jeden Fall werde ich an meinem Glauben festhalten und so lange weitermachen, bis man mich vertreibt.
Was zwischen uns war, wird unser Geheimnis und eine wunderbare Erinnerung bleiben. Mach Dir keine Sorgen. Man findet nur einmal ins Paradies.
Du solltest diesen Zettel lieber nicht aufbewahren.
Ewig Dein Martin Celia duschte, bestellte das Frühstück und packte ihre Sachen für die Heimreise.
6
In der Concorde der British Airways schloß Celia, nachdem der Imbiß serviert war, die Augen und ordnete ihre Gedanken.
Während der achtzehn Jahre ihrer Ehe hatte sie - bis gestern abend - Andrew nie betrogen. Nicht, daß es an Gelegenheiten gefehlt hätte - zuweilen war die Versuchung groß, aber sie hatte ihr widerstanden, sowohl aus Loyalität gegenüber Andrew als auch, weil es, geschäftlich gesprochen, unvernünftig gewesen wäre.
Sam Hawthorne hatte ihr mehr als einmal zu verstehen gegeben, daß er einer Affäre mit ihr nicht abgeneigt wäre. Aber sie war schon vor langer Zeit zu dem Schluß gekommen, daß es für sie beide nichts Schlimmeres geben konnte, und hatte Sams gelegentliche Annäherungsversuche höflich, aber bestimmt zurückgewiesen.
Mit Martin war es anders gewesen. Celia hatte ihn von Anfang an bewundert und ihn - wie sie sich jetzt eingestand - auch körperlich begehrt. Dieser Wunsch war nun in Erfüllung gegangen, und das Ergebnis hätte nicht schöner sein können.
Aber Martin war klug genug gewesen zu erkennen, daß ihre Liebe keine Zukunft hatte, und Celia sah es ebenso, wollte sie nicht Andrew aufgeben und sich von ihren Kindern trennen -und das kam nicht in Frage. Sie liebte Andrew, seine Klugheit, seine Zärtlichkeit und seine Kraft. - Ob Andrew je außereheliche Beziehungen gehabt hatte? Aus Gerüchten und Indiskretionen wußte sie, daß in Mediziner- wie in Pharmazeuten-Kreisen Seitensprünge oft vorkamen. Aber spielten sie in einer guten Ehe eine Rolle? Sie glaubte es nicht - vorausgesetzt, es wurden keine ernsthaften, anhaltenden Beziehungen daraus. Celia war der An-sicht, daß viele Ehen ganz überflüssigerweise eines harmlosen sexuellen Vergnügens wegen auseinandergingen. Und was Andrew betraf: Was auch immer er außerhalb ihrer Ehe getan oder nicht getan hatte - er würde sich immer rücksichtsvoll und diskret verhalten. Celia beabsichtigte, genauso diskret zu sein, und beschloß, Martin künftig nicht mehr heimlich zu treffen.
Ihre Gedanken wanderten vom persönlichen zum geschäftlichen Bereich. Wie sollte die Empfehlung lauten, die Sam am morgigen Tag von ihr erwartete? Eigentlich konnte es nur einen einzigen Rat geben: Das Institut zu schließen. Zugegeben, daß es ein Fehler gewesen war. Die Sache schnell abzuschreiben. Sich damit abzufinden, daß Martins Projekt ein Mißerfolg war.
Oder war das doch nicht der einzig mögliche Weg?
Vor allem ging ihr nicht aus dem Kopf, was Martin in seiner Verzweiflung gesagt hatte, kurz bevor sie den Speisesaal des Churchgate-Hotels verließen: »Wonach wir gesucht haben, wird gefunden werden ... es wird geschehen, muß geschehen . . . aber irgendwo anders. «
War es möglich, daß Martin doch recht hatte und alle anderen unrecht? Und wo war »irgendwo anders« In einem anderen Land? In einer anderen pharmazeutischen Firma? War es möglich, daß ein anderes Unternehmen Martins Forschungen aufgreifen und sie zu einem erfolgreichen Abschluß führen würde, wenn Felding-Roth sie aufgab?
Man durfte auch die Wissenschaftler in den anderen Ländern nicht vergessen, die sich mit der gleichen Frage beschäftigten. Vor zwei Jahren hatte Martin erwähnt, daß in Deutschland, Frankreich und Neuseeland die gleichen Forschungen betrieben wurden. Angenommen, einer dieser Wissenschaftler erzielte nach der Schließung des Instituts in Harlow einen plötzlichen Durchbruch - wie würde Felding-Roth dastehen, und wie Celia, wenn sie jetzt empfahl, Harlow zu schließen?
Aus einer ganzen Reihe von Gründen war sie geneigt, nichts zu tun - und »nichts« bedeutete in diesem Fall: zu empfehlen, Harlow wie bisher weitermachen zu lassen, in der Hoffnung, daß irgendwas dabei herauskam.
Aber war diese Art Entscheidung - oder vielmehr Entscheidungs-losigkeit - nicht genau das, was man der FDA in Washington vorwarf?
Celia seufzte. Es nützte nichts, sich zu wünschen, diese schwierige Entscheidung nicht treffen zu müssen. Tatsache war, daß sie sie treffen mußte. Und im übrigen: Harte Entscheidungen gehörten zu der Verantwortung, die sie sich früher immer gewünscht hatte.
Als die Concorde in New York landete, war sie sich noch immer nicht darüber im klaren, wie ihre Empfehlung lauten sollte.
Dann verzögerte sich Celias Treffen mit Sam Hawthorne um einen Tag, weil Sams Terminkalender voll war. Und inzwischen stand ihre Entscheidung eindeutig fest.
»Nun«, sagte Sam, ohne sich mit langen Vorreden aufzuhalten, als sie sich in seinem Büro gegenübersaßen, »was empfehlen Sie mir?«
Ihr Instinkt sagte ihr, daß Sam nicht in der Stimmung war, Einzelheiten oder Hintergründe aufzunehmen.
»Wenn ich es genau bedenke«, sagte sie, »dann wäre es, glaube ich, kurzsichtig, das Institut in Harlow zu schließen. Wir sollten Martin wenigstens noch ein Jahr zugestehen, wenn möglich mehr.«
Sam nickte. »In Ordnung.«
Daß Sam keine besondere Reaktion zeigte und auch keine Fragen stellte, war für Celia der Beweis, daß er ihre Empfehlung voll und ganz akzeptierte.
Im übrigen schien Sam erleichtert, so als sei das die Antwort, die er sich erhofft hatte.
»Ich habe einen Bericht geschrieben.« Sie legte die vier Blätter auf seinen Schreibtisch.
»Ich werde ihn mir gelegentlich ansehen, im wesentlichen, um die Fragen des Aufsichtsrats beantworten zu können.«
»Wird Ihnen der Aufsichtsrat Schwierigkeiten machen?«
»Wahrscheinlich.« Über Sams Gesicht ging ein müdes Lächeln.
»Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde es schon durchsetzen. Haben Sie Martin davon unterrichtet, daß wir weitermachen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er glaubt, daß wir schließen.«
»Dann werde ich heute mal zur Abwechslung eine angenehme Aufgabe haben«, sagte Sam, »und ihn vom Gegenteil unterrichten. Vielen Dank, Celia.«
Eine Woche später wurde in Celias Büro ein großer Strauß Rosen abgegeben. »Es war keine Karte dabei, Mrs. Jordan«, erklärte die Sekretärin, »und als ich beim Blumenhändler nachfragte, sagte man mir, daß es sich um einen telegrafischen Auftrag gehandelt habe. Soll ich weiter nachforschen, von wem die Rosen sind?«
»Machen Sie sich keine Mühe«, sagte Celia. »Ich glaube, ich weiß es.«
7
Zu Celias Erleichterung wurde die Anzahl ihrer Reisen für den Rest des Jahres eingeschränkt. Sie hatte sehr viel zu tun, aber hauptsächlich in Boonton, und das bedeutete, daß sie häufiger mit Andrew zusammen sein und auch Lisa und Bruce in ihren Schulen besuchen konnte.
Lisa, die ihr letztes Jahr im Emma-Willard-College absolvierte, war zur Sprecherin der Abschlußklasse gewählt worden. Von ihr stammte der Vorschlag, daß die Schüler der letzten Klasse einen halben Tag pro Woche in Regierungsbüros in Albany arbeiten sollten.
Lisa war überzeugt, daß man, wenn man etwas erreichen wollte, ganz oben ansetzen müsse, und hatte einen Brief an den Gouverneur des Staates New York geschrieben. Zum Erstaunen aller - mit Ausnahme von Lisa - gab er seine Zustimmung in einem ganz persönlichen Schreiben. Als Andrew davon erfuhr, sagte er zu Celia: »Ganz ohne Zweifel - dieses Mädchen ist deine Tochter.«
Bruce, der jetzt das zwei Jahr in The Hill war, interessierte sich mehr und mehr für Geschichte und vernachlässigte deshalb die anderen Fächer. »Bruce ist durchaus kein schlechter Schüler«, erfuhren Celia und Andrew bei einem Besuch in der Schule, »er kann sich nur einfach nicht von seinen Geschichtsbüchern losreißen Ich glaube fast, Sie haben einen zukünftigen Historiker in Ihrer Familie, von dem noch einiges zu hören sein wird.«
Celia stellte mit Erleichterung fest, daß es durchaus möglich war, als Mutter berufstätig zu sein und trotzdem erfolgreiche, ausgeglichene Kinder zu haben.
Dazu hatten natürlich Winnie und Hank April mit ihrer fröhlichen und tatkräftigen Art beigetragen. Als sie Winnies fünfzehntes Dienstjubiläum und gleichzeitig ihren vierunddreißigsten Geburtstag feierten, erinnerte Andrew Winnie an ihren längst aufgegebenen Plan, nach Australien auszuwandern. »Was den Australiern entgangen ist, wissen nur die Jordans«, erklärte er.
Ein einziger Schatten fiel auf Winnies sonniges Gemüt: daß sie keine Kinder bekam, die sie sich so sehr wünschte. »Hank und ich geben uns solche Mühe. Mein Gott, was haben wir nicht schon alles angestellt. Aber es will einfach nicht klappen.«
Auf Celias Drängen ließ Andrew beide gründlich untersuchen. »Hank und Sie können Kinder haben«, erklärte er Winnie. »Sie müssen nur den richtigen Zeitpunkt erwischen. Dabei kann Ihnen Ihr Gynäkologe raten, und ein bißchen Glück brauchen Sie natürlich auch. Sie müssen es nur immer weiter versuchen.«
»Das sage ich Hank erst morgen«, seufzte Winnie. »Ich möchte wenigstens eine Nacht mal ruhig schlafen . . .«
Im September fuhr Celia geschäftlich nach Kalifornien und stand zufällig nicht weit entfernt, als in Sacramento ein Attentat auf Präsident Ford verübt wurde. Celia war erschüttert und entsetzt, als sie nach kaum drei Wochen von einem erneuten Anschlag auf den Präsidenten erfuhr.
Am Thanksgiving-Tag, als die Familie zu Hause versammelt war und darüber sprach, erklärte Celia: »Die Menschen in unserem Land werden immer gewalttätiger. - Wo liegen eigentlich die Ursprünge für Mordgedanken?«
Sie hatte keine Antwort erwartet, aber Bruce meldete sich zu Wort.
»Wenn man bedenkt, in was für einer Branche du tätig bist, Mom, dann wundere ich mich, daß du das nicht weißt; denn historisch gesehen hat alles mit Drogen begonnen. Daher kommt auch das Wort >Assassine<. So nannte man früher einen Meuchelmörder. Es leitet sich von dem arabischen hashishi oder >Haschischesser< ab; vom elften bis zum dreizehnten Jahrhundert gab es eine islamische Sekte, die Nizari Ismailis, deren Mitglieder Haschisch nahmen, bevor sie ihre religiösen Greueltaten begingen.«
Gereizt entgegnete Celia: »Wenn ich es nicht weiß, dann liegt das wohl daran, daß Haschisch keine Droge ist, die im pharmazeutischen Sinn verwendet wird.«
»Früher schon«, erklärte Bruce ruhig. »Und das ist noch gar nicht so lange her. Bei Amnesie haben die Psychiater früher Haschisch angewandt, aber es hat nichts geholfen, deshalb wurde es wieder aufgegeben.«
»Mich trifft der Schlag!« sagte Andrew, während Lisa ihren Bruder amüsiert und bewundernd ansah.
Im Februar 1976 heirateten Juliet Hawthorne und Dwight Goodsmith. Dwight hatte gerade sein Jura-Examen in Harvard bestanden und würde in New York City arbeiten, wo er und Juliet auch wohnen wollten.
Die Hochzeit wurde in großem Rahmen mit dreihundertundfünfzig Gästen gefeiert. »Schließlich kann ich nur einmal Brautmutter werden«, sagte Lilian Hawthorne zu Celia, »zumindest hoffe ich das.«
Vorher hatte Lilian ihr anvertraut, wie besorgt sie darüber war, daß Juliet schon mit Zwanzig heiratete und bereits nach zwei Jahren vom College abging. Aber am Hochzeitstag sahen Sam und Lilian so strahlend und glücklich aus, daß diese Gedanken in den Hintergrund traten - zu Recht, wie Celia fand. Sie gab dieser Ehe gute Chancen.
Im Mai wurde The Drugging of the Americas veröffentlicht, das Celias besonderes Interesse fand.
Das Buch erregte allgemein große Aufmerksamkeit, weil es aufdeckte, auf wie beschämende Weise die Pharma-Konzerne Amerikas, aber auch anderer Länder, die Geschäfte mit Lateinamerika führten, indem sie dort die Nebenwirkungen ihrer rezeptpflichtigen Medikamente verschwiegen, selbst wenn sie in ihren eigenen Ländern gesetzlich dazu verpflichtet waren. In dem Buch wurden all die Praktiken beschrieben, die Celia in den Jahren ihrer Tätigkeit auf diesem Gebiet selbst beobachtet und in ihrer Firma kritisiert hatte.
Was das Buch von den üblichen bösen Attacken auf die Pharma-Industrie unterschied, war die akademische Sorgfalt, mit der sein Autor, Dr. Milton Silverman, ein Pharmakologe von der University of California in San Francisco, vorgegangen war.
Celia kaufte ein halbes Dutzend Exemplare und schickte sie an die Führungskräfte der Firma, die alle so reagierten, wie sie es vorausgesehen hatte. Typisch war die Notiz von Sam Hawthorne:
»Im wesentlichen teile ich Silvermans und auch Ihre Ansichten. Aber wenn Änderungen vorgenommen werden sollen, dann müssen alle mitmachen. Keine Firma kann es sich leisten, freiwillig Nachteile auf sich zu nehmen - vor allem wir können es im Augenblick nicht, weil wir uns in einer äußerst schwierigen finanziellen Lage befinden.«
Für Celia war das ein Scheinargument, obwohl sie sich auf keinen Streit einließ, weil sie wußte, daß sie nicht gewinnen konnte.
Eine Überraschung war für sie die Reaktion von Vincent Lord, der ihr eine freundliche Anmerkung schickte:
»Vielen Dank für das Buch. Ich bin ebenfalls der Ansicht, daß es Änderungen geben muß, sage Ihnen aber voraus, daß sich unsere Bosse mit lautem Geschrei dagegen wehren werden, bis man sie am Ende mit der Pistole auf der Brust zwingt, neue Wege einzuschlagen. Aber versuchen Sie es ruhig weiter. Ich helfe Ihnen, wenn ich kann.«
In letzter Zeit verhielt sich der Leiter der Forschungsabteilung zunehmend freundlicher. Sie mußte daran denken, wie sie ihm vor dreizehn Jahren ein Exemplar des Weiblichkeitswahns geschickt hatte, das er ihr mit der Bemerkung »Quatsch« zurückgegeben hatte. Lag es daran, daß sie jetzt eine so exponierte Stellung in der Firma innehatte und Vince Lord glaubte, sie könne ihm als Verbündete nützlich sein?
Im April teilte Lisa ihren Eltern aufgeregt mit, daß sie im Herbst nach Kalifornien gehen wolle. Sie hatte einen Studienplatz an der Stanford University bekommen. Bei einem Essen in Albany zur Feier ihres Schulabschlusses, an dem die ganze Familie teilnahm, bemerkte Andrew: »Heute ist ein großer Tag, aber ansonsten sage ich voraus, daß dieses Jahr ziemlich langweilig werden wird.«
Fast unmittelbar danach wurden seine Worte durch eine mutige israelische Befreiungsaktion auf dem Flughafen von Entebbe, Uganda, widerlegt, wo mehr als hundert Geiseln aus der Gefangenschaft arabischer Terroristen befreit wurden.
Die Langeweile kehrte jedoch zurück - wie Andrew hervorhob -, als beim Kongreß der Demokraten in New York ein Unbekannter aus Georgia, der sich darauf berief, ein »wiedergeborener« Baptist zu sein, als Präsidentschaftskandidat nominiert wurde.
Trotz des allgemeinen Mißfallens, das zuerst Nixon und jetzt Ford erregt hatte, schien es unwahrscheinlich, daß der Neuling gewinnen würde. In der Cafeteria bei Felding-Roth hörte Celia jemanden fragen: »Ist es denn überhaupt vorstellbar, daß das höchste Amt von jemandem ausgefüllt wird, der sich Jimmy nennt?« Aber in der Geschäftszentrale in Boonton hatte man wenig Zeit, sich Gedanken über Politik zu machen. Dort war die Aufmerksamkeit voll und ganz auf das aufregende neue Medikament gerichtet, das bald zugelassen werden würde -auf Montayne.
Es war jetzt fast zwei Jahre her, daß Celia Sam ihre Bedenken in bezug auf Montayne mitgeteilt hatte. Aber auf Sams Drängen hatte sie eingewilligt, ihre Gedanken für sich zu behalten und zunächst die Ergebnisse der Testserien abzuwarten.
In der Zwischenzeit hatte sich umfangreiches Material angesammelt, von dem Celia das meiste bereits kannte. Dabei gelangte sie immer mehr zu der Überzeugung, daß Sam recht hatte: Während der letzten fünfzehn Jahre waren in der pharmazeutischen Wissenschaft erstaunliche Fortschritte gemacht worden, und man durfte den schwangeren Frauen nicht ein hilfreiches Medikament vorenthalten, nur weil vor langer Zeit einmal ein anderes Mittel Schaden angerichtet hatte.
Und was genauso wichtig war: Die Tests mit Montayne -zuerst in Frankreich, dann in Dänemark, Großbritannien, Spanien, Australien und jetzt in den USA - waren so umfassend und mit einer solchen Sorgfalt durchgeführt worden, wie es nach menschlichem Ermessen nur möglich war.
Zu Hause versuchte sie mehrmals, mit Andrew darüber zu sprechen und ihm zu erklären, warum sie ihre Meinung geändert hatte. Aber ganz gegen seine sonstige Art schien er nicht darüber reden zu wollen und brachte das Gespräch stets auf ein anderes Thema.
Schließlich gab Celia es auf und enthielt sich in Andrews Gegenwart aller positiven Äußerungen. Wenn bei Felding-Roth erst einmal die Verkaufskampagne für Montayne anlief, würde sie ihrer Begeisterung freien Lauf lassen können.
8
»Woran wir alle, die wir mit dem Verkauf von Montayne zu tun haben, denken und worauf wir stets hinweisen müssen«, sagte Celia ins Mikrofon, »ist, daß dieses Medikament für schwangere Frauen völlig unbedenklich ist. Mehr noch, es ist ein lang erwartetes Medikament! Montayne ist etwas, wonach sich die Frauen, die während der Schwangerschaft unter Übelkeit leiden, seit Jahr-hunderten gesehnt haben. Endlich ist es soweit, und wir, Fel-ding-Roth, sind die Befreier: Wir befreien die amerikanischen Frauen von ihrem Joch, machen ihre Schwangerschaft besser, schöner und glücklicher! Das Mittel, das der >morgendlichen Übelkeit< ein Ende macht, ist da! Wir haben es!« Die Zuhörer applaudierten begeistert. Es war Oktober 1976. Celia nahm in San Francisco an der regionalen Verkaufskonferenz von Felding-Roth teil, die Pharma-Vertreter und -Vertreterinnen, Generalvertreter und regionale Verkaufsmanager aus neun Weststaaten der USA, einschließlich Alaska und Hawaii, vereinte. Das dreitägige Treffen fand im Fairmont-Hotel auf dem Nob Hill statt. Celia und mehrere andere leitende Angestellte der Firma wohnten in dem eleganten Stanford Court gegenüber, unter ihnen auch Bill Ingram, der schon bei den rezeptfreien Produkten für Celia gearbeitet hatte und auch jetzt wieder ihr Assistent war.
Die Marketing-Pläne für Montayne waren weit gespannt, und Felding-Roth hoffte, das Präparat im Februar auf den Markt zu bringen; bis dahin waren es nur noch vier Monate. Inzwischen sollten alle, die mit dem Verkauf von Montayne zu tun haben würden, soviel wie möglich darüber erfahren. Unter den Vertriebsleuten war die Begeisterung für Montayne groß, und in der Zentrale hatte jemand ein Lied komponiert, das nach der die von »America The Beautiful« gesungen werden sollte.
O wunderbar, so sorgenfrei Die Träume der Schwangerschaft.
Denn jetzt ist endlich aus und vorbei, Was morgens stets Kummer gemacht.
Montayne, Montayne!
Montayne, Montayne! Für werdende Mütter Verkaufen wir, verkünden wir: Gefahrlose Freuden!
Die Vertreter stimmten das Lied an diesem Morgen fröhlich und laut an und sollten es in den nächsten zwei Tagen noch oft wiederholen. Celia hatte Vorbehalte gegenüber dem Text, wollte aber den anderen nicht die Stimmung verderben.
Anderthalb Jahre lang hatte man das Medikament in den Vereinigten Staaten erprobt - an Tieren und an fünfhundert Menschen. Dabei waren nur gelegentlich leichte Nebenwirkungen aufgetreten, die keine signifikante medizinische Bedeutung hatten. Die guten Resultate stimmten mit denen der anderen Länder überein, wo Montayne bereits erhältlich und äußerst beliebt war und von Ärzten und Patientinnen positiv beurteilt wurde.
Nach dem Abschluß der Testserien hatte Felding-Roth bei der FDA in Washington den üblichen Zulassungsantrag gestellt und hoffte, daß die Genehmigung nicht lange auf sich warten lassen würde.
Leider erwies sich diese Hoffnung als falsch.
Aber das war nur eine der beiden dunklen Wolken, die über dem mühsam erarbeiteten Marketing-Plan von Felding-Roth schwebten. Die Geschäftsleitung hielt es jedoch für unmöglich, die bereits angelaufenen Vorbereitungen zu unterbrechen, bis die Zulassung erteilt wurde; sechs oder mehr Monate würden dem Verkauf auf diese Weise verlorengehen. Daher wurde beschlossen, mit der Herstellung fortzufahren, die Werbung voranzutreiben und Marketing-Seminare abzuhalten - alles in der Hoffnung, daß die FDA vor dem entscheidenden Termin grünes Licht geben würde.
Sam Hawthorne, Vincent Lord und einige andere waren der Ansicht, daß die Publicity, die Montayne durch die Medien erfuhr, Felding-Roth zugute kommen würde.
Wegen der großen Popularität, die das Präparat in den anderen Ländern bereits genoß, wurden in der Öffentlichkeit Fragen laut: Warum brauchte die FDA so lange für ihre Entscheidung? Warum wurde den amerikanischen Frauen dieses Medikament vorenthalten, wenn es die Frauen in anderen Ländern bereits mit Erfolg anwendeten? Wieder einmal war vom »amerikanischen Pillenverzug« die Rede. Und schuld daran war die FDA.
Einer, der ganz gezielte Fragen stellte, war der Senator Dennis Donahue, für gewöhnlich ein Kritiker der Pharma-Industrie, der aber in diesem Fall erkannte, welche Ansicht populärer war. Als ihn ein Reporter zu diesem Thema befragte, beschrieb er die Unentschlossenheit der FDA in bezug auf die Zulassung von Mon-tayne als »unter diesen Umständen eindeutig lächerlich«. Dona-hues Kommentar fand bei Felding-Roth natürlich Beifall.
Für die zweite Wolke, die über Felding-Roth schwebte, war Maud Stavely, eine Ärztin und Vorsitzende des New Yorker Verbrauchervereins »Bürger für mehr Sicherheit in der Medizin« zuständig.
Dr. Stavely und ihre Organisation, kurz BSM genannt, gingen massiv gegen die Zulassung von Montayne in den USA vor; sie führten an, das Medikament sei noch nicht unbedenklich genug, und forderten weitere Versuchsreihen. Sie verbreiteten diese Ansicht überall und erzielten beträchtliche Aufmerksamkeit in den Medien. Die Grundlage für Dr. Stavelys Argumentation war ein Gerichtsverfahren, das sich vor ein paar Monaten in Australien abgespielt hatte.
Eine dreiundzwanzigjährige Frau, die in der Nähe von Alice Springs im australischen Busch lebte, hatte eine Tochter zur Welt gebracht. Die Mutter gehörte zu den ersten Frauen, die während der Schwangerschaft Montayne eingenommen hatten. Später hatten Untersuchungen gezeigt, daß das Baby geistig stark behindert war und sich selbst ein Jahr nach der Geburt noch nicht bewegen konnte. Die Ärzte waren sich darüber einig, daß es für den Rest seines Lebens dahinvegetieren, niemals gehen oder auch nur ohne Hilfe aufrecht würde sitzen können.
Ein Rechtsanwalt, der von dem Fall hörte, riet der Mutter, die australische Firma, die Montayne vertrieb, auf Schadenersatz zu verklagen. Die Klage ging vor Gericht und wurde abgewiesen. Die Klägerin legte Berufung ein, jedoch ohne Erfolg.
Bei den beiden Gerichtsverfahren wurde mit scheinbar überwältigender Deutlichkeit der Beweis erbracht, daß Montayne für den Zustand des Kindes nicht verantwortlich zu machen war. Die Mutter, die keinen sonderlich guten Ruf hatte und zugab, nicht zu wissen, wer der Vater des Kindes sei, hatte während ihrer Schwangerschaft auch andere Medikamente eingenommenMethaqualon (Quaalude), Diazepam (Valium) und verschiedene andere. Außerdem trank sie, war Kettenraucherin und nahm Marihuana. Ein medizinischer Sachverständiger beschrieb vor Gericht ihren Körper als »Sammelbecken gegensätzlicher Chemikalien, aus dem alles mögliche hervorgehen kann.« Er und andere Experten sprachen Montanye von der Schuld für die Mißbildungen des Babys frei.
Nur der Arzt, der die Frau während ihrer Schwangerschaft behandelt und von dem Kind entbunden hatte, setzte sich für die Mutter ein und gab Montayne, das er ihr selbst verschrieben hatte, die Schuld. Aber im Kreuzverhör mußte der Arzt zugeben, für seine Behauptung keine Beweise zu haben.
Folglich kam eine Untersuchung der australischen Regierung, bei der ebenfalls medizinische und wissenschaftliche Experten hinzugezogen wurden, zum selben Ergebnis wie die Gerichte und bestätigte, daß Montayne ein unbedenkliches Medikament sei.
Dr. Maud Stavely, eine notorisch publicitysüchtige Person, besaß keinen weiteren Beweis, um ihre ablehnende Haltung gegenüber Montayne zu stützen. Folglich stellte ihre Kampagne, die von Felding-Roth als Unfung abgetan wurde, kein allzu großes Problem dar.
Bei der Verkaufskonferenz in San Francisco fuhr Celia mit ihrer Rede fort:
»Sie werden vermutlich zuweilen einer gewissen Zurückhaltung begegnen, weil sich einige noch an Thalidomid erinnern, ein Medikament, das vor langer Zeit bei schwangeren Frauen ganz verheerende Nebenwirkungen zeitigte und die Ursache für Mißbildungen bei Kindern war. Ich erwähne das hier, damit wir alle darauf vorbereitet sind.«
Im Saal herrschte aufmerksame Stille.
»Der Unterschied zwischen Montayne und Thalidomid ist unübersehbar. Zunächst muß man bedenken, daß Thalidomid vor etwa zwanzig Jahren entwickelt wurde, zu einer Zeit also, als die pharmazeutische Forschung noch nicht so gründlich und die Sicherheitsvorschriften noch nicht so umfassend waren wie heute.
Und noch etwas, was die meisten nicht wissen: Thalidomid war nie als spezielles Mittel für Schwangere gedacht. Es war ein Sedativum, ein Schlaf- und Beruhigungsmittel.
Und was die Untersuchungen betrifft, die mit Thalidomid durchgeführt wurden, so hat man damals keine Versuche mit Tieren angestellt - jedenfalls nicht auf breiter Basis -, sondern hat es gleich bei Menschen angewandt. Erst nachdem Thalidomid aus dem Handel gezogen worden war, haben Versuche an Tieren gezeigt, daß bei einem Kaninchen der Fötus im Mutterleib die gleichen Mißbildungen aufwies wie beim Menschen. Dadurch war erwiesen, daß die menschlichen Tragödien niemals passiert wären, wenn man das Mittel zuvor an Tieren erprobt hätte.«
Celia machte eine Pause und sah in ihre Notizen. »Mit Mon-tayne aber sind alle erdenklichen Tests durchgeführt worden -sowohl an verschiedenen Tierarten als auch an Menschen, die sich freiwillig dafür zur Verfügung stellten -, und zwar in fünf Ländern mit außerordentlich strenger Arzneimittelüberwachung. Aber das ist noch nicht alles: In den meisten dieser Länder ist Montayne bereits seit gut einem Jahr von Tausenden von Frauen eingenommen worden. Lassen Sie mich Ihnen nur ein Beispiel dafür geben, wie sorgfältig dieses Forschungs- und Testprogramm durchgeführt wurde.«
Celia beschrieb die Entscheidung von Laboratoires Gironde-Chimie, den französischen Entdeckern und Herstellern von Montayne, über ein Jahr lang zusätzliche medizinische Tests durchzuführen, mehr, als das französische Gesetz vorschrieb, nur um ganz sicher zu gehen.
»Wahrscheinlich gibt es kein Medikament, das mit einer derartigen Sorgfalt auf seine Sicherheit hin untersucht worden ist«, fügte sie hinzu.
Nachdem Celia geendet hatte, bekräftigten wissenschaftliche Mitarbeiter ihre Ausführungen und beantworteten Fragen aus den Reihen der Vertreter.
»Wie ist dein Vortrag angekommen?« fragte Andrew sie eine Stunde später in der behaglichen, luxuriösen Suite im Stanford Court. Er hatte sich ein paar Tage freigenommen, um Celia zu begleiten, und auch, um Lisa zu besuchen, die jetzt in Stanford studierte und auf dem Universitätsgelände wohnte.
»Ich glaube, ganz gut.« Celia zog die Schuhe aus, streckte sich erschöpft und legte die Beine aufs Sofa. »In gewisser Hinsicht sind regionale Verkaufskonferenzen wie ein Wandertheater, das bei jeder Vorstellung besser wird.« Sie sah ihren Mann prüfend an. »Ist dir eigentlich klar, daß du mir eben zum ersten Mal eine Frage gestellt hast, die mit Montayne zu tun hat?«
»Tatsächlich?« Andrew heuchelte Erstaunen.
»Das weißt du ganz genau. Und ich würde gern wissen, warum.«
»Vielleicht, weil du mir schon alles erzählt hast, so daß ich keine Fragen mehr habe.«
»Das stimmt nicht«, sagte Celia. »Die Wahrheit ist, daß du noch immer Vorbehalte hast, stimmt's?«
»Hör zu.« Andrew legte die Zeitung beiseite. »Ich bin nicht qualifiziert genug, um ein Urteil über ein Medikament zu fällen, daß ich noch nicht angewendet habe. Du hast einen ganzen Troß Wissenschaftler, hier und in Europa, die viel mehr darüber wissen als ich. Und sie sagen ja zu Montayne. Daher . . .« Er zuckte die Achseln.
»Aber würdest du es deinen Patientinnen verschreiben?«
»Das ist für mich kein Thema. Zum Glück bin ich kein Geburtshelfer oder Gynäkologe.«
»Zum Glück?«
»Das war nur ein Versprecher«, sagte Andrew etwas ungeduldig. »Laß uns über etwas anderes reden.«
»Nein«, sagte Celia gereizt. »Ich möchte darüber reden, weil es für uns beide wichtig ist. Du hast stets gesagt, daß Frauen während einer Schwangerschaft kein Medikament einnehmen sollen. Glaubst du das noch immer?«
»Wenn du mich fragst - ja, das glaube ich noch immer.«
»Wäre es nicht möglich«, sagte Celia, »daß diese Einstellung, die früher vielleicht gestimmt haben mag, inzwischen überholt ist' Schließlich ist es schon ziemlich lange her, seit du studiert und angefangen hast zu praktizieren - zwanzig Jahre -, inzwischen hat sich vieles geändert.« Sie erinnerte sich an etwas, das Sam ihr einmal gesagt hatte. »Hat es früher nicht auch Ärzte gegeben, die dagegen waren, daß schwangere Frauen eine Narkose bekamen?«
Andrew wurde ärgerlich. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich nicht darüber reden möchte.«
»Aber ich will es!« fuhr sie ihn an.
»Verdammt, Celia! Ich habe mit deinem Montayne nichts zu tun, und ich beabsichtige auch nicht, etwas damit zu tun zu haben. Ich habe dir doch bereits gesagt, daß ich nicht genug darüber weiß . . .«
»Aber du hast Einfluß im Krankenhaus.«
»Ich werde diesen Einfluß nicht geltend machen - auf gar keinen Fall für Montayne.«
Sie starrten sich noch immer an, als das Telefon klingelte. Celia erhob sich und griff nach dem Hörer.
»Mrs. Jordan?« fragte eine Frauenstimme.
»Ja.«
»Hier ist Felding-Roth, Boonton. Mr. Hawthorne möchte Sie sprechen.«
Dann war Sam in der Leitung. »Hallo, Celia. Wie läuft es bis jetzt?«
»Sehr gut.« Die positive Stimmung in der sie das Fairmont-Treffen verlassen hatte, kehrte zurück. »Die Präsentation ist glatt gelaufen. Alle sind schon ganz begierig darauf, mit dem Verkauf von Montayne zu beginnen.«
»Großartig!«
»Natürlich kommt immer wieder die Frage: Wann erhalten wir grünes Licht von der FDA?«
Celia konnte spüren, wie Sam zögerte, bevor er sagte: »Es muß noch unter uns bleiben, Celia, aber ich kann Ihnen definitiv sagen, daß wir die Genehmigung der FDA erhalten werden, und zwar sehr bald.«
»Darf ich fragen, woher Sie das so sicher wissen?«
»Nein.«
»Okay.« Wenn Sam ein Geheimnis daraus machen wollte, dann war das sein gutes Recht, obwohl sie eigentlich keinen Grund dafür erkennen konnte. »Ist mit Juliet alles in Ordnung?«
»Und mit meinem zukünftigen Enkelkind?« Sam lachte. »Gott sei Dank, ja.«
Drei Monate zuvor hatten Juliet und Dwight Goodsmith glücklich verkündet, daß Juliet schwanger sei. Das Baby sollte im Januar zur Welt kommen.
»Grüßen Sie Lilian und Juliet von mir«, sagte Celia, »und sagen Sie Juliet, daß sie bei ihrer nächsten Schwangerschaft Montayne nehmen kann.«
»Das werde ich, vielen Dank, Celia.« Sam legte auf.
Während Celia telefonierte, war Andrew ins Bad gegangen, um sich für die fünfunddreißig Meilen lange Fahrt nach Palo Alto fertigzumachen, wo sie mit Lisa und einigen ihrer neuen Freunde aus Stanford zum Essen verabredet waren.
Während der Fahrt und des Essens, das in entspannter und herzlicher Atmosphäre verlief, kamen Celia und Andrew mit keinem Wort auf ihren Streit im Hotel zurück. Celia hatte beschlossen, die Sache mit Montayne auf sich beruhen zu lassen und in Gegenwart ihres Mannes das Thema nicht wieder zur Sprache zu bringen. Schließlich konnte es jedem mal passieren, daß er gegenüber einer Sache blind war, und das war jetzt eindeutig bei Andrew der Fall.
9
Als Sam Hawthorne nach seinem Gespräch mit Celia den Telefonhörer aufgelegt hatte, wünschte er, in bezug auf die FDA-Ge-nehmigung von Montayne nicht so impulsiv gewesen zu sein.Es war unklug und indiskret.
Er mußte besser auf sich aufpassen - vor allem nach der vor einer Stunde mit Vincent Lord geführten Unterhaltung und der gemeinsam getroffenen Entscheidung. Diese Entscheidung konnte katastrophale Folgen haben, wenn herauskam, worum es dabei ging - aber das durfte nie geschehen, niemals. Um so wichtiger war es, die Zulassung von Montayne, wenn sie erst einmal erfolgt war, ganz natürlich aussehen zu lassen. So, wie es ja auch normal wäre, wenn es diese arroganten, unerträglichen, kriminellen Bürokraten bei der FD A nicht gäbe.
Es war wirklich Pech, daß der Zulassungsantrag für Montayne ausgerechnet bei Dr. Gideon Mace gelandet war.
Sam Hawthorne war Mace noch nie persönlich begegnet, und er legte auch keinen besonderen Wert darauf. Er hatte von Vince Lord und anderen schon mehr als genug über den Mann gehört und über die Schwierigkeiten, die er Felding-Roth gemacht hatte, zuerst mit der sinnlosen Verzögerung des Staidpace-Antrags vor zwei Jahren und jetzt bei Montayne. Warum gab man Leuten wie Mace solche Macht, überlegte Sam, unter der ehrbare Geschäftsleute zu leiden hatten, die von den Maces dieser Welt nichts weiter als Fairneß verlangten?
Zum Glück waren Leute wie Mace in der Minderheit - auch bei der FD A. Und dennoch - Mace existierte nun mal. Er saß in diesem Augenblick auf dem Montayne-Antrag, machte Gesetze geltend, wandte Verfahrenstaktiken an, um ihn zu verzögern. Daher mußte man einen Weg finden, um Gideon Mace auszuschalten.
Und sie besaßen die Mittel dazu. Zumindest besaß Felding-Roth sie in der Person von Vince Lord.
Zu der Zeit, als Vince Beweise für die Kriminalität von Dr. Mace gesammelt, das heißt für zweitausend Dollar gekauft hatte, war Sam entsetzt gewesen bei dem Gedanken daran, das Material könnte je auf die von Vince angedeutete Art und Weise benutzt werden.
Aber das hatte sich geändert. Die derzeitige Situation war viel zu heikel, zu wichtig, als daß man sich von Skrupeln leiten lassen sollte. Und das war ein weiterer Grund für seinen Zorn: Zorn darüber, daß ein Krimineller wie Mace andere ebenfalls zu kriminellen Handlungen veranlaßte.
Zum Teufel mit Mace!
Aber war man erst einmal an die Spitze eines großen Unternehmens gelangt, mußte man zuweilen unangenehme Entschei-dungen treffen und Handlungen gutheißen, die man normalerweise als unmoralisch angesehen und abgelehnt hätte. Wenn man Verantwortung für so viele Menschen trug - Mitarbeiter, Aktionäre, Vertreter und Kunden -, dann mußte man zuweilen die Zähne zusammenbeißen und tun, was nötig war, auch wenn es noch so unangenehm oder gar widerwärtig sein mochte.
Das hatte Sam vor einer Stunde getan, als er dem Vorschlag von Vincent Lord zustimmte, Dr. Gideon Mace mit einem Strafverfahren zu drohen, wenn er Montayne nicht freigab.
Erpressung. Es hatte keinen Sinn, sich hinter einem anderen Wort zu verstecken oder etwas vertuschen zu wollen. Es war und blieb Erpressung, und das war ebenfalls eine kriminelle Handlung.
Vince hatte Sam seinen Plan dargelegt. Und er hatte ihm deutlich erklärt: »Wenn wir nicht nutzen, was wir in den Händen haben, wenn wir auf Mace keinen Druck ausüben, dann können Sie jeden Gedanken daran, Montayne im Februar oder überhaupt innerhalb des nächsten Jahres auf den Markt zu bringen, vergessen.«
»Könnte es wirklich noch ein ganzes Jahr dauern?« wollte Sam wissen.
»Vielleicht sogar noch länger. Mace braucht doch bloß von uns eine Wiederholung der . . .«
Lord hielt inne, als Sam die Hand hob. Man brauchte sich ja nur daran zu erinnern, wie Mace die Zulassung von Staidpace über ein Jahr lang hinausgezögert hatte.
»Es gab mal eine Zeit«, sagte Sam zum Leiter der Forschungsabteilung, »da haben Sie gesagt, daß Sie das, was Sie jetzt vorschlagen, allein erledigen wollten, ohne mich mit hineinzuziehen.«
»Ich weiß«, erwiderte Lord, »aber damals wollten Sie unbedingt wissen, wofür ich die zweitausend Dollar brauche, und dann habe ich meine Meinung geändert. Ich gehe ein Risiko ein, und ich sehe nicht ein, warum ich es allein tragen soll. Ich werde zwar trotzdem an der vordersten Front stehen und Mace gegenübertreten müssen, aber ich möchte, daß Sie darüber Bescheid wissen und damit einverstanden sind.«
»Sie wollen doch nicht etwa vorschlagen, daß wir irgend etwas schriftlich festhalten?«
Lord schüttelte den Kopf. »Das ist ein weiteres Risiko, das ich auf mich nehme. Wenn es rauskommt, können Sie leugnen, daß diese Unterhaltung je stattgefunden hat.«
Sam war klar, was Vince wollte, und er verstand ihn - wenn man ganz oben angelangt war, fühlte man sich einsam, und Vince wollte seine Einsamkeit mit ihm teilen.
»In Ordnung«, sagte Sam. »Es gefällt mir zwar nicht, aber ich bin einverstanden. Tun Sie, was getan werden muß.« Und scherzhaft fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie haben kein Tonbandgerät dabei.«
»Wenn das so wäre«, erwiderte Lord, »würde ich Sie und mich selbst eines Verbrechens überführen.«
Als der Leiter der Forschungsabteilung zur Tür ging, rief Sam ihm nach: »Vince!«
Lord drehte sich um. »Ja?«
»Danke«, sagte Sam. »Nur - danke. Das ist alles.«
Jetzt brauchte man lediglich abzuwarten, dachte Sam. Abzuwarten und darauf zu vertrauen, daß die FDA ihre Zulassung für Montayne schnell und ohne Umschweife erteilte.
Seit ihrer letzten Begegnung hatte Dr. Gideon Mace sich in mancher Beziehung verändert. Der FDA-Beamte sah älter, aber auch gesünder aus als früher, was Vince überraschte. Sein Gesicht war nicht mehr so rot, die Äderchen an der Nase fielen kaum noch auf. Den zerschlissenen Anzug hatte er gegen einen neuen eingetauscht, und er trug auch eine neue Brille. Er wirkte gelöster, und wenn man ihn auch nicht gerade freundlich nennen konnte, so war er doch wenigstens nicht aggressiv. Ein Grund für die Veränderung - wie Vincent Lord durch seine Kontakte mit der Behörde wußte - war, daß Mace mit dem Trinken aufgehört hatte und den Anonymen Alkoholikern beigetreten war.
Aber abgesehen von Maces persönlicher Veränderung war alles beim alten geblieben. Die FDA-Zentrale war noch genauso unpersönlich und schäbig. In dem winzigen Büro, in dem Mace an seinem Schreibtisch saß, stapelten sich noch mehr Akten als früher. Selbst auf dem Fußboden mußte man über Akten und Ordner steigen.
Lord deutete auf die Aktenstöße. »Ist hier irgendwo auch unser Montayne-Antrag dabei?«
»Zum Teil«, lautete die Antwort. »Ich habe nicht für alles Platz. Sie sind wegen Montayne hier, nehme ich an.«
»Ja«, bestätigte Lord. Er hatte Mace gegenüber Platz genommen und hoffte immer noch, daß es nicht nötig sein würde, die Fotokopien zu verwenden, die sich in seiner Aktentasche befanden.
»Ich mache mir ernsthaft Sorgen wegen des Falles in Australien.« Maces Stimme klang im Gegensatz zu früher vernünftig. »Sie wissen, was ich meine?«
Lord nickte. »Die Frau im australischen Busch. Ja, der Fall kam vor Gericht, wurde aber niedergeschlagen, außerdem hat es eine Untersuchung seitens der Regierung gegeben. Beide Male wurden die Vorwürfe sorgfältig geprüft und Montayne von jeder Schuld freigesprochen.«
»Ich habe darüber gelesen«, sagte Mace, »aber ich brauche weitere Einzelheiten. Ich habe nach Australien geschrieben, und wenn ich die Unterlagen bekomme, werde ich vielleicht noch ein paar Fragen haben.«
»Aber das kann Monate dauern!« protestierte Lord.
»Wenn schon«, entgegnete Mace. »Ich werde tun, was meine Pflicht ist.«
Lord machte einen letzten Versuch. »Als Sie unseren Antrag für Staidpace zurückhielten, habe ich Ihnen doch versichert, daß es ein gutes Medikament ist, frei von allen Nebenwirkungen, und das war es dann auch - trotz der unnötigen Verzögerung. Und jetzt versichere ich Ihnen in meiner Eigenschaft als Wissenschaftler, daß es sich mit Montayne genauso verhält.«
»Das ist Ihre Behauptung, daß die Staidpace-Verzögerung unnötig war«, sagte Mace eigensinnig. »Auf jeden Fall hat es nichts mit Montayne zu tun.«
»In gewisser Weise doch«, erwiderte Lord, der wußte, daß er keine andere Wahl hatte. Er warf einen Blick über die Schulter zur Tür, um sich zu vergewissern, daß sie geschlossen war. »Weil ich nämlich glaube, daß das, was Sie mit Felding-Roth treiben, nichts mit unserem letzten Antrag, sondern mit Ihrer eigenen Einstellung zu tun hat. Sie haben eine Menge persönlicher Probleme, die Sie daran hindern, die Dinge richtig zu beurteilen. Einige dieser persönlichen Probleme hat meine Firma in Erfahrung gebracht.«
Mace richtete sich im Sessel auf und sagte in scharfem Ton: »Wovon reden Sie eigentlich?«
»Davon«, sagte Lord. Er hatte die Aktentasche geöffnet und einige Papiere herausgezogen. »Das sind Bestätigungen von Börsengeschäften, eingelösten Schecks, Bankbelege und anderes mehr, woraus hervorgeht, daß Sie über sechzehntausend Dollar Gewinn gemacht haben, illegal, indem Sie vertrauliche FDA-In-formationen über zwei Arzneimittelhersteller, Binvus Products und Minto Labs, für sich genutzt haben.«
Lord legte ein gutes Dutzend Blätter auf Maces Schreibtisch. »Ich glaube, das sollten Sie sich einmal genau ansehen. Natürlich weiß ich, daß Sie das alles kennen, aber vielleicht ist Ihnen neu, daß es außer Ihnen sonst noch jemanden gibt, der Kopien davon hat. Das hier sind übrigens Kopien von Kopien, verstehen Sie? Es würde Ihnen also nichts nützen, sie zu behalten oder zu vernichten.«
Offenbar erkannte Mace das oberste Blatt - eine Quittung des Börsenmaklers - auf Anhieb wieder. Seine Hände zitterten, als er nach den anderen Blättern griff und sie überflog. Sie waren ihm alle bekannt, und je mehr er sah, desto fahler wurde sein Gesicht, seine Mundwinkel zuckten. Schließlich legte Mace die Unterlagen auf den Tisch und flüsterte: »Wo haben Sie das her?«
»Das ist unwichtig«, erwiderte Lord scharf. »Wichtig ist, daß wir es haben und uns überlegen, ob wir es dem Staatsanwalt und der Presse übergeben sollen. In dem Fall wird es natürlich eine Untersuchung geben, und sollten Sie noch in andere, ähnliche Fälle verwickelt sein, werden auch die ans Tageslicht kommen.«
Mace sah immer ängstlicher aus. Es war klar, daß Lord ins Schwarze getroffen und Mace tatsächlich noch mehr Dreck am Stecken hatte. Sie wußten es beide.
Lord erinnerte sich an das, was er zu Sam Hawthorne gesagt hatte: »Wenn die Zeit gekommen ist, können Sie die schmutzige Arbeit ruhig mir überlassen.« Und dann hatte er in Gedanken hinzugefügtes wird mir vielleicht sogar Freude machen. Und genauso war es:
Es bereitete ihm tatsächlich Freude, über seinen Gegner zu triumphieren und ihm die Demütigungen heimzuzahlen.
»Sie werden ins Gefängnis kommen«, fuhr Lord fort, »und für alles bezahlen.«
»Das ist Erpressung«, sagte Mace verzweifelt. »Man wird Sie . . .« Seine Stimme versagte.
»Es gibt viele Möglichkeiten, alles so zu arrangieren, daß unsere Firma damit nicht in Zusammenhang gebracht wird, und außer Ihnen und mir gibt es keine Zeugen.« Lord sammelte die Papiere ein und steckte sie wieder in seine Aktentasche. Ihm war gerade noch rechtzeitig eingefallen, daß seine Fingerabdrücke auf den Blättern waren; er durfte kein Risiko eingehen.
Mace war ein gebrochener Mann. Lord sah voller Widerwillen, wie ihm der Speichel über die Lippen rann. »Was wollen Sie?« stammelte er schwach.
»Ich glaube, das wissen Sie«, erwiderte Lord. »Was wir wollen, ließe sich als >Sieg der Vernunft< bezeichnen.«
»Sie wollen die Genehmigung für dieses Medikament. Für Montayne.« Es war ein verzweifeltes Flüstern.
Lord schwieg.
»Hören Sie«, bat Mace fast schluchzend, »ich habe es ernst gemeint, als ich sagte, daß es ein Problem gibt . . . dieser australische Fall, die Zweifel an Montayne . . . Ich glaube wirklich, daß da etwas dran sein könnte . . . Sie sollten . . .«
»Darüber haben wir gerade gesprochen«, unterbrach ihn Lord verächtlich. »Klügere Leute als Sie haben uns versichert, daß der australische Fall überhaupt keine Bedeutung hat.«
»Und wenn Sie sie bekommen . . . die Genehmigung?«
»Unter gewissen Umständen«, gab Lord vorsichtig zu verstehen, »würden wir die Papiere nicht an den Staatsanwalt oder die Presse geben, sondern sie Ihnen mit der Versicherung aushändigen, daß es unseres Wissens keine weiteren Kopien gibt.«
»Und woher soll ich wissen, ob das stimmt?«
»Da müßten Sie sich schon auf mein Wort verlassen.«
Mace bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren; in seinen Augen stand blanker Haß. »Und was soll Ihr Wort wert sein, Sie Bastard?«
»Sie befinden sich, wenn ich das sagen darf«, erwiderte Vincent Lord mit ruhiger Stimme, »nicht gerade in der Position, andere Leute zu beschimpfen.«
Es dauerte noch zwei Wochen, denn selbst nachdem Gideon Mace Dampf gemacht hatte, drehten sich die Räder der Bürokratie nur langsam. Aber am Ende wurde die Zulassung für Mon-tayne erteilt - das Medikament durfte mit Genehmigung der FDA in den Vereinigten Staaten von Amerika vertrieben werden.
Bei Felding-Roth herrschte Befriedigung darüber, daß der Start nun doch wie geplant im Februar würde stattfinden können.
Vincent Lord wollte kein Risiko eingehen. Deshalb schickte er die belastenden Papiere weder mit der Post noch mit einem Boten, sondern reiste selbst nach Washington und lieferte sie persönlich bei Dr. Mace ab.
Lord hatte Wort gehalten. Sämtliche andere Kopien waren vernichtet.
Im Büro von Mace standen sich die beiden Männer gegenüber.
»Hier ist, was ich Ihnen versprochen habe.« Lord reichte Mace einen braunen Umschlag.
Mace nahm ihn entgegen, prüfte seinen Inhalt und sah Lord an. Seine Stimme war haßerfüllt, als er sagte: »Sie und Ihre Firma haben jetzt einen Feind in der FDA. Ich warne Sie: Eines Tages werden Sie es bereuen.«
Lord zuckte die Achseln und verließ das Zimmer, ohne zu antworten.
1O
An einem Freitagnachmittag im November besuchte Celia Dr. Maud Stavely in der New Yorker Zentrale der »Bürger für mehr Sicherheit in der Medizin«.
Zu dem Besuch hatte sich Celia ganz impulsiv entschlossen. Sie hielt sich ohnehin gerade in Manhattan auf, hatte zwischen zwei Terminen zwei Stunden Zeit, und da kam ihr plötzlich die Idee, ihre Neugier zu befriedigen und sich ihre Kontrahentin, der sie noch nie begegnet war, einmal anzusehen. Sie meldete sich nicht an, denn dann würde Dr. Stavely sie bestimmt nicht empfangen. Das hatten vor ihr schon andere erlebt.
Celia erinnerte sich daran, was ihr Lome Eagledon, der Präsident der Pharmaceutical Manufacturers Association in Washington, vor gar nicht langer Zeit erzählt hatte. Eagledon, jovial und unbekümmert, war als Jurist für die Regierung tätig gewesen, bevor er seinen gegenwärtigen Posten bei dem Verband übernommen hatte.
»Als Leiter der PMA, die alle großen Arzneimittelfirmen vertritt«, sagte er, »halte ich gern Kontakt mit Verbraucherorganisationen. Wir sind zwar Kontrahenten, gewiß, aber manchmal haben sie auch ganz nützliche Ideen, die wir uns ruhig anhören sollten. Deshalb gehe ich zweimal im Jahr mit Ralph Nader essen. Ralph und ich haben nicht viel gemeinsam, aber wir hören uns die gegensätzlichen Standpunkte an, wie das unter zivilisierten Menschen üblich ist. Als ich jedoch Maud Stavely aus dem gleichen Grund mal zum Essen einladen wollte - ach, du liebe Zeit! Dr. Stavely ließ mich wissen, daß sie bei ihrem Kampf gegen einen durch und durch unmoralischen Industriezweig - nämlich den unseren - ihre wertvolle Zeit nicht mit überflüssigen Gesprächen über das Big Business und mit inakzeptablen Ansichten -nämlich den meinen - vergeuden könne. Das Essen, sagte sie, könne ich mir sparen, da sie schon an einem einzigen Stück Schokolade ersticken würde, das mit dem schmutzigen Geld der Pharmaindustrie bezahlt würde.« Eagledon lachte. »Und so haben wir uns leider nie kennengelernt.«
Es regnete, als Celias Taxi vor einem verwahrlosten sechsstök-kigen Gebäude in der 37. Straße in der Nähe der Seventh Avenue hielt. Im Erdgeschoß, dessen Fenster zerbrochen und mit Klebeband geflickt waren, befand sich das Lager einer Installationsfirma. Von dem düsteren Flur, in dem die Farbe von den Wänden abblätterte, arbeitete sich ein winziger Aufzug ächzend und stöhnend bis zur obersten Etage hinauf, wo die BSM-Büros untergebracht waren.
Als Celia den Aufzug verließ, stand sie vor einer offenen Tür; in dem kleinen Raum dahinter saß eine ältere weißhaarige Frau an einem ramponierten Metallschreibtisch. Auf einem Schild war zu lesen: Ehrenamtliche Mitarbeiterin Mrs. O. Thom. Die Frau hämmerte auf einer Schreibmaschine Marke Underwood, Baujahr etwa 1950. Als Celia das Zimmer betrat, blickte sie auf und erklärte: »Ich habe denen schon so oft gesagt, daß ich nicht weiterarbeiten werde, wenn dieses Wrack von einer Schreibmaschine nicht endlich repariert wird. Das große >I< war schon immer kaputt. Wie soll ich denn da einen Brief schreiben?«
»Schreiben Sie doch einfach >Wir< statt >Ich<«, schlug Celia vor.
»Und was mache ich dann mit dem da? Der geht nach Idaho. Soll ich vielleicht Widaho schreiben?« fuhr Mrs. O. Thom sie an.
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen. Ist Dr. Stavely da?«
»Jawohl. Und wer sind Sie?«
»Ich interessiere mich für Ihre Organisation. Ich würde gern mit ihr reden.« Mrs. Thom stand auf und verschwand durch eine Tür. Während Celia wartete, warf sie einen kurzen Blick auf ein paar Leute, die in den angrenzenden Zimmern arbeiteten. Es herrschte eine geschäftige Atmosphäre, nebenan klapperte eine Schreibmachine, und es wurden Telefongespräche geführt. Überall lagen Broschüren und Faltblätter, zum Teil für den Postversand vorbereitet. Ein Stapel Briefe wartete darauf, geöffnet zu werden. Allem Anschein nach schwamm die BSM nicht gerade im Geld. Die Büromöbel stammten sicher von einem Trödler. Früher einmal waren die Räume wohl mit Teppichboden ausgelegt gewesen, inzwischen aber war er so stark abgelaufen, daß er fast nicht mehr zu erkennen war. Wie im Hausflur blätterte auch hier die Farbe von den Wänden.
Mrs. Thom kam zurück. »In Ordnung. Gehen Sie da hinein.« Sie deutete auf eine Tür.
Das Zimmer war genauso schäbig wie die anderen Büros.
»Ja, was gibt's?« Dr. Maud Stavely, die ebenfalls an einem ramponierten Tisch saß, sah von einem Blatt Papier auf und blickte der Besucherin entgegen.
Nach allem, was sie eben gesehen und was sie über die Person, der sie jetzt gegenüberstand, gehört hatte, war Celia überrascht, eine attraktive Frau mit kastanienbraunen Haaren vor sich zu sehen, schlank, mit einer guten Figur und gepflegten Händen, ungefähr Anfang Vierzig. Die Stimme war durchdringend und ungeduldig, aber kultiviert und hatte einen leichten New-England-Akzent. Ihr brauner Wollrock und die rosafarbene Bluse sahen nicht teuer aus, waren aber modisch. Die Augen - das Auffallendste an Dr. Stavely - waren durchdringend blau und gaben Celia zu verstehen, daß eine Antwort auf ihre Frage längst überfällig war.
»Ich komme von einer pharmazeutischen Firma«, sagte Celia. »Entschuldigen Sie bitte, daß ich einfach so hereinplatze, aber ich wollte Sie gern kennenlernen.«
Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen.
»Ich nehme an, Sie sind die Jordan.«
»Ja.« Celia war überrascht. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe von Ihnen gehört. Es gibt in dieser verrotteten Branche nicht viele weibliche leitende Angestellte und ganz bestimmt niemanden, der sich derart verkauft hat wie Sie.«
»Wieso glauben Sie, daß ich mich - wie Sie es nennen - verkauft habe?« fragte Celia ruhig.
»Weil Sie nicht ausgerechnet beim Vertrieb arbeiten würden, wenn das nicht der Fall wäre.«
»Ich habe ursprünglich als Chemikerin angefangen«, wandte Celia ein. »Dann bin ich, wie andere auch, in unserer Firma aufgerückt.«
»Das ist mir egal. Was wollen Sie?«
Celia bemühte sich, der feindseligen Haltung mit einem Lä-cheln zu begegnen. »Wie schon gesagt, ich wollte Sie kennenlernen. Ich dachte, wir könnten vielleicht ein bißchen miteinander reden. Auch wenn wir nicht die gleichen Ansichten haben dürften, könnten wir doch beide davon profitieren.«
Ihre Freundlichkeit zeigte keine Wirkung. Mit eisiger Stimme fragte Dr. Stavely: »Wovon profitieren?«
Celia zuckte die Achseln. »Vom gegenseitigen Verständnis, dachte ich. Aber es war offenbar keine so gute Idee herzukommen.« Sie drehte sich um und wollte gehen, weil sie nicht bereit war, weitere Unhöflichkeiten hinzunehmen.
»Was wollen Sie wissen?«
Die Stimme klang nicht mehr ganz so abweisend. Celia zögerte, wußte nicht recht, wie sie sich verhalten sollte.
Dr. Stavely deutete auf einen Stuhl. »Da Sie schon mal hier sind, setzen Sie sich. Ich gebe Ihnen zehn Minuten.«
Unter anderen Umständen hätte Celia ihr die Meinung gesagt, aber sie war neugierig und hielt sich zurück. »Was mich interessieren würde: Warum haben Sie einen solchen Haß auf die Pharma-Industrie?«
Zum ersten Mal erschien auf Maud Stavelys Gesicht ein schwaches Lächeln, das aber sofort wieder verschwand. »Ich sagte, zehn Minuten, nicht zehn Stunden.«
»Warum nutzen wir dann nicht die Zeit?«
»Na schön. Der unmoralischste Teil Ihres Geschäfts ist genau der, mit dem Sie zu tun haben - der Verkauf. Sie überschütten den Markt mit Ihrer Ware auf eine geradezu zynische, boshafte Weise. Nehmen wir einmal Medikamente, die bei begrenzter Anwendung durchaus vertretbar wären - durch Ihre massiven, rücksichtslosen Verkaufskampagnen aber bringen Sie die Ärzte dazu, sie unzähligen Leuten zu verschreiben, die sie gar nicht benötigen, die sie sich nicht leisten können oder denen sie sogar schaden.«
»Das sind starke Worte«, sagte Celia. »Niemand bestreitet, daß gelegentlich zuviel verschrieben wird, aber . . .«
»Gelegentlich zuviel verschrieben! Das Übermaß ist die Norm. Aber es ist eine Norm, auf die Leute wie Sie hinarbeiten, die Sie einplanen und herbeiwünschen! Wollen Sie ein Beispiel? Denken Sie an Valium und ähnliche Präparate - wahrscheinlich in der Geschichte der Pharma-Industrie die Medikamente, die am häufigsten im Übermaß genommen und unnötigerweise verschrieben werden. Firmen wie die Ihre mit ihrer übertriebenen Verkaufsstrategie und ihrer Habgier sind verantwortlich für eine Legion süchtiger, verzweifelter Menschen und potentieller Selbstmörder . . .«
»Aber auch für viele, denen diese Mittel geholfen haben.«
»Eine Minderheit«, widersprach Dr. Stavely, »für die die übertriebenen Werbemaßnahmen nicht nötig wären. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie Ärzte unter Druck gesetzt werden, damit sie an den Nutzen dieser >Allheilmittel< glauben. Aufgrund solcher Erfahrungen habe ich meine Praxis geschlossen und diese Organisation ins Leben gerufen.«
»Ich weiß, daß Sie Ärztin sind«, gab Celia zögernd zu.
»Ich habe mich als Internistin bemüht, Menschen gesund zu machen und am Leben zu erhalten. Und das versuche ich auch jetzt noch, nur auf einer viel breiteren Basis. Aber zurück zum Valium. Es beweist, wie gewissenlos die ganze Branche ist.«
»Ich höre«, sagte Celia. »Ich stimme Ihnen nicht zu, aber ich höre.«
»Kein Mensch benötigt all die verschiedenen Varianten von Valium, die die pharmazeutischen Firmen in Konkurrenz zueinander herstellen. Es ist für niemanden von Vorteil, wenn fünf verschiedene Valiumpräparate im Handel sind. Aber nachdem Va-lium sich als ein so großartiger finanzieller Erfolg erwiesen hat, haben andere Firmen sofort monate-, ja jahrelange Forschungen angestellt, haben wertvolle wissenschaftliche Zeit und enorme Summen investiert, nicht etwa um Neues und Nützliches hervorzubringen, sondern nur um auch ein Valium - unter einem anderen Namen - auf den Markt zu bringen. Sie haben Valiumvarian-ten hergestellt, indem sie geringfügige Veränderungen am Molekül vornahmen und daraufhin ein eigenes Patent beantragen konnten.«
»Jeder weiß, daß es >Trittbrett<-Medikamente gibt«, unterbrach Celia geduldig, »sicher mehr als nötig, aber manchmal führen sie auch zu neuen Entwicklungen; und außerdem sichern sie den Pharma-Firmen, die unsere Gesellschaft nun mal braucht, in Zeiten der Erprobung und vor einem eventuellen großen Durchbruch die Existenz.«
»O mein Gott!« Dr. Stavely fuhr sich mit der Hand an den Kopf. »Glauben Sie dieses Branchen-Gewäsch etwa wirklich? Es geht ja nicht nur um Valium. Jedes wichtige Medikament, das irgendeine Firma herausbringt, wird von den anderen nachgemacht. Und aus diesem Grund sollte die pharmazeutische Forschung von der Regierung gelenkt und kontrolliert werden, wobei die Arzneimittelfirmen für die Kosten aufzukommen hätten.«
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte Celia. »Sie wollen die Arzneimittelforschung von denselben Politikern kontrollieren lassen, die die Sozialversicherung kaputtgemacht haben, die Staatsgelder verschleudern, die es nicht einmal fertigbringen, den Staatshaushalt auszugleichen und die ihre eigenen Mütter opfern würden, um Wählerstimmen zu gewinnen? Dann gäbe es noch heute kein Penicillin! Zugegeben, das bestehende System ist nicht gerade ideal, aber es ist noch immer besser und auch moralischer als das, was Sie vorschlagen.«
Dr. Stavely sprach weiter, als habe sie Celia nicht gehört. »Ihre feine Branche mußte erst mit Gesetzen dazu gezwungen werden, vor den Nebenwirkungen und Gefahren der Medikamente zu warnen. Sie beschränkt sich dabei aber auf das äußerste Minimum und läßt manche Hinweise einfach in den Akten verschwinden.«
»Das ist doch Unsinn! Wir sind dem Gesetz nach verpflichtet, Nebenwirkungen an die FDA zu melden«, protestierte Celia. »Sicher, es mag vorgekommen sein, daß jemand es unterlassen hat . . .«
»Unsere Organisation weiß von einer ganzen Reihe solcher Fälle, und wahrscheinlich gibt es noch eine ganze Menge mehr, von denen wir nichts wissen. Widerrechtliches Zurückhalten von Informationen. Aber ist es je gelungen, die Justizbehörden dazu zu bewegen, eine Untersuchung in Gang zu bringen? Nein! Weil es auf dem Capitol Hill eine ganze Armee bezahlter Lobbyisten gibt, die . . .«
Nun gut, dachte Celia, sie war gekommen, um Meinungen zu hören, und sie bekam sie zu hören. Aus den gnädig gewährten zehn Minuten war eine volle Stunde geworden. Unter anderem erwähnte Dr. Stavely eine Kontroverse, die es vor kurzem gegeben hatte und von der Celia ebenfalls wußte. Eine pharmazeutische Firma (nicht Felding-Roth) hatte Schwierigkeiten mit einem ihrer Produkte, das intravenös verabreicht wurde und in Krankenhäusern Verwendung fand. Einige Flaschen mit dem angeblich sterilen Inhalt hatten beschädigte Verschlußkappen, wodurch Bakterien eindringen konnten, die zu Blutvergiftungen und bei mehreren Patienten sogar zum Tod führten.
Die Zahl der beschädigten Flaschen war, wie man wußte, sehr gering, und möglicherweise waren inzwischen alle aus dem Verkehr gezogen; eine Wiederholung würde es nicht geben, da der Fehler in der Herstellung inzwischen entdeckt und behoben worden war. Ein Verbot dieses Präparats würde zu einem Versorgungsengpaß in den Krankenhäusern führen und wahrscheinlich weitere Todesfälle nach sich ziehen. Seit Wochen diskutierten Hersteller, FDA und Krankenhäuser nun schon darüber. Dr. Stavely fand das empörend und nannte es »ein beschämendes Beispiel dafür, wie eine pharmazeutische Firma eine Sache verschleppt, nur weil sie sich weigert, ein gefährliches Mittel zurückzurufen«.
»Ich weiß zufällig etwas darüber«, sagte Celia. »Heute morgen hörte ich, daß die FDA beschlossen hat, jede weitere Anwendung der Infusionsflüssigkeit zu verbieten. Über das Wochenende wird eine entsprechende Verlautbarung vorbereitet und am Montagmorgen auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben werden.«
Dr. Stavely sah die Besucherin scharf an. »Sind Sie sicher?«
»Absolut.« Sie hatte die Information von einem äußerst zuverlässigen Angestellten der betroffenen Firma erhalten.
Dr. Stavely machte sich eine Notiz. Dann kamen sie auf Montayne zu sprechen.
»Wir werden nichts unversucht lassen«, erklärte Dr. Stavely, »um zu verhindern, daß dieses ungenügend erprobte Mittel auf den Markt kommt.«
Celia hatte diese einseitigen Tiraden satt. »Montayne als ungenügend erprobt zu bezeichnen ist lächerlich! Außerdem hat die FDA bereits die Zulassung erteilt.«
»Diese Zulassung muß im öffentlichen Interesse rückgängig gemacht werden.«
»Und warum?«
»Es hat in Australien einen Fall gegeben . . .«
»Der australische Fall ist uns bekannt«, sagte Celia mißmutig. Und sie legte Dr. Stavely dar, wie die medizinischen Experten die vor Gericht aufgestellten Behauptungen entkräftet hatten.
»Ich kann die Meinung dieser Experten nicht teilen«, erklärte Dr. Stavely. »Haben Sie die Protokolle der Gerichtsverhandlung gelesen?«
»Ich habe Berichte gelesen, die sich eingehend damit befaßt haben.«
»Ich habe gefragt, ob Sie die Protokolle gelesen haben.«
»Nein«, gab Celia zu.
»Dann tun Sie es, und maßen Sie sich nicht an, ohne diese Informationen weiter über Montayne zu sprechen.«
Celia seufzte. »Ich glaube nicht, daß es Sinn hat, noch weiterzureden.«
»Das habe ich Ihnen ja gleich gesagt.« Zum zweiten Mal tauchte auf Dr. Stavelys Gesicht ein schwaches Lächeln auf.
Celia nickte. »Und damit hatten Sie recht - auch wenn es so ungefähr das einzige war, womit Sie recht hatten.«
Dr. Stavely hatte sich schon wieder ihrer Akte zugewandt. Sie blickte nur kurz auf. »Auf Wiedersehen, Jordan.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Celia und ging durch die trostlosen Büros hinaus auf die ebenso trostlose Straße.
Als Celia am späten Nachmittag von Manhattan nach Morris-town zurückfuhr, dachte sie über Dr. Stavely nach, deren Enga-gement an Besessenheit zu grenzen schien. Menschen wie sie waren in der Regel humorlos, nahmen sich selbst sehr ernst und waren so daran gewöhnt, alles nur schwarz oder weiß zu sehen, daß sie für die Zwischentöne kein Empfinden hatten, die doch weit häufiger vorkamen.
Allerdings war die Vorsitzende der BSM offenbar gut informiert, beredt, vorzüglich organisiert und besaß einen scharfen Verstand. Ihre medizinische Qualifikation gab ihr automatisch das Recht, gehört zu werden, wenn es um rezeptpflichtige Medikamente ging. Manche Ansichten, die sie vertrat, waren gar nicht so weit von denen entfernt, die Celia vor vierzehn Jahren selbst gehabt hatte, als sie sich über »Trittbrett«-Medikamente und »molekulares Roulette« in ähnlicher Weise ausgelassen hatte. Und es waren Sam Hawthornes Argumente, die Celia ihr an diesem Nachmittag entgegengehalten hatte - ohne von ihrer Gültigkeit selbst überzeugt zu sein.
Aber Dr. Stavely hatte sehr einseitig Stellung bezogen, als sie die negativen Aspekte der pharmazeutischen Industrie hervorhob und die vielen positiven, humanitären Beiträge dieses Industriezweigs außer acht ließ. Celia hatte einmal gehört, wie die Pharma-Industrie der Vereinigten Staaten als »nationaler Schatz« bezeichnet wurde, und fand, daß diese Beschreibung im großen und ganzen zutraf. Und Dr. Stavelys Vorstellung, daß die Regierung die Arzneimittelforschung kontrollieren sollte, war naiv und absurd. Alles in allem aber waren sie und ihre Organisation starke Gegner, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.
Und in einem Punkt hatte Dr. Stavely zweifellos recht, dachte Celia reumütig. Die Lektüre der Protokolle des australischen Gerichtsverfahrens mußte sie in der nächsten Woche unbedingt nachholen.
»Es mag nicht ganz einfach sein, mit diesen Aktivisten - Maud Stavely, Sidney Wolfe, Ralph Nader und all den anderen - auszukommen, und manchmal findet man sie vielleicht sogar abscheulich«, sagte Andrew am Abend, als Celia von ihrem Besuch bei der BSM berichtete. »Aber ihr braucht sie, eure Industrie braucht sie, genauso wie General Motors und die anderen Autofirmen einen Nader benötigten, bevor er auf dem Schauplatz erschien. Nader hat dazu beigetragen, die Autos besser und sicherer zu machen, weil er immer wieder nachhakte, und ich persönlich bin ihm dankbar dafür. Und jetzt halten Stavely und Wolfe dich und deine Leute in Trab.«
Celia stieß einen Seufzer aus. »Warum können sie nur nicht ein bißchen gemäßigter und vernünftiger sein?«
Andrew schüttelte den Kopf. »Dann wären sie ja keine erfolgreichen Aktivisten mehr. Und noch etwas - wenn sie rücksichtslos und unmoralisch sind, solltest du dich fragen, wo sie das herhaben. Doch wohl von Firmen wie der deinen, meine Liebe, denn wenn niemand hingesehen hat, haben die sich durchaus rücksichtslos und unmoralisch verhalten.«
Celia hätte Andrews letzte Bemerkung noch mehr zu würdigen gewußt, wenn sie einer Szene im Büro der BSM beigewohnt hätte, die sich dort nur wenige Minuten nach ihrem Weggang abspielte.
Dr. Stavely rief einen Assistenten zu sich. »Berufen Sie bitte für morgen vormittag eine Pressekonferenz ein. Sagen Sie, daß es sich um eine dringende Angelegenheit handelt, die die Krankenhäuser und Patienten betrifft, und vergewissern Sie sich, daß Fernsehanstalten und Presseagenturen davon erfahren. Gleichzeitig werden wir eine Pressemitteilung herausgeben. Es dürfte eine lange Nacht werden . . .«
Am nächsten Morgen um zehn Uhr berichtete Dr. Stavely vor Vertretern von Presse, Funk und Fernsehen über die Probleme, die sich im Zusammenhang mit der bakterienverseuchten Infusionsflüssigkeit ergeben hatten. Sie erwähnte auch, daß es infolge von Sepsis vermutlich mehrere Todesfälle gegeben habe. Was sie nicht erwähnte, waren Celias Informationen darüber, daß die FDA bereits beschlossen hatte, alle vorhandenen Bestände des Präparats zurückzurufen und diese Entscheidung bereits am Montag bekanntzugeben.
Statt dessen erklärte Dr. Stavely: »Die Organisation der >Bür-ger für mehr Sicherheit in der Medizin< bedauert, daß die FDA und die Herstellerfirma untätig zusehen. Wir fordern, daß alle Vorräte dieses lebensgefährdenden Stoffes sofort zurückgezogen werden . . .«
Das verfehlte seine Wirkung nicht. Die großen Fernsehanstalten berichteten darüber in den Abendnachrichten. Und als am Montag die FDA offiziell ihre Entscheidung bekanntgab, waren die Zeitungen bereits voll davon. Da sich kaum jemand die Mühe gemacht hatte, die Hintergründe aufzuhellen, begannen die Artikel mit den Worten: »In schneller Reaktion auf die Forderung von Dr. Maud Stavely und ihrer Organisation >Bürger für mehr Sicherheit in der Medizin< hat die FDA heute verfügt, daß jede weitere Verwendung . . .«
Celia, die mit einigem Unbehagen den Ablauf des Geschehens verfolgte, behielt die Rolle, die sie bei der ganzen Sache gespielt hatte, für sich. Sie hatte dazugelernt. Ihr wurde klar, daß sie sich ausgesprochen dumm und indiskret verhalten hatte und von einer meisterhaften Taktikerin ausgenutzt worden war.
11
Zu Celias Überraschung gab es in der Geschäftszentrale von Fel-ding-Roth keine einzige Prozeßakte des australischen Gerichtsverfahrens, in das Montayne verwickelt war. Und auch die Rechtsabteilung der Firma konnte nirgends eine auftreiben. Es gab eine Menge Berichte, in denen der Fall zitiert wurde, aber Ce-lia wollte unbedingt das Verfahren in seiner Gesamtheit kennenlernen. Obwohl Maud Stavely offenbar eine Kopie der Protokolle besaß, war Celia nicht erpicht darauf, sie darum zu bitten, und beauftragte statt dessen die Rechtsabteilung der Firma, über eine Kanzlei in Australien telegrafisch die Akten anzufordern.
Inzwischen gab es eine Menge anderes zu tun. Die Werbekampagne für den Start von Montayne wurde vorangetrieben, denn der Februartermin rückte immer näher. Celia und ihr Stellvertreter Bill Ingram waren für die vielen Millionen Dollar verantwort-lich, die bereits ausgegeben waren; und für die kommenden Monate standen noch weitere Gelder bereit. In zahlreichen medizinischen Magazinen wurden mehrfarbige vierseitige Anzeigen plaziert, und auf Ärzte und Apotheker im ganzen Land rollte eine Lawine von Postwurfsendungen zu.
Zu den Werbemitteln, die verschickt wurden, gehörte auch eine Kassette, die außer dem »Wiegenlied« von Brahms eine klinische Beschreibung von Montayne zu Gehör brachte. Darüber hinaus waren zahlreiche Vertreter der Firma unterwegs, die Tausende von Musterpackungen an die Ärzte verteilten und dabei auch Golfbälle mit der Aufschrift »Montayne« auf deren Schreibtischen zurückließen. Wie bei jedem Start eines neuen Medikaments herrschte in der ganze Firma Aufregung und Trubel, Nervosität, aber auch Zuversicht.
Hoffnungen weckten ebenfalls die neuesten Nachrichten aus dem Forschungsinstitut in Großbritannien. Dort war es Martin Peat-Smiths Team anscheinend gelungen, die technische Barriere zu durchbrechen, die über lange Zeit die Forschungen behindert hatte. Einzelheiten waren noch nicht bekannt - Martins Bericht war kurz und sehr allgemein gehalten -, aber wie es aussah, handelte es sich um die Überwindung jener Mauer, von der Dr. Rao Sastri vor achtzehn Monaten gesprochen hatte: » Wir besitzen keine geeigneten Techniken. . . In zehn fahren vielleicht. . . «
Celia freute sich, daß Sastri zumindest in diesem Punkt unrecht und Martin recht gehabt hatte.
Einem Brief von Nigel Bentley aus Harlow war zu entnehmen, daß der erzielte technische Fortschritt auf der Gewinnung eines Peptid-Gemischs beruhte, das aus dem Gehirn von Ratten gewonnen wurde. Folgetests an Ratten im sogenannten »Labyrinth« zeigten, daß es das Gedächtnis älterer Tiere zu stärken vermochte. Die Versuche gingen weiter.
Obwohl ein Medikament zur Verbesserung des menschlichen Gedächtnisses noch immer in weiter Ferne lag, zeichnete sich die Möglichkeit eines Erfolgs jetzt deutlicher ab als je zuvor.
Die Nachricht traf zum rechten Zeitpunkt ein, da sich einige Mitglieder des Aufsichtsrats erneut anschickten, das Harlower Institut wegen zu hoher Kosten und ausbleibender Erfolge zu schließen. Mit diesen positiven Ergebnissen schien das Forschungsprojekt, für den Augenblick zumindest, gesichert.
Auch Celia war froh darüber, daß sie sich vor anderthalb Jahren gegen die Schließung des Instituts ausgesprochen hatte.
Mitte Dezember traf das angeforderte Gerichtsprotokoll aus Australien ein. Es war eine mehrere hundert Seiten starke Akte. Aber Celia war im Augenblick so überlastet, daß sie die Lektüre auf einen späteren Zeitpunkt verschieben mußte. Anfang Januar hatte sie das Protokoll noch immer nicht gelesen; und dann ereignete sich etwas, das alles andere in Vergessenheit geraten ließ.
Mit seiner Wahl zum Präsidenten hatte Carter alle Welt in Erstaunen versetzt. Nachdem er das Weiße Haus in Besitz genommen hatte, schickte er alsbald Boten aus, um eilig Kandidaten für die zahlreichen Regierungsämter anzuwerben, die die Republikaner bald würden freimachen müssen. Zu denen, die einen Ruf erhielten, gehörte auch Xavier Rivken, Leiter der Verkaufsabteilung bei Felding-Roth.
Xav Rivken, lebenslanger Demokrat, der sich seit neuestem begeistert für Carter einsetzte, hatte Zeit und Geld in die Wahlkampagne gesteckt; er kannte den neuen Präsidenten persönlich - sie hatten zusammen in der US-Navy gedient. Und jetzt erhielt er seine Belohnung, indem man ihm den Posten eines Unterstaatssekretärs im Handelsministerium anbot.
Bei Felding-Roth wurde das Angebot zuerst geheimgehalten und auch, daß Rivken grundsätzlich nicht abgeneigt war. Sam Hawthorne und ein paar andere Mitglieder des Aufsichtsrats besprachen die Angelegenheit und waren der Meinung, daß er annehmen sollte. Der Firma konnte es nicht schaden, einen Verbündeten im Handelsministerium zu haben. In aller Stille trafen sie ein Arrangement für die vorzeitige Pensionierung von Rivken, so daß er gleich nach dem 20. Januar, dem Amtsantritt des Präsidenten, die Firma verlassen konnte.
In der zweiten Januarwoche rief Sam Celia in sein Büro und informierte sie über die Abmachung mit Rivken, von der sie noch nichts gewußt hatte.
»Niemand - auch ich nicht - hat erwartet, daß es schon so bald dazu kommen würde«, sagte Sam, »aber wenn Xav geht, werden Sie an seine Stelle treten. Ich habe schon mit ein paar Aufsichtsratsmitgliedern gesprochen, die der Abmachung mit Xav zugestimmt haben. Wir sind uns natürlich alle im klaren darüber, daß es ein ziemlich ungünstiger Zeitpunkt ist, da wir mit Mon-tayne . . .«
»Darf ich mich setzen?« bat Celia. »Und geben Sie mir bitte einen Augenblick, um mich zu sammeln?« Ihre Stimme war rauher als sonst. »Auch wenn es Sie überrascht - ich bin wie vom Blitz getroffen.«
Sam machte ein zerknirschtes Gesicht. »Teufel auch, das tut mir leid! Ich hätte vielleicht ein bißchen diplomatischer vorgehen sollen. Aber an manchen Tagen habe ich es verdammt eilig.«
»Ist schon gut«, beruhigte Celia ihn. »Und was Sie über Mon-tayne sagen . . .«
Aber die Worte schienen gar nicht von ihr zu stammen. In ihrem Kopf ging alles drunter und drüber. Sie erinnerte sich an ein Ereignis, das siebzehn Jahre zurücklag: Irving Gregson, der damalige Leiter der Verkaufsabteilung, der der Firma längst nicht mehr angehörte, hatte sie während der New Yorker Verkaufstagung wütend aufgefordert, den Saal zu verlassen. Sam hatte sie damals gerettet . . . und jetzt war es Sam, der . . . Verdammt! Sie würde doch nicht etwa heulen! Als sie aufblickte, hielt Sam ihr lächelnd ein Taschentuch hin.
»Sie haben es verdient, Celia«, sagte er. »Ganz allein haben Sie es geschafft, Schritt für Schritt, und was ich schon früher hätte sagen sollen: Herzlichen Glückwunsch! Ich habe es Lilian beim Frühstück erzählt, und sie freut sich darüber genauso wie ich; sie läßt Ihnen sagen, daß wir uns alle bald wieder einmal treffen sollten.«
»Vielen Dank.« Sie nahm das Taschentuch, wischte sich die Tränen ab und sagte dann sachlich: »Bitte sagen Sie Lilian, daß ich ihr danke. Und jetzt zu Montayne.«
»Da Sie mit den Plänen für den Start von Montayne so vertraut sind, hat der Aufsichtsrat beschlossen, Sie damit weitermachen zu lassen, auch wenn Sie jetzt eine noch größere Verantwortung übernehmen. Das wird für Sie eine zusätzliche Belastung . . .«
»Kein Problem«, versicherte Celia.
»Außerdem sollten Sie sich über einen Nachfolger Gedanken machen«, bemerkte Sam.
»Bill Ingram«, sagte Celia, ohne zu zögern. »Er ist gut eingearbeitet und hat auch schon bei Montayne mitgemacht.«
Das Prinzip hatte hervorragend funktioniert: Celia war Sam auf der Leiter gefolgt, jetzt würde Bill Celia folgen - und wer würde sich wohl an Bills Fersen heften?
Nur mit Mühe konnte Celia sich konzentrieren und das Gespräch zu Ende führen.
Am Abend, als Celia Andrew von ihrer bevorstehenden Beförderung berichtete, schloß er sie in die Arme. »Ich bin stolz auf dich! Aber das bin ich schon immer gewesen.«
»Die meiste Zeit«, korrigierte sie ihn. »Es hat Augenblicke gegeben, in denen du es nicht warst, und das aus gutem Grund.«
Er verzog das Gesicht. »Das liegt alles weit hinter uns.« Dann verschwand er in der Küche und kehrte einen Augenblick später mit einer Flasche Schramsberg-Sekt zurück. Winnie April folgte ihm mit glühenden Wangen. Sie trug ein Tablett mit Gläsern.
»Winnie und ich trinken jetzt auf dein Wohl«, verkündete Andrew. Er hob sein Glas: »Auf dich, meine Liebste! Auf alles, was du bist, warst und sein wirst.«
»Gott schütze Sie.« Winnie nahm einen kleinen Schluck Sekt, dann zögerte sie. »Ich weiß nicht, ob ich das alles trinken soll.«
»Aber warum denn nicht?« fragte Celia.
»Na ja . . . es ist vielleicht nicht gut für das Baby.« Winnie warf Andrew einen Blick zu und wurde rot. »Ich hab' gerade erfahren, daß ich schwanger bin.«
»Winnie, das ist ja wunderbar!« Celia lief zu ihr, um sie zu umarmen. »Viel wichtiger als meine Beförderung!«
»Wir freuen uns für Sie, Winnie«, sagte Andrew. Er nahm ihr das Sektglas aus der Hand. »Sie haben recht. Sie sollten das jetzt nicht trinken. Wir machen eine neue Flasche auf, wenn das Baby da ist.«
Später, als Celia und Andrew zu Bett gingen, sagte Celia erschöpft: »Das war ein Tag heute!«
»Alles in allem ein wunderschöner Tag«, stellte Andrew fest. »Ich hoffe nur, daß es so bleibt.«
Aber die Hoffnung erfüllte sich nicht.
Die ersten Anzeichen für schlechte Nachrichten kündigten sich genau eine Woche später an.
Bill Ingram, der noch immer jungenhaft wirkte, kam in Celias Büro, in das er bald selbst einziehen würde. Er fuhr sich mit der Hand durch die wie immer zerzausten roten Haare. »Ich glaube, Sie sollten sich das hier mal ansehen, auch wenn ich nicht weiß, ob es von Bedeutung ist. Ein Freund hat es mir aus Paris geschickt. Es ist eine Meldung aus dem France-Soir. Wie gut ist Ihr Französisch?«
»Es reicht, um es zu verstehen.«
Als Celia zu lesen begann, stieg eine Vorahnung in ihr auf, die sie erschauern ließ.
Die Zeitungsmeldung war kurz.
Bei einem jetzt einjährigen Mädchen aus Nouzonville, einer kleinen französischen Stadt nahe der belgischen Grenze, war vor kurzem ein Fehler im zentralen Nervensystem festgestellt worden, der es bewegungsunfähig machte; die Untersuchungen hatten außerdem ergeben, daß sich das Gehirn nicht weiterentwik-kelte. Eine Behandlung schien nicht möglich. Das Kind würde für den Rest seines Lebens dahinvegetieren müssen. Es schien keine Hoffnung zu geben.
Die Mutter hatte während der Schwangerschaft Montayne eingenommen. Jetzt machten sie und ihre Familie dieses Medikament für die Fehlentwicklung des Babys verantwortlich. In der Zeitungsmeldung stand nicht, ob die Ärzte diese Ansicht teilten.
Der Bericht des France-Soir schloß mit einem rätselhaften Satz: Un autre cas en Espagne, apparemment identique, a ete signale.
Celia überlegte, was das zu bedeuten hatte.
. . . ein weiterer Fall in Spanien, offenbar identisch.
»Wie gesagt, ich glaube nicht, daß wir uns Sorgen machen müssen«, versicherte Bill Ingram. »Schließlich ist der France-Soir für seine Sensationslust bekannt. Wenn es LeMonde wäre. . .«
Celia antwortete nicht. ZuerstAustralien, letztFrankreich undSpa-nien.
Dennoch - ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, daß Bill recht hatte. Es gab wirklich keinen Grund zur Sorge. Sie dachte an ihre eigene Überzeugung, an die gewissenhaften, gründlichen Untersuchungen in Frankreich, die langen Erprobungen in vielen anderen Ländern, Sicherheiten, nach denen man gesucht und die man auch erhalten hatte. Kein Grund zur Sorge, natürlich nicht.
Und dennoch . . .
Entschlossen sagte sie: »Bill, ich möchte Sie bitten, so schnell wie möglich alles herauszufinden, was über diese beiden Fälle bekannt ist. Die Zeitungsmeldung behalte ich hier.«
»Ganz wie Sie möchten . . .« Ingram warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich werde mit Gironde-Chimie telefonieren. Es ist noch nicht zu spät, und ich kenne dort jemanden, mit dem ich schon früher zu tun hatte. Trotzdem glaube ich nicht . . .«
»Tun Sie's«, sagte Celia. »Tun Sie's sofort!«
Eine Stunde später berichtete Bill erleichtert:
»Kein Grund zur Sorge. Ich habe lange mit meinem Freund bei Gironde-Chimie gesprochen. Er weiß alles über die beiden Fälle, die im France-Soir erwähnt werden. Er sagt, sie seien genauestens untersucht worden, und es gäbe keinen Grund zur Aufregung, nicht einmal Zweifel seien angebracht. Seine Firma hat ein Experten-Team nach Nouzonville entsandt, und dieselben Leute sind auch nach Spanien geflogen, um dort den Fall zu prüfen.«
»Hat er Ihnen weitere Einzelheiten genannt?« fragte Celia.
»Ja.« Bill blickte auf einen Notizzettel, den er in der Hand hielt. »In beiden Fällen besteht eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Sache in Australien. Erinnern Sie sich daran?«
»Ich kenne den australischen Bericht.«
»Beide Mütter haben einen ganzen Sack anderer Medikamente eingenommen und außerdem reichlich Alkohol konsumiert, während der gesamten Schwangerschaft. Bei dem französischen Kind gibt es Mongolismus in der Familie, und Vater und Großvater von dem Baby in Spanien sind Epileptiker.«
»Aber beide Mütter haben Montayne genommen?«
»Stimmt. Und mein französischer Gewährsmann, Jacques Saint-Jean, ein promovierter Chemiker, hat mir gesagt, daß Gi-ronde-Chimie zuerst genau wie Sie besorgt war. Schließlich stehe für seine Firma genausoviel auf dem Spiel wie für Felding-Roth, sagte er, vielleicht sogar noch mehr. Man ist aber zu dem Schluß gekommen, daß Montayne absolut nichts mit den Mißbildungen der Babys zu tun hat. Darüber waren sich Wissenschaftler und Arzte völlig einig. Was sie allerdings vermuten, ist, daß manche Medikamente, die die beiden Frauen außerdem eingenommen haben, in der Kombination mit Montayne gefährlich sein könnten . . .«
»Ich möchte die Berichte lesen«, sagte Celia. »Wie schnell können Sie Kopien besorgen?«
»Beide Berichte befinden sich bereits bei uns.«
»Bei uns?«
Bill nickte. »Hier in der Zentrale. Jacques Saint-Jean sagte mir, daß Vincent Lord sie hat. Sie wurden uns vor ein paar Wochen von Gironde-Chimie zur Information zugeschickt. Soll ich Vincent Lord fragen . . .«
»Nein«, sagte sie. »Das mache ich selbst. Das ist alles, Bill.«
»Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben«, seine Stimme klang besorgt, »ich glaube nicht, daß wir uns deswegen Sorgen . . .«
»Ich sagte, das ist alles!« fuhr sie ihn an, unfähig, sich noch länger zu beherrschen.
»Warum wollen Sie sie sehen?« fragte Vincent Lord Celia, als sie ihn in seinem Büro aufsuchte.
»Weil ich glaube, daß ich solche Informationen lesen sollte, statt aus zweiter Hand davon zu erfahren«, sagte Celia gereizt.
»Falls Sie mit >zweiter Hand< mich meinen . . . Glauben Sie nicht, daß ich vielleicht mehr davon verstehe und mir ein Urteil bilden kann?« sagte Lord höhnisch.
»Und wie lautet Ihr Urteil?«
»Daß beide Fälle unmöglich etwas mit Montayne zu tun haben können. Sie wurden von qualifizierten Fachleuten sorgfältig untersucht. Meine persönliche Meinung - die übrigens Gironde-Chimie mit mir teilt -, ist, daß die betreffenden Familien nur Geld herausholen wollen. So was kommt immer wieder vor.«
»Weiß Sam von den Vorfällen in Frankreich und Spanien?«
Lord schüttelte den Kopf. »Von mir nicht. Sie schienen mir nicht wichtig genug, um ihn damit zu belästigen.«
»Nun gut«, sagte Celia. »Ich will jetzt nicht darüber streiten, ob das richtig war. Aber ich möchte die Berichte trotzdem gern selbst lesen.«
Die Freundlichkeit, die Lord in der letzten Zeit an den Tag gelegt hatte, war im Laufe des Gesprächs verschwunden. Jetzt sagte er bissig: »Sollten Sie sich einbilden, genügend wissenschaftliche Kenntnisse zu besitzen, um zu einem eigenen Urteil kommen zu können, muß ich Sie leider daran erinnern, daß Ihr kümmerliches Chemieexamen schon sehr lange zurückliegt und Sie wohl nicht mehr ganz auf dem laufenden sein dürften.«
Celia, die Streit vermeiden wollte, erwiderte ruhig: »Ich bilde mir nichts ein, aber ich würde die Berichte trotzdem gern lesen.«
Zu ihrer Überraschung befanden sie sich nicht, wie sie erwartet hatte, in der Ablage. Lord zog mit mürrischem Gesicht einen Schlüssel aus der Jackentasche und öffnete damit eine Schublade seines Schreibtischs, in der ein Aktenordner lag. Lord entnahm ihm ein paar Blätter und händigte sie Celia aus.
»Danke«, sagte sie. »Sie bekommen sie zurück.«
An diesem Abend blieb Celia trotz ihrer Müdigkeit sehr lange auf, um die Berichte von Gironde-Chimie und den größten Teil des Gerichtsprotokolls aus Australien zu lesen. Letzteres bereitete ihr die meisten Sorgen.
In dem Protokoll waren mehrere wesentliche Punkte enthalten, die in der Kurzfassung, die sie gelesen hatte, nicht erwähnt worden waren.
Die Australierin war - in der Kurzfassung - als charakter-schwach bezeichnet worden. Es hieß, daß sie außer Montayne noch eine Reihe anderer Medikamente genommen habe, Alkoholikerin und Kettenraucherin sei. Das stimmte. Was aber ebenfalls stimmte und nicht in der Kurzfassung stand: daß die Mutter des mißgebildeten Kindes trotz allem intelligent war, was mehrere Zeugen bestätigten. Außerdem hatte es in der Familie der Frau bisher weder Geisteskrankheiten noch körperliche Gebrechen gegeben.
Die zweite Information, die für Celia neu war: daß die Frau bereits zwei normale, gesunde Kinder zur Welt gebracht hatte.
In der Kurzfassung hatte gestanden, daß die Frau nicht wüßte, wer der Vater des letzten Kindes sei, aber aus dem ungekürzten Prozeßprotokoll ging hervor, daß sie die Namen von vier Männern angegeben hatte, die alle von einem Arzt befragt worden waren. Bei keinem der Männer oder deren Familien waren je geistige oder körperliche Behinderungen aufgetreten.
Die französischen und spanischen Berichte, die sie von Vincent Lord erhalten hatte, enthielten im wesentlichen das, was Bill Ingram ihr erzählt hatte. Und sie bestätigten in allen Einzelheiten, daß Gironde-Chimie tatsächlich alles getan hatte, um die beiden Fälle von Fachleuten sorgfältig untersuchen zu lassen.
Trotzdem steigerten die drei Dokumente Celias Unbehagen; denn eine Tatsache ließ sich nicht wegdiskutieren: daß alle drei Frauen, die weit voneinander entfernt lebten und körperlich und geistig behinderte Kinder zur Welt gebracht hatten, während ihrer Schwangerschaft Montayne eingenommen hatten.
Nach dem Studium der Akten stand ihr Entschluß fest: Sie mußte Sam Hawthorne darüber informieren - über die Tatsachen und über ihre eigene zunehmende Besorgnis.
12
Eine als »dringend« deklarierte Mitteilung, die Celia an Sam Hawthorne geschickt hatte und die am Vormittag bei ihm eingetroffen war, hatte Sam veranlaßt, für 16.30 Uhr eine Konferenz der obersten Firmenleitung einzuberufen.
Schon auf dem Gang vor dem Büro des Präsidenten konnte Ce-lia durch die offene Tür dröhnendes Gelächter hören.
Als sie das Vorzimmer betrat, sah ihr die eine der beiden Sekretärinnen lächelnd entgegen. »Hallo, Mrs. Jordan.«
»Hört sich an, als sei eine Party im Gange, Maggie.«
»Stimmt auch gewissermaßen.«
Die Sekretärin deutete auf eine zweite offene Tür. »Warum gehen Sie nicht hinein? Ich glaube, Mr. Hawthorne möchte Ihnen eine Neuigkeit mitteilen.«
Das Zimmer war voller Zigarrenrauch. Celia sah Sam, Vincent Lord, Seth Feingold, Bill Ingram und mehrere andere, außerdem Glen Nicholson, einen Firmenveteranen, der die Herstellung leitete, Dr. Starbut, der für die Arzneimittelprüfung, und Julian Hammond, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig war. Alle pafften dicke Zigarren, auch Ingram, den Celia noch nie hatte rauchen sehen.
»Hallo, da ist ja Celia!« rief jemand. »Sam, geben Sie ihr sofort eine Zigarre!«
»Nein, nein!« wehrte Sam ab. »Für die Damen habe ich was anderes.« Mit strahlender Miene ging er an seinen Schreibtisch und nahm von einem Stapel eine Schokoladenschachtel, die er Celia überreichte.
»Zur Feier meines Enkelsohns, der« - Sam sah auf die Uhr -»gerade zwanzig Minuten alt ist.«
Für einen Augenblick verflog ihre ernste Stimmung. »O Sam, wie wunderbar! Ich gratuliere!«
»Vielen Dank, Celia. Ich weiß, daß normalerweise die Väter Zigarren und Schokolade verteilen, aber ich habe beschlossen, neue Bräuche einzuführen und es auch die Großväter tun zu lassen.«
»Eine verdammt gute Idee!« lobte Nicholson. Celia bemerkte, wie Bill Ingram, der etwas blaß aussah, eine Zigarre weglegte.
»Ist mit Juliet alles in Ordnung?« fragte sie.
»Absolut«, erwiderte Sam glücklich. »Lilian hat mich vor ein paar Minuten vom Krankenhaus aus angerufen, daher weiß ich ->die Mutter und der sieben Pfund schwere Junge sind wohl-auf<.«
»Ich werde Juliet besuchen«, sagte Celia. »Wahrscheinlich morgen.«
»Ich werde es ihr sagen. Ich fahre gleich nach der Sitzung zu ihr.« Sam war in geradezu euphorischer Stimmung.
»Warum vertagen wir uns nicht?« fragte Dr. Starbut.
»Nein«, erklärte Sam, »bringen wir es schnell hinter uns.« Dann warf er einen Blick in die Runde und fügte hinzu: »Ich nehme an, es wird nicht lange dauern.«
»Dazu besteht wohl kaum Anlaß«, warf Vincent Lord ein.
Celia hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Sie wußte, daß alles schiefgehen würde, daß das Zusammentreffen der Entscheidung über Montayne mit der Geburt von Sams Enkel das Schlimmste war, was hatte passieren können. Sams gute Laune, die die anderen teilten, würde alles weitere unwichtig erscheinen lassen.
Sam ging voraus in den Konferenzraum und nahm am Kopfende des Tisches Platz. Auch die anderen setzten sich. Da Sam offenbar keine Zeit verschwenden wollte, ersparte er sich alle einleitenden Worte.
»Celia, ich habe heute vormittag eine Kopie ihrer Mitteilungen an alle Versammelten verteilen lassen. Eine ging auch an Xav Rivken, der sich gerade anschickte, für zwei Tage nach Washington zu fahren; er hat angeboten, die Reise zu verschieben, um dabeisein zu können, aber ich habe ihm versichert, daß das nicht nötig ist.« Sam warf einen Blick in die Runde. »Haben alle gelesen, was Celia geschrieben hat?«
Die Anwesenden nickten und murmelten zustimmend.
Celia hatte ihr Memorandum sorgfältig formuliert und war froh, daß alle es gelesen hatten. Sie nahm darin auf das australische Gerichtsverfahren Bezug, zählte die Tatsachen auf, die ihr beim Lesen der Prozeßakte aufgefallen waren und die in der Kurzfassung nicht erwähnt wurden. Sie hatte auch die beiden Fälle in Frankreich und Spanien beschrieben, wo gegen die Hersteller von Montayne Anklage erhoben worden war. Schließlich hatte sie die Argumentation der französischen Firma zitiert, die zu der Überzeugung gelangt war, daß alle drei Anklagen gegen Montayne zu Unrecht erhoben worden waren und kein Grund zur Sorge bestand.
Vorschläge zur Lösung des Problems hatte Celia in ihrem Memorandum noch nicht gemacht - die wollte sie sich für die Sitzung aufheben, nachdem sie sich die Meinungen der anderen angehört hatte.
»Als erstes möchte ich feststellen, daß es völlig richtig war, uns auf diese Sache aufmerksam zu machen, Celia«, begann Sam. »Es ist wichtig, weil auch andere Leute davon erfahren werden und wir darauf vorbereitet sein müssen, Fragen zu beantworten, wenn Montayne in drei Wochen auf den Markt kommt.« Er sah Celia fragend an. »Das war doch der Grund für Ihr Schreiben, nicht wahr?«
Die Frage kam unerwartet, und Celia antwortete etwas unbeholfen: »Ja, das auch . . .«
Sam, noch immer in Eile, nickte und fuhr fort: »Lassen Sie mich zunächst etwas klären. Vince, warum habe ich von diesen Gironde-Chimie-Berichten, auf die sich Celia bezieht, nichts erfahren?«
Die Gesichtsmuskeln des Leiters der Forschungsabteilung zuckten nervös. »Wenn ich Ihnen alles, was bei uns einläuft und unsere Produkte betrifft, schicken würde, Sam, käme ich nicht mehr dazu zu prüfen, was vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wichtig ist und was nicht, und zweitens hätten Sie auf Ihrem Schreibtisch einen so hohen Papierberg, daß Sie zu nichts anderem mehr kämen.«
Mit dieser Erklärung schien Sam sich zufriedenzugeben, denn er fuhr fort: »Sagen Sie uns, was Sie von diesen Berichten halten.«
»Sie beweisen mit überzeugender Gründlichkeit«, erklärte Lord, »daß der Schluß, zu dem Gironde-Chimie kommt, nämlich daß Montayne mit den beiden Fällen nichts zu tun hat, wissenschaftlich völlig korrekt ist.«
»Und die Sache in Australien? Haben die zusätzlichen Informationen irgendeinen Einfluß auf den früheren Schluß?«
Celia dachte: Wir sitzen hier und reden ganz beiläufig von >Berichten< und >Fällen< und »Schlüssen, wo es doch in Wirklichkeit . . . selbstwenn Montaynenichtsdamitzu tun hat. . . um Babysgeht, die ihr Leben lang dahinvegetieren und nie fähig sein werden, zu gehen oder auch nur ihre Glieder zu bewegen oder ihr Gehirn auf normale Weise zu benutzen. Sind wir wirklich so gleichgültig, oder ist es die Angst, die uns daran hindert, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen, so widerwärtig sie auch klingen mögen ? Vielleicht sind wir auch nur erleichtert darüber, daß diese Babys woanders leben und nicht hier bei uns und daß wir sie nicht zu sehen brauchen . . . im Gegensatz zu Sams Enkel, der in unserer Nähe lebt und dessen Geburt wir mit Schokolade und Zigarren feiern.
Lord beantwortete Sams Frage und konnte seinen Ärger über Celias Einmischung nur mühsam verbergen. »Diese zusätzlichen Informationen ändern überhaupt nichts. Tatsächlich sehe ich absolut keinen Grund dafür, sie überhaupt zu erwähnen.«
Um den Tisch machte sich Erleichterung bemerkbar.
»Aber da wir nun mal versammelt sind, habe ich für das Protokoll ebenfalls einen Kommentar ausgearbeitet, der den wissenschaftlichen Standpunkt zu diesen drei Vorfällen klarmacht.« Lord zögerte. »Ich weiß, daß wir in Eile sind . . .«
»Wie lange wird es dauern?« fragte Sam.
»Nicht länger als zehn Minuten. Ich verspreche es.«
Sam warf einen Blick auf seine Uhr. »In Ordnung, aber halten Sie sich daran.«
Abersogehtdasdochnicht! dachte Celia schockiert. DasProblem ist viel zu wichtig, um auf diese Weise abgehandelt zu werden. Sie hielt ihre Gedanken jedoch unter Kontrolle und konzentrierte sich auf Vincent Lords Worte.
Der Leiter der Forschungsabteilung sprach ruhig und überzeugend. Er erwähnte den Lebensbereich der drei behinderten Kinder und deren Eltern und wies darauf hin, wie viele Ursachen es für die Störung einer normalen Schwangerschaft geben könne. Vor allem »eine unkontrollierte Mischung von Chemikalien im menschlichen Körper, insbesondere die Verbindung von Medikamenten und Alkohol«, konnte verheerende Auswirkungen haben.
In all den zur Diskussion stehenden Fällen, argumentierte Lord, gab es Faktoren mit möglicher negativer Einflußnahme, manche von ihnen so zwingend, daß es unvernünftig und unwissenschaftlich war, Montayne dafür verantwortlich zu machen, vor allem, da Montayne weltweit von jeder Schuld reingewaschen war. Er bezeichnete die Versuche, diesem Medikament die Schuld zu geben und die damit verbundene Publicity als »Hysterie« und »mutmaßlichen Schwindel«.
Alle Anwesenden schienen beeindruckt. Celia wünschte, auch so eindeutig und zuversichtlich zu sein wie Vince. Sie wünschte es sich von Herzen und sah auch ein, daß Lord viel eher qualifiziert war, ein Urteil abzugeben, als sie selbst. Und doch war sie sich, bis gestern noch eine der stärksten Befürworterinnen von Montayne, einfach nicht mehr sicher.
Vince schloß überzeugend: »Bei jedem neuen Medikament, das eingeführt wird, gibt es Einwände - daß es schädlich sein könnte, daß die gefährlichen Nebenwirkungen die Vorteile überwögen etc. Solche Feststellungen können aus Verantwortungsgefühl heraus gemacht sein und sich auf Bedenken qualifizierter Fachleute stützen oder aber verantwortungslos und durch nichts gerechtfertigt sein und von Kritikern stammen, die keine Ahnung haben. Dennoch muß jedem Einwand sowohl im öffentlichen Interesse als auch im Interesse der Firmen, die es sich nicht leisten können, ein gefährliches Medikament herauszubringen, sorgfältig, emotionslos und wissenschaftlich nachgegangen werden. Deshalb bin ich froh, daß in den Fällen, um die es hier geht, außerordentlich sorgfältige Untersuchungen angestellt worden sind. Die Vorwürfe sind geprüft worden, und die beschriebenen Nebenwirkungen rühren, wie sich herausgestellt hat, nicht von Montayne her.
Und schließlich darf man eines nicht vergessen: Wenn ein Medikament fälschlicherweise für eine gefährliche Nebenwirkung verantwortlich gemacht und aus diesem Grund verboten wird, müssen zahlreiche Menschen auf seinen therapeutischen Nutzen verzichten. Und ich bin der Meinung, daß man ihnen den Nutzen, der durch Montayne zu erwarten ist, nicht vorenthalten darf.«
Ein eindrucksvoller Schluß, wie Celia zugeben mußte.
Sam sprach den anderen aus dem Herzen, als er sagte: »Vielen Dank, Vince. Sie haben erheblich dazu beigetragen, daß wir jetzt alle erleichtert sind.« Er rückte seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Eine offizielle Abstimmung dürfte wohl nicht nötig sein. Ich bin froh, daß wir ohne Bedenken >in vollem Tempo< mit Montayne weitermachen können. Und ich nehme an, daß alle damit einverstanden sind.«
Die Herren nickten zustimmend.
»Gut«, sagte Sam, »das war's dann wohl. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen . . .«
»Tut mir leid«, sagte Celia, »aber ich fürchte, das war noch nicht alles.«
Alle Köpfe drehten sich zu ihr um.
»Was gibt es denn noch?« fragte Sam ungeduldig.
»Ich würde Vince gern etwas fragen.«
»Na schön . . . wenn es unbedingt sein muß.«
Celia sah auf die Notizen, die sie sich gemacht hatte. »Vince, Sie haben erklärt, daß Montayne nicht die Ursache für die Behinderungen der drei dahinvegetierenden Babys war - Babys, die sich, wie wir uns ins Gedächtnis rufen sollten, nicht bewegen können und die kein normal funktionierendes Gehirn besitzen.«
Wenn die ändern Angst hatten, unangenehme Wahrheiten in Worte zufassen - sie hatte keine!
»Es freut mich, daß Sie mir zugehört haben«, bemerkte Lord.
Celia ignorierte den unfreundlichen Ton. »Wenn Montayne keine Schuld an diesen Mißbildungen trägt, was war es dann?«
»Ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, daß es dafür mehrere Ursachen geben könnte.«
»Aber welche?« fragte sie eigensinnig.
»Woher soll ich das wissen?« brauste Lord auf. »Es kann sich in jedem der drei Fälle um eine andere handeln. Ich weiß nur aufgrund der Beurteilung durch Experten an Ort und Stelle, daß Montayne nicht die Ursache war.
»In Wahrheit kann also niemand mit Sicherheit sagen, wo-durch die Schäden an den ungeborenen Kindern nun eigentlich entstanden sind!«
Der Leiter der Forschungsabteilung hob verzweifelt die Hände.
»Um Himmels willen, ja, das habe ich doch deutlich gesagt! In anderen Worten vielleicht, aber . . .«
»Celia«, unterbrach Sam, »worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Darauf«, erwiderte sie, »daß mir trotz aller Erklärungen von Vince nicht wohl ist bei der ganzen Sache. Niemand weiß wirklich etwas. Ich bin immer noch nicht zufrieden. Ich habe Zweifel.«
Jemand fragte: »Was für Zweifel?«
»In bezug auf Montayne.« Celia blickte in die Runde. »Ich habe das Gefühl - nennen Sie es Instinkt, wenn Sie wollen -, daß es noch irgend etwas gibt, was wir nicht wissen, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist, daß es noch viele Fragen gibt, auf die wir keine Antwort haben. Und das ist nicht gut.«
»Ich nehme an, Sie sprechen vom weiblichen Instinkt«, warf Lord höhnisch ein.
»Was ist daran auszusetzen?« fuhr sie ihn an.
»Wir wollen doch sachlich bleiben«, mahnte Sam streng. »Wenn Sie einen Vorschlag machen wollen, Celia, dann heraus damit.«
»Mein Vorschlag wäre, den Start von Montayne zu verschieben.«
Alle starrten sie ungläubig an. Sam kniff die Lippen zusammen. »Für wie lange verschieben und warum genau?«
Celia überlegte sich ihre Worte sehr sorgfältig. »Ich schlage eine Verschiebung von sechs Monaten vor. Ich hoffe zwar, daß es in diesem Zeitraum nicht zu weiteren Fällen von Mißbildungen bei Neugeborenen kommen wird. Aber in jedem Fall wüßten wir dann mehr und könnten unsere Arbeit beruhigter fortsetzen.«
Die Anwesenden schwiegen schockiert. Schließlich sagte Sam: »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
»Das ist mein voller Ernst.« Sie sah ihm in die Augen. Am An-fang war sie sich noch nicht ganz klar gewesen, hatte sich nur unbehaglich gefühlt. Aber jetzt waren ihre Gefühle nicht mehr zwiespältig; Vincent Lords emphatische - zu emphatische - Gewißheit hatte sie nicht beruhigt, sondern ihre Zweifel nur noch verstärkt. Ja, sie folgte nur ihrem Instinkt. Aber ihr Instinkt hatte sich schon oft als richtig erwiesen.
Celia wußte, daß es schwierig sein würde, die anderen zu überzeugen; und am wichtigsten war es, Sam zu überzeugen. Aber sie mußte es schaffen. Sie mußte den anderen einfach klarmachen, daß es jetzt im Interesse lag, Montaynes amerikanisches Debüt zu verschieben - im Interesse der schwangeren Frauen, im Interesse von Felding-Roth und im Interesse aller in der Firma Verantwortlichen . . .
»Haben Sie überhaupt eine Ahnung«, fragte Sam, der noch immer schockiert war, »was eine Verzögerung des Starts für uns alle bedeuten würde?«
»Selbstverständlich!« Celias Stimme klang jetzt gereizt. »Wer könnte das besser wissen als ich? Gibt es hier im Raum einen einzigen, der mit Montayne mehr zu tun gehabt hat als ich?«
»Nein«, sagte Sam. »Deshalb klingt das, was Sie sagen, ja auch so unglaubhaft.«
»Und deshalb können Sie sicher sein, daß ich den Vorschlag nicht leichten Herzens mache.«
Sam wandte sich an Seth Feingold. »Was, schätzen Sie, würde es kosten, den Start von Montayne zu verschieben?«
Der Leiter des Rechnungswesens wirkte verlegen. Er war mit Celia befreundet. Und außerdem verstand er nicht viel von wissenschaftlichen Dingen und wünschte sich schlicht, nichts damit zu tun haben zu müssen. Auch Bill Ingram schien sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen. Celia spürte, daß er mit sich kämpfte - einerseits fühlte er sich Celia gegenüber zur Loyalität verpflichtet, andererseits hatte er vermutlich eine andere Meinung als sie. Aber schließlich mußte jeder mit seinen Problemen selbst fertig werden, und Celia hatte im Augenblick genug mit ihren eigenen zu tun.
Eins war jedenfalls erreicht: Man nahm sich Zeit. Offenbar hatten Sam und die meisten anderen eingesehen, daß die grundsätzliche Frage, die Celia angeschnitten hatte, gelöst werden mußte - wie lange es auch dauern mochte.
Feingold beugte sich über ein Blatt Papier und stellte Berechnungen an. Schließlich sagte er: »Wir haben, rund gerechnet, an die zweiunddreißig Millionen Dollar für Montayne veranschlagt. Doch ist noch nicht alles ausgegeben, so daß man vielleicht ein Viertel der Summe retten könnte. Aber es gibt auch noch beträchtliche Allgemeinkosten, die ich nicht mitgerechnet habe. Auf welche Endsumme sich die Kosten bei einer Verzögerung tatsächlich belaufen, läßt sich schwer schätzen. Das hängt ganz davon ab, wie groß die Verzögerung ist und wie sie sich auf den späteren Verkauf auswirkt.«
»Ich werde Ihnen sagen, wie sie sich auswirken wird, erklärte Hammond, dem die Öffentlichkeitsarbeit oblag. »Wenn wir Montayne jetzt verschieben, ist das ein gefundenes Fressen für die Presseleute. Sie werden das Medikament so in Verruf bringen, daß es sich nie wieder davon erholen wird.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, bestätigte Sam.
»Eine Verschiebung des Starts zu diesem Zeitpunkt käme in gewisser Hinsicht einer endgültigen Einstellung des Projekts gleich.«
Er sah Celia an, seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Wenn wir Ihrem Vorschlag folgen - und zwar aus sehr vagen Gründen -, Was, glauben Sie, wird wohl der Aufsichtsrat, was werden die Aktionäre dazu sagen? Haben Sie sich darüber schon mal Gedanken gemacht - oder über die Mitarbeiter dieser Firma, die man entlassen müßte und die vielleicht für immer ihre Arbeit verlieren würden?«
»Ja«, sagte sie und war bemüht, nicht zu zeigen, wie sehr sie das alles quälte. »Daran habe ich gedacht, gestern nacht und heute fast den ganzen Tag.«
Sam brummte skeptisch und wandte sich wieder Feingold zu. »Auf jeden Fall würden wir das Risiko eingehen, ungefähr achtundzwanzig Millionen zu verlieren, ganz abgesehen von der zu erwartenden Einnahmeeinbuße.«
Der Leiter des Rechnungswesens warf Celia einen gequälten Blick zu, als er antwortete: »Das ist der voraussehbare Verlust, ja.«
»Und den können wir uns nicht leisten, nicht wahr?« fragte Sam grimmig.
Feingold schüttelte traurig den Kopf. »Nein.«
»Der Verlust könnte allerdings noch größer sein, wenn wir mit Montayne Schwierigkeiten bekommen«, warf Celia ein.
»Das sollten wir bedenken«, sagte Glen Nicholson und wand sich dabei vor Verlegenheit. Immerhin war es die erste Unterstützung, die Celia bekam, und sie warf dem Herstellungsleiter einen dankbaren Blick zu.
»Aber wir werden keine Schwierigkeiten bekommen«, fuhr Vincent Lord dazwischen und sah die anderen herausfordernd an. »Außer, Sie sehen die Dame als Ihren wissenschaftlichen Experten an.« Manche gaben ein halbherziges Lachen von sich, wurden aber von Sam mit einer ungeduldigen Handbewegung wieder zum Schweigen gebracht.
»Celia«, sagte Sam, »bitte hören Sie mir genau zu.« Seine Stimme klang ernst, aber beherrschter als zuvor, und er sah ihr wieder direkt in die Augen. »Ich möchte Sie bitten, noch einmal darüber nachzudenken. Vielleicht haben Sie Ihre Entscheidung überstürzt getroffen, ohne sich zu überlegen, was sie alles nach sich ziehen könnte. Das passiert jedem mal, mir auch. Aber dann muß man eben seinen Stolz hinunterschlucken und einen Rückzieher machen und zugeben, daß man sich geirrt hat. Wenn Sie das jetzt tun wollen, wird es Ihnen keiner von uns auch nur im geringsten nachtragen, und was geschehen ist, wird damit vergessen sein. Das verspreche ich Ihnen, aber ich beschwöre Sie auch, Ihre Meinung zu revidieren. Nun?«
Sie schwieg, wollte sich nicht festlegen, ohne noch einmal darüber nachgedacht zu haben. Sam hatte ihr gerade auf seine großzügige Art einen ehrenvollen Ausweg angeboten. Sie brauchte nur ein paar belanglose Worte zu sagen und war aus der Sackgasse heraus. Das Angebot war außerordentlich verlockend.
Bevor sie antworten konnte, fügte Sam noch hinzu: »Auch für Sie persönlich steht viel auf dem Spiel.«
Sie wußte genau, was er meinte. Ihre Ernennung zur Leiterin der Verkaufsabteilung war noch nicht bestätigt. Und wenn das, was sich hier anbahnte, zu einem logischen Ende führte, würde es wahrscheinlich nie dazu kommen.
Sam hatte recht. Es stand tatsächlich eine Menge auf dem Spiel. Sie nahm sich noch einen Augenblick Zeit zum Nachdenken, dann sagte sie ruhig und entschieden: »Es tut mir leid, Sam. Ich habe mir alles gut überlegt. Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Aber ich bleibe dabei: Ich bin dafür, die Einführung von Montayne zu verschieben.«
Es war heraus. Während sich Sams Gesicht vor Zorn rötete, wußte sie, daß es nun kein Zurück mehr gab.
»Na gut«, erklärte er schroff. »Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind. Vorhin habe ich gesagt, daß wir keine Abstimmung brauchen. Vergessen wir das. Ich möchte, daß alles zu Protokoll genommen wird. Seth, schreiben Sie bitte mit!«
Feingold holte mit traurigem Gesicht seinen Stift heraus.
»Ich habe bereits klar gesagt, wie ich dazu stehe«, betonte Sam. »Selbstverständlich bin ich dafür, die Vorbereitungen für den Start von Montayne wie geplant fortzuführen. Ich möchte jetzt wissen, wer mir zustimmt und wer anderer Meinung ist. Wer zustimmt, soll die Hand heben.«
Vincent Lords Hand schoß in die Höhe. Die von Dr. Starbut, Hammond und zwei weiteren folgten. Nicholson, der seine Zweifel anscheinend überwunden hatte, hob ebenfalls die Hand. Bill Ingram zögerte noch, er sah Celia mit einer stummen Bitte in den Augen an. Aber sie drehte den Kopf weg, wollte ihm nicht helfen; er mußte seine Entscheidung allein treffen. Dann, langsam, hob auch Bill die Hand.
Jetzt sahen alle Seth Feingold an. Der stieß einen Seufzer aus, legte den Stift weg und nahm zitternd die Hand hoch.
»Neun zu eins«, erklärte Sam. »Und damit steht eindeutig fest, die Firma mit den Vorbereitungen für den Start von Mon-fortfahren wird.«
Auf seine Worte folgte verlegenes Schweigen, als wüßte nie-mand so recht, was er als nächstes tun oder sagen sollte. Dann stand Sam auf.
»Wie Sie wissen«, sagte er, »wollte ich vorhin gerade losfahren, um meine Tochter und meinen Enkelsohn im Krankenhaus zu besuchen. Das werde ich jetzt tun.« Aber seine Stimme hatte den freudigen Klang verloren. Er nickte den Herren zu und sah absichtlich über Celia hinweg, als er den Konferenzraum verließ.
Bill Ingram näherte sich ihr. »Es tut mir leid . . .«, begann er.
Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das macht nichts. Sparen Sie sich Ihre Worte.«
Und ganz plötzlich wurde ihr klar, daß alles, was sie sich in der Firma aufgebaut hatte - ihre Autorität, ihr Ansehen, ihre Zukunftsaussichten -, in sich zusammengestürzt war. Konnte sie denn hier überhaupt weitermachen? Sie wußte es nicht.
»Was werden Sie tun?« fragte Bill. »Eigentlich könnten Sie doch jetzt, nachdem Sie deutlich gemacht haben, wie Sie zu Montayne stehen . . . ruhig weiter den Verkauf leiten.«
Celia wollte jetzt keine Entscheidungen treffen. »Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« Aber sie wußte, daß sie heute abend zu Hause über ihre Situation würde nachdenken müssen.
»Es ist mir nicht leichtgefallen, gegen Sie zu stimmen, Celia«, sagte Seth Feingold. »Aber Sie wissen ja, wie es ist - ich verstehe eben nichts von wissenschaftlichen Dingen.«
Sie starrte ihn an. »Warum haben Sie dann überhaupt abgestimmt? Sie hätten sich doch der Stimme enthalten können.«
Er schüttelte bedauernd den Kopf und ging. Die anderen folgten ihm, einer nach dem ändern, bis Celia allein war.
13
»Es muß etwas passiert sein, das spüre ich doch«, sagte Andrew beim Abendessen und brach damit das lange Schweigen, »und zwar etwas ziemlich Schlimmes.«
Er wartete, und als Celia nicht sofort antwortete, fuhr er fort: »Seit ich hier bin, hast du keinen Ton von dir gegeben. Ich kenne dich ziemlich gut, deshalb will ich dich nicht drängen. Aber wenn du reden möchtest und mich brauchst . . . du weißt ja, daß ich für dich da bin, Liebes.«
Sie legte Messer und Gabel aus der Hand - das Essen hatte sie kaum angerührt - und sah ihn mit feuchten Augen an.
»Ach, Liebling! Du weißt ja gar nicht, wie sehr dich brauche!«
Er streckte die Hand aus, legte sie auf die ihre und sagte sanft: »Laß dir Zeit. Iß erst zu Ende.«
»Ich kann nicht essen«, sagte sie.
Etwas später, als sie im Wohnzimmer saßen und Brandy tranken, berichtete Celia ihm von den Ereignissen der letzten beiden Tage, die darin gipfelten, daß es ihr heute nachmittag nicht gelungen war, Sam und die anderen von der Notwendigkeit einer Terminverschiebung bei Montayne zu überzeugen.
Andrew hörte aufmerksam zu, stellte gelegentlich eine Frage. Schließlich sagte er: »Mehr hättest du gar nicht tun können.«
»Es gab auch nichts mehr zu tun«, sagte Celia. »Aber jetzt muß ich entscheiden, was ich tun soll.«
»Mußt du das denn gleich entscheiden? Warum nimmst du dir nicht ein paar Tage frei? Wir könnten beide irgendwo hinfahren. Wenn du ein bißchen Abstand gewonnen hast, kannst du dir alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen, und wenn du zurückkommst, tust du, was du für richtig hältst.«
Sie lächelte dankbar. »Ich wünschte, ich könnte mir die Zeit nehmen. Aber so lange kann ich es nicht hinausschieben.«
Andrew ging zu Celia und gab ihr einen Kuß. »Du weißt, daß ich dir in jeder Hinsicht helfen werde. Aber vergiß das eine nicht: Ich bin immer stolz auf dich gewesen, und das werde ich auch in Zukunft sein, wie auch immer du dich entscheidest.«
Celia sah ihren Mann liebevoll an. Ein Mann mit weniger Format hätte sie jetzt an ihren Streit im Hotel in San Francisco erinnert, als Andrew sich geweigert hatte, seine Zweifel an Mon-tayne oder seine Einstellung aufzugeben, schwangeren Frauen überhaupt keine Medikamente zu verabreichen. Damals hatte Celia ihn gehässig, wie sie jetzt fand, darauf hingewiesen, daß seine Argumentation mit Vorurteilen belastet oder gar überholt sei.
Wenn sie in ihrem gegenwärtigen Dilemma Andrews Maßstäbe anlegte - wie würde sie sich dann entscheiden? Sie brauchte ihn gar nicht erst zu fragen. Sie wußte es. Sie erinnerte sich auch an einen Rat, den ihr jemand anders vor Jahren einmal gegeben hatte.
»Sie besitzen etwas, Celia - eine Gabe, einen Instinkt -, um beurteilen zu können, was richtig ist... Nutzen Sie Ihre Begabung, Celia. . . Und sollten Sie Macht erlangen, dann haben Sie die Kraft, das zu tun, woran Sie glauben . . . Lassen Sie sich von Kleingeistern nichts ausreden. . . «
Ihr wurde warm ums Herz, als sie an Eli Camperdown dachte. Der frühere Präsident von Felding-Roth hatte diese Worte kurz vor seinem Tod in seinem Haus am Mount Kemble Lake zu ihr gesagt.
»Noch etwas Brandy!« fragte Andrew. »Nein, danke.«
Sie trank ihr Glas aus, sah Andrew an und erklärte entschlossen: »Ich kann nicht dabei mithelfen, Montayne auf den Markt zu bringen. Ich werde kündigen.«
In all den vierundzwanzig Jahren bei Felding-Roth war ihr noch nie etwas so schwergefallen. Celias handgeschriebener Brief an Sam war kurz.
Mit großem persönlichen Bedauern kündige ich hiermit meine Stellung als Verkaufsleiterin für rezeptpflichtige Produkte bei Felding-Roth.
Meine Gründe kennen Sie. Daher ist es nicht nötig, nochmals auf sie einzugehen.
Ich möchte betonen, daß ich die Jahre, in denen ich für Fel-ding-Roth tätig sein durfte, als ein besonderes Privileg ansehe - zu den größten Privilegien aber gehörten Ihre persönliche Unterstützung und Ihre Freundschaft. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar - und werde es immer bleiben.
Ich verlasse Felding-Roth Pharmaceuticals ohne Bitterkeit.
Ich wünsche der Firma und ihren Mitarbeitern in jeder Hinsicht Erfolg.
Celia schickte den Brief durch einen Boten ins Büro des Präsiden-en und folgte ihm eine halbe Stunde später persönlich. Sie wurde sofort in Sams Büro geführt. Hinter ihr schloß sich leise die Tür. Sam sah von den Papieren auf, in denen er gerade las. Seine Gesichtszüge waren hart, seine Stimme klang kalt. »Sie wollten mich sprechen. Warum?«
Etwas unsicher erwiderte sie: »Ich war lange für diese Firma tätig und habe die meiste Zeit für Sie gearbeitet. Ich finde, daß ich nicht einfach weggehen kann . . .«
Er unterbrach sie so wütend, wie sie ihn noch nie gesehen hatte: »Aber genau das tun Sie doch! Sie gehen einfach weg -weg von Ihren Freunden, Kollegen und all den anderen, die sich auf Sie verlassen haben. Sie werfen einfach alles hin, zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, da die Firma Sie dringend braucht. Das ist unloyal . . .«
»Meine Kündigung hat nichts mit Loyalität und Freundschaft zu tun«, protestierte sie.
»Nein. Offenbar nicht!«
Sam hatte sie nicht gebeten, Platz zu nehmen, also blieb sie stehen.
»Sam«, bat sie, »bitte, verstehen Sie doch! Ich kann nicht, ich kann einfach nicht dabei mithelfen, Montayne zu verkaufen. Das ist für mich eine Frage des Gewissens.«
»Sie nennen es Gewissen«, gab er zurück. »Ich nenne es anders.«
»Wie denn, zum Beispiel?« fragte sie neugierig.
»Zum einen: weibliche Hysterie. Und zum anderen: falsche, uninformierte Selbstgerechtigkeit. Haß, weil Sie nicht bekommen, was Sie wollen; deshalb werfen Sie alles hin.«
Sam funkelte sie an, während sie weitersprach. »Hören Sie! -Sie sind nicht besser als diese Frauen, die Plakate durch die Straßen tragen oder sich an Zäune ketten. Die Wahrheit ist, daß man Sie übertölpelt hat, daß diese blöde Stavely, diese Hexe, Sie eingewickelt hat.«
Er deutete auf die New York Times vom selben Morgen, die aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag und eine Erklärung von Dr. Maud Stavely enthielt, die von den beiden Fällen in Frankreich und Spanien gehört hatte und sie nun für ihre eigene Kampagne gegen Montayne verwendete. Celia hatte den Artikel in der Times schon gelesen.
»Was Sie sagen, stimmt nicht«, erwiderte Celia. »Ich habe mich nicht übertölpeln lassen.« Sie beschloß, seine antifeministischen Bemerkungen zu ignorieren.
Als habe er Celias Einwand nicht gehört, knurrte Sam: »Und jetzt werden Sie sich der Stavely und ihrer Bande anschließen, nehme ich an.«
»Nein«, sagte Celia. »Ich werde mich niemandem anschließen werde mich mit niemandem treffen und keine Erklärungen darüber abgeben, warum ich aus der Firma ausscheide. Schließlich habe ich gestern zugegeben, daß ich nur meinem Instinkt gefolgt bin.«
Noch nie hatte sie Sam in einer so fürchterlichen Stimmung erlebt. Trotzdem beschloß sie, einen letzten Versuch zu wagen.
»Ich möchte Sie gern an etwas erinnern«, begann sie, »das Sie einmal zu mir gesagt haben.«
An diesem Morgen war ihr das Gespräch wieder in den Sinn gekommen, das sie mit Sam nach ihrer Rückkehr aus London geführt hatte. Nach Sams Fehlschlag war es ihr gelungen, Martin Peat-Smith für Felding-Roth zu gewinnen, und zwar gerade weil sie Sams Warnung mißachtet und mit Martin über Geld gesprochen hatte. Als Sam davon erfuhr, hatte er am Telefon gesagt: » Wenn es je dazu kommen sollte, daß Sie und ich bei einer wichtigen Sache unterschiedlicher Meinung sind, müssen Sie mich an diesen Vorfall erinnern, bei dem Sie recht hatten und ich nicht.««
Nun erinnerte sie ihn daran, aber es war, als redete sie gegen eine Wand.
»Auch wenn es wahr wäre«, fuhr er sie an, »ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, und es ist für mich nur ein Beweis mehr, daß Sie Ihre gesunde Urteilskraft verloren haben.«
Celia war von einer solchen Traurigkeit erfüllt, daß sie nur noch »Leben Sie wohl, Sam« sagen konnte.
Sie erhielt keine Antwort.
Später, zu Hause, wunderte sich Celia darüber, wie einfach es gewesen war, Felding-Roth zu verlassen. Sie hatte nur ihre persönlichen Dinge aus dem Schreibtisch genommen, sich von ihrer Sekretärin und einigen anderen im Büro verabschiedet - von denen manche Tränen in den Augen gehabt hatten - und war weggefahren.
Auch wenn ihr plötzliches Ausscheiden aus der Firma unvernünftig erscheinen mochte - es war einfach notwendig gewesen. In den vergangenen Wochen hatte sich Celia fast ausschließlich mit Montayne beschäftigt, und da sie diese Arbeit nun nicht mehr guten Gewissens verrichten konnte, hatte es keinen Sinn, noch länger zu bleiben. In ihrer Abteilung war alles so gut durchorganisiert, daß Bill Ingram, der in einigen Wochen ohnehin alles hätte übernehmen sollen, sofort einspringen konnte. Die neue Position würde sie nun nicht mehr übernehmen können - eine schlimme Enttäuschung, nachdem sie so nahe herangekommen war. Aber mit dieser Enttäuschung würde sie leben können.
Andrew rief im Lauf des Tages zweimal bei Celia an, zuerst im Büro, später zu Hause. Als er erfuhr, daß ihre Kündigung bereits in Kraft getreten war, versprach er ihr, so früh wie möglich nach Hause zu kommen, und traf nachmittags rechtzeitig zum Tee ein, den Celia zubereitet hatte; eine neue Erfahrung für sie - wahrscheinlich würde sie das von jetzt an häufiger tun.
»Nach all den Entscheidungen, die du treffen mußtest«, sagte Andrew und nippte an seinem Tee, »habe auch ich ein paar Entscheidungen getroffen, und zwar für uns beide. Ich finde, wir sollten endlich wieder ein bißchen leben.« Er zog einen großen braunen Umschlag hervor. »Wir werden eine Reise machen.«
»Und wohin?«
»Überallhin. Eine Weltreise.«
Celia riß die Arme hoch. »Andrew, du bist wunderbar!«
»Hoffentlich findest du das auch noch, wenn du sechs Monate mit mir auf Schiffen und in Hotels verbracht hast.« Er zog zahlreiche Prospekte aus dem Umschlag. »Zuerst, dachte ich mir, fliegen wir nach Europa, fahren nach Frankreich, Spanien, Italien, überallhin, wo es etwas Interessantes zu sehen gibt; dann machen wir eine Mittelmeerkreuzfahrt . . .«
Trotz der Anspannung der letzten Tage hellte sich Celias Stimmung auf. Über eine Weltreise hatten sie schon oft gesprochen, aber immer nur wie über einen vagen Zukunftstraum. Warum nicht jetzt? dachte sie. Konnte es einen besseren Zeitpunkt geben?
Andrew freute sich wie ein kleiner Junge. »Wir sollten auch Ägypten und Israel besuchen, dann ein kurzer Aufenthalt in den Vereinigten Arabischen Emiraten . . . Indien nicht zu vergessen . . . Japan ist ein >Muß<, ebenso Singapur . . . und auch Australien und Neuseeland dürfen wir nicht auslassen . . .«
»Das ist eine wunderbare Idee!« sagte sie
»Ich muß nur noch eine Urlaubsvertretung für meine Praxis finden«, erklärte Andrew. »Das wird wahrscheinlich einen Monat dauern, so daß wir im März fahren können.« Mit den Kindern würde es keine Probleme geben, denn Lisa und Bruce hatten sich für den Sommer einen Ferienjob gesucht.
Sie schmiedeten Pläne, und obwohl Celia wußte, daß der Schmerz unweigerlich zurückkehren und wohl nie ganz vergehen würde, konnte sie ihn - mit Andrews Hilfe - für kurze Zeit verdrängen.
Später fragte Andrew: »Ich weiß, es ist noch zu früh, aber hast du dir schon darüber Gedanken gemacht, was du in Zukunft tun wirst? Ich kann mir nicht vorstellen, daß du ewig zu Hause bleiben möchtest.«
»Nein«, sagte sie, »das werde ich ganz bestimmt nicht. Aber im Augenblick weiß ich noch nichts. Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken - und du verschaffst die mir, Liebling.«
In dieser Nacht schliefen sie miteinander - nicht leidenschaftlich, sondern sanft und mit einer Zärtlichkeit, die Celia Ruhe und Sicherheit gab.
Celia hielt Wort. Sie gab in den folgenden Wochen keine öffentliche Erklärung über den Grund ihres Weggangs von Felding-Roth ab. Die Nachricht von ihrer Kündigung sprach sich in der Branche schnell herum und fand auch in der Presse Erwähnung. Es gab eine Menge neugieriger Fragen, die aber unbeantwortet blieben. Das Wall Street Journal, die Business Week und die New York Times riefen bei Celia an und baten um Interviews. Celia lehnte ab und ging auch nicht auf Fragen aus ihrem Freundeskreis ein.
Nur Lisa und Bruce wurden auf Andrews Drängen hin informiert. »Das schuldest du ihnen«, sagte er. »Die Kinder bewundern dich, genauso wie ich. Sie haben ein Recht darauf, alles zu erfahren.
Das bedeutete Reisen nach Stanford zu Lisa und nach Potts-town, wo Bruce jetzt sein drittes Jahr in der Hill School absolvierte, und am Ende tat Celia die Abwechslung gut. Ihre Tage waren jetzt nicht mehr so hektisch und ausgefüllt, und es fiel ihr nicht leicht, sich daran zu gewöhnen, daß sie jetzt mehr Zeit für sich hatte.
Lisa war voller Mitgefühl, reagierte aber praktisch. »Du wirst schon was anderes finden, Mom, etwas Interessantes und Wichtiges. Das beste im Augenblick ist aber, daß du mit Daddy auf diese Weltreise gehst.«
Bruce mit seiner Sensibilität, die er sich über die Jahre bewahrt hatte, faßte die Situation am besten zusammen: »Wenn du dich wohl fühlst, Mom . . . wenn du auch später noch davon überzeugt bist das Richtige getan zu haben, dann ist das das einzige, was zählt.«
Nachdem sie mit beiden Kindern gesprochen hatte, stellte Ce-lia fest, daß sie sich tatsächlich wohl fühlte, und in dieser Stimmung flog sie Anfang März mit Andrew von New York nach Paris, wo die Reise begann, mit deren Hilfe sie über alles hinwegkommen wollte.
In seinem Haus in Harlow lag Martin Peat-Smith schlaflos in seinem Bett. Es war Samstagabend, ein paar Minuten vor Mitternacht, der Schlußpunkt einer aufregenden, ereignisreichen Woche.
Martin kam zu dem Ergebnis, daß sich der Schlaf irgendwann von selbst einstellen würde. Er entspannte sich und ließ seine Gedanken schweifen.
Manchmal war die Wissenschaft tatsächlich wie eine Frau, die sich so lange ziert, bis ihr Verehrer schon fast aufgibt und alle Hoffnung fahrenläßt, dachte er belustigt. Und dann, ohne Vorwarnung, launenhaft, ergibt sie sich, breitet die Arme aus, läßt die Kleider fallen und bietet sich an.
Wenn man die Metapher weiterspann, überlegte Martin, folgten zuweilen ganze Serien von Orgasmen, in deren Verlauf das bis dahin Unbekannte, nur Erträumte, allmählich Konturen annahm.
Aber was sollten diese ganzen sexuellen Phantasien? fragte er sich. Und beantwortete die Frage gleich selbst: Es mußte etwas mit Yvonne zu tun haben. Jedesmal, wenn er ihr im Labor begegnete, drehten sich seine Gedanken nur um ein und dasselbe, das vielleicht irgend etwas mit Biologie, aber ganz bestimmt nichts mit Wissenschaft zu tun hatte.
Und warum hast du noch nichts unternommen ?
Ja, warum eigentlich nicht?
Aber im Augenblick kehrte Martin mit seinen Gedanken zu seiner Forschungsarbeit und den wahrhaft bemerkenswerten Erfolgen zurück, die - wann genau eigentlich begonnen hatten?
Seine Gedanken wanderten zurück.
Zwei Jahre waren vergangen, seit Celia Jordan 1975 Harlow einen Besuch abgestattet hatte. Martin konnte sich noch genau daran erinnern, wie er ihr die Filme von Chromatogrammen gezeigt und erklärt hatte: »Sie werden zwei Reihen dunkler Streifen erkennen . . . das sind mindestens neun Peptide. . .«
Aber das - wie es schien - unüberwindliche Problem lag darin, daß das in den Gehirnen jüngerer Ratten entdeckte Peptid-Ge-misch in zu geringen Mengen vorhanden war, um gereinigt und untersucht zu werden. Außerdem enthielt das Gemisch Substanzen, die nicht dazugehören, so daß Rao Sastri mit Recht von einem »Nonsens-Peptid« gesprochen hatte.
Die Versuche, das Gemisch zu reinigen, wurden fortgesetzt, aber die Ergebnisse waren bestenfalls zufälliger Art und schienen Sastris Ansicht zu bestärken, daß noch zehn Jahre oder mehr ins Land gehen würden, bis die erforderliche Technik zur Verfügung stand. Frustration breitete sich im Harlower Team aus, die Moral sank und auch der Glaube an Martins Theorie.
Als er auf dem Tiefpunkt angekommen war, geschah das Wunder.
Nachdem sie geduldig weitergemacht und größere Gehirnmengen von jungen Ratten verwendet hatten, wurde eine teilweise Reinigung erzielt. Dann wurde das neue, angereicherte Gemisch - aus weniger Peptiden - den alten Ratten injiziert.
Fast augenblicklich zeigte sich eine erstaunliche Verbesserung des Lern- und Erinnerungsvermögens älterer Ratten. Das ergaben die Tests im Labyrinth ganz deutlich.
Martin mußte lächeln, als er an den Irrgarten im Labor dachte. Es war eine Miniaturausgabe jener Anlagen, in denen sich Menschen seit Jahrhunderten damit vergnügten, aus Sackgassen und Irrwegen wieder herauszufinden und nach vielen Mühen den Ausgang zu erreichen.
Der berühmteste Irrgarten der Welt, vermutlich im 17. Jahrhundert für William III. von England angelegt, befand ich im Hampton Court Palace, westlich von London.
Der kleine Irrgarten des Harlower Labors war eine detailgetreue Nachbildung aus Furnierholz, die ein Wissenschaftler des Instituts in seiner Freizeit angefertigt hatte - mit dem Unterschied, daß er ausschließlich von Ratten benutzt wurde.
Man setzte die Ratten nacheinander an den Eingang zum Labyrinth und überließ sie dann - manchmal nach einem kleinen Schubs - sich selbst. Hatten sie den Weg hinaus gefunden, erwartete sie dort eine Belohnung in Form von Nahrung. Und man hielt fest, wie lange ihre jeweiligen Bemühungen dauerten.
Bis vor kurzem waren die Ergebnisse der Tests voraussagbar gewesen. Junge wie alte Ratten, zum ersten Mal im Labyrinth ausgesetzt, hatten zunächst Mühe, den Ausgang zu finden. Bei der zweiten Runde jedoch kamen die jungen Ratten bereits schneller zu ihrer Belohnung, und beim dritten Mal ging es noch schneller, und so fort.
Die jungen Ratten lernten aus Erfahrung, erinnerten sich, wo sie abbiegen mußten und wo nicht.
Im Gegensatz zu den jungen lernten die alten Ratten kaum oder waren viel langsamer.
Bis zur Injektion der neuesten Peptid-Lösung. Danach war eine Verbesserung unverkennbar. Wenn die alten Ratten sich zum dritten oder vierten Mal im Labyrinth befanden, rasten sie buchstäblich durch die Gänge, meist ohne zu zögern oder Fehler zu machen. Zwischen den jungen und den alten Ratten gab es jetzt kaum noch einen Unterschied.
Als weitere Tests die gleichen Ergebnisse erbrachten, wurden die Wissenschaftler immer aufgeregter. Nach einer spektakulären Vorführung mit einer schon älteren, dicken Ratte spendeten sie lauten Beifall. Rao Sastri schüttelte Martin die Hand. »Großer Gott! Sie hatten recht. Jetzt können Sie mit vollem Recht zu uns allen sagen: >O ihr Kleingläubigen.««
Martin wehrte ab. »Ich hatte auch schon fast den Glauben verloren.«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab«, sagte Sastri. »Sie sind ein Gentleman und sagen das nur, weil Sie Ihre kleinmütigen Kollegen nicht beschämen wollen.«
»Wie auch immer«, meinte Martin erfreut, »ich glaube, wir haben jetzt etwas nach Amerika zu melden.«
Der Bericht traf bei Felding-Roth zu der Zeit ein, als die Vorbereitungen für den Start von Montayne auf Hochtouren liefen, und kurz bevor Celia zu zweifeln begann, ob es ratsam sei, damit fortzufahren.
Aber noch während der Bericht in New Jersey studiert wurde, sah man sich in Harlow einem neuen Problem gegenüber.
Trotz günstiger Bedingungen hatten sich bei dem jüngsten Peptid-Gemisch Schwierigkeiten ergeben. Wie die vorherigen stand es nur in begrenzter Menge zur Verfügung. Um das wesentliche Gedächtnis-Peptid zu identifizieren und zu isolieren, waren größere Mengen nötig.
Um an größere Mengen zu kommen, wählte Martin den Weg über die Produktion von Antikörpern. Diese würden sich mit dem gewünschten Peptid verbinden und es isolieren ... Zu diesem Zweck waren Kaninchen besser geeignet als Ratten, da sie größere Mengen Antikörper produzierten.
Hier trat Gertrude Tilwick auf den Plan.
Die Tierpflegerin des Instituts war eine strenge Frau um die Vierzig mit verkniffenen Lippen. Nigel Bentley hatte sie erst vor kurzem eingestellt, und bis jetzt hatten sie und Martin wenig miteinander zu tun gehabt.
Auf Martins Bitte brachte Miß Tilwick mehrere Käfige mit Kaninchen in sein Labor. Er hatte ihr zuvor erklärt, daß das unverarbeitete Peptid-Gemisch in einer öligen Lösung - einem »Adju-vans« - in die Pfoten der Kaninchen injiziert werden müßte. Ein schmerzhafter Vorgang. Daher mußte man die Tiere während der Injektion festhalten.
Miß Tilwick brachte außer den Kaninchen auch ein kleines flaches Brett mit, an dem vier Riemen befestigt waren. Sie öffnete einen Käfig, zog ein Kaninchen heraus und legte es mit dem Bauch nach oben auf das Brett. Während das Tier ausgestreckt dalag, schnallte sie jedes Bein an einer der vier Ecken fest.
Sie hantierte grob und gleichgültig, ihre ganze Haltung drückte Gefühllosigkeit aus. Während ihr Martin entsetzt zusah, schrie das verängstigte Tier. Er hatte nicht gewußt, daß Kaninchen so schreien konnten - ein schrecklicher Ton. Dann war es still, und bevor alle vier Beine angeschnallt waren, war das Tier bereits tot, ganz offensichtlich vor Angst und Schreck gestorben.
Wieder bekam Martin wegen eines Tieres einen seiner seltenen Wutanfälle. Er warf Miß Tilwick hinaus.
Danach ließ Martin Nigel Bentley zu sich rufen und erklärte ihm, daß jemand, der dem Leiden von Tieren gegenüber derart unempfindlich sei wie Miß Tilwick, nicht länger im Institut bleiben könne.
»Selbstverständlich«, stimmte Bentley zu, »muß Miß Tilwick gehen. Es tut mir leid. Als Laborantin schien sie qualifiziert -offensichtlich aber nicht für Versuche an Tieren.«
»Wir brauchen jemanden, der mit den Tieren sanft und sorgsam umgeht«, sagte Martin. »Haben Sie jemanden?«
»Miß Tilwicks Assistentin. Wenn sie ihre Sache ordentlich macht, werden wir sie befördern.«
Und Yvonne Evans erschien.
Yvonne war fünfundzwanzig, fröhlich und attraktiv, mit langen blonden Haaren, unschuldigen blauen Augen, einer rosigen Haut und leichtem Übergewicht. Sie kam aus Brecon, einem kleinen ländlichen Ort in den Black Mountains von Wales, und der singende Tonfall dieser Gegend war noch herauszuhören. Yvonne hatte einen erstaunlichen Busen und trug ganz offensichtlich keinen Büstenhalter. Martin war fasziniert.
»Ich brauche ein paar Minuten«, hatte Yvonne ihm kurz vor den Injektionen erklärt und das Brett von Gertrude Tilwick ignoriert. Während Martin mit einer Spritze in der Hand wartete, hob sie vorsichtig ein Kaninchen aus dem Käfig, hielt es an ihr Gesicht und begann, ihm leise etwas vorzusingen, es zu streicheln, zärtliche Worte zu murmeln. Schließlich bettete sie den Kopf des Kaninchens zwischen ihre Brüste, hielt dann Martin die Hinterpfoten hin und sagte: »Jetzt.«
Binnen kurzer Zeit hatten sechs Kaninchen in jeden Zehenballen die ölige Lösung injiziert bekommen. Obwohl ihn die unmittelbare Nähe der Brüste verwirrte und er sich manchmal wünschte, anstelle der Kaninchen dort zu ruhen, arbeitete Martin präzise und sorgfältig weiter. Die Kaninchen wurden ganz offensichtlich von der liebevollen Behandlung eingelullt, mußten aber dennoch Schmerzen erdulden.
»Müssen es denn unbedingt die Zehenballen sein?« fragte Yvonne mitleidig.
Martin verzog das Gesicht. »Mir gefällt es auch nicht, aber es ist eine günstige Stelle für die Produktion von Antikörpern.«
Die Erklärung schien Yvonne zu befriedigen. Als sie fertig waren, stellte er fest: »Sie mögen Tiere, nicht wahr?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Natürlich.«
»Das kann man nicht von jedem sagen.«
»Meinen Sie Tilly?« Yvonne runzelte die Stirn. »Die mag sich selbst nicht.«
»Miß Tilwick arbeitet nicht mehr bei uns.«
»Ich weiß. Mr. Bentley hat es mir gesagt. Er bat mich, Ihnen auszurichten, daß meine fachlichen Voraussetzungen stimmen und ich, wenn Sie wollen, Miß Tilwicks Job übernehmen könnte.«
»Sie gefallen mir«, sagte Martin und war über sich selbst erstaunt. »Sie gefallen mir sehr.«
Yvonne kicherte. »Ganz meinerseits, Herr Doktor.«
Obgleich jemand anders die Injektionen übernahm, sah Martin Yvonne auch weiterhin gelegentlich in den Labors. Einmal fragte er sie: »Wenn Sie Tiere so gern haben, warum haben Sie dann nicht Veterinärmedizin studiert?«
Sie zögerte, dann sagte sie ungewöhnlich kurz angebunden: »Das wollte ich auch.«
»Und warum haben Sie es nicht getan?«
»Ich bin durchs Examen gefallen.«
»Nur durch eins?«
»Ja.«
»Konnten Sie es denn nicht wiederholen?«
»Ich konnte es mir nicht leisten zu warten.« Sie sah ihn groß an, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie auch anzusehen.
»Meine Eltern hatten kein Geld, und ich mußte es mir selbst verdienen«, fuhr Yvonne fort. »Deshalb wurde ich Tierarzthelferin - das naheliegendste.« Dann lächelte sie ihn an, weil sie bemerkt hatte, wie ihre Blicke einander festhielten.
Das lag nun einige Wochen zurück, und seither war Martin von anderen Dingen in Anspruch genommen worden.
Zum einen von einer Computer-Analyse der laufenden Tests im Rattenlabyrinth; sie zeigte, daß die früheren Ergebnisse keine Zufallstreffer gewesen waren, sondern sich in den darauffolgenden Monaten konstant wiederholten. Das allein waren ausgezeichnete Neuigkeiten, aber darüber hinaus war ihnen auch eine Verfeinerung des Peptid-Gemischs gelungen, die es ihnen endlich ermöglichte, ein einzelnes aktives Peptid zu isolieren. Dieses langgesuchte Peptid war die siebente Bande auf den Filmstreifen und erhielt deshalb die Bezeichnung »Peptid 7«.
Beide Erfolge wurden sofort per Telex nach New Jersey durchgegeben, und Sam Hawthorne sandte Glückwünsche. Martin hätte sich am liebsten auch mit Celia in Verbindung gesetzt, aber er hatte inzwischen von ihrer Kündigung erfahren. Er wußte nicht, was sie zu diesem Schritt veranlaßt hatte, war aber sehr traurig darüber. Celia gehörte einfach zum Harlow-Institut und seinem Forschungsprojekt, und er empfand es als ungerecht, daß sie die Früchte dessen, was sie mit aufgebaut hatte, nicht mit ihm teilen konnte. Er wußte, daß er einen guten Freund und Verbündeten verloren hatte. Ob sie sich wohl je wiedersehen würden? Es schien unwahrscheinlich.
Ein einziger Faktor bereitete Martin noch Sorgen, als er in seinem Bett lag und die Ereignisse noch einmal an sich vorüberziehen ließ: das waren die älteren Ratten, die über mehrere Monate hinweg regelmäßig Peptid-Injektionen erhalten hatten.
Während sich das Gedächtnis der Ratten deutlich verbessert hatte, war ihr allgemeiner Gesundheitszustand offenbar schlechter geworden. Die Tiere zeigten einen alarmierenden Gewichtsverlust, waren mager, fast ausgemergelt.
War es möglich, daß das Peptid 7 zwar für das Gehirn nützlich, aber für den Körper schädlich war? Würden die mit Peptid-Ge-misch behandelten Ratten auch weiterhin an Gewicht verlieren und schließlich dahinsiechen? War das der Fall, dann wäre Peptid 7 unbrauchbar, sowohl für Tiere als auch für Menschen, und die wissenschaftliche Arbeit von vier Jahren in Harlow und Martins früherer Tätigkeit in Cambridge wäre völlig umsonst gewesen.
Dieses Schreckgespenst verfolgte Martin Tag und Nacht, und er bemühte sich, es wenigstens am Wochenende für ein paar Stunden aus seinen Gedanken zu verbannen. Jetzt, an diesem Samstagabend . . . oder besser: Sonntagmorgen . . . kehrten seine Gedanken zu Yvonne und der Frage zurück, die er sich bereits gestellt hatte: Und warum hast du nichts unternommen?
Er konnte sie anrufen. Warum hatte er nicht schon früher daran gedacht? Aber jetzt, nach Mitternacht, war es wohl schon zu spät. Verdammt! Warum versuchte er es nicht einfach?
Zu seiner Überraschung wurde der Hörer schon beim ersten Klingeln abgenommen. »Hallo.«
»Yvonne?«
»Ja.«
»Hier ist . . .«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
»Na schön«, sagte er, »ich liege hier im Bett und kann nicht schlafen, und da dachte ich mir . . .«
»Ich kann auch nicht schlafen.«
»Ich hab' mir überlegt, ob wir uns morgen vielleicht treffen könnten.«
»Morgen ist Montag.«
»Und wie war's mit heute?«
»Von mir aus gern.«
»Um wieviel Uhr würde es Ihnen passen?«
»Warum nicht gleich?«
Er konnte sein Glück kaum fassen. »Soll ich Sie abholen?«
»Nicht nötig. Ich weiß, wo Sie wohnen. Ich komme zu Ihnen.«
»Wollen Sie das wirklich?«
»Natürlich.«
Er hatte das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen.
»Yvonne.«
»Ja ?«
»Ich bin froh, daß Sie kommen.«
»Ich auch.« Er hörte ihr sanftes Lachen. »Ich dachte schon, Sie würden mich nie fragen.«
Von dem Augenblick an, als Yvonne das Haus betrat, war alles wunderbar und unkompliziert. Nachdem Martin sie in die Arme genommen und sie sich zärtlich geküßt hatten und alle Tiere, die sie im Hausflur empfingen, gestreichelt worden waren, fragte sie: »Und wo ist dein Schlafzimmer?«
»Ich zeige es dir«, sagte er, und sie folgte ihm mit einem kleinen Handköfferchen die Treppe hinauf.
In dem matt erleuchteten Schlafzimmer zog Yvonne sich rasch aus, und Martin sah ihr dabei mit klopfendem Herzen zu und bewunderte ihren Körper - vor allem ihre herrlichen Brüste.
Dann liebten sie sich, ganz ohne Scheu und voller Zärtlichkeit. Yvonne war von einer natürlichen, ungehemmten Leidenschaft. Vielleicht war es ihre Liebe zum Leben und zu all den Lebewesen auf dieser Erde, aber in diesem Augenblick kam sie in ihrer warmen Zunge zum Ausdruck, die überall zu sein schien, und in ihren weichen Lippen, die ihn unaufhörlich erforschten, und in dem Rhythmus ihres Körpers, der ihn aufforderte, auf eine Art zu reagieren, die er bis dahin nicht gekannt hatte, die ihm fremd gewesen, aber plötzlich so vertraut war.
»Nicht so schnell! Laß uns noch warten«, bat sie.
»Ich werde es versuchen«, flüsterte er.
Es dauerte nicht lange, bis das Verlangen sie beide fortriß. Danach war Martin von einem Gefühl des Friedens und Wohlbehagens erfüllt, wie er es selten erlebt hatte.
Aber selbst dann suchte sein Verstand noch nach einem Grund für diese heitere, friedliche Stimmung. Vielleicht war das, was er fühlte, nur die Erlösung von all dem Druck, der sich angesammelt hatte. Aber sein Instinkt sagte ihm, daß es mehr sein mußte: daß Yvonne eine ganz besondere Frau war, von einer inneren Ausgeglichenheit, die sich auf andere übertrug . . . und mit diesem Gedanken schlief er ein. Er schlief tief und erwachte erst, als Geräusche aus der Küche zu ihm drangen. Kurz darauf erschien Yvonne; sie hatte Martins Morgenrock angezogen und brachte ein Frühstückstablett mit Tee, getoastetem Fladenbrot und Ho-nig. Sie war von sämtlichen Vierbeinern des Hauses - zwei Hunden und drei Katzen - umringt.
Yvonne stellte das Tablett aufs Bett, in dem sich Martin aufgerichtet hatte. Lächelnd zeigte sie auf den Morgenrock. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
»Er steht dir viel besser als mir.«
Sie setzte sich aufs Bett und schenkte den Tee ein. »Du magst Milch, aber keinen Zucker.«
»Ja, aber woher . . .«
»Ich habe mich im Labor erkundigt - für den Fall der Fälle. Übrigens, deine Küche ist in einem schrecklichen Zustand.« Sie reichte ihm den Tee. »Bevor ich gehe, werde ich sie saubermachen.«
Der Morgenrock hatte sich geöffnet, und Martin sagte: »Ich hoffe, du hast es mit dem Weggehen nicht allzu eilig.«
Sie ließ den Morgenrock offen und lächelte wieder. »Sei vorsichtig mit dem Teller, er ist heiß.«
»Es kommt mir vor, als wäre alles gar nicht wahr«, sagte er. »Frühstück im Bett ist ein Luxus, den ich mir jahrelang nicht ge-kistet habe.«
»Das solltest du öfter tun. Du hast es verdient.«
»Aber du bist doch mein Gast. Eigentlich müßte ich dich verwöhnen.«
»Mir gefällt es so besser«, versicherte sie ihm. »Noch etwas Tee?«
»Vielleicht später.« Er stellte seine Tasse hin und streckte die Arme nach ihr aus.
Yvonne ließ den Morgenrock auf den Boden gleiten und kam zu ihm. Er hielt sie fest, und diesmal wanderten seine Hände ganz ohne Eile über ihren Körper, erforschten ihre Brüste und ihre Schenkel.
»Du hast einen wunderschönen Körper«, sagte er und küßte sie.
»Ein bißchen zuviel davon.« Sie lachte. »Ich müßte abnehmen.« Sie kniff sich in die Schenkel. »Was ich brauche, ist ein bißchen von deinem Peptid 7, dann würde ich so dünn werden wie die Ratten.«
»Nicht nötig.« Martin drückte sein Gesicht in ihre Haare. »Ich mag dich so, wie du bist.«
Ihre Leidenschaft entflammte neu, und Yvonne drückte Martin fest an sich, als er in sie eindrang.
Plötzlich hielt er abrupt inne, und seine Hände ließen sie los. Dann packte er sie an den Schultern und schob sie von sich.
»Was hast du gesagt?«
»Martin, bitte quäl mich nicht! Ich will dich jetzt«, bat sie.
»Was hast du gesagt?«
Frustriert ließ sie sich zurückfallen. »Warum hast du das getan, Martin?«
»Ich will wissen, was du gesagt hast, über Peptid 7.«
»Peptid 7? - Ich sagte, ich könnte so dünn wie die Ratten werden, wenn ich es nähme«, antwortete sie verdrossen. »Aber was . . .«
»Das dachte ich mir.« Er sprang aus dem Bett. »Beeil dich! Zieh dich an!«
»Warum?«
»Wir fahren ins Labor.«
»Jetzt?« fragte sie ungläubig.
Martin hatte ein Hemd übergestreift und fuhr schon in die Hose.
»Ja. Jetzt sofort.«
Konnte das sein? fragte er sich. War das tatsächlich möglich? Martin blickte auf ein Dutzend Ratten, die durchs Labyrinth liefen. Er hatte Yvonne gebeten, sie aus den Tierställen zu holen. Es war eine Gruppe, die seit mehreren Monaten mit dem teilweise gereinigten Peptid-Gemisch geimpft worden war. Und seit neuestem mit Peptid 7. Alle Ratten waren dünn - viel dünner als vor den Injektionen. Jetzt steckte Yvonne die letzte Ratte in ihren Käfig zurück.
Es war noch immer Sonntagmorgen. Außer ihnen befand sich nur noch ein Wachmann im verlassenen Institut.
Genau wie die anderen Tiere machte sich auch die letzte Ratte
über ihr Fressen im Käfig her.
»Aber sie fressen doch genügend«, bemerkte Martin.
»Das tun sie alle«, stimmte Yvonne zu. »Willst du mir nicht endlich sagen, was das soll?«
»Hör zu: Weil die Ratten, denen wir Peptid 7 gespritzt haben, immer dünner, ja, sogar dürr wurden, haben wir alle gedacht, daß sie nicht mehr so gesund sind wie früher. Das war nicht sehr wissenschaftlich gedacht.«
»Was macht das denn für einen Unterschied?«
»Wahrscheinlich einen sehr großen. Angenommen, ihr Gesundheitszustand hat sich nicht verschlechtert. Angenommen, sie sind alle kerngesund. Vielleicht sogar gesünder als vorher. Angenommen, Peptid 7 wirkt sich nicht nur positiv auf das Gedächtnis aus, sondern sorgt darüber hinaus auch noch für einen gesunden Gewichtsverlust.«
»Du meinst . . .«
»Ich meine«, sagte Martin, »daß wir über etwas gestolpert sind, nach dem die Menschheit seit Jahrhunderten sucht - eine Möglichkeit, im Körper Nahrung zu verarbeiten, ohne dabei Fett anzusetzen.«
Yvonne sah ihn mit offenem Mund an. »Aber das könnte ja furchtbar wichtig sein!«
»Ja - wenn es zutrifft.«
»Aber danach hast du doch gar nicht gesucht!«
»Viele Entdeckungen wurden gemacht, während die Wissenschaftler nach etwas völlig anderem suchten.«
»Und was wirst du jetzt tun?«
Martin überlegte. »Ich muß mit Fachleuten reden. Gleich morgen werde ich mich darum kümmern.«
»Dann könnten wir ja jetzt vielleicht wieder nach Hause gehen«, bemerkte Yvonne hoffnungsvoll.
Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Eine ausgezeichnete Idee!«
»Ich werde Ihnen natürlich einen ausführlichen Bericht schik-ken«, sagte der Tierarzt zu Martin, »mit allen Daten - Körperfett, Blutzuckerzusammensetzung, Urin und Stuhl, die ich in meinem Labor feststellen lasse. Aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, daß diese Ratten die gesündesten sind, die ich je gesehen habe, vor allem, wenn man bedenkt, wie alt sie schon sind.«
»Vielen Dank, Doktor«, sagte Martin. »Das hatte ich gehofft.«
Es war Dienstag, und der Tierarzt Dr. Ingersoll, ein Spezialist für Kleintiere, war mit dem Morgenzug aus London gekommen. Er wollte nachmittags wieder zurückfahren.
Ein anderer Experte, ein Sachverständiger für Ernährung aus Cambridge, wurde in zwei Tagen erwartet.
»Ich nehme an«, sagte Dr. Ingersoll, »daß Sie mir nicht sagen wollen, was Sie den Ratten gegeben haben.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, erwiderte Martin, »würde ich es lieber noch für mich behalten.«
Der Tierarzt nickte. »Auf jeden Fall sind Sie einer interessanten Sache auf der Spur, mein Freund.«
Am Donnerstag lieferte lan Cavaliero, der Ernährungssachverständige, Informationen, die noch verblüffender waren.
»Möglicherweise haben Sie mit Ihrer Behandlung bei diesen Ratten die Funktion der endokrinen Drüsen verändert oder aber das zentrale Nervensystem, vielleicht sogar beides. Als Folge davon werden die Kalorien, die sie mit der Nahrung aufnehmen, anstatt in Fett in Hitze umgewandelt. Wenn man es nicht gerade zum äußersten treibt, kann ich daran nichts Schlimmes finden. Der Körper entledigt sich der überschüssigen Hitze durch Schwitzen.«
Dr. Cavaliero, ein junger Wissenschaftler, den Martin von Cambridge her kannte, war eine Autorität in Ernährungsfragen.
»Wie neuere Veröffentlichungen zeigen«, berichtete er, »haben unterschiedliche Lebewesen - Menschen wie Tiere - auch unterschiedliche Fähigkeiten, Kalorien auszunutzen. Manche Kalorien gehen in Fett über, ein beträchtlicher Anteil jedoch wird für eine Art von körperlicher Arbeit verbraucht, die wir weder sehen noch fühlen. Zum Beispiel, wenn Zellen Ionen wie das Natrium in einem kontinuierlichen Kreisprozeß ins Blut hinauspumpen. Andere Kalorien müssen in Hitze umgewandelt werden«, fuhr der Ernährungsfachmann fort, »nur um die Körpertemperatur zu erhalten. Aber man hat herausgefunden, daß die Anteile, die für Hitze, Stoffwechsel oder Fett benötigt werden, grundlegend verschieden sind. Wenn Sie diese Anteile also verändern und kontrollieren können - wie Sie es bei diesen Tieren getan zu haben scheinen -, ist das ein großer Fortschritt . . .«
Einige Mitarbeiter seines Teams, die Martin aufgefordert hatte, an der Besprechung mit Cavaliero teilzunehmen, hörten gespannt zu, darunter Rao Sastri und Yvonne.
»Diese unterschiedliche Kalorienausnutzung ist zweifellos der Grund, warum manche glückliche Menschen sehr viel essen können und doch nie zunehmen«, bemerkte Sastri.
»Genau.« Der Ernährungsfachmann lächelte. »Aber es könnte sich noch etwas anderes bei Ihren Ratten auswirken - nämlich ein Sättigungsfaktor.«
»Durch das ZNS?« fragte Martin.
»Ja. Das zentrale Nervensystem wird natürlich weitgehend durch die Gehirnpeptide reguliert. Und da Sie mir gesagt haben, daß der injizierte Stoff sich auf die Gehirnfunktionen auswirkt, könnte es durchaus sein, daß er die Hungersignale im Gehirn reduziert . . . Auf jeden Fall besitzt Ihr Gemisch eindeutig einen wünschenswerten gewichtsreduzierenden Effekt.«
Am nächsten Tag verwendete Martin Cavalieros Worte vom »wünschenswerten gewichtsreduzierenden Effekt« in einem vertraulichen Bericht, den er direkt an Sam Hawthorne schickte.
»Obgleich auch weiterhin die Verbesserung des Gedächtnisses unser vorrangiges Ziel für Peptid 7 bleibt«, schrieb Martin, »werden wir zusätzlich die Eigenschaft prüfen, die auf den ersten Blick wie eine positive, vielversprechende Nebenwirkung aussieht und vielleicht klinische Möglichkeiten eröffnet.«
Wenn der Bericht auch relativ zurückhaltend abgefaßt war, so befanden sich Martin und seine Harlower Kollegen doch in heller Aufregung.